Auf nach irgendwo! - Simone Veenstra - E-Book
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Auf nach irgendwo! E-Book

Simone Veenstra

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Beschreibung

Der alte Jakob ist mit seinem umgebauten VW-Bus, einigen überholten Straßenkarten und einem Monatsvorrat an Instantkaffee auf der Autobahn unterwegs. Sein Ziel: in Tschechien historische Dampflokomotiven zu fotografieren. Auf einer Raststätte liest er Miro auf, einen schweigsamen Jungen, der aus Alltagsgeräuschen Soundschleifen komponiert und die verschollene Jugendliebe seiner Großmutter aufspüren will. Gemeinsam macht sich das ungleiche Paar auf die abenteuerliche Fahrt nach Osten …

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Seitenzahl: 582

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Das Buch

Jakob ist mit seinem umgebauten VW-Bus Bienchen, einigen längst überholten Straßenkarten samt persönlichen Anmerkungen, Dosenfutter und einem Monatsvorrat Instantkaffee auf der Autobahn unterwegs, als er an einer Raststätte Ärger mit zwei Lastwagenfahrer bekommt. Gerade als es droht, ungemütlich zu werden, kommt ein Tramper um die Ecke und wimmelt die Fahrer lässig ab. Kurze Zeit später sitzt er auch schon im Wagen. Jakobs unvermuteter Reisebegleiter Miro ist schweigsam. Das gefällt Jakob: kein unnötiges Gequatsche, keine Fragen. Ansonsten schläft er gerne unter freiem Himmel und kann tatsächlich sehr gut kochen – trotz der eher geschmacksneutralen Dosenvorräte an Bord! Auch Miro hätte es schlimmer treffen können als mit dem seltsamen alten Herren und seinem Oldtimer. Zumindest quetscht Jakob ihn nicht aus! Kein einziges Mal hat er gefragt, ob Miro eigentlich volljährig ist oder ob seine Erziehungsberechtigten wissen, wo er steckt …

Die Autorin

Simone Veenstra wuchs in Franken auf und studierte Film, Theater und Literatur. Heute lebt sie in Berlin und schreibt Romane, Drehbücher, Hörspiele, für Games und Magazine. Für ihre Geschichten geht Simone Veenstra gerne auf Entdeckungstour – in Archiven, Bibliotheken und am liebsten vor Ort. Nach ihrem Erfolgsdebut Sind dann mal weg veröffentlicht sie mit Auf nach irgendwo ihren zweiten Roman.

SIMONE VEENSTRA

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Dieser Roman ist Fiktion. Jede Ähnlichkeit zu existierenden Personen oder Orten ist entweder mit Bedacht gewählt und verändert oder aber nicht unbedingt wahrheitsgetreu. Unterstützt von dem Residenzstipendium des Goethe-Institut Kroatien in Verbund mit dem Literaturhaus Pazin Hiža od besid in Istrien.

Originalausgabe 02/2019 Copyright © 2019 by Simone Veenstra Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Redaktion: Steffi Korda Umschlaggestaltung: © Bürosüd, München Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN: 978-3-641-22581-0 V002 www.heyne.de

My love is longer than forever Endless as the march of time 99 years after never In my heart you’ll still be mine

Holly Golightly: My love is

Für meine zwei Goldenen. Und für alle, die ebenfalls der Meinung sind,

Prolog

Er rannte. Hoch konzentriert und mit geballten Fäusten. Es fiel ihm schwer, nicht alles zu geben. Doch diesmal ging es nicht ums Gewinnen, nicht einmal ums Entkommen, zumindest nicht sofort. Für die nächsten paar Hundert Meter musste er in Sichtweite bleiben. Hinter ihm waren Stiefeltritte zu hören und leises Fluchen. Die Gummisohlen seiner eigenen Schuhe machten kaum Geräusche, nur ein leises Flattern, wie von Flügeln, und für einen Moment stellte er sich vor, er könnte in den Himmel steigen, wäre frei. Nur: Wohin sollte er ohne Marie?

Hoffentlich erinnerte sie sich an seine Richtungsangaben, hastig geflüstert, während er sie durch die Tür zur Kirche gedrängt hatte, die meist offen stand. Nur wenige wussten, dass man von dort aus auf den kleinen Friedhof zwischen den Straßen gelangte und in den nächsten Hinterhof. Ein Labyrinth voller Ascheeimer, Schubkarren, Fahrradteilen. Eine Fluchtroute, nicht erst seit heute.

Vor ihm kam die nächste Kreuzung in Sicht, dahinter der Park. Quer über die Straße würde er laufen, in die Schatten der Büsche tauchen, mit angehaltenem Atem. Keine Beweise, keine Verdächtigen – keine Akten. Und was waren schon ein paar Plakate, die niemand zuordnen konnte?

»Stehen bleiben!«

Sie waren näher als gedacht.

Der Junge erhöhte das Tempo. Nur noch wenige Meter. Dann würde er warten, bis seine Verfolger aufgaben. Er würde nach Hause laufen, durch das angelehnte Fenster steigen und ins Bett kriechen. Sein kleiner Bruder, mit dem er sich das Zimmer teilte, übernachtete heute bei einem Freund. Es gab also niemanden, der ihn im Auge behielt. Niemanden, der wusste, wo er war. Niemanden, der sehen würde, wie er zurückkam, und argwöhnte, er hätte etwas Verbotenes getan. So jung er war – für Verbotenes hatte sein Bruder einen siebten Sinn, da kam er ganz nach ihrem Vater.

Schon konnte der Junge die Bäume und Sträucher des Parks sehen. Sein linkes Knie stach, aber er hatte gelernt, es zu ignorieren. Das letzte Haus kam in Sicht.

Dass ihm jemand im Weg stehen könnte, als er um die Ecke stob, damit hatte er nicht gerechnet. Der Aufprall schleuderte ihn zu Boden, sein Kopf traf hart auf die Steinplatte auf. Er wollte sich aufrappeln und weiterrennen. Doch die Dunkelheit war schneller. Das Letzte, was er sah, waren zwei besorgte Augen.

Er hörte ein harsches Schnauben. »Halt ihn fest, er gehört uns!«

Dann nichts mehr.

Die Dunkelheit und Jakob Grünberg würden keine Freunde mehr werden. Das war schon immer so gewesen. Sie gaukelte ihm Dinge vor, die es nicht gab: Fahrradfahrer und Kühe auf dem Standstreifen, eine Dampflokomotive, die sich als Kastenwagen entpuppte.

Immer länger werdende Schatten verschmolzen mit dem Einheitsgrau des Straßenbelags. Er musste bald eine Pause einlegen. Seine Augen begannen zu tränen.

Viel zu spät war er losgekommen, hatte sich nur schwer verabschieden können: von dem nicht länger benutzten Stallanbau, dem windschiefen Häuschen, dem inzwischen überwucherten Garten. Von dem Briefkasten und dem löchrigen Zaun, von den in der Sonne tschilpenden Vögeln und von dem Baum weiter hinten, unter dem er Gustav verstreut hatte. Doch noch eine Nacht zu bleiben, nur geduldeter Besucher im eigenen Zuhause – das hatte er nicht gekonnt.

Ein Glück, dass es Bienchen gab. All die Jahre, in denen er sie gehegt und gepflegt hatte, war er nie auf die Idee gekommen, dass ausgerechnet sie ihn einmal begleiten würde. Anfangs hatte er den alten VW-Bus nur deshalb so gut in Schuss gehalten, weil er dachte, eines Tages würde der Besitzer zurückkommen. Irgendwann dann war das Schrauben zu einer lieben Gewohnheit geworden. Der leere Stall hatte neben diversen vierbeinigen Streunern auch Bienchen eine gemütliche Unterkunft geboten.

Jakob rüttelte an der Verstellung seines Sitzes, beugte sich weiter in Richtung Windschutzscheibe und drosselte das Tempo. Wütend hupende Lkws donnerten vorbei und scherten gefährlich nahe vor ihm wieder ein.

Seufzend massierte er sein Knie – das linke, das manchmal ohne Vorwarnung einrastete, aber die Kupplung betätigen musste. Wäre alles nach Plan verlaufen, säße er längst gemütlich bei einer Tasse löslichem Kaffee auf dem Campingplatz. Doch Straßenarbeiten und absurde Umleitungen hatten seinen genau getakteten Zeitplan torpediert.

Jakob vertraute keinem Navigationsgerät. Die Straßenkarten hatten schon seinem Großvater Gustav treue Dienste geleistet und waren mit Symbolen und Abkürzungen übersät, die inzwischen nur Jakob noch zu enträtseln wusste. Genauso sollte es sein.

»Meiden Sie Fahrten im Dunkeln«, hatte ihm der Augenarzt empfohlen, nachdem sich Jakob einem nicht ganz freiwilligen Sehtest zum Erhalt seiner Fahrtauglichkeit unterzogen hatte. Ob der Doktor geahnt hatte, dass Jakob seine kurze Abwesenheit dazu genutzt hatte, Buchstaben- und Ziffernfolgen an der Wand auswendig zu lernen? Jakobs Gedächtnis funktionierte noch immer, ohne zu stottern. Sehen konnte er nicht mehr ganz so gut wie früher. Doch davon durfte er sich nicht einschränken lassen. Nichts wurde so schnell kleiner wie die Freiheit. Sie war anfälliger für Verschleiß als der eigene Körper.

Das Blinken am Rand seines Gesichtsfelds verbuchte er zunächst als optische Täuschung. Noch rund einhundertzwanzig Kilometer bis zur ersten geplanten Übernachtung. Doch das Signal blieb hartnäckig, und schließlich musste er sich eingestehen, dass der Tank leer war. Noch mehr Verzögerung! Seine Laune sank weiter.

Wenigstens war die nächste Raststätte gut ausgeleuchtet, die Zapfsäulen waren frei. Jakob konzentrierte sich auf die Tankpistole in seiner Hand, wollte das Walzen der Preisanzeige nicht sehen. Was für ein verbrecherischer einarmiger Bandit!

Die Dame hinter der Kasse zwitscherte wie ein Kanarienvogel auf Helium: »Hallihallo und guten Abend, Sie waren an der zwei, richtig? Haben Sie eine Bonuskarte?«

»Ja. Nein.«

Sie blinzelte überrascht, violetter Lidschatten in den netten Lachfältchen verklumpt, ein Fingerbreit Scheitelgrau strafte das Feuerrot ihrer Haare Lügen. Alles an ihr wirkte, als verlöre sie den Kampf gegen eine Müdigkeit, die nicht nur mit zu häufigen Abendschichten zu tun hatte. Sah man genauer hin, wirkte selbst ihr Lächeln abgekämpft. »Wie war das nun, ja oder nein?«

Jakob seufzte – nun bekam er auch noch Mitleid. »Ja zur Zapfsäule Nummer zwei, nein zur Bonuskarte. Die ist nur dazu da, um zu überprüfen, zu welcher Uhrzeit ich wofür Geld ausgebe.« Er fächerte ihr den Betrag auf die Geldschale. Wie immer zahlte er bar. »Und bitte fragen Sie mich nicht, ob ich noch etwas zu trinken oder einen Schokoriegel möchte. Möchte ich nicht.«

»Ganz, wie Sie wollen.« Sie zählte akribisch Scheine und Münzen und vermied es, Jakob in die Augen zu sehen.

Er wartete. Unterdrückte ein nervöses Tappen mit den Fingern, schluckte. »Das heißt«, murmelte er dann so plötzlich, dass er sie damit ebenso überraschte wie sich selbst, »vielleicht doch noch etwas Süßes für die Weiterfahrt?« Umständlich fischte er weitere Münzen aus der Hosentasche und begutachtete die vor ihm aufgereihten, bunten Schokoriegel. Die meisten hatten englische Namen und sahen nach Plombenziehern aus. Jakob fuhr sich nervös mit der Hand über die Glatze. Das hatte er jetzt davon, nett sein zu wollen.

»Nehmen Sie den da.« Freundlich hielt ihm die Dame ein senfgelbes Viereck entgegen. »Vollkorn und zuckerreduziert.«

Vollkorn und zuckerreduziert? Ja, sah er etwa derart cholesteringeschüttelt und klapprig aus? Jakob unterdrückte heldenhaft jeden weiteren Kommentar. Nicht, dass er sich anschließend auch noch bemüßigt fühlte, eine der labbrigen, überteuerten belegten Vollkornschrippen zu bestellen, nur um das nächste schlechte Gewissen wettzumachen! Knapp nickte er, zahlte, ließ das Hasenfutter auf Nimmerwiedersehen in seine Jackentasche gleiten und wandte sich zum Gehen.

Eine lange Gestalt im Parka trat ihm aus Richtung der Kaffeeautomaten in den Weg. Auf dem Rücken hatte der Typ einen alten Armeerucksack – warum jemand so etwas freiwillig trug, war Jakob ein Rätsel.

Er streckte sich. Wenn er wollte, konnte er noch immer wuchtig aussehen. Wie jemand, mit dem man sich besser nicht anlegte. Zumindest bis man ihn näher in Augenschein nahm und begriff: Arthrose, Gicht … Das Alter machte ihn kaum mehr zu einer ernsthaften Bedrohung. Jakob vermied es, dem anderen ins Gesicht zu blicken. Nur noch fünfzehn Meter und er wäre sicher zurück bei Bienchen.

Doch der Lulatsch war schneller: »Fahren Sie zufällig in Richtung Süden und haben noch einen Platz frei?« Die Stimme war überraschend leise, bittend und furchtbar jung.

Nun sah Jakob doch auf. Die Bohnenstange konnte nicht älter sein als achtzehn, vielleicht auch sechzehn. Kinder und Jugendliche hatte er nie richtig einschätzen können, auch nicht, als er im selben Alter gewesen war. Nicht einmal, als die Farbe des Halstuchs darüber Aufschluss gegeben hatte, in welche Klasse jemand ging.

Doch egal, wie hoffnungsvoll der Junge ihn ansah, die Kapuze von den zerzausten roten Locken schob und sich an einem Lächeln versuchte – das Letzte, was Jakob brauchte, war Begleitung. Er musste seine Gedanken ordnen, verdammt noch mal eine Entscheidung treffen! Er drehte sich weg. »Nein. Und jetzt entschuldige mich.«

Als er den Autoschlüssel ins Schloss steckte, zitterten seine Finger. Noch über Hundert Kilometer, der Großteil über Landstraßen. Ruckelnd ließ er die Kupplung kommen und bog um den flachen Anbau der Tankstelle. Vielleicht sollte er hier eine kleine Pause einlegen, sich ausruhen und bei Sonnenaufgang weiterfahren? Zögernd hielt Jakob auf dem kaum belegten Lkw-Parkplatz hinter dem Gebäude. Vor ihm erstreckte sich eine Reihe knorriger Büsche bis zur Umzäunung. Ja, das konnte funktionieren. Nur ein paar Stunden die Augen schließen. Er klappte die Bank aus, gab dem alten Federkissen drei gezielte Stöße, rollte ordentlich die Strümpfe zusammen und schob sie unter die Matratze. Dann überprüfte er, dass alle Türen versperrt waren, schlüpfte in Pyjama und Schlafsocken und streckte sich unter der zurechtgeschüttelten Decke aus.

Die regelmäßig vorbeirasenden Autos nur wenig entfernt beruhigten ihn. Irgendwoher kam ein leises Brummeln, vermutlich ein nachtaktives Tier, das dort draußen herumstreunte …

Gefühlte Sekunden später riss ihn ein tiefes Dröhnen aus dem Schlaf. Es vibrierte so bösartig durch seine Brust, dass er eine flache Hand erschrocken gegen sein Herz drückte. Es schlug. Noch immer und regelmäßig. Das war die gute Nachricht.

Dann allerdings kehrte das Tuten zurück. In aggressiven Intervallen, die keinem Rhythmus folgten. Schranktüren klapperten, der Tauchsieder klirrte gegen das Glasgefäß, etwas fauchte wütend, und Licht fiel durch die Nähwirk-Gardinen. Wie spät war es eigentlich, und was zur Hölle sollte der Lärm?

Das Hupen schwoll an. Fluchend rappelte sich Jakob auf und spähte durchs Fenster. Draußen war es stockdunkel. Nur die vier auf ihn gerichteten Scheinwerfer waren gleißend hell. Die Deppen hatten das Fernlicht angestellt, na vielen Dank! Schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen, als er sich abwandte und blind nach dem Griff der Schiebetür tastete.

Erst als er auf den Teerbelag trat, begriff er, dass er vergessen hatte, in die Schuhe zu schlüpfen. In Pyjama und Schlafsocken stand er im Spotlicht auf dem Parkplatz. Die dazugehörigen Lkw-Fahrer hofften offenbar, ihn mit ihrem Dauerhupen zu vaporisieren.

Langsam und deutlich hob Jakob die rechte Hand und klappte den Mittelfinger aus. Das half. Das Hupen hörte auf.

Eine Tür quietschte, dann eine zweite. Zwei Gestalten traten auf ihn zu. Massig und wütend sahen sie aus, als fackelten sie nicht lange.

»Alter!«, brüllte der eine, »du stehst auf unserem Platz! Mach dich vom Acker!«

»Und zwar ein bisschen plötzlich!«, grollte der Zweite und senkte den Schädel zum Angriff.

Vielleicht hätte Jakob den Wagen nicht ohne Unterstützung verlassen sollen. Eine Waffe hatte er nie besessen, schon den Gedanken daran immer gehasst. Aber zumindest ein Stock oder so ein neumodisches Elektrodings, mit dem man selbst Stiere schlafen schicken konnte, wäre jetzt nicht verkehrt.

Trotzdem: Wenn er eins nicht länger duldete, dann den Versuch, ihn einzuschüchtern. Er stemmte die Hände in die Hüften. »Euer Parkplatz? Habt ihr den gepachtet, ja? Ist der so was wie eure Datsche, und dahinten im Gebüsch baut ihr Kartoffeln an?«

Verwirrt blieben die beiden Gestalten stehen und blinzelten.

»Was quatscht der senile Wirrkopf von Kartoffeln?«, wollte der eine grimmig wissen.

»Mir wumpe!« Nummer zwei baute sich vor Jakob auf. »Du verziehst dich jetzt. Mitsamt deinem Mistkäfer, klar?«

Jakob blieb, wo er war. »Gar nichts ist klar. Ich stehe hier und fertig. Was wollt ihr machen, mich wegschieben?«

»Keine schlechte Idee!«

Jakob zuckte zusammen. Schöner Mist! Hätte er mal besser nachgedacht, bevor er den Mund aufriss. So lange hatte er vermieden, sich überhaupt einzumischen, und seine Gedanken, wie sein Großvater Gustav es ihm beigebracht hatte, immer schön für sich behalten. Seit ein paar Wochen jedoch, seit diese Schnösel ihn aus seinem Häuschen geklagt hatten, schien sich sein Mundwerk ständig selbstständig zu machen. Als wäre es an der Zeit, etwas aufzuholen. Eine eigene Meinung zu haben, zum Beispiel. Oder sich zu wehren.

Das Problem war nur: Wer sich wehrte, musste auch darauf gefasst sein, dass es nicht immer bei ein paar harschen Worten blieb. Das hatte er ziemlich schnell lernen müssen. Er hatte ausgeharrt, solange es ging. Gegen Bulldozer konnte jedoch selbst das größte Mundwerk nichts ausrichten.

Jakob sah an den beiden bulligen Männern empor. Nur noch wenige Sekunden und sie würden bemerken, dass er doppelt so alt war wie sie, kein echter Gegner und dann … Jakob warf einen Hilfe suchenden Blick um sich. Nicht daran denken!

Ein einsamer Nachtvogel krächzte, von irgendwoher erklangen eilige Schritte.

Jakob ballte die Fäuste. »Das hier ist ein freies Land!«, verteidigte er sich, stellte sich vor seinen VW-Bus und ahnte: Mit dem Spruch würde er nicht weit kommen.

Kein Wunder, dass die beiden nun amüsiert aufschnaubten. »Du hast exakt eine Minute, um zu verschwinden, dann …«, einer der beiden schob sein Gesicht vor Jakobs, und eine ungesunde Mischung aus Deo- und Tabakgeruch schlug ihm entgegen, »… helfen wir nach.« Sein Zeigefinger schnellte vor und stieß Jakob in die Rippen. »Haben. Wir. Uns. Verstanden?«

Jakob unterdrückte das Bedürfnis, die schmerzhafte Stelle zu massieren, und hielt den Atem an. Er würde nicht nicken. Er würde nicht klein beigeben. Er würde …

»Opa! Hier bist du! Du ahnst nicht, wie lausig der Wasserdruck in den Duschen ist! Ich habe ewig gebraucht.«

Der Mann vor Jakob ließ den Finger sinken, und sie alle drei drehten sich überrascht um. Am überraschtesten war Jakob selbst. Opa?

Der Tramper von vorhin eilte auf ihn zu, riss die Beifahrertür auf und warf mit einem schrägen Lächeln sein Gepäck in den Bus. »Du weißt doch, auch wenn wir im Bulli wohnen, er gilt nicht als Lkw …«, raunte er laut und deutlich, dann wandte er sich an die beiden Brummifahrer. »Wir haben es drinnen schon so eng, also stellt sich Opa gern irgendwohin, wo uns wenigstens der Blick nach draußen ein bisschen Luft lässt.« Nun strahlte er die grimmigen Männer auch noch an. »Aber wem sage ich das, Sie haben ihr zu Hause ja auch immer dabei.«

Perplex sah Jakob, wie sich die Mienen der Lkw-Fahrer entspannten – offensichtlich gab es so etwas wie einen Gemeinschaftscodex aller »Camper«, egal ob privat oder beruflich. Schien etwas Ähnliches zu sein wie bei Motorradfahrern.

»Geben Sie uns ein paar Minuten, um …«, die sommersprossige Bohnenstange warf einen vielsagenden Blick auf Jakobs löchrige Strickstrümpfe, »uns fahrbereit zu machen? Dann haben Sie den Fleck hier ganz für sich.«

Nur wenig später schloss Jakob den letzten Knopf seiner Weste und kletterte hinter Bienchens Steuer. Die inzwischen geradezu handzahmen Lkw-Fahrer winkten zum Abschied. Auf dem Beifahrersitz verknotete der Junge seine langen Beine und sah dabei unverhältnismäßig zufrieden mit sich aus.

Jakob warf ihm einen kopfschüttelnden Seitenblick zu. »Interessante Art, dir eine Mitfahrgelegenheit zu besorgen, Jüngelchen.«

»Interessante Art zu deeskalieren, wenn es zwei gegen einen steht.«

»Auch wieder wahr. Wohin soll’s gehen?«

»Nach Zagreb.«

»So weit fahre ich nicht. Aber ich kann dich bis Zlonice mitnehmen. Morgen. Erst brauche ich ein paar Stunden Schlaf.«

»Hm.« Begeistert klang der Junge nicht, aber schließlich hatte Jakob ihn nicht gezwungen einzusteigen. Dann zuckte er mit den Schultern. »Zlonice«, wiederholte er, als teste er den Namen auf der Zunge. »Muss ich das kennen?«

»Nur wenn du dich für Dampflokomotiven interessierst. Liegt in Tschechien.«

»Tschechien … okay, gebongt.« Der Junge rutschte tiefer in den Sitz und lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze. Seltsamer Kerl.

»Und was gibt es so Wichtiges in Zagreb?«

»Ich muss jemanden finden, der seit einigen Jahren … verschollen ist.«

Jakob nickte. Der Kleine klang nicht, als wollte er das Thema vertiefen. Umso besser. Vorsichtig zog er hinter einem Überlandbus auf die Autobahn, kniff die Augen zusammen und beugte sich vor. Hundertneunzehn Kilometer, das müsste zu schaffen sein. Die Nadel des Tachos zitterte bei 80 km/h. Etwa dreißig Kilometer Autobahn lagen vor ihnen, etwas über achtzig Landstraße, das machte … vielleicht zwei Stunden Fahrzeit?

Konzentriert behielt Jakob die Rücklichter des Busses vor ihm im Auge und achtete auf den richtigen Abstand.

Der Junge sah ihn fragend an, warf einen Blick auf die dunkle Straße und wieder zu ihm zurück. »Fährt das alte Ding nicht schneller?«

»Hast du einen Führerschein?«

»Nein.«

»Dann fährt das alte Ding nicht schneller.«

Der Junge nickte. »Nachtblind?«

»Wie bitte?«

»Erika sagt immer, bei Nachtblindheit ist achtzig auf der Autobahn das höchste der Gefühle.«

»Schlaues Mädchen, deine Erika.«

Der Junge lachte auf. »Mädchen – das würde ihr gefallen. Erika ist meine Großmutter.«

Jakob musste grinsen. Erika passte wirklich besser zu einer älteren Dame als zu einem Teenager. Obwohl, in letzter Zeit kamen die alten Namen wieder. Tradition und so. Auch wenn Jakob sich nie ganz sicher war, welche Tradition da eigentlich angezapft werden sollte.

Nur kurz nach der Wende und der Stilllegung seines Bahnhofs hatte die Gemeinde auf der anderen Seite der Gleise einen neumodischen Spielplatz angelegt. Seitdem hieß die Straße nicht mehr Zur Freundschaft, sondern Am Acker. Von gegenüber waren Stimmen in seinen Garten gedrungen, in die Küche und in das Schlafzimmer. »Josef, komm sofort da runter« riefen sie. »Käthe, gib dem Egon sein Auto zurück!« oder »Lydia, Schätzchen, guck mal, der Erich ist da«.

Erika hatte er nicht gehört, dabei war Erika ein guter Name. Einer, gegen den niemand etwas haben konnte. Ein Name, der nicht an falsche Vorbilder denken ließ, an Politik oder Zäune, sondern an Heidekraut. Und das war beinahe unverwüstlich. Es wuchs selbst zwischen den Gleisen.

Der Bus vor ihnen setzte den Blinker und bog auf einen Parkplatz. Jakob verfluchte im Stillen die von irgendwem festgelegten Pausen. Aber Vorschrift war eben Vorschrift. Zumindest das würde sich nicht so schnell ändern.

Ohne die Rücklichter vor ihm wurde die Autobahn plötzlich so breit wie ein Fluss und ebenso unübersichtlich. Jakob drosselte das Tempo und hielt den Mittelstreifen fest im Blick. »Und du?«, wandte er sich an seinen Mitfahrer. »Wie heißt du?« Schließlich konnte er den sommerbesprossten Rotschopf, der sich ihm da so geschickt aufgedrängt hatte, ja kaum die ganze Zeit »Hey, du da« nennen.

»Miro. Also eigentlich Miroslav, aber alle nennen mich Miro.«

»In Ordnung, Miroslav-Miro. Ich bin Jakob.«

»Hallo Jakob.«

Und damit schwiegen sie wieder. Der Junge quatschte kein Wort zu viel und stellte keine Fragen. Stattdessen starrte er auf sein Tablet, das er aus dem Rucksack gezogen hatte, las vor, was auf den Straßenschildern stand, und wies auf Abzweigungen hin. So wenig Jakob auf Gesellschaft aus war, als nächtlicher Begleiter war Miro ein Gewinn. Ohne ihn hätte er sicherlich die ganze Nacht nach dem Campingplatz und danach nach der ihnen zugewiesenen Parkfläche gesucht, ein abgestecktes Miniaturviereck.

Kaum angekommen schnappte sich Miro auch schon sein Gepäck und baute eine Schlafstelle unter freiem Himmel auf. Zufrieden warf Jakob einen Blick durchs Fenster, klappte sein schmales Bett aus und ließ sich darauf sinken. Morgen früh, exakt um acht Uhr, würde er dem Jungen einen Kaffee anbieten, und gegen Mittag wäre er ihn wieder los.

Miro rollte die Isomatte aus. Dass er nicht plante, sich mit Jakob in den engen Bus zu quetschen, hatte dieser mit einem wohlwollenden Nicken quittiert. Miro konnte es ihm nicht verübeln. Der Bus war eng und der alte Herr offensichtlich gewohnt, allein zu sein.

Davon abgesehen konnte er hier draußen tun und lassen, was er wollte, und musste keinen unangenehmen Fragen ausweichen. Zugegeben, er hätte es schlimmer treffen können. Zumindest quetschte Jakob ihn nicht aus! Kein einziges Mal hatte er wissen wollen, ob Miro eigentlich volljährig war oder ob seine Erziehungsberechtigten wussten, wo er sich befand …

Langsam zog er den Schlafsack aus dem Rucksack. Vor drei Wochen hatten Edina und er zwei gleiche erstanden. Die Reißverschlüsse passten ineinander. Für doppelte Romantik, hatte der Verkäufer gegrinst.

Widerwillig hielt er sich den Schlafsack unter die Nase. Er roch neu. Anders neu als noch vor ein paar Tagen. Neu wie ein »Ätsch!«, aber als er ihn umtauschen wollte, hatte er lernen müssen: Was man für weniger als normal erstand, das musste man auch behalten. Egal wie sehr es einen daran erinnerte, was hätte sein sollen, aber nun anders war.

Wie beispielsweise die Tatsache, dass Edina ihn ausgetauscht hatte wie ein Kleidungsstück. Oder dass damit auch die Kykladenreise gestorben war, für die sie die Campingsachen überhaupt erst angeschafft hatten. Zumindest nutzten sie ihm jetzt trotzdem.

Aus einem Fenster des alten VW-Busses fiel warmes Licht, vielleicht eine Leselampe. Auch der wortkarge Jakob schien etwas nötig zu haben, das ihm beim Einschlafen half. Ein paar Seiten Roman, einige Blicke auf ein altes Foto, irgendetwas, das er mit in die Träume nehmen wollte? In Gedanken strich Miro über das Plektrum an dem Lederband um seinen Hals. Ein Geschenk von Edina. Sie war der Meinung gewesen, eine Gitarre würde ihm gut stehen. »Ist attraktiver, als auf dem Tablet zu nerden«, war ihr Standardspruch. »Außerdem kannst du dann mit Sahid ’ne Band gründen, und ich singe. Oder ich werde eure Managerin.« Na, der Plan war jetzt ja wohl auch im Eimer. Egal! Er hatte sowieso Wichtigeres zu tun.

Entschlossen stopfte er sich den Schlafsack in den Rücken, zog das Fotoalbum aus dem Rucksack und blätterte zu seiner Lieblingsseite: Triest, Anfang der Siebzigerjahre. Seine Großmutter in groß gemusterten Kleidern, in Kostümchen mit Hut. Erika sah umwerfend aus. Erzählt hatte sie von ihrer Zeit als Au-pair nie, erst vor zwei Wochen. Und plötzlich hatte Miro geahnt, weshalb.

Deshalb befand er sich nun auch hier, auf dieser verrückten Reise, von der sie nichts wusste. Denn mehr als ein paar verwackelte Aufnahmen, einen Namen und ein Studienfach an der Universität in Zagreb hatte er nicht. Trotzdem: Er würde alles tun, um nicht mit leeren Händen nach Hause zu kommen.

»Hey!«

Miro erschrak. Das Mädchen war wie aus dem Nichts neben ihm aufgetaucht. Wassertropfen perlten ihr aus dem frisch gewaschenen Haar.

»Selber hey.«

Sie beäugte ihn und warf einen lächelnden Blick zum Fenster des Busses, hinter dem Jakobs Schatten hin und her lief. »Du bist mit deinem Opa auf Tour, was?«

»Hm-m.« Wozu ihr die Wahrheit auf die Nase binden?

»Süß.«

»Hm-m.« Er klappte das Album zu und verstaute es.

Immer noch tropfte Wasser an ihr herunter. »Wir feiern ’ne kleine Party, da hinten in G 36, hast du Lust?«

Einen Moment starrte er sie an. Hatte er? Lust? Einfach mal einen Abend auszuchecken und nicht er selbst zu sein, jemand anderen zu erfinden? Einen Miro, bei dem alles rundlief, einen, der eine Freundin hatte, das Abitur in der Tasche und die Aufnahmeprüfung zur Universität der Künste bestanden?

»Nett von dir, aber nein danke.«

Sie zuckte mit den Schultern und schüttelte sich wie ein kleiner Hund. »Wenn du es dir anders überlegst: drei Reihen weiter und nach rechts. Immer der Musik nach.«

»Alles klar.«

Miro sah ihr hinterher. Die Haare fielen ihr über die Schultern und hinterließen eine Tropfspur. Wenn er nicht zu lange wartete, könnte er der folgen, wie Hänsel, und doch nicht nach Hause finden. Aber das war ja auch der Plan, oder? Erst mal nicht nach Hause.

Miro hatte Erika erwartet, als das Telefon klingelte. Es war schon über eine Stunde nach ihrem Feierabend gewesen.

Stattdessen hatte eine fremde Stimme gefragt: »Miroslav Möller? Der Enkel von Erika Möller?« Und dann dieser eine Satz, der ihm noch immer die Kehle zuschnürte: »Ihre Großmutter hatte einen Unfall.«

Ob er die Wohnungstür abgeschlossen hatte, konnte er schon am Ende der Treppen nicht mehr mit Sicherheit sagen. Aber er hatte keine Zeit, um umzudrehen. Er hatte auch keine Zeit für Edina, mit der er vor dem Haus zusammengestoßen war. Doch sie hatte sich nicht abwimmeln lassen. Sie hatte losgelegt, als müsste sie explodieren, dürfte sie all die offenbar zurechtgelegten Sätze nicht rauslassen. An diese Party hatte sie Miro erinnert, zu der er kommen wollte, aber dann doch nicht aufgetaucht war. Im Gegensatz zu Sahid, seinem besten Freund.

Und Miro? Miro war zur Tramstation gejoggt, hatte Edina weit hinter sich gelassen, als er die Bahn auf der Brücke entdeckte. Gerade so hatte er sie erwischt, und als sich die Türen hinter ihm schlossen, hatte Edina die Haltestelle erreicht und ihm hinterhergestarrt, die Lippen fest aufeinandergepresst. Hatte er eigentlich irgendetwas gesagt? So etwas wie: »Edi, sei nicht böse, ich muss ins Krankenhaus – meine Oma!«

Dass er sich gewünscht hatte, er besäße einen Führerschein, das wusste er noch. Dann war die Tram angeruckelt, weiter vorn hatte ein Kind geweint und er seinen Geldbeutel vergessen. Edina hatte ihm etwas nachgerufen. Aber das Quietschen der Räder auf den Schienen war lauter gewesen.

Nur vier Tage war das her. Miro schloss die Augen. Hoch über ihm zwitscherte ein Vogel, wild wie eine Amsel und melodiös wie eine Lerche. Er nahm sein Tablet und drückte auf Aufnahme. Ein paar kleine Veränderungen und das Geräusch ergäbe eine gute Bassline. Zu Hause hätte er sich damit in sein Studio zurückgezogen. Erika und er hatten die Abstellkammer gedämmt. Miro hatte Eierkartons gesammelt, doch zu seinem Geburtstag standen da plötzlich Holzfaserplatten, Schaumstoff, Holzlatten und Gipskarton. Erika hatte sich informiert und sogar eine Zeichnung angefertigt. »Du glaubst doch nicht, dass ich nur Tortenverzierungen kann?«, hatte sie gegrient und die Klebepistole gezückt. Eine Woche hatten sie geklebt und gezimmert, und schließlich waren aus den sechs Quadratmetern für Zucker, Mehl und Spritztüllen fünf geworden – nur für Jakob und seine Musik. Sahid hatte ihm geholfen, einen günstigen Monitor zu schießen, den Trittschalldämpfer, eine Mikrofonspinne.

Doch zur Not reichten auch das Tablet und das richtige Programm. Mit wenigen Fingerbewegungen zog Miro das aufgenommene Zwitschern in die Länge, bis es nur noch ein tiefes Brummen war. Dann verschnellte er es zu einem hektischen Trillern und legte einen beruhigenden Viervierteltakt darunter, wie das unaufgeregte Schlagen eines Herzens.

Es klang … okay. Mehr nicht. Genervt schloss er die App. Vogelstimmen sampeln konnte jeder. Um für das Masterprogramm Sound Studies and Sonic Arts an der Universität der Künste aufgenommen zu werden, brauchte er etwas Besseres. Vor allem, wenn er einer jener wenigen Studenten sein wollte, die ohne Bachelor aufgenommen wurden. Er musste etwas abliefern, das seine besondere Befähigung erkennen ließ und das alle anderen aus dem Rennen warf. Etwas Außergewöhnliches, nie dagewesenes, etwas, das Sinn ergab. Aber wie, wenn momentan irgendwie gar nichts mehr stimmte?

Der Wind fuhr in Böen durch die Bäume, dazwischen wurde es in unregelmäßigen Abständen kurz still. Miro lauschte. Vielleicht ging er es auch ganz falsch an. Vielleicht sollte er sich nicht auf zwei Dinge gleichzeitig konzentrieren. Das Wichtigste war erst einmal, diesen Stjepan für Erika zu finden. Der Studienplatz wäre nächstes Jahr auch noch da.

Unruhig drehte sich Jakob auf den Bauch und versuchte regelmäßig zu atmen, regelmäßig genug, um sich selbst in den Schlaf zu tricksen.

Keine Chance.

Sein linkes Knie knirschte.

Müde drehte er sich auf die Seite, unter ihm knarzte das Holz, aus dem er das Klappsofa gebaut hatte. Nun gab zwar das Knie Ruhe, aber sein Herz fühlte sich an, als würde es vom eigenen Körpergewicht zerquetscht. Rechts beschwerte sich die Schulter, und auf dem Rücken schlief Jakob schon seit etwas mehr als fünfzig Jahren nicht mehr ein.

Stöhnend richtete er sich auf. Es war zu still. Stille war die Abwesenheit von etwas, das eigentlich da sein sollte. Wie das regelmäßige Rattern von Rädern über Gleise. Das hatte ihn immer beruhigt. Doch auch das hatte er verloren. An der Stelle des kleinen Bahnwärterhäuschens würde bald ein luxuriöser Wohnkomplex stehen – sämtliche Appartements gleich luftig, gleich modern, gleich … gleich. Und auch die Gleise würden weichen, längst überholt und nutzlos ohne Züge, die sie befuhren.

Seufzend wackelte Jakob mit den kalten Zehen. Er musste seine Nachtsocken stopfen. Ob er versuchen sollte, im Sitzen zu schlafen? Womöglich könnte er sich dann einbilden, alles wäre beim Alten, er wartete auf den nächsten Zug.

Theoretisch. Denn praktisch wusste er natürlich, er machte sich etwas vor. Er war schließlich nicht senil!

Leises Klopfen auf dem Wagendach ließ ihn aufhorchen: Es begann zu regnen. Sollte er den Jungen wecken? Die Heizung lief nur, wenn der Motor an war. Wurden Miros Kleider nass, blieben sie es lange.

Schon waren gezielte Flüche und Schritte zu hören. Die Beifahrertür schwang auf, etwas landete zwischen den Sitzen, rutschte nach hinten und fiel vor Jakobs Liege: ein Fotoalbum. Erst danach wuchtete Miro Schlafsack, Gepäck und Isomatte auf die Vordersitze und kletterte hinterher. Ohne einen Blick zu Jakob richtete er sich in der Fahrerkabine ein und zog den Schlafsack über sich.

Jakob hielt still. Weshalb hatte der seltsame Junge als Erstes das Fotoalbum gerettet und erst anschließend den Rest seiner Sachen? Vom Umschlag zwinkerte ihm das West-Sandmännchen zu, inzwischen eine Rarität. Einer der seltenen Fälle, in dem die Ost-Tradition gewonnen hatte.

Miros Atemzüge wurden ruhiger.

Vorsichtig beugte Jakob sich hinab, hob leise das Album auf und warf einen schnellen Blick nach vorn. Miro lag von ihm abgewandt, den Schlafsack über dem Kopf.

Jakob begann zu blättern. Die ersten Aufnahmen waren schwarz-weiß. Eine junge Frau knetete Teig, sie hatte Mehl auf der Wange. Ob das Miros Großmutter war, von der er erzählt hatte? Inmitten einer Freundesgruppe stand sie auf der nächsten Seite an einer Autorennstrecke, dann Arm in Arm mit einem jungen Mann vor einem Kino. La bella addormentata nel bosco kündigten hinter ihnen geschwungene Buchstaben an – Dornröschen. Das verliebte Strahlen der beiden war beinahe fühlbar, die aufgewickelte Frisur der jungen Erika zerzaust.

»Banane nennt man das, verrückt, oder? Meine Mutter trägt sie auf dem Kopf, aber kaufen kann man sie nicht«, hatte Marie dazu gesagt.

Marie.

War das wirklich schon fünfzig Jahre her?

Jakob blätterte weiter. Bilder von einem Hafen, von Hügeln und Wanderausflügen.

Nur wenige Seiten später dann die ersten Farbaufnahmen: Ein Baby lag auf einer Decke mit rot-weißen Rauten. Stefanie, 3. August 1972 stand daneben. Miros Mutter? Die Einschulung folgte, Urlaube, der Eiffelturm. Eindrucksvoll sah er aus, so ganz aus Eisen und Nieten. Doch das war schließlich auch der Sinn der Sache gewesen, oder? Zeigen, was man konnte. Höher, besser, weiter als die anderen. Rund achtzig Jahre nach dem französischen Monument war der Berliner Fernsehturm entstanden. Aus so ziemlich den gleichen Gründen. Ein hoch in den Himmel gereckter Mittelfinger gen Westen.

Den Fernsehturm hatte Jakob genau einmal besucht, da hatte es die Mauer schon nicht mehr gegeben. Er hatte mit den anderen Touristen in der Schlange gestanden, unauffällig. Er hatte den absurd hohen Preis gezahlt und schaudernd die Maskottchen aus der Hölle betrachtet, die hier angeboten wurden: Fernsehtürme aus Plüsch, der Kopf riesig, der Körper nur aus einem Bein bestehend. Wer wollte mit so was einschlafen?

Schließlich war er in die Kugel hinauftransportiert worden, wo es wegen eines Abflussproblems der Toiletten bestialisch stank. Er hatte sich Gustavs Schal über die Nase gezogen und war einmal im Kreis gelaufen. Schöne Aussicht.

Seitdem war Berlin von oben für ihn mit Gestank und dem Geruch von Fan verknüpft. Sein Großvater hatte darauf geschworen. Nichts zementierte letzte Haarsträhnen besser über eine Glatze. »Deine Großmutter mochte keine Männer ohne Haar«, hatte Gustav einmal erklärt und Jakob wohlweislich geschwiegen. Seine Großmutter hatte nicht lange genug gelebt, um ihre Meinung zu ändern. Er selbst sah das anders: Verloren war verloren. Es machte keinen Sinn zu versuchen, es zu verschleiern. Völlig egal, ob es sich dabei um die eigene Haarpracht handelte oder um wichtigere Dinge. Wie zum Beispiel den Glauben daran, dass doch noch irgendwie alles gut würde.

Müde strich er sich über den kahlen Kopf, den er alle zwei Wochen rasierte, und gähnte. Den Eiffelturm hatte er nie besucht. Ebenso wenig wie das Chrysler-Gebäude, die Zwillingstürme oder aber den Intershop-Tower in Jena, der schon aus dem Zugfenster müde und überholt aussah.

Jakob klappte das Album zu und schob es leise zwischen die Sitze nach vorn neben Miro. Paris, Familienfotos – nichts davon hatte es für ihn gegeben. Warum auch? Fotos machte man schließlich von Momenten und Menschen, die man nicht vergessen wollte.

Das einzige Fotoalbum, das er vererbt bekommen hatte, war mit Bildern von Dampflokomotiven gefüllt. Dazu gehörte der alte Fotoapparat seines Großvaters, eine Praktica. Die hatte er zwar mit auf die Reise genommen – ob sie jedoch noch immer funktionierte, musste sich erst herausstellen.

Von draußen drang, erst leise, dann lauter werdend, ein monotones Stampfen in seine Gedanken; eine Frauenstimme wiederholte die immer gleichen Zeilen: If you want to take a ride, well you’ve got to pay the toll.

Jakob schüttelte das Kissen auf und lehnte sich gegen das Kopfende des schmalen Betts. Mit ein bisschen gutem Willen könnte er sich vorstellen, wieder im Häuschen neben den Gleisen zu sein. Dass das regelmäßige Basswummern so etwas war wie der nächste Zug: eine Dampflokomotive, leises Tuten, dann Güter- und Personenwagen, nicht weniger als sieben … Das leise Tacktacktack der Räder, die über einen Schienenstoß rollten …

Nur wenig später folgte dieser Geruch, dem es immer gelungen war, sich einen Weg in sein Schlafzimmer zu bahnen, selbst bei geschlossenen Fenstern. Den er schon deshalb so geliebt und gehasst hatte, weil er ihn an winterliche Stadtspaziergänge mit Marie erinnerte.

Jakob rutschte tiefer, seine Augen fielen zu.

Berlin, Prenzlauer Berg, 1966

»Du bist gekommen!« Einen Moment hibbelte Marie vor Jakob auf den Zehenspitzen herum, als versuchte sie, sich größer zu machen. Im letzten Jahr hatte er sie um fast einen Kopf überholt. »Sag bloß, dein Vater hat dir Ausgang gegeben?«

»Sehr lustig!« Jakob verdrehte die Augen und tastete in seiner Jackentasche nach dem Geschenk für sie.

Doch Marie griff nach seiner Hand und zog ihn in die Wohnung. Seine Antwort schien sie erwartet zu haben. »Ah, lass mich raten, der alte Bettdecken- und Fenstertrick?«

Er nickte. Den hatte er schließlich von ihr gelernt – wie so vieles. Der Unterschied war nur: Marie musste ihn kaum anwenden. Ihre Eltern waren wesentlich entspannter als seine. Und ihr Bruder hatte Besseres zu tun, als ihr hinterherzuspionieren oder sie zu verpetzen.

Doch nichts und niemand hätte ihn heute Abend davon abgehalten zu kommen. Schließlich hatte sie um zwölf Geburtstag.

»Na dann, auf geht’s, die anderen sind schon da.« Sie schob ihn den Flur entlang.

Die anderen. Jakob versteifte.

Die anderen wohnten in ihrer Nähe und sahen sie inzwischen viel häufiger als er. Die anderen, das waren ihre Klassenkameraden und die Freunde ihres Bruders, drei Jahre älter als sie oder Jakob. Sie kannten sich mit Musik aus und spielten Instrumente, mussten nicht aus Schlafzimmerfenstern steigen und nahmen Marie am Wochenende auf ihren Wieseln oder Schwalben mit ins Umland. Und vor allem sorgten sie dafür, dass er sich wieder fühlte wie damals, als er Marie kennengelernt hatte: ein kleiner, unsicherer Junge mit peinlicher Frisur vom Land. Einer, der alles erst lernen musste, selbst das ordentliche Spucken.

»Hey, allerseits, Jakob ist da!«

Ein paar Köpfe gingen hoch und nickten, einige der auf dem Boden lümmelnden Gestalten hoben grüßend ihre Gläser.

Doch Jakob hatte nur Augen für Marie, die sich auf ein Kissen vor dem Plattenspieler ihrer Eltern niederließ. Direkt neben Mark, der sofort begann, auf sie einzureden. Marie lächelte Jakob zu und wies auf einen freien Platz auf dem Sofa. »Nimm dir was zu trinken, wir haben Saft und Wasser, und Mark hat Most von seiner Oma mitgebracht.«

Maries Bruder Johannes rutschte zur Seite und hielt ihm zwinkernd ein Glas entgegen. »Niemand sollte fünfzehn werden ohne Most, richtig? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, mein bester Freund will meine kleine Schwester bezirzen.«

Marks Kopf fuhr hoch. »Wenn du es nicht besser wüsstest? Ha! Das ist genau, was ich tue, mein Lieber.«

Johannes lächelte schmallippig. »Marie hat etwas Besseres verdient.«

»Also, ich wäre auch noch zu haben«, mischte sich jemand lachend von der anderen Seite des Raumes ein, »samt meiner Plattensammlung!«

Und schon fielen sämtliche der anwesenden Jungs ein.

»Nimm mich, Marie, ich passe immer auf dich auf.«

»Ich würde dich auf Händen tragen!«

»Also, ich habe Platten und einen Spieler!«

»Ich eine E-Gitarre!«

»Ihr Kinder könnt allesamt einpacken«, rümpfte Mark die Nase. »Der Einzige, der hier den richtigen Hüftschwung hat, bin ich!« Er setzte den Tonarm ein Stück weiter und zog Marie in die Höhe. Stolpernd landete sie in seinen Armen. Er wirbelte sie um die eigene Achse und zog sie im Rhythmus wippend an sich. Sein Mund, viel zu nah an ihrem Ohr, sang den Text mit.

Jakob kannte das Lied. Tante Inge hatte es gehört, vor fünf Jahren, kurz bevor sie verschwunden war. Ihr damaliger Freund war Amerikaner gewesen und alle naselang aus Steglitz angereist. Im Gepäck Geschenke. Diese Platte hatte Inge für Jakob an ihrem geheimen Ort zurückgelassen. Niemand in seiner Familie wusste davon. Nicht einmal sein Bruder Klement, der sonst alle Geheimverstecke fand.

Mark drehte Marie zu sich. Ihre Haare flogen, ihre Handflächen klatschten gegen seine Brust. Jakob wünschte sich, er könnte aufspringen und dem Wichtigtuer den viel zu süßen Most über die gegelte Tolle schütten.

Während Mark Marie tief in die Augen sah und den Refrain schmetterte – Marie’s the name of his latest flame –, machte sie sich los. Wäre er nicht so wütend gewesen, Jakob hätte über das überraschte Gesicht ihres Tanzpartners fast gelacht. So kannte er sie, seine Marie. So hatte sie immer schon ausgesehen, wenn sie etwas empörte. Damals, als sie noch schneller gewesen war als er und ihre Haare wild hinter ihr hergeflogen waren. Die Hände in die Seiten gestemmt, blitzte sie Mark an.

Jakob entspannte sich und rutschte tiefer in die Polster. Johannes neben ihm bedachte seinen besten Freund mit einem schadenfrohen Lächeln.

»Nur damit ihr es wisst!« Marie sah in die Runde, bis sie Jakob gefunden hatte, den Einzigen, der während des Nimm-mich-Reigens vorhin stumm geblieben war. »Ihr könnt mich mal! Wenn überhaupt, suche ich mir meinen Freund ganz allein aus, vielen Dank!«

Johlen, Klatschen und Pfiffe folgten. Einen Moment sah es aus, als wollte Mark widersprechen, doch Johannes kam ihm zuvor. »Außerdem«, feixte er, »welcher Verlierer hört noch Elvis? Legt einer von euch bitte mal die Stones auf!«

Irgendjemand wechselte die Platte. Jakob musste lächeln. Mark hatte es versaut. Dabei war seine Wahl eine wirklich gute gewesen. Inges Freund hatte Jakob den Text übersetzt, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Unter anderem ging es darin um grüne Augen, die schönsten weit und breit.

Inge hatte ihm damals wissend zugelächelt. »Du solltest die Platte behalten, Jakob. Vielleicht willst du sie deiner Marie schenken.«

Als Jakob aufwachte, roch es nach etwas Scharfem, Verbranntem. Er schnellte in die Höhe, stieß sich den Kopf, verlor die letzten Traumfetzen, rappelte sich auf und stolperte nach draußen.

Miro winkte ihm gut gelaunt entgegen. »Ich habe uns echten Kaffee besorgt!« Eine Gaskartusche fauchte, im Alubehälter darüber brodelte ölig schwarze Flüssigkeit, die der Junge gerecht auf zwei seiner neumodischen ausklappbaren Campingbecher aufteilte. »Ich wollte Sie nicht wecken, also ist es ein türkischer geworden.«

Jakob gähnte überfordert – was hatte das eine mit dem anderen zu tun? – und schnupperte. »Nenn mich spießig, Kleiner, aber für mich ist echter Kaffee löslich. Der schmeckt nach sechs Uhr und dem ersten Zug! Dein Gebräu riecht, als könnte man damit Metall verätzen!« Sich schüttelnd gab er den Becher wieder zurück. »Außerdem ist die Regel: erst Morgengymnastik, dann Kaffee.«

Miro zuckte mit den Schultern und sah zu, wie Jakob einige Windmühlen mit den Armen vollführte, den Hals vorsichtig hin und her drehte und die Knie beugte. In ein paar Jahren würde er sich nicht mehr wundern! Oder freiwillig auf den Vordersitzen eines Autos schlafen. Aber nun gut, in ein paar Jahren wäre er auch kaum mehr trampend auf dem Weg nach Zagreb, um wen auch immer zu finden. Was hatte er gesagt? Einen Verschollenen. Komische Bezeichnung. Auch in Jakobs Leben hatte es Menschen gegeben, zu denen er den Kontakt verloren hatte, und trotzdem immer mal wieder an sie gedacht. Doch diese bezeichnete er ebenso wenig als verschollen wie all jene, die ihn mit voller Absicht verlassen hatten.

»Wer ist eigentlich Marie?«

Jakob stutzte und starrte den Jungen an, ein Bein noch immer vor sich erhoben. »Was?«

»Sie haben nach ihr gerufen, letzte Nacht. Im Traum?«

Jakobs verletztes Knie begann zu zittern – ein deutliches Zeichen dafür, es für heute mit dem Sport gut sein zu lassen. Er rollte mit den Schultern und stemmte die Arme in die Hüften. »Geht dich nichts an!«

Damit drehte er sich um. Wo genau hatte er, verdammt noch mal, das lösliche Kaffeepulver verstaut?

Die gewohnten Handgriffe taten gut. Jakob schüttelte seine Kleidungsstücke aus, zog wie immer erst die Hose, dann das Hemd über. Dann rollte er das Kissen in die Mitte der Decke und verstaute beides im Kasten unter dem Bett. Irgendwo in den Schränken rumpelte es. Etwas fauchte. Jakob lauschte kopfschüttelnd. Wo kam das denn jetzt her?

Vorsichtig zog er im Küchenbereich eine Tür nach der anderen auf. Die Campingteller standen, der Größe nach geordnet, auf ihren Regalbrettern. Sämtliche seiner Becher hingen in Reihe an den dazugehörigen Haken. Zwischen den drei Töpfen lugten ausrangierte Geschirrtücher hervor. Er klopfte das Sofabett in Form und sah sich um. Nun war es wieder still. Alles, wie es sein sollte. Nur das Gepäck des Kleinen lag unordentlich auf den Vordersitzen, daneben sein Fotoalbum.

Jakob sah weg. Er hatte keine Ahnung, wie lange er nicht mehr von Marie geträumt hatte. Normalerweise träumte er nicht. Und das war völlig in Ordnung. Nichts Gutes kam dabei heraus, wenn man versuchte, Träume mit in den Tag zu nehmen.

Vielleicht war der Brief in seinem Jackett schuld? An niemanden aus seiner Vergangenheit hatte er in den letzten Jahren gedacht. Nicht an seine Eltern, nicht an seinen Bruder, nicht an Inge. Aber was zur Hölle sollte es auch bringen, über Menschen nachzudenken, die dich ohne einen Blick zurück aus ihrem Leben gestrichen hatten?

»Stell dir vor, du fährst im Zug von A nach B, Jakob«, hatte Gustav ihm einmal gesagt. »Menschen steigen aus. Andere steigen ein. Und du kannst nicht viel dagegen tun. Aber du kannst nach vorn gucken, dorthin, wohin dich die Gleise tragen.« Eine schöne Vorstellung: Zwei Spuren für die Räder und du selbst blickst aus dem Fenster nach vorn ins Demnächst und Irgendwo. Immer ging es weiter.

In letzter Zeit war er sich allerdings nicht mehr ganz so sicher, ob das auch stimmte. Oder aber ob es wirklich erstrebenswert war. Was, wenn er querfeldein musste?

Das war das Schöne an Bienchen. Bienchen hatte alles, was er brauchte, und sie machte jede Kurve mit.

Jakob rollte seine Schlafsocken zusammen, verknotete sie im Schlafanzug und verstaute sein Gute-Nacht-Paket, wie von zu Hause gewohnt, im Kleiderschrank. In diesem hingen seine drei Anzüge und fünf Hemden, hier lag ordentlich aufgestapelt Unterwäsche und Gustavs Lieblingsdecke. Für den Fall, dass es einmal kalt werden sollte.

Verwundert hielt Jakob inne. Hatte die Decke sich eben bewegt? Und woher kam die Delle in ihrer Mitte, auf der einer seiner Kniestrümpfe lag? Der zweite fehlte. Seltsam. Doch es wurde noch komischer: Als er hineingriff, um alles wieder glatt zu ziehen, fühlte es sich unter seinen Händen warm an. Jakob beugte sich weiter vor, konnte jedoch weder den fehlenden Strumpf noch etwas anderes entdecken.

»Jakob?« Miro streckte den Kopf durch die Tür. »Das Wasser kocht. Hast du dein Kaffeepulver gefunden?«

»Rechts, rechts, rechts! Da auf den Parkplatz, Jakob!«

»Schrei mich nicht an, Kleiner!« Auch Jakob brüllte. Mehr aus Schreck. Dann räusperte er sich und umfasste das Steuerrad fester. »Ich hasse das. Den Befehlston, die Lautstärke. Und dass ihr immer denkt, wir Alten sind alle taub!«

»Entschuldige. Würdest du bitte rausfahren?«

»Was ist los, drückt deine Pennälerblase etwa schon wieder?« Vorschriftsmäßig setzte Jakob den Blinker und zog auf die Ausfahrt.

Miro verdrehte die Augen. »Hast du das Schild nicht gesehen?«

»Klar, noch über Hundert Kilometer nach Prag, aber da will ich ja nicht hin.«

»Schade eigentlich. Von da aus käme ich sicher leichter weg. Aber das meine ich gar nicht. Schau!« Miro deutete auf eine Wellblechbaracke. Schmal und grau drückte sie sich zwischen die sie umrundenden Lkws, Camper und Personenfahrzeuge wie ein kleines Tier, das den Anschluss an seine Herde verpasst hatte und sich plötzlich inmitten vieler farbenfroher Angreifer befand.

Jakob stellte den Motor ab. Weshalb hielten ausgerechnet hier so viele Menschen? Weshalb mussten sie hier halten? Gab es etwas umsonst?

»Wir brauchen eine Vignette«, erklärte Miro. »Für die Autobahn.« Er tippte auf seinem Tablet herum. »310 Tschechische Kronen für zehn Tage. Reichen dir zehn Tage?«

Genau das war die Frage, oder? Reichten zehn Tage, um eine Entscheidung zu treffen, die sein ganzes Leben auf den Kopf stellen konnte? Jakob fühlte sich bedrängt. Plötzlich wütend drehte er sich zu seinem Mitfahrer. »Verdammt«, grollte er, »ich wusste, es gab einen Grund, warum ich Landstraße fahren wollte. Aber du und dein elektronisches Gehirn wussten es ja besser! Da vorn ist die Auffahrt zur Schnellstraße, Jakob«, machte er Miro näselnd nach, »dann sind wir im Nullkommanichts da.«

»Nullkommanichts? Nie im Leben habe ich Nullkommanichts gesagt.«

»Was auch immer. Du hast uns hierhergeführt, du zahlst.«

Mit eckigen Bewegungen löste Miro den Gurt, schnappte sich sein Gepäck, stieg aus und knallte die Beifahrertür zu.

Einen Moment war Jakob überrascht, dann begann er zu brüllen: »Wie jetzt? Du gehst? Wirklich?«

Doch der Junge rief nur etwas Unverständliches über die Schulter und verschwand zwischen zwei Wohnwagen.

Wütend schlug Jakob auf das Steuerrad. »Bitte, dann such dir eben eine andere Mitfahrgelegenheit! Ist mir nur recht!«

Dann könnte er in Ruhe weiterfahren. All die Orte und Lokomotiven auf seiner Liste besuchen, von denen Gustav und er geträumt hatten, und währenddessen auf eine Eingebung von oben hoffen. Oder wo sich sein Großvater nun auch immer befand. Zum Eisenbahnmuseum in Zlonice war es jedenfalls nicht mehr weit. Vielleicht konnte Jakob sogar auf den Mautnachweis verzichten. Sollten sie ihn doch blitzen und ihm ein Knöllchen schicken! Vermutlich stand sein Name inzwischen gar nicht mehr auf dem Briefkasten. Falls es überhaupt noch einen Briefkasten gab.

Aber was, wenn die Tschechen Schranken direkt über die Fahrbahnen gebaut hatten, mit Beamten in Uniformen – Autobahngebührpolizei? Mit Polizeibeamten hatte er es nicht so. Ob es hier irgendwo einen Forstweg gab, den er nehmen konnte, um wieder auf die Landstraße zu gelangen? Oder aber: Wie weit war die letzte Ausfahrt? Kam er davon, wenn er umdrehte und eine Runde Geisterfahrer auf dem Standstreifen spielte?

Die Tür des Wohnwagens vor ihm ging auf, und eine unübersichtliche Masse Jugendlicher quoll heraus, sechs, sieben, neun Jungs, mit tief sitzenden Hosen und Kapuzenshirts. Alle etwa in Miros Alter und mit Bierdosen in der Hand, die sie singend leerten und in Richtung eines übervollen Abfalleimers warfen. Flüssigkeit spritzte herum, nur eine einzige traf den Behälter. Alle anderen gesellten sich zu den umliegenden Flaschen, Dosen und Plastiktüten. Was war nur los mit dieser Generation? Schon am Morgen blau, und ordentlich zielen konnten sie auch nicht. Wenn die Miro mitnahmen, käme der Junge nie in Zagreb an. Dann landete er ziemlich sicher in einem der nächsten Straßengräben.

Jakob verriegelte die Beifahrertür, schnappte sich seine Geldbörse, stieg aus und schloss ab. Dann begann er nach Miro zu suchen. Die jungen Kerle prosteten ihm zu. Einer von ihnen hielt ihm eine Dose entgegen und murmelte irgendwas mit vielen Kehllauten. Niederländisch vielleicht oder Skandinavisch, die waren schließlich alle Meister im Trinken und Wohnwagen-zu-Schrott-Fahren, das hatte er gehört. »Nein danke, Knirps, bewahr’ das mal auf für später, wenn ihr auf den Abschleppwagen wartet.«

Weiter vorn stapfte ihm empört ein Familienvater entgegen, umschwirrt von der Gattin mit umgeschnalltem Baby und drei weiteren Kindern. »Nur Barzahlung!«, schimpfte er vor sich hin, »weder Visa noch EC, ja, wo sind wir denn hier, im Osten?«

»Du wolltest ja unbedingt mit dem Caravan in den Urlaub«, hielt seine Frau dagegen. »Wären wir nach Mallorca geflogen, hätten wir das Problem nicht!«

»Papa, ich will auch so einen Aufkleber«, quengelte das Mädchen, und die beiden Jungs sangen: »Mallorca – oh-oh. Wir wollen nach Mallorca!«

Jakob unterdrückte ein Grinsen. Na dann, schönen Urlaub noch!

Vor der Wellblechhütte stand eine Schlange mehr oder weniger missgelaunter Menschen. Nur ein verliebtes Paar machte sich nichts daraus, ob und wie langsam es vorwärtsging. Es vertrieb sich die Zeit damit, herauszufinden, wie lange es Mund an Mund bleiben konnte, ohne zum Atmen aufzutauchen.

»Hey, hinten ist das Ende der Schlange«, schnarrte Jakob jemand entgegen, als er den Kopf durch den Eingang streckte.

Doch auch drinnen gab es keine Spur von Miro. Langsam lief er zurück und stellte sich an.

»Na bitte, geht doch, immer schön der Reihe nach«, ließ sich der Klugscheißer vernehmen und starrte Jakob an.

Jakob ballte die Fäuste und starrte zurück.

»Ist was?«, fauchte der Mann.

Jakob schüttelte den Kopf. Konnte man Auf-Parkplätzen-in-Streitereien-Geraten als Hobby bezeichnen? Denn dafür schien er eine echte Begabung zu entwickeln. Nur dass er diesmal wohl eher nicht darauf vertrauen konnte, von Miro gerettet zu werden. Nur mühevoll wandte Jakob den Blick ab und fühlte sich schlecht. Als hätte er klein beigegeben.

Er wusste schon, warum er Menschen mied. Sie dachten nur an sich selbst, durchbrachen mühsam aufgebaute Routinen, quatschten drauflos, völlig egal, ob ihr Gegenüber allein sein wollte. Sie nutzten Tresennachbarn als seelische Mülleimer für Lebensgeschichten, die auch nicht schlimmer oder härter waren als andere. Oder sie starrten anderen in die Gesichter, glaubten, sie wüssten Bescheid, und ratterten Beschuldigungen herunter. So lange und lautstark, bis man fast so weit war, einfach zu nicken und irgendetwas zuzugeben, nur damit sie endlich Ruhe gaben.

Jemand umfasste Jakobs Ellenbogen, und er zuckte zusammen. »Jakob, was machst du?« Miro drückte ihm ein weißes Viereck in die Hand. »Ich habe doch gesagt, ich hole das Ding.«

»Hast du? Aber … ich habe vorne nachgesehen, du standst nicht in der Reihe.«

Miro grinste schräg. »Ich war noch pinkeln. Du weißt schon, Pennälerblase und so.«

»Und zum Pinkeln brauchst du dein ganzes Gepäck?«

Nun guckte der Junge ertappt. »Na ja, ich war nicht sicher, ob du noch da bist, wenn ich zurückkomme.«

Jakob schwieg. Miro hatte wirklich gedacht, er würde ihn einfach so stehen lassen? Nun ja, immerhin hatte er ihn angebrüllt. Und vielleicht hatte er auch mit dem Gedanken gespielt. Aber getan hätte er es nicht, nicht wirklich, oder?

Schweigend liefen sie nebeneinander zum Auto zurück. Der Wohnwagen mit den betrunkenen Teenies war verschwunden. Auf seinem Platz stand ein niegelnagelneuer VW-Bus.

Jakob rümpfte die Nase. »Ein T7, na klar. Hat hier sicher nur geparkt, damit Bienchen neben ihm aussieht wie gerade aus dem Stall gekrochen.«

»Bienchen?«

»Mein T2.«

Miro gluckste. »Du nennst deinen VW-Bus Bienchen?«

Jakob nickte würdevoll und wies auf die dunklen Streifen, mit denen er in den letzten Jahren die immer weiter wuchernden Roststellen ausgebessert hatte. »Natürlich tue ich das, guck sie dir doch mal an. Gelb und braunschwarz.«

»Sie?« Offenbar war das noch lustiger als der Name selbst. »Dein Bus ist eine Sie?«

»Allerdings. Und wenn du sie weiter beleidigst, kannst du dir gleich eine andere Mitfahrgelegenheit suchen!«

»Um nichts in der Welt!« Miro hechtete zur Vordertür und wartete geduldig, bis Jakob ihm aufmachte. Dann warf er seinen Rucksack nach hinten, schlüpfte aus den Schuhen und zog die Füße auf den Sitz.

Jakob ließ den Motor an. Er knatterte fröhlich. Zumindest Bienchen schien erleichtert, dass der Junge wieder mitgekommen war.

»Mach mal ein bisschen Musik«, hatte Jakob gebeten. Oder besser, er hatte es befohlen – in diesem immer etwas knurrigen Jakob-Tonfall, der für ihn normal zu sein schien. Als erwartete er ständigen Widerspruch. Doch langsam konnte Miro dazwischen auch andere Dinge hören: Ungeduld natürlich und Genervtheit, aber auch Unsicherheit. Letzteres erinnerte ihn an den alten Herrn Knopp, Erikas Stammkunden. Seit Jahren holte er sich jeden Morgen Zwei Schrippen und wat Süßes, scheinbar ohne zu kapieren, dass Erika nur wegen ihm jeden Tag zwei Brötchen backte. Schließlich war sie Konditorin. Sie machte Torten, Petit Fours und Pralinen.

Und dann, eines Vormittags, als sich Erika wie immer auf ihrer Lieferrunde befand, war Knopp mit seinem Werkzeugkasten im Laden aufgetaucht und hatte die schleifende Eingangstür repariert. »Als Dank«, hatte er geschnarrt und: »Sag deiner Oma, ich weiß das mit den Schrippen zu schätzen.«

Kopfschüttelnd wühlte sich Miro durch die Pappschachtel, auf die Jakob gedeutet hatte. Darin befanden sich schätzungsweise dreißig Kassetten. Kassetten! Da baute der alte Herr sich ein Bett in den Bus und irgendein verzwicktes Gerät aus Kabeln und Rädern, das seinen Tauchsieder für den allmorgendlichen Auflöskaffee selbst dann mit Strom versorgte, wenn er auf freiem Feld hielt. Aber auf eine ordentliche Musikanlage verzichtete er. Oder, wenn sie schon dabei waren, auf ein GPS-Gerät. Aber nun gut. Wer keine Visakarte besaß, damit der große Bruder nicht sehen konnte, wo man sich befand, der traute natürlich auch keiner Positionsbestimmung!

Klassik stand auf den meisten der Hüllen. Daneben Buchstaben und Ziffern.

»Hat die Beschriftung irgendein System?«

»Hm?« Jakob war abgelenkt. Argwöhnisch blickte er der tschechischen Grenze entgegen. Schon bei dem ersten Hinweis darauf hatte er seinen Ausweis gezückt und mit der Hand vor Miros Gesicht herumgewedelt, damit auch der seinen herausfischte. Nun fuhr er einhändig, beide Dokumente gegen das zitternde linke Bein gepresst. Je näher sie kamen, desto langsamer wurde er. Hinter ihm begannen die ersten Autos zu hupen. Doch Jakob war damit beschäftigt, zu überprüfen, ob der Aufkleber der Autobahnmaut auch ordnungsgemäß an der Frontscheibe haftete. Einen Moment schwenkte er dabei fast auf die Fahrbahn rechts von ihnen.

Erneutes Hupen.

»Wenn du so weitermachst, ziehen sie uns raus, weil sie denken, du bist betrunken.« Miro wies nach vorn. »Schau mal, die fahren alle im Schritttempo durch. Sieht aus, als würde heute gar niemand kontrollieren.«

Jakob zog die Schultern hoch und reihte sich ein. »Tatsächlich«, wunderte er sich, »niemand da.«

Kaum waren die aufgestellten Schlagbäume im Rückspiegel zu sehen, gab er Gas. »Grenzen machen mich nervös«, gestand er leise. »Also, wie ist das jetzt mit der Musik? Hast du was gefunden?«

»Du meinst, irgendwas außer Klassik?«

»Magst du keine Klassik?« Nun grinste er, als hätte Miro einen guten Scherz gemacht. »Dann versuch es mal mit Nummer P23. Dürfte das für deine Ohren Verträglichste sein, vielleicht kennst du es sogar.«

Der Player ratterte und quietschte, und schließlich drang ein Viervierteltakt blechern aus der Monobox. »Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt«, nuschelte eine Stimme, »sagt die Welt, dass er zu früh geht.«

Miro beugte sich vor. »Was ist das denn?!«

»Kennst du also nicht, tja.« Jakob drehte lauter und begann mitzusingen: »Meine Freundin ist schön, als ich aufstand, ist sie gegangen.«

Miro starrte ihn an. Absurder Text. Na, wenigstens war die ominöse Freundin des Sängers mit ihm eingeschlafen.

Edina und er hatten selten beieinander übernachtet. Anfangs waren sie mit Freunden gemeinsam ausgegangen und so lange geblieben, bis die Sonne über den Horizont geklettert war. Wie viele Nächte hatte er eigentlich auf Spielplätzen verbracht, weil man dort nebeneinander im Dunkeln auf Schaukeln sitzen und gefahrlos Dinge sagen konnte, die im Hellen irgendwie unpassend klangen? Man konnte auf den Plattformen von Klettergerüsten nebeneinanderliegen und in den stadthellen Nachthimmel starren, so tun, als merke man nicht, dass die Haut überall dort vibrierte, wo sich Arme und Beine berührten. Wie sich Finger tanzend verselbstständigten und plötzlich so viele Informationen gleichzeitig weiterleiteten, dass der Kopf überfordert in den Schlafmodus tauchte, weil das Herz übernahm.

Edina hatte für ihn jede Chance auf einen normalen Umgang mit Spielplätzen versaut. Unmöglich konnte er jemals wieder eine Rutsche sehen und an etwas anderes denken als an ihren Geruch und das Gefühl ihrer Haarspitzen auf seinem Gesicht, kurz bevor …

»Jegliches hat seine Zeit«, brummte Jakob, und Miro schluckte. »Steine sammeln, Steine zerstreun.« Pfiffe und Klatschen waren im Hintergrund der Aufnahme zu hören. »Leben und Sterben und Liebe und Streit.«

Miro starrte aus dem Fenster.

Er hatte tatsächlich geglaubt, wenn er nur schnell genug zu Erika ins Krankenhaus kam, wenn es ihr nur gut ginge, dann fände er einen Weg, um alles wieder einzurenken, auch mit Edina.

E-R-I-K-A-E-D-I-N-A-E-R-I-K-A. Die beiden Namen hatte er im Warteraum der Notaufnahme immer und immer wieder vor sich hin skandiert und – seltsam, aber wahr – erst da gemerkt, dass sie mit dem gleichen Buchstaben begannen. Und einen verrückten Gedankengang lang hatte er sich gefragt, ob das der Grund war, warum er seine Mutter nicht erreichen konnte. Schließlich fiel Stefanies Name aus dem Schema. Er hatte ihr auf die Mailbox gesprochen, fünf Stunden Zeitverschiebung lagen zwischen ihnen, aber irgendwann musste sie sich doch zurückmelden, oder?

Dass er bei Erika geblieben war, war eine gemeinsame Entscheidung gewesen. So gemeinsam, wie ein Neunjähriger eben zu einem derart weitgreifenden Arrangement fähig war.

Stefanies Job im Kulturinstitut sah vor, dass sie alle paar Jahre das Land wechselte. Und es wurde alles dafür getan, dass auch die Familie mitkommen konnte.

Doch Miro war gerade in der vierten Klasse gewesen, hatte Freunde gefunden, und ein Umzug in ein Land, dessen Sprache er nicht verstand, hatte ihn mehr als erschreckt. Erikas Vorschlag, er könne bei ihr wohnen, war da gerade richtig gekommen. Vielleicht wäre er trotzdem mit seiner Mutter gegangen, hätte er da schon gewusst, wie wenig Erika und er Stefanie anschließend zu Gesicht bekämen. Wie verdammt leicht es ihr gefallen war, in die weite Welt hinauszuziehen und sie zurückzulassen. Als wären sie mehr Ballast als Familie.

Doch dann hätte er all die Jahre mit Erika verpasst.

Erika hatte Miros ungewöhnliche Beziehung zu Tönen und Musik früh erkannt. Während seine Mutter ihn anfangs zu Blockflöten- und Klavierstunden schickte, mit denen Miro nicht viel anfangen konnte, hatte Erika ihm die absurdesten Instrumente nahegebracht: Sie hatten auf Gräsern und Kämmen geblasen, aus Klorollen und Linsen Rasseln gebaut, später die Ränder von mit Wasser gefüllten Gläsern zum Singen gebracht. Und noch später hatte Erika ihm ein Kazoo und eine Stylophone Beatbox geschenkt, ein Daumenklavier, und gemeinsam hatten sie aus einem Baukasten ein Theremin zusammengesetzt.