Unverblümt im Sommerwind - Simone Veenstra - E-Book

Unverblümt im Sommerwind E-Book

Simone Veenstra

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Beschreibung

»Bis nächste Woche habe ich die Miete auf keinen Fall beisammen.« Judith kann einfach nicht lügen. Nicht einmal klitzekleine Notlügen oder falsche Höflichkeiten sind drin. Das kostete sie Beziehungen, Jobs – und jetzt sogar ihre Wohnung. Um ein Dach über dem Kopf zu haben, fährt Judith zu ihrem Onkel nach Amrum. Dort will sie nun endlich das Lügen lernen. Hilfe dabei bekommt sie von einem zugelaufenen Hund namens »Hund«. Und von Menschen, die alle genauso einen Knacks haben wie sie. Nur eben anders.

Als sie dann das Tagebuch der im Jahr 1900 auf Föhr geborenen Teda entdeckt, ist sie nicht nur von deren abenteuerlicher Lebensgeschichte fasziniert. Langsam, aber sicher sieht sie auch ihr Vorhaben, Lügen zu lernen, damit andere sie mögen, in einem ganz anderen Licht.

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Seitenzahl: 623

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Das Buch

Judith lügt nicht, ja, Judith flunkert nicht einmal, sie kann es einfach nicht. Doch mit der Wahrheit ist das so eine Sache – sie kostet Judith ihren Job (mal wieder), Beziehungen und diesmal auch die Wohnung. So macht sie sich auf zu ihrem Patenonkel Olaf nach Amrum. Im Gepäck ein Entschluss: Mit Anfang dreißig will sie endlich lernen zu lügen. So wie alle anderen.

Olaf allerdings ist dafür der ganz falsche Mann. Auch der ehemalige Leuchtturmwärter hält sich nicht damit auf, nettere Worte für Tatsachen zu suchen. Doch dann lernt Judith die Gäste der wunderlichen Villa Pippilotta kennen – ein Haus, das allen offen steht, die eine Auszeit brauchen, um einen Neuanfang zu wagen.

Als Judith auf dem Dachgeschoss das Tagebuch der im Jahr 1900 auf Föhr geborenen Teda entdeckt, setzt sie gemeinsam mit ihren neuen Freunden Tedas abenteuerlichen Lebensweg zusammen. Jedes entschlüsselte Geheimnis wirft dabei neue Fragen auf: Wofür lohnt es sich zu kämpfen? Wie stellt man fest, ob man sich verliebt hat? Und: Ist es wirklich erstrebenswert, so zu sein, wie es die meisten Menschen von dir erwarten?

Die Autorin

Simone Veenstra wuchs in Franken auf und studierte Film, Theater und Literatur. Heute lebt sie in Berlin und schreibt Romane, Drehbücher, Hörspiele, für Games und Magazine. Für ihre Geschichten geht Simone Veenstra gerne auf Entdeckungstour – in Archiven, Bibliotheken und am liebsten vor Ort.

Lieferbare Titel

Sind dann mal weg

Auf nach irgendwo!

SIMONE VEENSTRA

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Zitat aus: Det letj prens (Der kleine Prinz, Nordfriesisch, übersetzt von Antje Arfsten), 2010, Edition TintenfaßDieser Roman ist zwar inspiriert von wahren Personen, Begebenheiten und Orten, aber trotzdem Fiktion. Die meisten der beschriebenen Plätze auf den Inseln (mit Ausnahme von Olafs Leuchtturm und der Villa Pippilotta) lassen sich so oder ähnlich wiederfinden.

Copyright © 2020 by Simone Veenstra

Copyright © 2020 by Wilhelm Heyne Verlag, in der

Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Steffi Korda, Hamburg

Umschlaggestaltung und Karten: Bürosüd, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-24831-4V001www.heyne.de

Für Ada, Anna, Claire, Elfriede, Else, Fridl, Gabriele, Gertrude, Jacoba, Jeanne, Käthe, Lotte, Olga und die anderen

»Adjis«, saad a foos. »Heer as min hamelkhaid. Det as gans ianfach. Ham kön bluat mä’t hart gud sä. Det war rocht woor wichtig as, kön a uugen ej sä.«

»Lebe wohl«, sagte der Fuchs. »Hier ist mein Geheimnis. Es ist sehr einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.«

Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine PrinzNordfriesisch von Antje Arfsten

FÖHR, 1911

»Was ist deine Lieblingsfarbe, Brar?« Teda blätterte ihr Heft auf. Das Papier darin war dick, rau und warm unter den Fingerspitzen, als hätte es ein Eigenleben. Als beinhaltete es bereits alle Wörter und Abbildungen, die später einmal auf ihm entstehen würden. Frau Ada hatte es für sich selbst zusammengenäht, Teda aber geschenkt und ihr geraten, dort alles aufzuzeichnen, was ihr wichtig war. Frau Ada machte es ähnlich. Nur dass sie ihr Wichtiges mit Schraffuren und Pinselstrichen festhielt, kaum mit Worten. Teda gefiel das. Irgendwann einmal wollte sie auch so malen können.

Nun aber zückte sie ihren Bleistiftstummel und wartete auf die Antwort ihres Bruders.

»Meine was?« Brar bearbeitete das Seitenstück einer Wiege aus Kiefer. Er hielt es verkrampft zwischen den Knien, anstatt es auf der Werkbank einzuspannen. Vermutlich hatte er nur schnell etwas ausbessern wollen, aber so ging er das Risiko ein, sich mit dem Stecheisen den Handballen zu verletzen. Täte er das nicht, bekäme er später wegen seiner Haltung wenigstens Muskelschmerzen. Teda wies ihn nicht darauf hin. Ihr großer Bruder mochte es nicht, wenn sie sich einmischte. Das hier war – wie auch das Versorgen der Tiere – seine Arbeit, und nur weil er sich bereit erklärt hatte, ihr manchmal etwas beizubringen, wollte er noch lange nicht hören, was sie anders machen würde.

»Lieblingsfarbe«, wiederholte sie also stattdessen. »Was ist deine Lieblingsfarbe? Frau Ada sagt, jeder hat eine.« Teda sah durch das niedrige Fenster des Stalls hinaus, wo die untergehende Sonne den dicken, grauen Wolken einen schmutzig rosa Anstrich verpasste. Eine Färbung, keine Farbe, denn Horizont und Meer veränderten sich binnen Sekunden. So wie Krabben, die im Morgengrauen in Bottiche voller kochendem Seewasser geworfen wurden.

»Frau Ada? Schon wieder?« Brar schliff über die sanfte Kurve des Holzes. »Solltest du nicht lieber deine Handarbeiten verbessern? Vater sagt, du verbringst zu viel Zeit da drüben! Frau Ada ist anders als wir.«

Teda krauste die Nase und blieb stumm. Frau Ada hatte bei ihrer Nachbarin zwei Zimmer gemietet. So wie jeden Sommer. Sie kam mit ihrem Mann, der nach ein paar Tagen allein in Richtung Amrum und Sylt weiterreiste, und fand, für sie sei es hier gemütlicher.

Frau Ada blieb, bis er sie wieder abholte. Die ersten Tage ging sie spazieren, rund um Triibergem, die drei Hügel, in denen einer Sage nach Zwerge hausten. Wilhelm aus dem Nordsee-Pädagogium hatte ihr erzählt, die Erhebungen könnten ursprünglich Wikingergräber gewesen sein. Je höher diese aufragten, desto wichtiger war der zur Ruhe gelegte Krieger, denn schließlich mussten auch seine Grabbeigaben dort Platz finden. Es hatte einmal einen Königssohn gegeben, sagte Wilhelm, der mitsamt seinem Schiff, drei Pferden und zwei seiner Krieger beerdigt worden war. Dazu hätte ein kleiner Hügel wie hier bei ihnen sicher nicht gereicht, das musste schon ein Grabberg gewesen sein. Einer, von dem man eine wesentlich bessere Aussicht hatte als von den Triibergem zur Oodhuk, der Nordspitze von Amrum. Bei Ebbe konnte, wer sich auskannte, sogar hinüberlaufen – von Ödersem zu Föhrs Schwesterinsel, auf der Frau Adas Mann weniger Zeit mit dem Malen und mehr mit anderen Frauen verbrachte, wie Stine neulich Nacht geflüstert hatte. Teda wunderte sich, woher sie das wissen konnte, und wollte es nicht glauben. Frau Ada war wunderbar: beredt, nett, eine Künstlerin, und wenn sie Teda beim Zeichnen oder Malen half, eröffnete sie ihr eine neue Welt. Eine, in der Teda leben wollte, sie nicht nur ab und an besuchen.

Später einmal, davon war sie überzeugt, würde sie werden wie Frau Ada.

In den ersten Tagen konnte man Frau Ada dabei beobachten, wie sie früh am Morgen das Haus verließ und mit geübten Strichen ihren Skizzenblock füllte. Dann, am dritten Tag ihres Aufenthalts, schulterte sie die Staffelei, suchte sich den richtigen Ort und begann zu malen. »Föhr beflügelt mich«, sagte sie und hatte Teda erklärt, dass dies für das Licht ebenso galt wie für die Natur, das Meer, die Farben und die Menschen.

Teda stellte sich gerne vor, einer dieser Menschen zu sein. Dann wurde jeder ihrer Schritte zu etwas Besonderem, jeder Blick über die Marsch und die Deiche, einer davon erst vor Kurzem verstärkt, sah plötzlich anders aus. Neu und fremdvertraut machte er Tedas Herz weit, und sie verstand, weshalb Frau Ada all das einfangen wollte: Das, was ihre Augen sehen konnten, und das, was nur sie darin fühlte. Um damit allen, die ihre Bilder betrachteten, die Möglichkeit zu geben, Neues zu entdecken.

»Mamas Lieblingsfarbe ist Orange wie die Flammen im Herd«, versuchte Teda, die langsam ungeduldig wurde, ihren Bruder zu einer Antwort zu bewegen. »Papa hat mal gesagt, für ihn ist Blau die schönste Farbe.« Das bedurfte keiner Erklärung. Die paar Monate, die ihr Vater auf der Insel war und nicht anderen Menschen auf dem Festland half, Dächer, Treppen und Häuser zu bauen, verbrachte er am liebsten auf dem Meer.

Brar zuckte mit den Schultern. Also blätterte Teda zurück und las ihm weitere Antworten vor. Wie die ihrer alten Nachbarin und Freundin: »Frau Schellevis’ Lieblingsfarbe ist Sonnengelb.« Sie grinste schräg. »Und die ihres Mannes war Rotbraun, wie seine Lieblingskuh.«

Jonathan Schellevis war schon einige Jahre tot, das war auch der Grund, warum seine Frau im Sommer Zimmer untervermietete. Oder weshalb Tedas und Brars Mutter ihr überschüssige Kartoffeln, Kohl und Rüben schenkte.

Seit Mamas beste Freundin Greta allerdings ohne ihren Mann, aber mit ihrer Tochter Stine aus Amerika zurückgekommen war und bei ihnen lebte, wurden auch bei ihnen ab und an die Kartoffeln knapp. »Gretas Lieblingsfarbe ist Violett«, machte Teda weiter und rümpfte die Nase. Violett war alles, was sich Greta an Farbe zugestand, außer Schwarz. »Und Stine muss noch überlegen, aber sie hat versprochen, mir heute Abend ihre Lieblingsfarbe zu nennen.«

Brar, der für die feinen Schleifarbeiten nach dem Klotz mit behandelter Seehundhaut griff, sah hoch. Teda ahnte, was er sagen wollte. Bevor er also behauptete, ebenfalls darüber nachdenken zu wollen, und hoffte, sie würde vergessen nachzufragen, sprach sie schnell weiter: »Aber Stine darf das: überlegen. Stine, sagt Mama, braucht noch Zeit, um anzukommen.«

»Seid nett zu ihnen«, hatte ihre Mutter Teda und Brar eingeschärft, bevor sie die Pferde eingespannt hatte, um Greta und ihre Tochter an der Dampferbrücke in Empfang zu nehmen. »Greta und Stine haben es nicht leicht.«

Was das bedeuten sollte, es leicht haben, war Teda nicht ganz klar, aber wenn etwas wirklich einfach war, dann nett zu Stine zu sein. Teda hatte sich immer eine Schwester gewünscht. Nun hatte sie eine – eine Nennschwester, wie Mutter dazu sagte, denn wirklich verwandt waren sie nicht. Sie lebten nur zusammen. Außerdem war Stine nicht jünger als Teda, wie diese sich eine Schwester vorgestellt hatte, sondern mit ihren 15 Jahren schon fast erwachsen. Wie Brar.

»Grün«, murmelte Brar plötzlich und drehte sich weg, »meine Lieblingsfarbe ist Grün.«

Teda schrieb das auf. »Grün wie das Meer, wenn der Sturm sich gelegt hat?«, wollte sie wissen.

Brar schüttelte den Kopf.

»Grün wie auf den Weiden beim Klootstockspringen?«

Brars Kopf ging wieder hin und her, und was war das? Wurde er etwa rot?

Teda kam näher, um ihm besser ins Gesicht sehen zu können. Tatsächlich, seine Ohren glühten. »Grün wie …« Sie überlegte. Was gab es noch? Die Schultertücher der Trachten konnten grün sein, aber Brar hatte sich bisher für kein einziges Mädchen interessiert, und die Jungs trugen keine Trachten. Grün war die Hoffnung, hatte Frau Ada Teda erklärt, aber auch das interessierte Brar kaum. Grün waren die meisten Pflanzen in ihrem Garten, das geblümte Lieblingshauskleid ihrer Mutter, die Äpfel hinter Frau Schellevis’ Haus, und neulich erst hatte eine der zugezogenen Bewohnerinnen Wyks, eine Fotografin aus Dänemark, ein Schild angebracht, auf dem in Grün ihr Name und Beruf stand. Brar hatte sich gewundert – ein weiblicher Fotograf? Bei ihnen?? Aber daran dachte er nun sicher auch nicht. Weshalb sollte er deshalb auch rot werden?

»Lass es einfach«, knurrte er und warf Teda einen dunklen Blick zu.

Teda stutzte. Sie hatte sich immer Brars Augenfarbe gewünscht. Während ihre braungrau waren wie das Watt, kam es bei seinen darauf an, von welchem Winkel das Licht in sie fiel oder welche Laune er hatte. Bernsteinhell wie die einer Katze konnten sie aussehen und nur wenig später sturmschwarz. So wie jetzt. Teda klappte überrascht ihr Buch zu. Grün war natürlich nicht nur die Farbe von Pflanzen …

»Grün wie … die Augen unserer Schwester?« Sie biss die Zähne zusammen. Wieso fühlte sich das an, als hätte Brar sie mal wieder beim Brettspiel betrogen?

»Nenn sie nicht so«, befahl er abweisend, »wir sind nicht miteinander verwandt!«

Wortlos drehte Teda sich um und lief in die Dämmerung hinaus. Die Erde, vom Regen aufgeweicht, klumpte unter ihren Schuhen. Fest drückte sie ihr Buch an sich und blieb ratlos stehen. Wohin? Ebenso wenig wie zurück zu Brar wollte sie nach Hause. Ihre Mutter, Greta und Stine würden vor dem Feuer sitzen und handarbeiten. Nicht mehr lange, und es wurde kälter, dann noch kälter, und mit den ersten Schneeflocken käme Vater zurück. Dann hieß es auch für Teda nähen und Wintersachen ausbessern. Normalerweise war ihre Mutter zu beschäftigt, um die Tochter einzufangen. Vielleicht war sie sogar ganz froh, sie sicher aufgehoben zu wissen nebenan bei Frau Schellevis, die Teda von ihrer Kindheit auf Amrum erzählte und Dinge über die Natur beibrachte, Vögel und Pflanzen. Ihr Vater aber hatte eine klare Vorstellung von Pflichten. Pflichten der Erwachsenen, Pflichten der Kinder, jene der Frauen und der der Männer.

Teda liebte den Frühling und den Sommer. Da war er unterwegs und jeder Tag voller aufregender Entdeckungen. Im Winter folgte ihre Familie anderen Richtlinien.

Seit Stine zu ihnen gestoßen war, waren die Frauenstunden vor dem Feuer allerdings ein wenig erträglicher geworden. Im Gegensatz zu Greta und Tedas Mutter schien sie nicht unablässig enttäuscht darüber zu sein, was ihre kleine Nennschwester alles nicht konnte. Sie rückte einfach näher, legte den Faden richtig um Tedas Nadeln, filzte die gesammelten Haare hinein und zeigte ihr, wie sie die Finger zu halten hatte. Ja, sie beschwerte sich nicht einmal, wenn sich mal wieder eine Masche davongemacht hatte. Lächelte nur still in sich hinein, als ahnte sie, dass Teda manchmal unbedarfter tat, als sie es war. Währenddessen roch sie nach Frühling und Sommer und danach, was sie in ein paar Monaten alles gemeinsam tun könnten, wenn Stine endlich angekommen war und Teda begleiten würde. Die Vogelkojen wollte Teda ihr zeigen, die besten Stellen zum Wattwurmsammeln und die Priele, in denen sich damit der leckerste Butt – Plattfische wie Schollen – und auch Aale fangen ließen. Sie würde Stine den Rund-Föhr-Lauf erklären, einen Wettbewerb, den die Schüler des Nordsee-Pädagogiums von Carl Gmelin erfunden hatten und den Teda das nächste Mal gewinnen wollte …

Was aber, wenn Brar vorhatte, Stine mit in seinen Frühling und Sommer zu nehmen?

Dann bliebe Teda allein zurück, oder? Neben Brar, der Arme hatte, mit denen er schwere Holzklötze und -bretter stemmte, und im Vergleich zu seinen Bernsteinaugen hatte sie nichts zu bieten. Schließlich war sie nur ein Mädchen.

Zornig drehte sie dem Haus ihrer Eltern den Rücken zu und sprang über die Pfützen der aufgeweichten Straße hinüber zu Frau Schellevis. Aus den Fenstern über dem Pesel, der guten Stube, fiel Licht. Frau Ada malte, und sie freute sich immer über Tedas Besuch. Wie auch Frau Schellevis. Kleiner Sommerwind, nannte die Nachbarin Teda, die Teda ihrerseits an eine leuchtende Spierentonne erinnerte, die zufrieden und genau an der richtigen Stelle auf dem Meer schaukelte. Und das lag nicht nur an ihrer schlanken Figur und dem langen Hals.

Einen Moment starrte Teda hinauf in den flackernden Lichtschein der Petroleumlampen, dann zog sie ihr Buch hervor und notierte einen letzten Eintrag für heute: Teda, schrieb sie und: Weiß. Denn im Weiß, hatte Frau Ada ihr erklärt, steckten sämtliche Farben. Etwas mit Licht hatte das zu tun, Teda aber war der Grund egal, viel wichtiger war es ihr, dass sie damit ihre eigene Fragestellung ausgetrickst hatte. Eine Farbe zu nennen und damit alle zu meinen, das war wie ein kleines heimliches Geschenk. Als bewiese es, dass auch sie alles sein konnte, was sie wollte, unabhängig davon, was andere auf den ersten Blick von außen sahen. Oder aber, was sie von Teda erwarteten. Teda ahnte, leicht würde es nicht werden. Die Lebenswege für Mädchen und Frauen ihrer Familie waren klar umrissen und vorbestimmt, duldeten nur wenig Abweichung. Teda aber war sich sicher: Sie wollte nicht geradeaus oder ein bisschen nach rechts oder links ausweichen. Nein, sie wollte etwas ganz und völlig anderes!

Mit kerzengeradem Rücken saß Judith auf der steinkalten Bank. Ihr Blick schweifte durch die hohen Wipfel der knorrigen, alten Bäume neben ihr. Durch die maibelaubten Äste konnte sie ein Stück Himmel sehen.

Von vorn war Kinderkreischen zu hören, von hinten das hektische Hupen der Busse, Klappern und Rufe der Müllmänner. Heute Abend waren die gelben Tonnen dran, was hieß, es lief nicht ganz so laut rumpelnd und schlecht gelaunt ab wie donnerstags während der Biomüllentsorgung. Judith verstand das: Je stinkiger, desto eiliger und lauter. Klar, oder?

Hier, ins Zentrum der grünen Oase, kamen Geräusche wie auch die grellen Straßenfarben glücklicherweise nur gedämpft an. Dieser Ort erinnerte Judith an Wälder, eine Lichtung und ließ sie an eine Zeit denken, bevor der kleine Friedhof mitten in die Stadt gerutscht war. Oder besser, bevor die Stadt nah und näher an ihn gekrochen war, um ihn in die Zange zu nehmen. Eine, die manchmal grellgelb in ihn hineindrückte und alarmrot an den Ecken fraß.

Judith wartete ein paar Herzschläge, bis das Vogelzwitschern und Ästeknarren wieder überhandnahm, und beugte sich zur Seite. »Also, wo waren wir?« Vorsichtig strich sie über den Grabstein neben sich, an dem ihr Koffer, ihr Rucksack und ein paar Jutetaschen lehnten. Adelgunde stand auf dem Stein, ein von, ein Nachname und Jahreszahlen, die so weit entfernt waren, dass nicht einmal das Leben von Judiths Eltern sie berührt hatte. Und darunter eingemeißelt: »Libera est«.

Frei ist sie.

Tot, aber frei? Tot und frei? Im Tode frei?

Judith wusste es nicht. Aber das Freisein an sich gefiel ihr. Adelgunde war endlich frei. So frei, dass Judith ihr Dinge erzählen und sich damit ebenfalls befreien konnte.

»Ich habe meinen Job verloren«, gestand sie leise, »schon wieder.«

Adelgunde reagierte nicht. Wie auch, sie lag hier schon viel länger, als Judith lebte, und schließlich war es genau das, was Judith bei ihr suchte: das Nicht-Reagieren und das Keine-blöden-Ratschläge-Geben, zu denen sich Lebende immer bemüßigt fühlten.

Natürlich wusste Judith, dass es auch diesmal ihre Schuld gewesen war. So wie bei ihrer Assistentenstelle an der Universität vor ein paar Jahren, im Museumsshop, dem Blumenladen oder aber in der Poster- und Postkartenabteilung des Kaufhauses. Auch diesmal war dem Debakel die Frage nach ihrer Meinung vorangegangen. Und ihre Meinung war irgendwie immer die falsche. Was daran lag, dass Judith eine offenbar wichtige Fähigkeit abging. Die Fähigkeit zu lügen. Sie verstand nicht einmal, was daran so erstrebenswert sein sollte.

»Keine Ahnung, wie ich das ändern soll«, seufzte sie. »Ich habe es wirklich versucht!« Erst hatte sie vorsichtshalber geschwiegen. Dann stumm den Kopf geschüttelt, aber als ihre Kundin das dritte Mal nachgefasst hatte, war Judith um eine Reaktion nicht mehr herumgekommen. Ja, die Hose war ein Designerstück und etwas Besonderes, hatte sie also gesagt. Ja, der Preis ein echtes Schnäppchen. Aber: Nein, leider stand sie der viel zu schmalhüftigen Frau nicht besonders.

Dass exakt in diesem Moment die Besitzerin des Vintage-Kleidungsladens hineinkommen würde, hätte sich Judith bei ihrem Glück auch denken können. Einmal mehr hatte sie sich angehört, dass Ehrlichkeit zwar eine Tugend, aber nicht gerade verkaufsfördernd sei. Was wiederum Judiths Aufgabe war … oder besser gewesen war.

»Das Gehalt für diese Woche zahle ich dir noch, aber kommen musst du morgen nicht mehr«, hatte ihre Chefin geseufzt. Im Gegensatz zu Judiths letzten Arbeitsstellen oder ihrer Assistentenstelle am Institut für Kunstgeschichte war das geschenkte Wochengehalt ein Fortschritt.

Gereicht allerdings hatte es nicht. Ihre Mitbewohner hatten ihr schon das letzte Mal erklärt, dass sie Judith nicht noch einmal die Miete ihres möblierten Zimmers stunden würden, bis sie endlich einen neuen Job gefunden hatte. Weshalb sie auch diesmal stumm dabei zugesehen hatten, wie Judith ihre Sachen zusammengerafft hatte. Warum das Unvermeidliche länger herauszögern? Mitleidig hatten sie ihr Proviant eingepackt und einen Ratschlag mit auf den Weg gegeben – denselben, den Judith schon so oft gehört hatte, dass es für dieses Leben reichte und für ihr nächstes gleich mit: »Am besten, du suchst dir als Nächstes was, bei dem du nicht so viel mit Menschen zu tun hast.«

Judith warf einen Blick auf ihre Siebensachen – oder besser, ihre Fünfsachen – hinter Adelgundes Grabstein und ließ sich erschöpft auf die Bank zurücksinken. »Vielleicht hatte Paul recht, und ich bin wirklich nicht kompatibel?«, murmelte sie. Ihre Eltern hatten sie speziell genannt und immer Das wird schon noch gesagt. Paul aber war der Meinung gewesen, wer kein Blatt vor den Mund nahm, müsse auch selbst mit der harten Wahrheit umgehen können.

Das Blatt vor dem Mund hatte Judith immer für einen dämlichen Vergleich gehalten, als bräuchte sie nur ein bisschen Zellulose, um Tatsachen in etwas für andere Menschen Erträglicheres umzuwandeln – eine Veritassynthese sozusagen.

Judith unterdrückte ein Lächeln. Dann wurde sie wieder ernst. Denn Paul hatte vermutlich besser über sie Bescheid gewusst als ihre Eltern, ihre Chefs und sogar sie selbst. Er nämlich hatte sämtliche zwischenmenschliche Regeln beherrscht, Regeln, über die Judith immer wieder stolperte und die er ihr versucht hatte beizubringen.

»So schwierig ist das doch nicht«, hatte er gemeint und Listen gemacht. Letztendlich ging es nur darum, dass Judith ihre erste Reaktion unterdrückte und sich stattdessen darüber Gedanken machte, was andere gerne hören wollten. Mit Ehrlichkeit gewinnst du nichts, hatte er ihr auf eine Karteikarte geschrieben und an den Kühlschrank geheftet. Auf »Wie geht’s?« erwartet niemand eine ehrliche Antwort auf eine andere und dann noch: Wenn du nicht weiterweißt, mach deinem Gegenüber ein Kompliment!

Geholfen hatte es nicht. Selbst als Judith damit begonnen hatte, Paul ein Kompliment nach dem anderen zu machen.

Nun waren sie schon einige Jahre kein Paar mehr, und manchmal fragte sich Judith, weshalb er erst angefangen hatte, ihr helfen zu wollen, nachdem sie ihren Professor auf die fachlichen Mängel seiner letzten Veröffentlichung hingewiesen hatte. Nachdem diesem der Kragen geplatzt war und Paul plötzlich Judiths Stelle an der Uni innehatte. Nachdem Judith also dank ihres vorschnellen Mundwerks ihre Promotion in den Sand gesetzt hatte, wie Paul es formuliert hatte.

Noch so ein blödes Bild. Dass etwas, das auf Sand gebaut war, nicht lange hielt, war logisch. Etwas aber in den Sand setzen – wieso war das negativ? Es gab fast nichts Netteres, als im Sand zu sitzen, vor sich das immer gleiche und doch nie dasselbe Meer.

Aber weil Judith zu sich selbst ebenso ehrlich war wie zu anderen, wusste sie auch, dass das zwischen Paul und ihr von Anfang an seltsam gewesen war, in Schräglage eben. Oder besser: auf Sand gebaut. Bei ihm jedenfalls würde sie nach all der Zeit nun sicher nicht unterkriechen!

»Ich weiß nicht mal genau, ob ich ihn überhaupt mochte«, vertraute sie Adelgunde an. »Müsste man seinen Freund nicht mögen?« Zumindest aber hatte sie mal einen gehabt – einen Freund – und das war … interessant gewesen. Interessant und anstrengend. Weil Paul zunehmend fand, Judith sollte dank seiner Hilfe auch Ungesagtes spüren: zum Beispiel, dass ein »Wenn du es unbedingt so willst« eigentlich ein »Ich möchte es aber anders« bedeutete.

Aber nun gut. Das war ja auch mit ein Grund, weshalb sie nun neben Adelgunde saß und hier völlig richtig war. Irgendwer hatte dieser ein Endlich ist sie frei auf den Grabstein gemeißelt, was ebenfalls nicht wirklich für eine gelungene, lebenslange Zweierbeziehung sprach, oder? Judith und Adelgunde passten also vielleicht besser zusammen als Beziehungen mit Freiheit?

»Ich vermute«, Judith beugte sich in Richtung des verwitternden Steins, »beides geht nicht. Entweder du bist du selbst und frei oder zu zweit.«

Es blieb still, Adelgunde teilte keine leichtfertigen Worte und Ratschläge. Judith lehnte sich zurück an die kühle Steinbank, die nicht dazu gemacht war, lange zu bleiben.

Da räusperte sich jemand nahe an ihrem linken Ohr. »Frollein?« Den Friedhofswärter hatte Judith in den letzten Wochen oft von Weitem gesehen. Jetzt aber beugte er sich über sie. »Wir machen Feierabend. Um achtzehn Uhr schließen wir den Friedhof, damit hier niemand … übernachtet.« Er besah sich stirnrunzelnd ihr Gepäck. »Haben Sie einen Platz zum Bleiben?«

Judith legte den Kopf in den Nacken und sah zu ihm auf. Sein sorgenvoll zerknittertes Gesicht vor den leise wippenden Baumkronen wirkte bedrückt, als täte es ihm leid, sie hinauszuwerfen.

Aber da Feierabend eben Feierabend war und Friedhofswärter Friedhofswärter, stand sie niedergeschlagen auf. »Noch nicht«, beantwortete sie seine Frage und ließ die Schultern hängen. »Deshalb bin ich ja hier.« Hier konnte sie am besten nachdenken – über ihre Eltern, den Job und Paul, über alles Verlorene eben. Denn wo konnte man Verlorenes besser verstehen und entscheiden, wohin mit sich, als auf einem Friedhof?

»Tut mir leid. Aber ich kann keine Ausnahme machen. Vielleicht versuchen Sie es mal im Hostel? Die haben auch einen Schlafsaal … Bei uns ist es nachts weder besonders warm noch bequem.«

Judith lächelte schräg. »Dafür aber sicher stiller.«

Der Schlafsaal war fürs Erste gar keine schlechte Idee. Immerhin wusste sie nicht einmal, ob sie überhaupt in der Stadt bleiben wollte.

»Ach Kind«, der alte Herr klopfte ihr überraschend auf die Schulter, »das wird schon wieder, Sie sind doch noch so jung! Hauptsache, Sie halten sich von Drogen fern. Teufelszeug, das!« Dann starrte er ihr prüfend in die Augen. »Damit haben Sie doch hoffentlich nichts zu tun?«

»Nein. Das ist nichts für mich.« Judith rümpfte in Erinnerung die Nase. »Drei Mal habe ich es ausprobiert, und alle drei Male waren ziemlich … unergiebig.« Als ihr Gegenüber sich nun erschrocken aufrichtete, beeilte sie sich, deutlicher zu werden: »Paul hatte Haschkekse gebacken. Er meinte, das könnte mich, na ja, entspannen. Auflockern und normaler machen. Einmal musste ich mich übergeben, zwei Mal bin ich sofort eingeschlafen.« Beruhigend schüttelte sie den Kopf. »Also würde ich sagen, der Versuch ist fehlgeschlagen, richtig?«

»Klingt so, ja.« Etwas fahrig zog er einen riesigen Schlüsselbund aus der Tasche und klimperte auffordernd. »Dann begleite ich Sie mal zum Ausgang.«

»Wie nett, vielen Dank!« Judith hielt ihm zwei ihrer Taschen entgegen, schließlich hatte er ihr angeboten, sie zu begleiten, oder? Zum Abschied legte sie eine Hand auf den Grabstein von Adelgunde, die außer ihr in den letzten Wochen sicher niemand besucht hatte. Strich kurz darüber, als könnte sie ihr etwas hinterlassen, ein bisschen überraschende Zärtlichkeit, reserviert für Menschen, die man nicht gut kennt. Dann ließ sie sich zum Ausgang geleiten.

»Bleiben Sie weg von Paul und seinen Keksen«, rief der alte Wärter ihr hinterher und: »Bis zum nächsten Mal.«

Er konnte ja nicht ahnen, dass Paul längst passé war. Und dass es vermutlich kein nächstes Mal gab. Einmal mehr war das, woran sich Judith nach und nach gewöhnt hatte, implodiert. Das fünfte Mal in Folge. Langsam war Judith es müde, ständig von vorn anfangen zu müssen: neue Arbeit, neue Stadt, neue Wohnung, aber dieselben Probleme, denn dieselbe Judith. Als gäbe es für sie keinen einzigen Ort zum Bleiben.

Als hinter ihr das Gittertor zufiel, drückte der Himmel tiefgrau in die Straßen, wollte nach ihr greifen, aber es gelang ihm nicht, denn Judith hielt den Blick fest auf den Boden gerichtet und lief los. Wohin, wusste sie nicht. Wohin ging eine, die alles, was sie anfing, in den Sand setzte? Die sich, laut Paul, endlich einmal zusammenreißen musste und lernen, nicht länger anzuecken.

Und plötzlich hatte Judith eine Idee. Wieso war sie da nicht gleich draufgekommen? Wer nicht anecken wollte, musste natürlich dorthin, wo es möglichst wenig Ecken gab. Nur dort konnte sie in aller Ruhe an sich arbeiten und kompatibel werden. Kurz: lernen, verträglich zu lügen.

Ben hielt sich bewusst am Rand des Aufenthaltsraums der Fähre. Das war sicherer. Selbst wenn er in letzter Zeit gelernt hatte, dass Menschen Rollstuhlfahrern automatisch Platz machten. Sie mussten dir dazu nicht einmal in die Augen sehen, meist reichte ihnen die periphere Sicht, eine Art siebter Sinn fürs Weggucken.

Er hatte es ausprobiert: Selbst dann, wenn er sie absichtsvoll anrempelte, beeilten sie sich, sich erschrocken bei ihm zu entschuldigen, traten zur Seite, erst einen Schritt, dann drei und mehr. Manchmal begann danach das Flüstern, manchmal ein Schweigen, das fast lauter dröhnte.

Ben aber hielt sich am Rand, weil er die Mitte nicht ertrug. Nicht mehr. Noch vor einem Jahr war das Zentrum des Geschehens der einzige Ort, der sich angefühlt hatte wie Leben. Afghanistan, Syrien, Palästina, China, Jemen. Als Kriegs- und Krisenfotograf war er Durcheinander gewohnt gewesen, Lärm und plötzliche, ohrenbetäubende Stille, die Gefahr bedeutete.

Nun ertrug er nichts mehr davon. Keine Schicksale, seines mit eingeschlossen, keine Geräusche und auch nicht die Abwesenheit davon. Es war, als hätte sich die Welt gespalten. In die aller anderen und in seine. Und der Aufenthalt in dieser Eso-Villa auf einer absurd kleinen Insel würde daran kaum etwas ändern. Trotzdem hatte er Ruth nicht widersprochen, als sie ihn angemeldet hatte. Seine Schwester hatte in den letzten Wochen alles für ihn getan. Dass nichts genutzt hatte, war nicht ihre Schuld. Dass sie dünnhäutig und erschöpft darüber geworden war, seine. Sie konnte definitiv eine Pause von ihm gebrauchen.

Kreischende Kinder spielten Fangen rund um die am Boden festgeschraubten Sessel des vorderen Bereiches. Sie liefen Kreise und lang gestreckte Achten, zickzack, und sorgten dafür, dass niemand hier seinen Ausstieg verschlief. Eines von ihnen, ein besonders wilder kleiner Kerl, war vorhin über seine Fußstützen gestolpert, und Ben hatte ihn gerade noch so auffangen können. Plötzlich war der Mini ruhig geworden, hatte in Bens Gesicht gestaunt, das genau auf seiner Augenhöhe war. Gesehen hatte er vermutlich nur sich selbst, Ben trug die verspiegelte Sonnenbrille eines ehemaligen Kollegen. Das Einzige, was er von früher mitgenommen hatte neben seiner Kamera. Auch die hätte er zu Hause gelassen, aber Ruth hatte sie ihm eingepackt. »Auf Amrum gibt es wunderbare Motive«, hatte sie gesagt und zaghaft gelächelt. Und nur, weil er wusste, dass sie all das für ihn tat, hatte er ein höhnisches Auflachen unterdrückt. Es war in seinem Hals stecken geblieben wie so vieles, das er nicht nach außen ließ. Dort dehnte es sich aus wie das Öl eines Tankers auf dem Wasser. Er war von innen verseucht, nicht erst seitdem.

»Guck mal, der komische Mann, Mama«, hatte der Junge für alle hörbar geflüstert, »der hat Rollen statt Füße. Ist das ein Superheld?«

Auf die Antwort der Mutter hatte Ben nicht gewartet, denn das war so ziemlich das seltsam Netteste, was er seit Langem gehört hatte. Ein Superheld. Genau, das war er: ein Held, der kaum eingegriffen hatte, aber Bilder geschossen von all der Zerstörung um ihn herum. Ein Super-Antiheld! Und nun würde er in seinem Batmobil nach draußen flüchten, um weitere Anti-Heldentaten zu vollbringen. Kinder erschrecken zum Beispiel, alte Damen anschnauzen, Möwen verjagen.

Das Deck allerdings war wohltuend unbelebt. Ein paar Seevögel kreischten empört, weil es niemanden gab, dem sich ein Fischbrötchen klauen ließ. Eine junge Frau sprach in rasender Geschwindigkeit in ihr Handy. Vermutlich gab es noch viel zu regeln, bevor das Netz abbrach.

Ben hatte gehört, dass die Inseln und Halligen bei heftigen Winden und Sturm manchmal völlig vom Festland abgeschnitten waren. Dann fuhren keine Fähren, Telefonleitungen und das Internet brachen zusammen. Auf Amrum gab es nicht mal ein Krankenhaus. Nur eine einzige Hebamme und ein paar wenige praktische Ärzte, die sich sicherlich gut mit Muschelschnitten in Fußsohlen und Erkältungen auskannten. Kliniken gab es nur auf Föhr, Schwerkranke mussten dorthin ausgeflogen werden. Sofern es die Wetterlage zuließ. Wie lange es wohl dauerte, bis ein Notstand ausgerufen wurde? Wie lange würden Lebensmittel reichen, die zumeist mit Schiffen angeliefert werden mussten, wie lange Medikamente? Benzin würde knapp werden, und wie stand es um die Wasserversorgung – gab es überhaupt so etwas wie Trinkwasserbrunnen, oder wäre das Wasser salzig, egal, wie tief man grub? Eine Filteranlage bräuchte man dann natürlich. Torf könnte dabei helfen, Wattschlick kaum. Und weshalb dachte er überhaupt über so etwas nach? Er befand sich in Deutschland. Im Frühsommer. Weder Blitzeis noch ein Blitzkrieg war sehr wahrscheinlich.

Seufzend rollte er nach vorn zum Bug, fest entschlossen, alles auszublenden außer den Geruch nach Salz und Meer. Tief atmete er ein. Es roch … neu, frisch, sauberer als die Luft in seinem Wohnzimmer, die er doppelt und dreifach verbraucht hatte, weil er zu erschöpft gewesen war, die Fenster zu öffnen.

Einige größere Kinder trampelten die Treppe vom Oberdeck hinunter, Ben drehte ab in die andere Richtung.

Auch die linke Seite des Vorderdecks hatte eine durchgehende Verschanzung. Vermutlich, damit dort niemand aus Versehen hinabstürzte und die Fährgesellschaft Konkurs anmelden musste, weil empörte Verwandte sie verklagten. So ein Leben war schließlich Millionen wert. Oder aber nichts.

Er stellte die Bremsen fest, stützte sich empor und reckte den Hals. Es reichte nicht ganz. Hätte er sich ja denken können.

Dort, wo andere eine Aussicht hatten, saß er vor einer Wand. Wütend ließ er sich zurückfallen und ballte die Hände.

»Du bist auch zu klein, was?«, kam es da von rechts.

Bens Kopf fuhr herum. Na warte, der Besserwisser kam ihm gerade recht! Wenn überhaupt irgendetwas half gegen all das Ölig-Schmierig-Giftige in ihm, dann ab und an etwas davon herauszulassen und jemand anderem entgegenzuschleudern. Ruth konnte davon ein Lied singen, ach was, ganze traurige Opern konnte sie darüber schmettern, shakespearemäßige, solche, bei denen am Schluss alle ein zu frühes und gemeines und völlig sinnloses Ende fanden. Ben holte tief Luft.

Dann entdeckte er den Jungen. Er hockte auf einer runden Metallkonstruktion, die vielleicht einmal dazu gedacht gewesen war, dort etwas anzubinden. Die Hände baumelten zwischen seinen Knien, die Füße ein ganzes Stück über dem Boden, und jetzt legte der Knirps auch noch den Kopf schief und sah ihn mitleidig an. »Kenn ich.«

»Ach ja?«

»Hm-m.« Er zuckte mit den Schultern. »Mama sagt, irgendwann wachse ich und hole alles auf. Aber«, er krauste die Nase, »das sagt sie schon seit ganz lange.« Das folgende tiefe Seufzen zupfte zaghaft an Bens Herz. Der Junge war zu klein, um jetzt schon zu begreifen, dass Eltern, so gut sie es meinten, nicht immer recht behielten. Oder aber einen vor allem Schlimmen bewahren konnten.

»Klein sein ist gar nicht so schlecht«, log Ben also zögernd. »Du kannst durch Fenster und Rohre kriechen, in denen andere stecken bleiben. Du kannst den Kopf einziehen und unsichtbar bleiben, selbst wenn jemand aus der Luft auf dich zielt.«

Nun kniff der Junior die Augen zusammen. »Wieso soll ich durch Rohre kriechen?«, wunderte er sich und schien darüber seinen Trübsinn zu vergessen. »Und wer zielt auf mich von oben?« Er hüpfte auf den Boden und kam neugierig näher. Und dann steckte er doch tatsächlich seine Kinderhand aus, ganz ernst und seriös wie ein Alter, und sagte: »Ich bin Tom. Und wer bist du?«

Vor dem Panoramafenster der Fähre blies der Wind, kreischten Möwen und spritzte die Gischt. Eigentlich hatte Judith gehofft, auf einem der Liegesessel vorn im Schiff Ruhe zu haben. Die sahen aus wie für Menschen gemacht, die sich entspannt zurücklehnen wollten und schweigend zusehen, wie das Festland kleiner wurde und später eine Insel nach der anderen größer.

Aber sie war nicht schnell genug gewesen. Bevor sie es sich versah, hatten sich andere Fahrgäste an ihr vorbeigedrängt, Jacken und Taschen auf die ersten drei Reihen geworfen wie Handtücher auf die besten Plätze direkt am Pool.

Der letzte freie Stuhl war ihr von einem quietschenden Jungen weggeschnappt worden, der sie mit beiden Händen zur Seite gedrückt und sich bäuchlings darauf geschmissen hatte.

Empört hatte sie ihm in das von einem siegessicheren Grinsen verzogene Gesicht gestarrt. Entschuldige mal, hatte sie sagen wollen, das war mein Sessel!

Da drehte er sich um und machte große Unschuldsaugen. »Mama, Papa, ich habe einen Sitz!« Mama und Papa hatten sich an Judith vorbeigeschlängelt, mit ihnen noch eine halbe Fußballmannschaft Kinder, und alle hatten dem Kleinen lautstark zu seinem Erfolg gratuliert. Also hatte Judith den Mund wieder zugeklappt.

Nun lehnte sie neben der Schiebetür zum Außendeck an der Wand und wusste nicht, was tun. Sich trotzdem setzen? Eigentlich brauchte der Kleine den Sessel gar nicht. Mit entzücktem Dauerkreischen tobten er und seine Geschwister durch die Reihen, und wenn sie über die ausgestreckten Beine anderer Gäste stolperten, die diese nicht rechtzeitig zur Seite zogen, war das Gebrüll groß.

Judith atmete dagegen an, sah den Dreikäsehochs nachdenklich zu und ließ die Gedanken wandern: Wie hoch musste so ein Käse eigentlich sein, damit er als Größen-Maßeinheit funktionierte? Und vor allem: Wurde er liegend oder stehend berechnet? Drei übereinander stehende Käseräder, wie man sie in Holland fand, erreichten sicher bis zu zwei Meter Höhe. Drei liegend aufeinandergelegte dagegen nicht mehr als siebzig Zentimeter. Die hier herumflitzenden Kinder aber waren von ihrer Körpergröße her alle irgendwo dazwischen. Welcher Käse-Anfänger hatte sich diese Bezeichnung nur ausgedacht?

Judith betätigte den Türmechanismus, die Bezeichnung ihres Onkels für Dreikäsehochs lautete letj poden – kleine Kröten –, was sehr viel mehr Sinn ergab. Einzige Ausnahme war immer Judith gewesen. Olafs henk, sein Küken. Judith freute sich darauf, ihn wiederzusehen. Olaf mit seiner Begeisterung für alles, was Friesland, »sein Meer« und »seine Insel« betraf, machte Judith automatisch gute Laune.

An der Reling lehnte ein Mädchen, hielt sich ihr Handy vors Gesicht und lachte lauthals hinein. »Vergiss es«, schnaufte sie, »nie im Leben sind da interessante Jungs dabei! Wer zum Henker macht denn so ’ne Insel-Sozialnummer? Welche, die eine an der Klatsche haben, oder«, sie seufzte tief, »welche, deren Eltern sie da reingetrickst haben!«

»So wie dich?«, kam blechernes Kichern aus dem Telefon, und das Mädchen strich sich genervt die Ponyfransen aus der Stirn. »Erinnere mich nicht!«, grummelte sie. »Ich habe schon eine Horde Zwerge ausgemacht, mit denen ich mich die nächsten Wochen rumschlagen darf! Und ich sag dir: Die sind alle völlig drüber! Hätte ich mich nur nicht breitschlagen lassen, die Betreuerin zu geben.«

Judith senkte den Kopf und eilte an ihr vorbei. Weiter vorn bemühte sich eine Gruppe Mädchen und Jungs, über die Reling zu spucken, ohne davon erwischt zu werden, wenn der Wind alles wieder zurückblies. Es gelang nicht immer, dann war das Gelächter wiehernd und schrill.

»Hey, wo ist eigentlich Tom, der Gnom?«, kicherte einer. »Wenn wir den vorn hinstellen, fliegt sicher sämtlicher Rotz über ihn hinweg!«

»Ich wette dagegen«, rief ein zweiter.

»O ja, lasst ihn uns holen und es ausprobieren!«, ein Dritter.

Das folgende Gelächter war gemein. Wie eine Gruppe eben klang, die entschlossen hatte, sich über einen lustig zu machen, der irgendwie anders war. Das Lachen kannte Judith gut.

»Ist prima für deine Bronchien«, hatten ihre Eltern gesagt und sie Jahr für Jahr zur Sommer-Kinderfreizeit auf Amrum angemeldet. Von dem Lachen hatte Judith ihnen nie erzählt. Auch nicht von den Mutproben, bei denen nie jemand auf sie gewartet hatte: Pudding aus der Küche klauen, einen Blick in die Fenster der einsam gelegenen Villa Pippilotta werfen, allein im Dunkeln über den Kniepsand laufen und um eine Düne wieder zurück …

Wenigstens hatte sie Onkel Olaf gehabt. Und das war mehr, als die anderen hatten, bei denen Heimweh als Schwäche galt.

Gerade erklomm Judith einige Stufen Richtung Kapitänsdeck, als hinter ihr eines der Kinder überrascht rief: »Hey, schaut mal da drüben! Da ist er ja!«

»Nee, oder? Dafür ist der viel zu kurz!«

»Doch, das ist er, verrückt, wie macht er das?« Und plötzlich schwiegen sie alle.

Judith drehte sich um. Die Kindergruppe unter ihr stand wie eingefroren da, den Blick auf die gegenüberliegende Seite des Bugs gerichtet. Ein breit strahlendes Kindergesicht spitzte weit über die Schiffswand hinaus auf See. Derart begeistert und fröhlich, dass es Judith ins Herz schnitt. Sein Arm hob sich in die Luft. »Hurrrraaaaa!«, schrie er aus vollem Hals. »Amrum, ich komme!«

Sein Kichern steckte Judith an, dann aber schüttelte sie den Kopf. Wie konnte der Junge überhaupt so weit über die Reling gucken? Eilig beugte sie sich über das Treppengeländer und bemerkte erschrocken, was die Kinder auf der anderen Seite nicht sahen: Der Kleine balancierte auf etwas. Einem Stuhl? War er dort hochgestiegen, um zu beweisen, dass er zwar klein war, aber sich zu helfen wusste? Ahnte er, wie gefährlich das war? Die ausgebaggerte Fahrrinne lief nicht geradeaus, sie führte in Kurven durch die See, nur abgesteckt von einigen roten oder grünen Spierentonnen oder Pricken – Stöcke, die flaches Fahrtwasser kennzeichneten und die Uneingeweihte gern übersahen. Außerdem waren da noch die Windböen, die selbst größere Fähren ab und an zum Schaukeln bringen konnten.

Entschlossen drehte Judith um, wollte zu ihm, ihm hinabhelfen, bevor er stürzte, da wandte sich der Kleine nach hinten. Seine Lippen bewegten sich aufgeregt plappernd, doch der Wind wehte seine Worte hinaus aufs Meer.

Judith reckte den Hals. Tatsächlich, er war nicht allein. Seine Füße standen auf den Oberschenkeln des Rollstuhlfahrers unter ihm. Dieser hatte die Bremsen angezogen und hielt den Jungen derart gekonnt fest, dass er nicht einmal zitterte, als die Fähre nun einen Bogen fuhr.

»Hey Tom!«, schrie einer aus der Gruppe gegenüber. »Wie machst du das?«

Tom sah zu den andern Kindern, als hätte er vergessen, dass sie existierten. Dann begann er zu schwanken und blickte Hilfe suchend zu dem Mann im Rollstuhl. Auch dessen Worte waren nicht zu verstehen, nicht einmal seinen Gesichtsausdruck konnte Judith deuten. Wie auch, er versteckte sich hinter wilden, dunklen Locken, einem ungepflegten Bart und einer spiegelnden Sonnenbrille.

Doch was auch immer er geantwortet hatte, schien genau das Richtige gewesen zu sein. Selbstsicher reckte der kleine Tom den Kopf in die Höhe und rief zurück: »Sag ich nicht, ist ein Geheimnis!« Dann ergriff er die Hand des Rollstuhlfahrers und sprang zu Boden. Der Mann hob einen Daumen, drehte geschickt ab und verschwand hinter der Glaswand des Durchgangs in Richtung Aufzug.

Nichts mehr war von ihm zu sehen, als die anderen Kinder um die Ecke stoben und sich verblüfft umguckten. Judith musste grinsen. Gut gemacht! Ab jetzt war der kleine Tom ein großer Magier.

Sie drehte den durcheinanderschreienden Kindern den Rücken zu und stieg die verbliebenen Stufen empor. Hier oben war außer ihr nur eine einsame, grauhaarige Gestalt am anderen Ende zu sehen. Sie stand mit dem Rücken zu ihr an der Reling und bewegte sich nicht.

Judith hielt das Gesicht in die Sonne und genoss die Wärme. Weiter vorn kam Föhr in Sicht. Dort würden etliche aussteigen, dann ging es weiter nach Amrum. Wenn alles gut ging, war sie in nicht einmal zwei Stunden bei Olafs Leuchtturm.

»Na dann, viel Spaß bei deinem Onkel und kommt mal bei uns im Teehaus vorbei!« Der gemütliche Ansgar grinste breit, winkte und fuhr weiter.

Judith sah sich um. Seit sie vor einigen Jahren das letzte Mal in Norddorf gewesen war, hatte sich kaum etwas verändert. Nur die »Mitnehmbänke« entlang der Inselhauptstraße waren neu. Eine geradezu geniale Idee, auf die auch nur eine Inselgemeinschaft kommen konnte!

Judith war auf dem Weg zur Bushaltestelle gewesen, als sie an der lindgrünen Bank vorbeigekommen war. Das Schild darüber fragte: »Namst dü mi mä?« – Nimmst du mich mit?, und der dazugehörige Aushang hatte erklärt, um was es ging: Wer von hier aus weiterwollte, konnte auf der Bank darauf warten, ob jemand mit Platz im Auto anhielt, um ihn einzusammeln.

Nicht einmal Zeit, ihren Rucksack abzusetzen, hatte Judith gehabt, als der Kleinbus mit der Aufschrift »Teehaus Wittdün« vor ihr gehalten und Ansgar mit dem Walrossschnurrbart die Scheibe heruntergekurbelt hatte. »Moin!«, hatte er ihr breit grinsend zugerufen. »Ich bin Ansgar und liefer ’ne Runde Tee ans andere Ende der Insel. Wo auch immer du also hinwillst, liegt das sicher auf meinem Weg.«

Dass der alte Leuchtturm ihres Onkels auf niemandes Weg lag, hatte Judith Ansgar erklärt. Aber auch, dass sie dankbar darüber war, so nahe wie möglich an ihr Ziel gebracht zu werden. Ansgar schien Judiths Onkel zu kennen, denn zum Abschied winkte er noch einmal und rief: »Grööte Olaf, foomen!« – Grüße Olaf, Mädchen.

Der anschließende Fußmarsch war genau das Richtige, um durchzuatmen. Judith lief über die zwei Ebenen des Parkplatzes am Dorfrand, der nur zu einem Drittel von Autos besetzt war, und trat auf den geteerten Weg.

Schon nach der ersten bewachsenen Düne war sie allein auf der ganzen Welt und atmete tief ein. Nur der Wind war zu hören, ein paar Zwergseeschwalben vollführten Kunststücke in der Luft, kein Spaziergänger weit und breit.

Das kleine Waldstück kam in Sicht, und sie musste abbiegen. Als Kind hatte Judith geglaubt, von Amrum kämen alle Weihnachtsbäume, bis Olaf ihr erklärt hatte, warum Nadelbäume für die Insel so wichtig waren: Sie verloren keine Blätter und boten so das ganze Jahr Schutz vor dem Wind. Nach den ersten Aufforstungen waren dann auch Laubbäume angesiedelt worden: Birken, später weitere Arten.

Judith trat auf den Bohlenweg und freute sich über das rhythmische Geräusch ihrer Schritte. In der Heide unter ihr rasten Wildkaninchen und ihr vor einigen Wochen geborener Nachwuchs hin und her, als hätte sie jemand frisch aufgezogen und natürliche Feinde gäbe es für sie nicht. Nun ja, das stimmte ja inzwischen auch. Den einzigen jemals von außen eingeschleppten Fuchs hatten die Inselbewohner kurzerhand erlegt, um das natürliche Insel-Gleichgewicht zu wahren. Und die Zeit der Hasenjagd für den Fleischtopf am Wochenende war schon eine ganze Weile passé.

Judith erinnerte sich noch genau, wie sie sich geschüttelt hatte, als Olaf ihr erzählte, dass Hasen in seiner Jugend auf dem Speiseplan der meisten Inselfamilien gestanden hatten. So wie Gänse und Enten, die sich von Lockrufen in die Reusen des ausgeklügelten Vogelkojen-Systems hatten tricksen lassen und denen – zack, nicht lange gefackelt – der Hals umgedreht worden war. Sogar einen Begriff gab es dazu: Gedribbelt, gedängelt, gekringelt? Judith würde Olaf fragen.

Ihr Onkel hatte eine Vogelkoje mit ihr besucht und Judith es logisch gefunden, dass hier auf der Insel nicht nur Fische in Netzen gefangen worden waren, sondern auch fliegende Tiere. Inzwischen waren die meisten der Kojen Naturschutz- und Brutgebiet. Irgendwie verrückt, dass etwas, dessen Name sich von Käfig ableitete und zum Fangen und Töten ersonnen worden war, nun den gleichen und mehr Tieren Sicherheit bot! Judith gefiel die Neubesetzung des Wortes. Sie bewies, dass nichts unabänderlich war.

Drei weitere Kaninchen hoben schnuppernd die Näschen, als sie an ihnen vorbeispazierte, und drehten ihr dann unbeeindruckt den Rücken zu. Judith holte tief Luft. Sie konnte das Meer riechen. Und als sei das nicht schon Beweis genug, dass sie bald am Strand war, pfiff ihr nach der nächsten Biegung der Wind entgegen und sandstrahlte ihr Gesicht.

Eine Düne und gefühlte achtzig Treppenstufen weiter schlüpfte Judith aus ihren Schuhen und bohrte die Zehen in den feinen Sand. Es fühlte sich an wie früher. Und auch ein bisschen wie neu. Als ergäbe es Sinn, dass sie jetzt, wo sie dran und drauf war, alles, vor allem sich selbst zu ändern, barfuß unterwegs war.

Der Sand, bereit für den Sommer, speicherte die Sonnenstrahlen, und bald darauf war die Spitze von Olafs Leuchtturm zu sehen, auch wenn der Eindruck täuschte. Noch lag ein ordentlicher Marsch vor ihr. Morgen würde sie ihre Waden merken! Strandläufe waren anders anstrengend als Kilometer auf Asphalt. Aber Judith zog sie allem anderen vor. In ein paar Tagen hätte sich ihr Körper wieder an die Insel gewöhnt, das kannte sie schon. Und sie mochte den anfänglichen Muskelkater. Er erinnerte sie daran, wo sie sich befand.

Voller Vorfreude reckte sie den Hals nach den rot-weißen Streifen des Turms, frisch und fröhlich sah er aus und passte wunderbar zu Judiths Onkel.

Schon als kleiner Junge hatte Olaf in die Fußstapfen seines Vaters, Judiths Großvater und Leuchtturmwärter, treten wollen. Nur, dass immer mehr Leuchttürme umgestellt worden waren und nun elektrisch funktionierten. 1984 war dann die Automatisierung gefolgt, und der Beruf des Leuchtfeuerwärters war verschwunden wie anderen Ortes der des Kohlehändlers und -schippers.

Der größte Turm der Insel war als erster deutscher Leuchtfeuerbau in Nordfriesland eine der beliebtesten Touristenattraktionen und Wahrzeichen der Insel. Fast 200 Stufen konnte man in den Sommermonaten bis zum Aussichtsbereich hinaufsteigen, um von dort aus bis zu der Föhrer Westküste und den Halligen zu sehen. Und auch wenn er längst von der Amrumer Außenstelle des Wasser- und Schifffahrtsamts Tönning betreut wurde – für Olaf blieb er lange »Vaters Turm«.

Einige Jahre hatte Olaf als Wattpostbote vom Festland aus zu Fuß die Post auf die Halligen gebracht, rund 15 Kilometer hin und zurück, nur in Begleitung einiger Seevögel, Wattwürmer und seltener, naturbegeisterter Touristen. Briefe und Kataloge hatte er ausgeliefert, manchmal ein Pfund Butter oder Frischmilch. Dann, kurz vor seiner Pensionierung, war das kleinere Leuchtfeuer stillgelegt und für entbehrlich befunden worden. Wind und Salzluft hatten dem Bauwerk schwer zugesetzt. Olaf hatte nicht lange gezögert, den Turm gekauft und mit sehr viel Liebe renoviert. Nun befand sich darin ein Badezimmer, eine kleine, offene Küche samt Wohn- und Schlafbereich mit Blick über die Dünen, den Strand und das Meer.

Für sein Bett hatte Olaf ein kleines Podest gezimmert. »Ganz seniorengerecht«, hatte er gegrinst, aber Judith geahnt: Eigentlich ging es ihm darum, so weit wie möglich sehen zu können.

Je näher Judith kam, desto höher ragte der Turm vor ihr auf. Auch wenn er nur etwa halb so groß wie der tatsächliche Leuchtturm war, für sie war er seit ihrer Kindheit riesig und wunderbar!

Für seine recht spezielle Kletterhilfe die letzte steile Dünenanhöhe hinauf hatte Olaf sich von den Strandwegen in Richtung des Vogelparadieses Wriakhörnsee im Süden der Insel inspirieren lassen. Da Treppen im sich schnell verändernden Sand viel zu wartungsintensiv waren, hatte er eine Art Strickleiter ausgelegt: Zwei dicke, himmelblaue Nylontaue hielten breite Holzsprossen zusammen, die Besuchern den Anstieg erleichterten.

Der Fuß des Turms war von Heideröschen umringt, jeden Herbst grub Olaf die sich dazwischendrängenden Kartoffelrosenpflanzen aus, die nicht nur schneller als ihre Artgenossen wuchsen, sondern auch die heimischen Heidepflanzen verdrängten. Ein kleiner Traktor parkte halb verdeckt hinter den Büschen, auf der anderen Seite stand der Bauwagen, den Judiths Onkel eines Sommers ersteigert hatte, um ihn als Gästezimmer auszubauen. Auch dieser schien frisch gestrichen – in einem Lindgrün, das an Frühlingslaub erinnerte. Davor flatterte ein Segeltuchdach, standen zwei Liegestühle und ein kleiner Tisch mit Hockern, alles aus Fundstücken gebaut, die am Strand angeschwemmt worden waren.

Judiths Schritte beschleunigten sich. Nach dem Marsch durch die Dünen freute sie sich auf Olaf, darauf die Beine hochzulegen und auf eine Tasse Olafs ganz persönlicher Friesenteemischung. Morgen würde ihr Onkel sie hochnehmen. »Stadtkind«, würde er grienen und die Augen verdrehen. »Sei froh, dass du nicht auf Föhr wohnst, da umrunden die Kinder einmal im Jahr die gesamte Insel zu Fuß!«

Nun, vielleicht konnte Judith, sobald ihre Waden wieder im Training waren, ja etwas Ähnliches auf Amrum machen? Ein Rund-um-Amrum, ein Amrum-Rum, sozusagen ein AM-RUM. Judith grinste in sich hinein. Das Wortspiel gefiel ihr. Außerdem konnte sie dabei in aller Ruhe über das Lügenlernen nachdenken. Auf einsamen Wanderungen im Sand gelang Nachdenken nämlich ebenso gut wie auf Friedhöfen.

Tief atmete Judith die salzige Luft ein und fühlte, wie sich ihr ganzer Körper entspannte. Mit jedem Atemzug ein bisschen mehr. Hierherzukommen war die beste Idee gewesen, die sie seit Langem gehabt hatte. Nun musste sie nur noch entscheiden, wie genau es weitergehen sollte.

FÖHR, 1913

»Beeilung, die andern sind schon fast um die nächste Biegung!« Teda wippte ungeduldig auf den Fußspitzen. So nett es war, dass sich Brar ihnen angeschlossen hatte, inzwischen ging er ihr ziemlich auf die Nerven.

Natürlich war es fürsorglich von ihm, als einziger Mann in ihrer Dreiergruppe darauf zu bestehen, sämtlichen Proviant zu tragen. Aber weshalb musste er sich alle paar Meter versichern, ob Stine eine Erholungspause brauchte? Und weshalb verneinte diese nicht einfach? Sie wusste, dass es darauf ankam, möglichst schnell zu sein! In dieser Geschwindigkeit jedenfalls würden sie die Jungs vom Pädagogium auf keinen Fall überholen! Stine und Brar waren doch dabei gewesen, als die sich über sie lustig gemacht hatten! »Eine Gruppe mit zwei Mädchen?«, hatten einige gekichert. »Da gebt ihr doch noch vor der Hälfte auf!«

Aber die würden sich noch wundern. Teda hatte trainiert. Jeden Tag war sie losgezogen, um weite Kreise durch Watt und Sand zu drehen, denn das waren zwar die schönsten Strecken des Rund-Föhrs, aber auch die ermüdendsten. Nur wer gewohnt war, hier zu laufen, oder fest entschlossen, würde durchhalten.

Ab und an hatte Stine Teda begleitet. Immer dann, wenn sonst keine Arbeiten anstanden, und das war nicht oft gewesen. Manchmal hatte sich Teda gefragt, ob es Stine wirklich ernst war mit ihrem Versprechen, ihr zu helfen, es allen zu zeigen – dass Mädchen genauso schnell und ausdauernd sein konnten wie Jungs. Ob sie in Wahrheit nicht lieber in der Stube saß bei den Frauen oder im Gemüsegarten arbeitete. Von beidem hatte man einen guten Blick auf das Tor des Stalls, dessen vorderer Bereich als Brars Werkstatt fungierte. Dort renovierte er Fenster wie von seinem Vater gelernt, baute Möbel, sägte, drechselte, schnitzte, wenn er Zeit fand, Spielzeug. Oder die zusammensteckbaren Teile des Kenkenbums, jene traditionelle und wiederverwertbare Miniatur-Weihnachtsbaumvariante aus Holz, die, mit immergrünen Zweigen und angehängten Äpfeln und Salzteigfigürchen – Pferde, Hähne, Schiffe, Mühlen – geschmückt, in fast allen Häusern zu finden war.

In letzter Zeit allerdings hatte er sich damit wohl kaum beschäftigt. Schon zwei Wochen vor Stines siebzehntem Geburtstag war er jeden Abend mit dunklen Handflächen zum Essen erschienen. Weder Mutter noch Greta oder Stine hatten darüber ein Wort verloren. Aber Teda hatte gewusst, was das bedeutete: Brar arbeitete mit Eiche! Der Staub des Holzes verfärbte in Kombination mit seinem Schweiß und dem Stahl der Werkzeuge seine Haut. Und tatsächlich, während Brar Mutters kaputte Küchenschublade mit einer aus Kiefer ersetzt hatte, war Stines Geschenk eine Eichenholztruhe gewesen, in der sie ihre wertvollsten Dinge verwahren konnte. Auf dem Deckel verschlangen sich geschnitzte Blumen, ganz ähnlich wie die Verzierungen der Kopftuchborten, die die Föhrer Mädchen zur Konfirmation trugen und danach sonntags oder zu Feiertagen.

Ihre Trachten wurden von einer Generation zur nächsten weitergegeben, zusammen mit dem geheimen Wissen darum, wie Tücher zu schlingen und mit unzähligen Nadeln festzustecken waren, Zöpfe zu flechten, Hauben aufzusetzen. Stunden dauerte das. Und an den fein geschmiedeten Ketten des Brustschmucks hingen Münzen oder Dukaten rechts und links von Kreuz, Herz und Anker – Glaube, Liebe, Hoffnung – und zeigten, was eine Familie hatte, wie reich sie war.

Stine hatte aus Amerika einige Silberdollar mitgebracht, die dort sicher gut aussehen würden und die sie hütete wie einen Schatz. Sie waren das Erste, das sie in Brars Truhe gelegt hatte. Doch weder in ihrer noch in Tedas Familie gab es eine Tracht, die vererbt werden konnte. Frau Schellevis hatte Teda versprochen, sie dürfe ihre zur Konfirmation tragen. Dass Tedas Tracht dann eine aus Amrum wäre und nicht aus Föhr, würde kaum jemand erkennen, denn außer an der Anzahl der Brustschmuck-Anhänger unterschieden sie sich nicht.

Teda freute sich drauf. Oft genug hatten ihre Schulkameradinnen keine Zeit für sie, weil Sticken und Anproben sie zu Hause festhielten oder sie lernten, Zöpfe zu flechten. Immer taten sie dann, als wäre dies etwas, das nur ein eingeschworener Kreis miteinander teilte, zu dem Teda nicht gehörte.

Dann blieb Teda stumm und nickte. Auch weil sie ahnte, so verkehrt war das nicht. Sie mochte die alten Traditionen, mochte es, dazuzugehören, aber zeitgleich fühlte sie sich davon erdrückt. Denn Zugehörigkeit hatte ihren Preis: Die Gruppe bestimmte, was erlaubt war und was nicht. Wer Regeln infrage stellte, bekam nicht selten ein »Das war aber schon immer so« zu hören. Und wenn Teda etwas nicht mochte, dann zu etwas gezwungen zu werden, nur weil es schon immer so gewesen war. Auch für ihren Vater waren diese Worte stets das letzte Argument, dem niemand mehr zu widersprechen wagte.

In letzter Zeit hatte sich Teda immer wieder gefragt, was wohl geschähe, wenn sie Frau Schellevis’ Kopftuch mit Stines Hilfe ganz anders bestickte als üblich. Vielleicht mit abstrakten Mustern in allen Farben des Regenbogens, selbst in Gelb, das als Farbe der Frauen von zweifelhafter Moral galt.

Aber das waren nur Gedankenspielereien. Ihre Mutter und Greta würden ihr das nie durchgehen lassen, und ob Stine überhaupt Zeit hätte, ihr bei irgendetwas zu helfen? Nur noch abends, kurz bevor sie in ihrer Stube das Licht löschten, hatte Teda ihre Schwester inzwischen ganz für sich.

Bei Tedas Konfirmation jedenfalls würden die anderen Augen machen, wenn sie ebenfalls eine Tracht trüge, die Schürze um den Pai, den Rock, geschlungen, ein farbiges Schultertuch, das Kopftuch mit Stickereien, die dazugehörige Frisur. Nur nicht das rote Häubchen mit schwarzen Glasperlen unter dem Kopftuch, das sämtliche Haare verdeckte. Dieses war verheirateten Frauen vorbehalten.

Gut so, fand Teda, nichts hatte es mit ihr zu tun, sie konnte sich nicht einmal vorstellen, verheiratet zu sein. Nicht, wenn das bedeutete, wie ihre Mutter das halbe Jahr darauf zu warten, dass ein Ehemann nach Hause kam, damit wieder alles anders lief.

Früher hatte es einen Spruch unter den Inselfrauen gegeben, hatte Frau Ada ihr einmal erzählt. Sie schickten eine augenzwinkernde Bitte in den Himmel, wenn ihre Männer zur See fuhren: Lass ihn eine reiche Frau finden und nicht wieder zurückkommen, auf dass ich meine Ruhe habe.

So recht mochte Teda das nicht glauben. Für sie alle hatte es vor einem guten Jahr nur ein Thema gegeben: den Untergang der Titanic. All die Ertrunkenen, all die gewaltvoll auseinandergerissenen Familien!

Auch Frau Schellevis’ Mann war von einer seiner Seefahrten nicht zurückgekommen, und gefreut hatte sich ihre Nachbarin ganz sicher nicht darüber.

Sieben Tage lang hatte sich Teda damals daran gehalten, sie in ihrer Trauer allein zu lassen. Dann hatte sie sich durch die Gartentür ins Nachbarhaus geschlichen. Und hätte sie das nicht getan, gäbe es Frau Schellevis jetzt vielleicht nicht mehr. Sie hatte vor dem steinkalten Ofen gesessen und vor sich hin gestarrt, sich nicht einmal daran erinnern können, wann sie das letzte Mal gegessen hatte. Tedas Mutter hatte ein Huhn geschlachtet, und sie waren gemeinsam jeden Tag nach gegenüber gegangen. So lange, bis Frau Schellevis irgendwann endlich aufgestanden war, weil eines ihrer Schafe gelammt und Hilfe gebraucht hatte.

Aber womöglich hatte ihre Trauer auch etwas damit zu tun gehabt, dass Frau Schellevis sich ihren Mann selbst ausgesucht hatte? Holländer war er gewesen und ihre Familie alles andere als glücklich darüber. Den Kontakt hatten sie abgebrochen, und selbst als Herr Schellevis auf einem anderen Kontinent ertrunken war, hatte sich daran nichts geändert.

Nein, Teda verstand nicht, wie man sich wünschen konnte, dass jemand ausfuhr und wegblieb. Dann war es doch besser, erst gar nicht zu heiraten, oder?

Ein schrilles Pfeifen riss sie aus ihren Gedanken. Die Jungsgruppe weit vor ihnen war schon beinahe am Sunberig und winkte spöttisch.

Teda sprang auf. »Wir müssen weiter!« Noch könnten sie die Jungen einholen, schließlich kannten Brar und sie die Gegend wie niemand sonst! Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Kopf. Dann drehte sie sich aufmunternd zu Brar und Stine um – und erstarrte. Wo steckten die beiden? Vorhin noch hatten sie frisch gebackenes Brot ausgepackt, Butter und Käse. Jetzt aber lag die Decke, die Stine in ihrer freien Zeit für Brar aus alten Kleidern und Wollresten gefertigt hatte, einsam auf der Landseite des Deichs. Zwei Möwen stritten sich um einen liegen gebliebenen Kanten Brot. Von Brar und Stine keine Spur.

Teda kniff die Augen zusammen. Nur wenig entfernt begann Brars und ihr Lieblingswäldchen. Es erstreckte sich einige Hundert Meter ins Innere der Insel. Hier gab es keine Vogelkoje, keine Fallen, das hier war eines der Waldstücke, in denen es nicht darum ging, etwas zu fangen und zu töten. Es war dazu da, den Wind zu brechen und die dahinterliegenden Gehöfte zu schützen. Zwischen den Bäumen gab es Lichtungen, von denen Frau Ada immer behauptete, sie seien perfekt: weiches Moos, im Wind wehende Bäume, die Sonnenstrahlen filterten, dazwischen Schmetterlinge und Vögel. Ein Paradies, um dort ihre Freilicht-Staffelei aufzustellen. Wie das Paradies war jedoch auch dieses Stück Natur nur schwer zu erreichen. Vor allem für eine Frau, die ihre Klappstaffelei und all ihre Malutensilien auf dem Rücken trug.

Teda nahm die liegen gebliebene Decke und das Essen und lief los. Mit jedem Schritt wurde sie schneller und wütender. Immer wieder rief sie nach Stine und ihrem Bruder. Dann ließ sie die erste Reihe Bäume hinter sich, und plötzlich wurde es still. Der Wind blieb hinter ihr zurück, die Wut nicht. Wo waren die beiden, und weshalb hatten sie Teda allein gelassen?

Einen Moment glaubte sie Lachen zu hören. Von vorn, von der Seite? Sie ballte die Fäuste. Keinen Grund zum Lachen gab es! Je länger sie hier Pause machten, desto schwerer würde es, zu gewinnen. Und darum ging es doch heute, oder?

Teda zwang sich, stehen zu bleiben und zu lauschen. Der kleine Trampelpfad vor ihr führte bis zur Kuhwiese von Bauer Tonderssen. Von dort aus ging es nicht viel weiter, außer man kannte die schmalste Stelle der Wasserläufe, die seine Weiden von denen seiner Nachbarn trennten.

Über ihr lachten ein paar Möwen, als wüssten sie mehr als Teda, und dann hörte sie Stines Kichern, Brars Stimme, die inzwischen so tief und dunkel war wie die ihres Vaters. Im Gegensatz zu ihrer eigenen, die noch immer kiekste, wenn sie aufgeregt war.

Teda schlich auf die Geräusche zu. Als seien die beiden nur mit sich beschäftigt, klangen sie, als hätten sie vergessen, was sie Teda versprochen hatten. Als hätte ein Meerwesen ihnen sämtliche Erinnerung geraubt. Nur dass es natürlich keine Meerjungfrauen gab und, falls doch, sie sicherlich nicht hier zu finden waren!