Sind dann mal weg - Simone Veenstra - E-Book
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Sind dann mal weg E-Book

Simone Veenstra

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Beschreibung

Tina langweilt sich in der Seniorenresidenz Schafweide zu Tode. Einziger Lichtblick: Die Rätselabende mit dem schmucken Kapitän a.D. Ole Erickson, dem Lebemann Paul, der glamourösen Hedi und dem schüchternen Männi. Doch als Ole eines Abends mitten im Rätselraten tot umfällt, ist der Spaß vorbei. Oles letzter Wunsch war es, dass seine Asche im norwegischen Finnfjordvær ins Meer gestreut wird. Tina und ihre Freunde nehmen die Herausforderung an und machen sich mit Oles Asche auf den Weg gen Norden.

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Das Buch

Tina langweilt sich in der Seniorenresidenz Schafweide zu Tode. Einziger Lichtblick: Die Rätselabende mit dem schmucken Kapitän a. D. Ole Erickson, dem Lebemann Paul, der glamourösen Hedi und dem schüchternen Männi. Doch als Ole eines Abends mitten im Rätselraten tot umfällt, ist der Spaß vorbei. Oles letzter Wunsch war es, dass seine Asche im norwegischen Finnfjordvær ins Meer gestreut wird. Tina und ihre Freunde nehmen die Herausforderung an und machen sich mit Oles Asche auf den Weg gen Norden.

Die Autorin

Simone Veenstra wuchs in Franken auf und studierte Film, Theater und Literatur. Gemeinsam mit Dorothea Martin gründete sie den Independent-Verlag »Das wilde Dutzend«. Heute lebt sie in Berlin und schreibt Romane, Drehbücher, Hörspiele, für Games und Magazine. Für ihre Geschichten geht Simone Veenstra gerne auf Entdeckungstour – in Archiven, Bibliotheken und am liebsten vor Ort.

SimoneVeenstra

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Dieser Roman ist Fiktion. Jede Ähnlichkeit zu existierenden Personen oder Orten ist entweder mit Bedacht gewählt und verändert oder aber nicht unbedingt wahrheitsgetreu.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2017 by Simone VeenstraCopyright © 2017 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Steffi Korda Umschlaggestaltung: © Bürosüd, MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-19651-6V002
www.heyne.de

Meiner ganz eigenen und wunderbaren Jantina-Aleida, ohne die es dieses Buch nicht gäbe. Und mich auch nicht. Für Doris und Henk und für Doro, ohne die ich nicht ich wäre und nie im Leben so glücklich.

Prolog

49°46’40.5‘‘N

»Okey-dokey, Granny, dann bis nächste Woche – same time, same game.« Tinas Enkel Adrian winkte fröhlich in die Kamera.

Same game. Granny und okey-dokey.

Adrian hatte schon immer ein Faible für amerikanische Ausdrücke und coole Floskeln gehabt. Aber seit dem Umzug vor ein paar Jahren nach New York war dies in ungeahnte Höhen geschossen. Manchmal wurde es schwer, ihn zu verstehen. Mit same time, same game allerdings traf er den Nagel auf den Kopf!

Seit Tina in das Seniorenwohnheim Schafweide gezogen war, verschmolzen ihre Tage zu einem gleichmäßigen, farblosen Brei von Aus-dem-Fenster-Gucken, Fernsehen und prothesenfreundlichem Essen in der als Speisesaal getarnten Seniorenfütterungsstelle. Gäbe es nicht den Kalender an dem besten Platz überhaupt – direkt neben der Toilette –, hätte sie längst den Überblick verloren. Wie die meisten hier.

Doch seit vierundvierzig Tagen, seit sie hier eingezogen war, bestand ihre erste Tat des Morgens darin, den roten Plastikrahmen ein Kästchen weiter zu rücken. Vierundvierzig Tage, etwas über sechs Wochen. Eine zähflüssige Ewigkeit.

»Jetzt musst selbst du dir eingestehen, dass du allein nicht mehr zurechtkommst!«, hatte ihre Tochter Laura vor knapp zwei Monaten behauptet, als sie Tina im Krankenhaus anrief. Nur wenig später hatte Laura von Amerika aus bereits alles organisiert und kündigte Tina, keine Widerrede duldend, den Besuch eines Heimmitarbeiters an. Und schob vorwurfsvoll hinterher: »Wie konntest du nur vergessen, den Gashahn abzudrehen, Mutter?«

Ja, wie konnte sie nur?! Im Grunde war es ganz einfach gewesen: Von Feuerwaffen hatte Tina nie viel gehalten und ihren Fingern nach der Diagnose des beidseitigen Karpaltunnelsyndroms keinen ordentlichen Knoten mehr zugetraut. Der Herd schien die sauberste Lösung: Hahn auf und warten, bis es keinen weiteren Morgen mehr gab, an dem sie in dem leeren Häuschen aufwachen musste. Ihr Haus, in dem schon viel zu lange niemand mehr fröhlich gelacht hatte, in dem es nur Stille gab und ein weißes Rauschen, das jeden klaren Gedanken unter sich begrub – außer einem: Das will ich nicht. Nicht so. Nicht mehr.

Aber anstatt ihre Tochter mit der Wahrheit zu erschrecken, hatte Tina die Antwort geschickt verhüstelt. Lauras Frage war sowieso rhetorisch gewesen und Tinas Vergiftung nur eine leichte. Einer der Jungs, die Geld für die Renovierung der Kirchenbänke sammelten, hatte durch das Küchenfenster geblickt und sie zusammengesunken auf dem Stuhl vor dem Herd entdeckt. Daran, die Vorhänge zuzuziehen, hatte sie nicht gedacht. Dumm von ihr.

Der Umzug ins Heim war schneller gegangen als das Kofferpacken nach ihrer Entlassung aus dem Spital. Seitdem diktierten andere Regeln ihren Tagesablauf, ein gut gemeinter Rhythmus, der verhindern sollte, dass sich die hier zusammengewürfelten Anwesenden aus Versehen selbst aus dem Leben beförderten. Er sorgte dafür, dass Tina sich derart fremdbestimmt durch die Stunden quälte, wie sie es nie hatte wollen.

Früher, als der »Herbst des Lebens« noch so weit entfernt gewesen war, dass diese schönfärberische Formulierung glaubhaft klang, hatte sie ihn sich anders vorgestellt: voller Hochbeete und pflegeleichter Wiesenblumen, ein bisschen langsamer als bisher natürlich, womöglich nicht ganz schmerzfrei, auch das, aber zumindest umgeben von Freunden und Bekannten und ihrer Familie. Doch Ersteren war es nach und nach ergangen wie ihr selbst, Letztere hatte ja wegen Lauras Karriere unbedingt auf die andere Seite der Welt ziehen müssen. Und eine knorrige Konifere wie sie in ein anderes Land verpflanzen … selbst wenn sie gewollt hätte, im Haus ihrer Tochter war sie von Anfang an nicht eingeplant gewesen.

Stattdessen hatte ihr Schwiegersohn alles versucht, um ihr den Aufenthalt im Seniorenheim Schafweide schmackhaft zu machen. »Die sind echt super ausgestattet – Mal-, Bewegungstherapie, Seniorenschwimmen, bunte Abende: Du wirst massenhaft neue Freunde finden«, hatte er ihr so begeistert vorgeschwärmt, dass sie ihm am liebsten vorgeschlagen hätte, doch selbst einzuziehen. Maltherapie, neue Freunde – wen dachte er vor sich zu haben? Eine Viertklässlerin am ersten Tag in einer neuen Schule??

Nein, Freundschaften würde sie hier nicht schließen, das war ihr schon während des ersten Essens im Speisesaal klar geworden. Seitdem begegnete sie dem immer gleichen Seufzen ihrer Tischnachbarn über Verdauungsschwierigkeiten, Inflation und andere Ärgernisse, gegen die nichts zu tun war, mit dem Abstellen ihres Hörgerätes. Niemanden gab es hier, mit dem man diskutieren konnte, niemanden, der auch mal einen intelligenten Witz riss … und falls doch, schienen sich diese besonderen Exemplare gut zu verstecken.

In die Schwimmgruppe war Tina ein einziges Mal gegangen. Allerdings nicht ins Wasser. Das penetrant fröhliche »Na, Schätzchen, neu hier?« der Therapeutin hatte ihr schon vor dem Beginn der Stunde den Rest gegeben. Einmal in der Woche lieh sich Tina einige Bücher aus der Heim-Bibliothek und legte auf dem Rückweg in ihr Zimmer eine kleine Pause vor dem Gemeinschaftszimmer im Erdgeschoss ein. Es war das Höchstmaß an Zugehörigkeit, das sie ertrug. Unsichtbar lehnte sie dann am Türrahmen und beobachtete ihre Mitinsassen beim Damespielen mit den bunten Steinen des Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiels, beim Streiten um die Fernbedienung des Flachbildfernsehers, beim Austausch von Pralinen und Lästereien: Frau Doktor aus dem Erdgeschoss bestand auf einen männlichen Friseur, der Dicke aus dem zweiten glaubte, er sei Elvis Presley. Der Mann von Oberschwester Ursula hatte sie neulich wegen einer Jüngeren verlassen. Und der Dauerbrenner unter den anwesenden Damen war die Frage, welche von ihnen wohl am ehesten Chancen bei Ole Erickson habe. Tina hätte es ihnen beantworten können: keine. Der alte Kapitän aus dem Zimmer ihr gegenüber war zu allen gleich freundlich, das schien in seiner Natur zu liegen. Doch sämtliche privaten bis intimen Fragen prallten von ihm ab. Es schien ihm wie ihr selbst zu gehen, auch Tina blieb lieber für sich. Ein Hoch auf Lektüre in Großbuchstaben, den Fernseher in ihrem Zimmer und das Leben aus zweiter Hand!

»Also hören wir uns nächsten Samstag wieder?« Tina schreckte aus ihren Gedanken. Adrian beugte sich fragend vor, die Webkamera verzerrte sein Gesicht zu etwas Fischigem. Dabei sah der Junge eigentlich nicht schlecht aus.

»Wenn ich dann noch da bin …« Tina biss sich auf die Zunge. Jetzt hatte sie es schon wieder gesagt!

Adrian winkte lachend ab. »Aber natürlich bist du das. Du wirst mindestens hundert!«

Bloß das nicht! »Das Herz eines Bullen«, erklärte der Heimarzt nach jedem ihrer wöchentlichen Checks fröhlich. Als wäre das etwas Gutes. Jedes Mal wünschte sich Tina, es wäre andersherum: Knochen und Gelenke eines jungen Mädchens und ein Herz, das mitleidig aufgab, bevor sich das änderte.

Sie zwang sich zu einem Lächeln, winkte und spitzte die Lippen kokett zu einem Luftkuss. Das brachte Adrian immer zum Lachen. So sollte er sie in Erinnerung halten. Exakt so.

Seine Gestalt auf dem Monitor, eben noch so lebendig, fror ein. Es folgte dieser unnatürliche Ton, als versuchte jemand, ein Meerschweinchen in der Gießkanne zu ertränken, und es schnellte wider Erwarten zurück an die Oberfläche. Wooohooop! Tina kniff die Augen zusammen und sah sich um. Von hier aus waren die Baumwipfel durch ihre Fenster nur schemenhaft zu erkennen. In der letzten halben Stunde war es dunkel geworden. Die Pflegerin der Nachschicht hatte die Tabletten verteilt.

Entschlossen löste sie den farbenfrohen Schal um ihren Hals, der ihr für heute gewähltes schwarzes Wollkostüm vervollständigte, und drückte den Aufwärtsknopf des Hightech-Sessels. Eine der vielen Erleichterungen für das Alter, die sich in ihr Leben geschlichen hatten. Erst kaum merklich, dann immer schneller.

Entschlossen stand sie auf und schritt auf das Fenster zu. Im Vorbeigehen warf sie den Schal über die noch immer blinkende Webcam. Seit Adrian ihr erzählt hatte, dass wer auch immer aus welchem Grund auch immer dafür sorgen konnte, dass diese Kameras weiter aufnahmen, obwohl sie scheinbar ausgestellt waren, ging sie auf Nummer sicher. Herr Wer-auch-immer würde sie nicht dabei erwischen, wie sie in Stützstrümpfen einen Fenstersprung hinlegte. Diesmal würde sie niemand rechtzeitig entdecken. Diesmal musste es klappen!

Die Straßenlampe blinkte kurz, dann ging sie aus. Tina öffnete das Fenster. Einen Moment sammelte sie sich, dann schob sie den Stuhl dicht davor und stieg vorsichtig darauf. Seit sechs Wochen stellten die viel zu jungen Pflegerhelferinnen ihn morgens zurück in die Küchenzeile. Jeden Nachmittag bugsierte Tina ihn wieder zu seiner Ausgangsposition. Sechs Wochen, in denen sie nicht genug Mut aufgebracht hatte – oder aber womöglich auf Besserung gehofft? In ihrem Alter! Absurd! Wie sehr, das hatte sie seit heute schriftlich: Nur noch eine Frage von Wochen würde es sein, bis sie selbst nicht mehr die Klettverschlüsse der Schuhe öffnen konnte. Von Schnürsenkeln war schon seit Langem nicht mehr die Rede.

»Ganz normal für Ihr Lebensalter«, hatte der Heimarzt betont fröhlich abgewunken. »Verschleißerscheinungen.« Als wäre irgendetwas normal daran, dass einem der eigene Körper nicht mehr gehorchte. Dass es nicht mehr besser wurde. »Aber«, hatte er sie breit angelächelt, »es gibt inzwischen sehr gute Schmerzmedikation!« Toller Vorschlag: sich Tag für Tag zuzudröhnen, um bewegungslos im Sessel dahinzuvegetieren?! Nein, danke. Nicht mit ihr!

Als sie beherzt auf das Fensterbrett kletterte, grinsten sie von ihren Füßen zwei verrücktfröhliche Hasengesichter an. Die albernen Hausschuhe waren ein Geschenk von Adrian gewesen. Ob er wirklich glaubte, was die Verpackung so marktschreierisch versprach? Trittsicherheit und gute Laune für jedes Alter!!! Wenigstens leisteten ihr die Antirutschsohlen gute Dienste. Langsam tastete sie sich vorwärts.

Die Luft war herbstweich und roch ein bisschen nach Stall, ein bisschen nach Pflanzen. Tina kniff die Augen zusammen. Der Hof war nur verschwommen erkennbar. Irgendwas zwischen vier und fünf Metern lagen zwischen ihrem Fenster und den Pflastersteinen. Rund dreimal ihre Körpergröße – je nach Tageszeit und Verfassung. Das sollte ausreichen, hatte sie im Internet gelesen. Vor allem bei jemandem mit brüchigen Knochen und sieben Geschwistern, von denen nur noch zwei lebten.

Sie schloss die Augen, musste nur nachgeben, die Schwerkraft würde das ihre tun. Ganz langsam, Millimeter für Millimeter, bewegte sich ihr Körper, sie ließ sich nach vorn sacken. Freier Fall …

… für ganze zwei Sekunden und drei Handbreit. Dann knirschte es. Etwas kratzte an Stirn und Nase. Tina riss grimmig die Augen auf. Himmel, Arsch und Zwirn! Sie hatte das vermaledeite Moskitogitter übersehen! Hätte sie nur auf Laura gehört – die erinnerte sie bei jedem Gespräch daran, zum Optiker zu gehen. Aber eine neue Brille hatte Tina bisher immer für rausgeworfenes Geld gehalten. Wozu ein neumodisches Gestell und speziell entspiegelte Gläser? Nur, damit sie den Boden deutlicher auf sich zurauschen sah? Als sie die Hände hob, um sich entnervt hochzustemmen, rutschte ihr rechtes Bein ab. Ihr Knie knallte schmerzhaft gegen das Fensterbrett, der Hausschuh traf mit einem leisen Ploff auf den Boden, und nur wenig später landete sie unsanft auf dem Küchenstuhl. Wütend schlug sie gegen das Gitter, hinterließ jedoch nur eine kleine Delle. Na warte! Sie würde sich etwas Scharfes besorgen, etwas, das mühelos Draht durchtrennte! Zum Beispiel … eine Geflügelschere!

Tina drehte sich um und sah auf die Zeiger ihrer alten Pendeluhr: kurz vor acht. Das Küchenpersonal hatte bereits Feierabend. Das war ihre Chance. Energisch angelte sie nach dem fehlenden Schuh und stemmte sich hoch. Auf in die Küche!

(49°46’40.5’’N)

Im grünlichen Schein des Nachtlichts zog Tina eine Schublade nach der nächsten auf. Massenweise Essbesteck – nicht zu gebrauchen! Die Messer hatten keine Zacken. Das war ihr gleich zu Anfang aufgefallen. Selbst weißes Fleisch konnte man damit nicht manierlich schneiden, es musste mit purer Gewalt auseinandergerissen werden. An manchen Tagen eine echte Geschicklichkeitsaufgabe. Auf dem Abtropfbrett lagen Suppenkellen, Salatbestecke, Tortenheber. Auch damit käme sie nicht weiter. Suchend drehte sie sich um und – Hallo, da war sie ja! Lag glänzend auf dem großen Tisch in der Mitte des Raumes, als wartete sie nur darauf, eingesteckt zu werden.

Nur wenig später wog Tina die Geflügelschere zufrieden in der Hand. Schwer war sie, wie es sich gehörte, ihre Schneiden schienen frisch geschliffen. Kurzerhand ließ sie das Monstrum in ihre Jackentasche gleiten – als plötzlich Schritte auf dem Gang vor der Küche laut wurden. Hatte einer ihrer … Mitbewohner die Angewohnheit, nachts den Puddingvorrat zu plündern? Oder war das womöglich eine der Nachtpflegerinnen? Gehetzt sah sie sich um. Wenn sie jetzt eines nicht gebrauchen konnte, dann argwöhnische Fragen darüber, was sie hier zu suchen hatte um diese Uhrzeit.

Das beste Versteck bot der ausladende Küchentisch in der Mitte des Raumes. Leise quietschten die Kaninchensohlen auf dem Linoleum, als sich Tina auf alle viere niederließ. Unter der verkratzten Tischplatte feierten gleich mehrere Staubmaus-Familien eine gesellige Party, doch Platz für eine Seniorin gab es allemal. Tina krabbelte ächzend darunter. Hinter ihr knarrte die Tür leise und fiel wieder ins Schloss. Jemand durchquerte leichtfüßig den Raum. Tina versuchte, sich unter dem Tisch so klein wie möglich zu machen. Ihre Knie schmerzten, die Handgelenke zitterten. Hoffentlich fand der Eindringling schnell, wonach er suchte! Ihre Wirbel begannen zu protestieren. Im Gegensatz zu ihrer Tochter hatte sie es nie mit Yoga versucht. Schade eigentlich. Vorsichtig verlagerte sie ihr Gewicht auf die Hände … nur noch wenige Minuten!

Da gab ihr rechtes Knie nach. Das Knacken war durch die ganze Küche zu hören. Tina hielt erschrocken die Luft an. Hinter ihr erklang ein Räuspern. Ertappt drehte sie den Kopf.

Ein amüsiertes Gesicht spähte zu ihr hinab. Auf den Tisch gestützt, beugte sich Ole Erickson zu ihr, der alte Kapitän aus dem Zimmer gegenüber ihrem eigenen. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«

Tina knirschte mit dem Gebiss, schüttelte den Kopf und brachte ein hoheitsvolles »Nett von Ihnen, aber nein danke!« hervor. Nun ja, so hoheitsvoll es jemandem möglich war, der unter einem Esstisch kauerte, mit dem Hintern in Richtung des Gesprächspartners. Das Glühen ihrer Wangen war nur zur Hälfte der Anstrengung geschuldet. Was würde sie dafür geben, jetzt ohne Probleme aufspringen zu können! Auf Augenhöhe ließe sich vielleicht eine einigermaßen glaubhafte Erklärung erfinden. Aber sie würde sich garantiert nicht unter Ericksons lächelndem Blick am Tischbein emporhangeln. Also ließ sie sich auf den Allerwertesten sinken, als säße sie alle naselang gesellig auf dem Küchenboden herum.

»Haben Sie etwas verloren?«

Warum ging er nicht einfach?

»Zum Beispiel eine Wette?« Grinsend und überraschend behände setzte er sich neben sie und zog seine Krawatte zurecht. Na, da hatte sich aber jemand schick gemacht! Dreiteiler UND Krawatte. Ob der alte Herr um diese Zeit noch eine Verabredung hatte – ein Date, wie Adrian es nannte?

»Und für was oder wen haben Sie sich so in Schale geworfen?«, hielt sie dagegen.

Sein breites Grinsen erhellte die dämmrige Küche. »Ich mache einen Ausflug.« Seine Augen blitzten. »Und nachdem auch Sie eine Nachteule zu sein scheinen: Wie wäre es, wenn Sie mich begleiten?«

Tina starrte ihn an. War das sein Ernst?

Er griff nach der Tischplatte und zog sich empor. Kaum stand er sicher auf den Beinen, hielt er ihr galant eine Hand hin. »Darf ich bitten?«

Tina hatte Mühe, mit dem alten Kapitän Schritt zu halten, als der den Weg zu Katis Klause einschlug, der einzigen Kneipe des Dorfes. Anstatt hineinzugehen, bog er allerdings in den verwaisten Biergarten ab.

Tinas Neugierde war geweckt. »Was tun wir hier?«

»Spionieren.«

Ole blieb vor einem gekippten Fenster stehen. Warme Luft und Lachen drang zu ihnen hinaus. Interessiert spähte Tina hinein. Mehrere Menschengrüppchen saßen verteilt um die Tische. Einige kannte sie vom Sehen: Der schnieke Grauhaarige – Leo? – hockte in einer Runde mit denselben Damen, die ihn auch im Speisesaal nicht aus den Augen ließen: Paula, Luise und Baby … Barnie oder so ähnlich? Am Tisch daneben saß Frau Doktor Irgendwas aus dem Erdgeschoss, an deren Klingel noch immer der Name ihres verstorbenen Gatten stand, damit sie nicht auf dessen Titel verzichten musste. Davor der Dicke aus dem zweiten Stock. Und ganz hinten steckte ein ungleiches Team die Köpfe zusammen: eine Glatze, ein geföhnter Silberschopf und die roten Minilöckchen ihrer Zimmernachbarin Hedi. Alle starrten fasziniert zur kleinen Bühne, auf der Kati, die kompakte Wirtin, thronte.

»Wir haben die ersten beiden Fragen verpasst!«, wisperte Ole und reckte den Hals, um eine Tafel mit Namen und Strichen zu begutachten. »Pffft«, knurrte er dann grimmig. »Und mal wieder sind Leo und seine Gefolgschaft ganz vorn mit dabei!«

Tina konzentrierte sich auf die Leinwand. Das Licht änderte sich, und das Porträt zweier Männer erschien. Irgendwie kamen ihr die beiden bekannt vor. Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe es noch immer nicht!«

»Das ist das Freitagsquiz«, erklärte Ole und deutete auf die Konterfeis hinter der Wirtin. »Achtung, gleich kommt die nächste Frage!«

Und tatsächlich. »Unsere nächste Frage lautet«, artikulierte die Wirtin überdeutlich in ein Mikrofon, »wie hießen die Brüder Grimm mit Vornamen.«

»Wilhelm natürlich«, brummelte Tina. Das wusste doch jedes Kind. »Wilhelm und … ähm …«

»Jacob«, flüsterte der Kapitän dicht an ihrem Ohr. »Ich wusste, wir sind ein gutes Team!«

Da sprang Leo drinnen so heftig auf, dass sein Stuhl hintenüberkippte. »Jacob und Wilhelm!«, brüllte er und sah unverhältnismäßig stolz dabei aus. Die Anwesenden begannen zu klatschen.

Tina verdrehte die Augen. »Wir waren schneller.«

»Bin ich fast immer.«

Neugierig betrachtete Tina ihren Begleiter von der Seite. Sein Gesicht war verkniffen. Da warf er sich in einen Anzug, schlich sich durch die Küche, und dann stand er hier draußen, jeden Freitag, um … ja was? Heimlich zuzusehen? Das war doch verrückt!

»Und warum machen Sie dann nicht mit?«

Der weißhaarige Kapitän schnaubte. »Mitmachen? Bei wem denn? Neben Babsi lass ich mich sicher nicht nieder!«

Ha, genau, Babsi war der Name zu dem runden Gesicht neben Leo! Tina verpasste Ole einen vielsagenden Stoß in die Seite. Dass Babsi es auf ihn abgesehen hatte, war kein Geheimnis. Tina selbst hatte die alte Dame oft genug auf ihrem Rückweg von der Bibliothek im Gemeinschaftszimmer über den Kapitän reden gehört. Außerdem winkte sie ihm jeden Morgen von ihrem Platz neben Leo, hektisch mit beiden Armen wedelnd, durch den gesamten Frühstückssaal zu und klimperte mit den falschen Wimpern. Nicht, dass das bisher irgendetwas genutzt hätte. Tina schmunzelte. »Na, aber da drin gibt’s doch noch mindestens fünf andere Teams!«

Ole verzog das Gesicht. »Ich will mich nicht aufdrängen.« Er klang beinahe peinlich berührt. Tina war überrascht. Der smarte Mittsiebziger war schüchtern? Das hätte sie nicht gedacht. Und nun schüttelte er auch noch den Kopf: »Wenn ich mir vorstelle, ich muss da rein und irgendwen bitten, mich ins Team aufzunehmen … nee. Da gucke ich lieber zu.« Plötzlich drehte er sich zu ihr um und grinste lausbübisch. »Es sei denn, Sie erweisen mir die Ehre?!«

Tina lachte auf. Er wollte da mit ihr hinein? Zwischen all die Menschen, die sie vom Sehen kannte, aber nicht unbedingt persönlich kennenlernen musste? Sein Gesicht leuchtete. Tina hob unsicher die Schultern, vergrub ihre Hände in die Taschen ihrer Jacke – und zuckte zusammen: die Geflügelschere! Für einen Moment hatte sie tatsächlich vergessen, was ihr eigentlicher Plan für heute war. Es wurde Zeit zurückzugehen. Sie hatte etwas zu erledigen. Ein für alle Mal.

Ole sah sie noch immer an. Das Grinsen wich einem bittenden Ausdruck. »Kommen Sie, wir gucken uns das von Nahem an und lassen uns für nächste Woche aufstellen. Dann haben Sie noch immer sieben Tage, es sich anders zu überlegen.«

Tina schaute an sich runter und wackelte mit den Zehen in den Hasenschlappen. Dann schüttelte sie den Kopf. Gut argumentieren konnte er, das musste man ihm lassen. Als Kapitän hatte er sicher gelernt, seine Mannschaft zu motivieren. Doch um sie dazu zu bewegen, mit Kaninchenohren an den Füßen in eine Kneipe zu gehen statt zurück in ihr Zimmer, um dem Moskitonetz den Garaus zu machen … Nun, da musste er schon härtere Geschütze auffahren!

»Seien Sie mir nicht böse«, begann sie und drehte sich in Richtung Straße, »aber ich …« Während sie noch nach einer nachvollziehbaren Erklärung suchte, die nichts von dem verriet, was sie vorhatte, zwickte es plötzlich in ihrem Unterleib. Einmal, dann noch einmal – und dann ziemlich dringlich … Das durfte doch nicht wahr sein?! Ausgerechnet jetzt musste sie auf die Toilette?

Vor einigen Monaten hatte es angefangen. Kein Vorwarnen mehr, kein menschenfreundlicher Countdown, der es ihr wie früher erlaubte, sich zu räuspern und »Ich müsste mal« zu murmeln, damit der Schwiegersohn die nächste Tankstelle anfuhr, während sein Seitenblick zu ihrer Tochter schon damals so viel bedeutet hatte wie: Echt jetzt, schon wieder??? Nein, seit Kurzem hieß es: SOS – S(ofort) O(der zu) Spät.

Mit glühenden Ohren machte Tina kehrt, riss die Tür zu Katis Klause auf und stürzte hinein. Sämtliche Köpfe fuhren herum, doch jetzt war keine Zeit für freundliches Winken oder ein gemurmeltes Hallo. Es ging um Sekunden.

Gehetzt sah sie sich um, als Ole neben ihr auftauchte. »Zu den Toiletten geht es dort entlang«, flüsterte er und nickte an der Theke vorbei. Laut fragte er: »Was darf ich Ihnen zu trinken bestellen?« Als wären sie nur hier, um sich einen Absacker zu gönnen. Als wäre alles ganz normal.

Tina winkte ab – sie würde ganz sicher nicht bleiben – und eilte an der Dreiergruppe im hinteren Teil des Raumes vorbei, die sie interessiert beäugte und Ole zuwinkte. Sie wich dem plüschigen Rollator aus, der hinter dem Stuhl ihrer Zimmernachbarin parkte, hastete den Gang entlang und stieß die nächste Tür auf. Eine Reihe Pissoirs war das Erste, was sie bemerkte. Egal. Die Herren heute Abend hatten nichts zu bieten, was sie nicht schon gesehen hatte! Erleichtert schloss sie die Tür der Kabine hinter sich. Das war gerade noch mal gut gegangen.

(49°46’40.5’’N)

Tina legte die dünne Salami zwischen die Schneiden der Geflügelschere und drückte mit beiden Händen zu. Schnapp, schnapp und schnapp – das war wesentlich einfacher, als mundgerechte Stückchen mit dem Messer zu hobeln. Sie drapierte die Wurst auf den obersten Teller der Etagere und nickte zufrieden: Wurst, Käse, Stangensellerie – rot, gelb, grün. Sie hatte eine Häppchenampel fabriziert. Kurz entschlossen füllte sie die freien Stellen mit Oliven, Gürkchen und Silberzwiebeln auf. Jetzt noch einen ordentlichen Klecks groben Senf, und fertig war ihr Beitrag für die gleich stattfindende Team-Verabredung im Zimmer gegenüber. Nicht gerade Gourmetküche, aber perfekte Nervennahrung für einen spannenden Filmabend. Heute war Ole mit der Auswahl dran, und die Chancen standen gut, dass er sich für etwas Aufregendes mit Raumschiffen und fernen Galaxien entschieden hatte – sein Lieblingsgenre. Oder wie er selbst sagte: »Hauptsache Schiff, egal ob in der Luft oder auf dem Wasser.«

Tina musste lächeln. Wer hätte gedacht, dass aus ihr, dem alten Kapitän, ihrer Zimmernachbarin Hedi, dem schweigsamen Männi und Tausendsassa Paul einmal so etwas wie eine eingeschworene kleine Gemeinschaft werden würde: Quiz am Freitag, Filmabend am Mittwoch, Poker und Cocktailverabredungen bei Hedi, diverse Ausflüge … Ja, sie hatten sogar eine kleine Revolte angezettelt, um im Speisesaal am gleichen Tisch sitzen zu können, und waren neulich wegen »zu lautem Gelächter« ermahnt worden wie eine Runde aufsässiger Schüler in der letzten Bank. Was sie nur noch mehr zum Lachen gebracht hatte. Vergessen war die Geflügelschere. Zumindest für alles außerhalb des normalen Verwendungszwecks.

Als Tina vor einigen Wochen von der Toilette in Katis Schankraum zurückgekehrt war, hatte Ole sie an den letzten Tisch gebeten und auf die drei Gestalten neben sich gedeutet: »Darf ich vorstellen, unser Quiz-Team.« Tinas verwunderten Blick ignorierend, hatte er sein neumodisches Craft-Bier gehoben und Tina ein Glas in die Hand gedrückt. »Blanc de Noirs – ich nehme an, Sie mögen Wein. Das hier ist ein weiß gekelterter Roter. Bekommt man nicht überall.«

Und als Tina noch immer gezögert hatte, die Finger ihrer rechten Hand in der Tasche vorsichtig um das Metall der Geflügelschere geschlossen, hatte sich ihre Zimmernachbarin eingemischt: »Nun nimm schon, Schätzchen, und stoß mit uns an!« Sie hatte Tina ihr dickflüssiges, rotes Getränk derart schwungvoll entgegengestreckt, dass ein guter Schluck auf dem pinkfarbenen Plüschkissen ihres Rollators gelandet war.

»Das fällt nicht unter meine Garantieleistungen, damit das klar ist!« Paul hatte sein Whiskeyglas gehoben und mit einem Zwinkern erklärt: »Ich bin Paul, der Mann für alle Fälle. Von Angorawäsche über Rollatoren bis zu Zebrastützstrümpfen – ich besorge alles!«

Tina hatte ihn ungläubig angestarrt. Zebrastützstrümpfe? Dafür gab es wirklich Abnehmer?

Sein Glas war mit einem satten Klirren gegen ihres gestoßen, und Paul hatte auf die anderen gedeutet. »Miss Übereifrig, hier ist Hedi, der schweigsame Riese neben mir Männi und du – die Neue, oder?«

»Frau Ommen«, hatte Ole sie vorgestellt, Pauls hochgezogene Augenbraue ignoriert und bei Hedis »Und hat sie auch einen Vornamen?« die Augen verdreht.

»Guten Abend, die Dame, ich bin Männi«, hatte der alte Schreiner viel zu laut herübergebrüllt und seine Bierflasche in ihre Richtung gehalten.

Was soll’s, hatte Tina gedacht, das Moskitonetz rennt mir schließlich nicht davon, die Hasenschuhe sieht unterm Tisch keiner, und mit ihnen angestoßen. »Jantina-Aleida.«

Hedi hatte sich vor Lachen fast verschluckt. »Was ist das? Irgend so ein amerikanischer Teenie-Ausdruck für ›Hoch die Tassen‹?«

»Mein Vorname. Jantina-Aleida. Aber meine Freunde nennen mich Tina.«

»Tina?« Hedi steckte den Kopf durch die Tür. »Bist du so weit? Paul hat schon wieder sämtliche Zootiere befreit!« Sie verdrehte filmreif die Augen. Tina ließ die gemopste Geflügelschere gewohnheitsmäßig in die an der Garderobe hängende Jacke ihres Wollkostüms verschwinden und spitzte die Ohren. Tatsächlich, aus Oles Zimmer erklang Gelächter, lautes Geschnatter, Tröten, Fauchen und etwas, das verdächtig nach einer galoppierenden Herde Nashörner klang.

Nichts schien Paul mehr Spaß zu bereiten, als Gatter zu sprengen und Chaos zu verbreiten. Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen: mit dem Link von Tinas Enkel Adrian zu einem Online-Spiel der Firma, für die er als Designer arbeitete. »Damit du auch mal siehst, was ich so tue.«

Tina hatte auf die Internetadresse geklickt und sich ebenso vorsichtig wie interessiert durch den wirklich schön gestalteten 3-D-Zoo bewegt: Affenhäuser, Eisbärengehege, ein Gang unter einem Aquarium. Aber keine Tiere. Erst nach und nach hatte sie verstanden, dass es die erste Aufgabe eines Spielers war, die Insassen seines Tiergartens zu sammeln. Für alles Weitere hatten Ole, Paul, Männi und Hedi kommen müssen, die binnen kürzester Zeit zu wahren Fans geworden waren. Seitdem stellte eine Runde Zoonation so etwas wie den Aperitif vor dem Aperitif ihrer gemeinsamen Abende dar.

Ole behauptete sogar, das Bauen und Einrichten von weiteren Gehegen, das Füttern und Pflegen von Tieren würde das Gedächtnis und ihre Reaktionen trainieren. Damit das alles für Seniorenhände auch möglichst schonend abging, hatte Paul ihnen eine spezielle Gamer-Maus besorgt.

Kein Skypetermin mit Adrian verging seitdem, ohne dass Tinas Freunde einen kleinen Katalog mit Fragen und Verbesserungsvorschlägen an ihn vorbereitet hatten: Hedi wünschte sich Pinguine. Männi war dafür, das Material für Ställe und Häuser klar als biologisches auszuweisen. Ole plädierte für größere Volieren. Und Paul verlangte Tipps für weitere Games. Erwachsenensachen, hatte er knapp gesagt, und Tina argwöhnte, dass er sich eine digitale Freundin basteln wolle. Oder online Poker spielen. Stattdessen bestand er jedoch auf mehr Action und Abenteuer. Adrian hatte ihm den Zugang zu einem weiteren kostenlosen Spiel geschickt, in dem es darum ging, vor Miniatur-Zombies zu fliehen oder diese auszuschalten. Als hätten sie hier vor Ort nicht schon genug Untote!

»Gentlemen!«, rief Hedi, als sie nun Oles Zimmertür öffnete und Tina den Vortritt ließ, »wie wäre es mit einem bisschen Hilfe für unsere heutige Büfettbeauftragte?«

»Aber selbstverständlich!« Paul sprang auf, übergab Männi die Maus und ignorierte dessen entsetztes »Moment mal, du hast sie freigelassen, fang sie gefälligst auch wieder ein!«.

Ole lachte schnaubend und machte Platz auf dem Beistelltisch. »Du weißt doch, Männi, unser Paul ist eher dafür geschaffen, Regeln zu brechen, als Ordnung wieder herzustellen.«

Paul zwinkerte Tina zu, während er ihr die Etagere abnahm. »Kommt darauf an, was ihr unter Ordnung versteht …«

Hedi ließ sich auf einem Stuhl neben Männi nieder, schnappte sich eine Olive und versenkte sie mit zufriedenem Grunzen in ihr ausladendes Glas. »Drück Pause«, riet sie dem hektisch klickenden Männi. »Wir retten morgen, was zu retten ist. Jetzt ist Filmzeit!«

Männi tat wie geraten, Ole jedoch ließ sich nicht hetzen. Er drehte die externen Lautsprecher in Richtung Männis gutem Ohr, reichte Hedi eine Wolldecke und steckte Tina ein Kissen in den Rücken. Erst dann stellte er den DVD-Spieler an. Fröhliche Musik erklang, und kurz bevor er sich dicht vor dem Bildschirm positionierte, erhaschte Tina überrascht einen Blick auf das verliebte Paar des Startmenüs. »Wo sind die Raumschiffe?«

Geheimnisvoll lächelte Ole in die Runde. »Heute gibt es etwas … Besonderes. Für jeden von uns ist was dabei …«

Paul versuchte, um Ole herumzuspähen, um den Titel zu lesen. »Lass mich raten, ein Seefahrer-Krimi mit Liebe und … ähm, einem Schreiner?«

»Nein, eine romantische Liebeskomödie mit, na ja, Liebe eben und …« Ole machte eine Kunstpause.

Hedi bedachte ihn mit einem feinen Lächeln. »Zootieren?«, riet sie. Männi seufzte gequält.

»Falsch. Mit … Zombies!«, ließ Ole die Bombe platzen und machte den Film an.

Paul lachte. »Extra für mich? Ich fühle mich geehrt, alter Knabe!«

Tina nahm sich einen Käsewürfel, tunkte ihn in Senf und schüttelte amüsiert den Kopf. Ole war immer für eine Überraschung gut. Nun ja, um ehrlich zu sein, das waren sie alle. Nach ihren ersten Freitagsrunden in Katis Klause hatten sie begonnen, sich gegenseitig zu Veranstaltungen einzuladen, zu denen sie allein nie hingegangen wären: Langhaarkuh-Streicheln dank Männi, ein ohrenschmalzexplodierendes Freejazzerlebnis mit Hedi, ein Ausflug in die kleine Spielhalle auf Initiative von Paul, eine Runde Tretbootfahren im Vergnügungspark der nächsten Stadt auf Oles Vorschlag hin und ein Flohmarktbesuch dank Tina.

So viele unterschiedliche Ereignisse wie in den letzten paar Wochen hatte Tina seit Jahren nicht mehr mitgemacht. Nicht seit Ernst krank geworden war. Und danach? Danach hatte sie keine Lust mehr darauf gehabt. Mit wem hätte sie auch gehen sollen. Ihre Tochter war längst ausgezogen, viel zu beschäftigt mit ihrem Medizinstudium, ihrer Karriere, damit, ihre eigene Familie zu gründen, ihr Leben anders zu gestalten als das ihrer Eltern. Wie jemand, der den menschlichen Körper zu seinem Beruf gemacht hatte, so wenig mit Krankheit umgehen konnte, war Tina immer ein Rätsel geblieben. Doch vielleicht hatte sich Laura deshalb auf Handchirurgie spezialisiert. Ein Gebiet, das Tina eher an Feinmechanik erinnerte und ihrer Tochter das Thema Tod und Abschiednehmen ersparte.

Als der Vorspann zu Ende war und die ersten Bilder über den Monitor flimmerten, lehnte sich Tina in ihrem Stuhl zurück. Neben ihr murmelte Männi kaum verständliche Kommentare. Daran hatte sie sich erst gewöhnen müssen. Nun jedoch vermisste sie den beruhigenden Hintergrundklangteppich fast, wenn sie in ihrem Zimmer den Fernseher anstellte.

Der Film war seltsam. Tina hätte ihn sich nicht ausgesucht. Aber irgendwie gefiel er ihr. Vielleicht, weil er gerade alles andere als realistisch war. Vielleicht, weil darin so vieles möglich war. Auch ein Happy End zwischen zweien, die auf den ersten Blick so gar nicht kompatibel erschienen. Hatte Ole den Film schon mal gesehen? Womöglich glaubte er also noch immer an das Glück? Das gefiel ihr.

Auch deshalb, weil er der Grund gewesen war, warum sie vor einigen Wochen eben nicht zurück in ihr Zimmer gegangen war und das Moskitonetz zerschnitten hatte. Stattdessen hatte sie sich mit Hedi und Ole noch lange flüsternd auf dem Gang zwischen ihren Zimmern unterhalten und sich für den nächsten Tag verabredet. Um gemeinsam mit Paul und Männi Leo und seine Damen beim folgenden Freitagsquiz das Fürchten zu lehren.

Und plötzlich hatte sie etwas vorgehabt. Etwas, das über das Moskitonetz hinausging. Plötzlich hatte das Glück wieder den Kopf zur Tür hineingesteckt und ihr zugewinkt.

(49°46’52.0’’N)

»Ali Baba und die 40 Räuber!«, rief Ole siegesgewiss und steckte Tina und den drei anderen Teammitgliedern begeistert eine erhobene Hand zum Abklatschen hin, als Kati nickte. »Und auch dieser Punkt geht an unser Team Bugs Bunny!« Nach Tinas denkwürdigem ersten Hausschuh-Auftritt in Katis Klause war der Name geradezu unvermeidlich gewesen.

Eilig addierte Tina ein paar Ziffern auf ihrem Papier und zwinkerte Ole zu. »Gut gemacht. Wir haben fünf Punkte Vorsprung.« Seit drei Monaten lieferten sie sich nun ein verbissenes Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem Team Leo.

Hedi angelte einen kleinen Flachmann unter dem Kissen ihres Rollators hervor und goss sich auch heute einen großzügigen Schluck in ihren Tomatensaft. Tina sah ihr lächelnd dabei zu. Ihre Nachbarin wusste sich das Leben zu versüßen.

Nun grinste Hedi verschwörerisch. »Das ist ein gutes Ergebnis für die vorletzte Runde, oder?«

Tina nickte. Die folgende Frage würde alles entscheiden. Schnell überschlug sie ein paar Zahlen im Kopf. »Zu 85 Prozent haben wir bisher gewonnen, wenn wir bei der letzten Pause vorn lagen.«

»Na, wenn unser weiblicher Einstein das sagt«, fand Paul, »kann ja nichts mehr schiefgehen.«

Hedi verdrehte spöttisch die Augen. »Einstein war Physiker, du Fachmann!«

Tina grinste breit. Dass sich ihr Hang zu Zahlen im Alter noch einmal als nützlich erweisen sollte, war beinahe so etwas wie ein Fingerzeig des Schicksals.

Paul winkte nonchalant ab. »Mir egal, was er sich auf die Visitenkarte geschrieben hat. Hauptsache, wir gewinnen.«

Tina nickte ihren vier Mitstreitern ermutigend zu. »Sieht gut aus.« Zufrieden klemmte sie den Bleistift zwischen Ohr und Brillenbügel und schob die neue Sehhilfe bis auf die Nasenwurzel.

Einer Gleitsichtbrille hatte sie sich jahrelang stur verweigert. Die kamen direkt aus der Hölle! Irgendein Dreizehnjähriger im Brillengeschäft behauptete, langsam wäre es an der Zeit, und schon stolperte man mit so einem Ding herum, weil sich das Gesichtsfeld ständig zwischen Maulwurfperspektive und Teleskop verschob. Aber nach dem dritten Freitagsquiz hatte sie eingesehen, dass sie wertvolle Zeit damit vergeudete, die Augen zu Schlitzen zu kneifen und trotzdem nur raten zu können, was auf der Leinwand zu sehen war.

Tina schielte über den Brillenrand und ließ Kati nicht aus den Augen. Manchmal drückte die rundliche Kneipenwirtin auf den falschen Knopf, und für ein paar Millisekunden war das Bild für die nächste Frage zu sehen.

»Ein Fernglas wär ’ne Maßnahme, was?« Hedi gönnte sich einen ordentlichen Schluck.

Die Vorstellung brachte Tina zum Lachen.

»Die kann uns Paul fürs nächste Mal sicher besorgen«, fand Ole und schlug dem schicken Mittsiebziger auf die Schultern.

Der verzog keine Miene. »Aber klar doch.« Vermutlich meinte er es sogar ernst. Es gab nichts, was Paul nicht im Repertoire hatte: Luxusrollatoren wie der von Hedi, Echthaarperücken, Seidenschals, teure Schokolade, ja selbst Viagra, wenn man dem Gerücht aus dem ersten Stock glaubte. Damit besserte er seine offenbar spärliche Rente auf. »Und unserm Schreiner hier organisiere ich ein Hörrohr.«

»Was?« Männi hielt eine Hand hinter sein rechtes Ohr – das gute. Das, auf dem er noch etwa 50% hörte. Daran ändern tat er allerdings nichts. Hartnäckig verweigerte er sich jeder Art von »neumodischem Kram«: Sein kleines Häuschen gegenüber Katis Klause beheizte er mit Kohle, er besaß keinen Fernseher, düngte das Gemüse in seinem Garten mit eigens dafür gesammeltem Kuhmist, und er traute keinem Arzt. In Hedi, die seit ihrer verpfuschten Hüft-OP nirgendwo mehr ohne ihren pinken Begleiter auf Rollen anzutreffen war, hatte er darin eine wortgewaltige Fürsprecherin.

»Hörrohr!«, wiederholte Paul jetzt lauter und formte zur Verdeutlichung einen Trichter neben Männis Kopf. »Für dich! Von mir!«

Männi zog spöttisch die Augenbrauen in die Höhe. »Du hast ein Geschenk für mich?«

»Nee, aber ich mach dir einen Freundschaftspreis!«

Ole lachte auf. »Du weißt doch, Männi, bei Paule gibt es nichts umsonst!«

»Pssst, es geht gleich weiter!!!« Direkt vor ihnen fuhren vier wackelnde Köpfe herum und blickten sie anklagend an. Ausgerechnet heute hatten Leo und seine Damen einen Tisch vor ihnen ergattert. Wer drei Meter näher an der Bühne saß, sah und hörte auch drei Meter mehr. Ein klarer Vorteil. Selbst für Ich-brauche-keine-Brille-und-hab-noch-alle-meine-Zähne-Babsi. Missbilligend sah sie aus, selbst wenn sie keine Miene verzog, während sie Tina und Hedi anstarrte. Nun ja, um ehrlich zu bleiben: Selbst wenn sie es gewollt hätte, wäre Babsi nicht in der Lage gewesen, die Stirn zu runzeln. »Glatte Haut dank guter Gene«, behauptete sie immer. Aber Hedi hatte Tina hinter vorgehaltener Hand erzählt, dass das alte Mädchen ihr glattes Popogesicht dem Zusammenstoß mit einer Botoxspritze verdankte. Babsis Mann war Schönheitschirurg gewesen – noch Fragen?

»Wenn sich auch der hinterste Tisch gesammelt hat«, Kati stieg schnaufend auf die kleine Bühne, »läuten wir nun die letzte Runde ein.«

Tina richtete sich auf. Jetzt ging es um die Wurst. Beide Gruppen hatten inzwischen siebenmal den Sieg eingeheimst, doch in den letzten Wochen schien das Glück auf Bugs Bunnys Seite zu sein. Nur noch diesmal müssten sie gewinnen, und sie hätten Leo und seine Damen auf der Langstrecke geschlagen. Denn er, Babsi und die anderen drei, hielten den Rekord – sieben Siege in Reihe. Bis jetzt!

»Wir stehen in den Startlöchern«, rief Ole gut gelaunt. Als Kategorie stand Geografie auf dem Programm. Und dafür hatte Tinas Crew wahrlich gute Karten. Hedi kannte sich in der Umgebung aus wie sonst niemand. Paul schien in allen Metropolen der Welt zu Hause gewesen zu sein. Männi war vor Urzeiten als Schreiner durch Europa bis nach Neuseeland getingelt und verblüffte immer wieder mit Trivial-Pursuit-Wissen und seltsamen Sprachkenntnissen. Und der Joker des Teams – Ole – kannte als Kapitän a.D. noch immer sämtliche Seerouten auswendig, die er jemals befahren hatte.

Tina hatte von Geografie keine Ahnung. Dafür punktete sie bei allem, was mit Zahlen zu tun hatte, und sorgte dafür, dass ihre Truppe zu keiner Zeit das Ziel aus den Augen verlor. Projektleitung hatte Adrian vorhin während ihres Skypetermins dazu gesagt. Und: »Mit dir als Chefin haben die anderen keine Chance!«

Tina hatte sich eilig verabschiedet: »Die Zeit drängt, Junge, bis nächste Woche, same time, same game!« Dann war sie losgeeilt, um Hedi, Paul und Ole rechtzeitig aus ihren Zimmern zu klopfen.

»Nun sind alle gefragt, die sich gut in Geografie auskennen!«, moderierte die Wirtin die letzte Frage an, und Hedi schwenkte aufgeregt ihren gepimpten Tomatensaft. Tina verpasste ihr einen kleinen Stoß in die gepolsterten Hüften. »Achtung: Es geht weiter!«

Hedi hielt ihr das Glas entgegen. »Auch einen Schluck? Zur Entspannung?«

»Danke, lieber nicht.«

»Unsere Tina ist eben eine echte Dame«, grinste Ole und deutete in Richtung des halb vollen Weißweinglases. »Sie weiß ein gutes Tröpfchen zu schätzen.«

»… behauptet der Mann, der sein Bier erst gegen das Licht hält und anschließend Vorträge über Aromahopfen hält!« Hedi prostete ihm zu.

»Bierbrauen ist eben auch eine Kunst!«

»Aber hallo!« Männi trank aus seinem auf dem Flohmarkt erstandenen Krug und ließ den Zinndeckel zuklappen.

Tina musste lachen. Mit Hedi und Paul, Männi und Ole gab es keinen Trübsinn. Seit Wochen hatte sie keinen Gedanken mehr an das Moskitogitter verschwendet – außer dass es ihr die Mücken abhielt. Lächelnd griff auch sie nach ihrem Glas. Sie war nicht der Typ für überschwängliche Sympathiebezeugungen, aber ihre vier Teamgenossen hatten sie in der letzten Zeit zum Wahnsinn getrieben, zu Lachkrämpfen verführt, zum Nachdenken gebracht. Sie waren zu echten Freunden geworden. Und nun saß Tina mit ihnen hier und wollte nirgendwo anders sein.

»Wir befinden uns im hohen Norden, so viel sei verraten«, machte Kati ihr Publikum neugierig.

»Exzellente Wahl!«, rief Tina und stupste Ole an. Alle wussten: Der alte Kapitän hatte eine Schwäche für Schweden, Dänemark, Norwegen, Finnland, Island – für alles da oben. Dort hatte er nach eigener Aussage die schönste Zeit seines Lebens verbracht.

Ole nickte konzentriert. »Kinderspiel«, flüsterte er ihr zu.

Auch Paul beugte sich vor und bedachte Ole mit einem aufmunternden Blick. Das Deckenlicht ließ seine Haarpracht wie ein Heiligenschein aufleuchten. »Wir zählen auf dich, mein Guter!«

»Puter?« Männi war verwirrt. »Ich dachte es geht um Landeskunde und nicht um Tiere.«

»Die gesuchte Stadt liegt in einem Land, das eine Königsfamilie hat …«, grenzte Kati die richtige Lösung ein.

»Holland!«, rief eine übereifrige Stimme weiter vorn.

»Seit wann liegt das im Norden?«, schnaubte eine zweite.

»Überhaupt heißt es, um genau zu sein, nicht Holland, sondern die Niederlande«, schaltete sich nun auch noch Babsi-Ich-weiß-alles-das-liegt-in-meinen-Genen ein.

Ole wedelte grimmig mit den Händen. »Können wir weitermachen, oder was?« So sonnig sein Gemüt sonst war – beim Quiz kannte er keine Gnade.

Kati nickte. »Um genau zu sein, liegt die gesuchte Stadt in der Provinz Hordaland …«

»Schweden!« Schon wieder der ungeduldige Zwischenrufer aus der zweiten Reihe.

Ole platzte der Kragen. »Wer noch einmal unqualifiziert dazwischenblökt, wird disqualifiziert!«

»Von einigen verheerenden Stadtbränden heimgesucht, besitzt sie einen Seehafen, einen Fischmarkt …«

»Hamburg!«

Ole schäumte. »Wenn du da vorn nicht endlich die Waffel hältst …!«

»… der Name bedeutet Wiese zwischen den Bergen.«

Endlich war Ruhe.

Ole sog scharf die Luft ein, knirschte mit den falschen Zähnen und klopfte sich gegen die Stirn. »Ich weiß das!«, knurrte er, »Ich weiß das genau!«

Tina nickte ihm zu, mehr konnte sie nicht beitragen. Von ihren acht Jahren Schule hatte sie nicht gerade wenig gefehlt – Erntezeit, kalbende Kühe und Eltern, die lieber ihre Brüder zum Lernen geprügelt hatten. Geschah ihnen recht, dass einige davon durch dieses kleine Fenster zur Welt ausgebüchst und nie zurückgekehrt waren.

»Oslo!«

»Stockholm!«

»Reykjavík!«

»Tallin!«

»Kopenhagen!«

Das ahnungslose Raten hatte begonnen. Jetzt blieb nicht mehr viel Zeit.

»Du schaffst das«, machte Tina ihrem Joker Mut.

»Irgendwas mit Wiese oder Grün?«, schlug Hedi nervös vor.

»Oder Berge?«, versuchte Männi sich nützlich zu machen.

»Das ist es!« Ole sprang auf. »Bergen! Die gesuchte Stadt heißt Bergen! Wir haben gewon…«

Dann griff er sich ans Herz.

Wurde bleich.

Wächsern.

Verdrehte die Augen.

Und fiel zu Boden wie ein Sack Kartoffeln.

(49°42’49.8’’N)

Unruhig den Kopf schüttelnd, starrte Tina auf ihre Schuhe. Das Linoleum dazwischen war ausgebleicht und abgetreten. Wie viele Menschen hatten hier schon hin und her tigernd mit Herzklopfen auf Neuigkeiten der Ärzte gewartet? Wie viele waren vertröstet worden, so wie sie vier?

Ole war im OP. Das war alles, was sie über seinen Zustand in Erfahrung hatten bringen können. Schließlich waren sie nicht mit ihm verwandt.

Tina wurde den entsetzten Ausdruck auf dem Gesicht ihres Freundes nicht los. Als wüsste er genau, was mit ihm geschah, aber hoffte, dass sie, sein Team, etwas dagegen ausrichten konnten. Als wollte er sagen: Nein! Doch nicht ausgerechnet jetzt. Überhaupt nicht. Zu früh, viel zu früh!

Paul hatte Ole aufgefangen, bevor er auf den Boden aufgeschlagen war, doch es waren Männi und Hedi gewesen, die gewusst hatten, was zu tun war. Hand in Hand hatten sie versucht, ihren Kapitän wiederzubeleben: Herzmassage, Mund-zu-Mund-Beatmung. Irgendjemand hatte nach einem Arzt geschrien, jemand anders den Notruf gewählt. Nur wenig später waren Sanitäter aufgetaucht und hatten den verbissen pumpenden Männi und Hedi, die schweißüberströmt über Oles Gesicht kauerte, ohne auf ihre Hüfte zu achten, abgelöst.

Außer ihnen war der Wartesaal leer. Vor seinem Fenster blinkten die Neonbuchstaben der Notaufnahme mit dem silbernen Licht der Sterne um die Wette. Autos brausten auf der Umgehungsstraße vorbei, auf dem Weg nach Hause oder in die nächstgrößere Stadt. Als wäre heute ein ganz normaler Abend.

Als die ersten Tropfen auf ihre helle Hose fielen, wischte Tina sich wütend über die Augen, hob den Kopf und sah zu den anderen.

Männi lief Kreise vor dem Kaffeeautomaten. Paul hatte die Ellenbogen auf die Oberschenkel gestützt und schüttelte immer wieder fassungslos den Kopf. Neben ihm parkte Hedis Rollator. Sie selbst saß wie ein Häufchen Elend in einem der ungemütlichen Schalensitze.

Die Wanduhr zeigte kurz nach zehn, als eine junge Frau mit grün gefärbten Haaren an ihnen vorbeieilte und sich zum Informationsschalter begab.

»Schon wieder zu spät«, hörte Tina die Krankenhausangestellte zischen, die ihnen zuvor nähere Auskünfte über Ole verweigert hatte. Nun schien sie es mordseilig zu haben: schob Grünschopf ein paar Akten hin und wandte sich zum Gehen. Tina sah ihr nachdenklich hinterher, als sie auf den Sohlen ihrer quietschenden Gesundheitsschuhe durch die automatische Schiebetür lief, eine riesige Patchworktasche über die Schultern geschlungen. Dann richtete sie sich auf. Das war ihre Chance! Entschlossen winkte sie dem überraschten Männi und rutschte näher zu Hedi und Paul. »Genug gewartet«, flüsterte sie. »Schichtwechsel!« Sie wies mit einem Nicken zu dem Mädchen hinterm Schalter. Paul bedachte Grünschopf mit einem beifälligen Blick. »Soll ich versuchen, meinen Charme spielen zu lassen?«

»Ich habe einen besseren Plan. Hat einer von euch Während du schliefst gesehen?«

Männi und Paul starrten sie an, als spräche sie in Zungen. Nur Hedi nickte begeistert und begann nach ein paar Sekunden breit zu grinsen. »Das könnte klappen! Du oder ich?«

»Du machst Sandra Bullock und ich die Moderatorin«, entschied Tina, stand auf und half ihrer Zimmernachbarin auf die Beine.

»Moment!« Paul hob die Hände. »Wir verstehen immer noch Bahnhof. Was sollen Männi und ich tun?«

Tina schob Hedi mit festen Schritten auf den Schalter zu. »Watch and learn!«

Die mit einem Glitzerlidstrich verzierten Augen des Mädchens wurden groß und größer, als Tina und Hedi bestimmt auf sie zuhielten. Überfordert zwirbelte sie an einer grünen Haarsträhne und verzog hilflos das Gesicht, während beide Frauen zeitgleich zu reden begannen. »Bitte«, flüsterte sie, »eine nach der anderen. Worum geht es?«

Tina legte einen Arm um Hedi. »Entschuldigen Sie, Kindchen, also noch einmal zum Mitschreiben: Wir sind wegen Ole Erickson hier.«

Während Hedi in immer kürzeren Abständen zu schluchzen begann, blätterte Grünschopf eilig in ihren Akten und nickte dann. »Der Herzinfarkt aus Katis Klause.«

Hedi bekam einen Schluckauf, ihr Atem ging stoßweise. Mit großen Augen blickte sie die Kleine flehentlich an.

Tina strich ihr beruhigend über den Rücken und beugte sich vor. »Exakt. Und wenn wir nicht schnell eine Aussage über seinen Zustand erhalten, haben Sie, fürchte ich, gleich den nächsten Notfall.« Wie aufs Stichwort fächelte sich Hedi Luft zu und begann zu hyperventilieren. »Eigentlich wollten sie heute ihre Verlobung bekannt geben«, wisperte Tina der sichtlich nervösen Angestellten zu und deutete auf ihre Zimmernachbarin. »Das hier ist also die Zukünftige Ihres Herzinfarktes. Und sie hat einen wirklich schlimm hohen Blutdruck.«

Das Mädchen schluckte. »Warten Sie einen Moment!«, sagte sie mit schriller Stimme. »Ich werde sofort sehen, was ich für Sie tun kann. Bitte regen Sie sich nicht auf!« Mit schnellen Schritten verschwand sie in dem Bereich, der nur für Personal zugänglich war.

Paul und Männi schlossen auf, Ersterer mehr als beeindruckt, Letzterer noch immer verwirrt. »Was habt ihr gesagt? Die Kleine war ja schneller weg als ein Erdmännchen, wenn’s blitzt!«

Tina hob die Hand. »Erzählen wir dir später. Lasst uns hoffen, dass es geklappt hat!«

Hedi sank erschöpft auf das Sitzkissen ihres rollenden Begleiters. »Wir sollten eher hoffen, dass sie keine Beweise haben wollen!«

Tina winkte ab. »Wie willst du denn eine Verlobung beweisen? Keine Angst, niemand wird sich trauen, unsere Geschichte infrage zu stellen.« Aufmunternd legte sie eine Hand auf den Arm ihrer Zimmernachbarin. »Dazu hast du deine Rolle viel zu gut gespielt.«

Hedi nickte stumm und wischte sich zitternd eine Träne vom Gesicht. »War nicht weiter schwierig.«

Alle vier fuhren herum, als die Tür aufschwang und ein Mann in weißem Kittel heraustrat. Tina hielt die Luft an, als das Mädchen vom Empfang mit dem Kopf auf sie deutete. Der Arzt kam auf sie zu. »Verzeihen Sie? Schwester Mara hat mir gesagt, eine von Ihnen ist … ähm, die Verlobte von Herrn Erickson?« Grünschopf hinter ihm verknotete derart heftig ihre Finger, dass die Knöchel weiß hervortraten. Tinas Herz machte einen schmerzhaften Sprung. Sie wusste, was das bedeutete, noch bevor sie das »Es tut mir sehr leid« und Hedis Aufschluchzen hörte.

Was genau die weiteren Worte des Arztes gewesen waren, daran erinnerte sich Tina später nicht mehr. Sie wusste nur noch, dass sie sich alle vier an den Händen gehalten hatten. Tina massierte sich vorsichtig die Finger ihrer rechten Hand. Der Knöchel des Zeigefingers war geschwollen. Hedi hatte so fest zugedrückt, als fürchtete sie, sonst den Halt zu verlieren. Selbst im Taxi, das ihnen die Schwester vom Empfang bestellt hatte, hatte Hedi Tinas Hand nicht losgelassen.

Nun saß sie auf Männis alter Gartenschaukel, ein Bein auf dem Rollator geparkt, und sah aus, als käme sie nie mehr allein hoch. Musste sie vielleicht auch gar nicht. Keiner von ihnen wollte nach Hause. Überhaupt: nach Hause – wo genau sollte das sein?

Ein Klirren ließ Tina aufsehen. Gebückt jonglierte Männi ein Tablett mit Bierflaschen durch die kleine Tür seines Häuschens und schloss sie eilig hinter sich. In seine Junggesellenbude ließ er niemanden. Nicht das Sozialamt, nicht den Pfarrer, keine übereifrige Nachbarn, die anboten mal sauber zu machen oder für ihn einzukaufen. Nicht einmal seine Quizfreunde.

Tina verlagerte ihr Gewicht und horchte in sich hinein. Hoffentlich meldete sich nicht ausgerechnet jetzt ihre Blase.

»Tina?« Männi hielt ihr eine Bierflasche hin – von Gläsern hielt er nicht viel – und entzündete eine Petroleumlampe. Seit sie aus dem Krankenhaus zurückgekommen waren, hatte keiner von ihnen Lust auf noch mehr Halogenbeleuchtung.

»Steht jemand der Sinn nach was … Geistvollerem?« Hedi angelte ihren Flachmann aus dem Fach unter dem pinkplüschigen Sitzkissen und hielt ihn in die Höhe.

Paul fackelte nicht lange, nahm einen großzügigen Schluck, hustete und löschte mit Bier. »Ein Herrengedeck!«, witzelte er mit trauriger Miene. »Für einen echten Herren. Auf dich, Ole!« Dann reichte er den Schnaps weiter.

Tina schnupperte vorsichtig. Normalerweise war das nichts für sie … Aber heute war nicht normalerweise. Sie legte den Kopf in den Nacken, und die brennende Flüssigkeit rann ihr die Kehle hinunter. Hatte Ole nicht mal erzählt, in anderen Ländern galt das Nacheinander-aus-der-gleichen-Flasche-Trinken als heimlicher Kuss? Mit der Geschichte hatte sich der alte Kapitän an seine längst verstorbene Frau rangemacht. Ihr einen Schluck aus seiner Wasserflasche angeboten, als sie einander beim Wandern begegnet waren, und die Erklärung hinterhergeschickt.

Ole, der alte Pfiffikus. Nie um eine hübsche Anekdote verlegen.

»Auf Ole.« Tina übergab Männi seufzend die Luxusflasche aus Sterlingsilber mit Hedis eingravierten Initialen. Verrückt. Aber Tinas Zimmernachbarin konnte es sich leisten.

Männi prostete stumm in Richtung Himmel. »Und jetzt?«

Überrascht starrten sie ihn an. Männi, ihr wortkarger Männi wollte wissen, wie es weiterging?

»Wie, und jetzt?«, zuckte Paul trübsinnig mit den Achseln. »Jetzt lassen wir uns volllaufen, um zu vergessen, dass wir die Nächsten sein können.« Er zog ein Etui aus der Innentasche seiner Jacke. »Und dazu schmurgeln wir eine schöne Cohiba. Das ist es mir wert!«

Hedi rümpfte die Nase. »Sargnägel? Nein Danke!

»Das ist kein Sargnagel, das ist Kolumbiens Gold!« Paul knipste mit geschickten Fingern das Ende ab, zündete die Zigarre an, blies nahezu perfekte Rauchkringel in die Luft und hielt sie fragend in die zögernde Runde.

Tina gab sich einen Ruck. »Her damit, viel Schaden kann das eh nicht mehr anrichten!« Sie paffte, pustete vorsichtig aus und reichte das fingerdicke Ding an Hedi weiter. »Männi hat recht«, dachte Paul laut, »was machen wir? Wir waren schließlich seine Freunde.«

Hedi schwang auch das zweite, noch funktionstüchtige Bein auf den Rollator und winkte ab. »Ich bin ganz schlecht im Grabredenschwingen. Kommt mir immer vor wie ’ne Generalprobe für mich selbst.«

Paul streckte sich. »Also, ich wüsste jemanden, der uns für wenig Geld ein paar schöne Blumenkränze besorgt, und was den Grabstein angeht …«

Tina war verwundert. »Sag bloß, auch Grabsteine fallen vom Laster?«

»Man muss nur jemanden kennen, der jemanden kennt.« Paul zuckte mit den Achseln. »Warum sollte ich nicht auch Ungewöhnliches im Repertoire haben?«

»Einen Stein brauchen wir Ole nicht zu besorgen, wenn er sich in die See streuen lässt, oder?«, erklärte Hedi pragmatisch. Überrascht starrten die anderen sie an. »Hat er neulich erst gesagt«, ergänzte sie. »Er will verbrannt werden und seine Asche dort verstreut haben, wo er am glücklichsten war. Auf dem Meer.«

»Macht Sinn«, fand Paul, »einmal Seebär, immer Seebär.«

»Ich hätte uns da ja gern dabei«, überlegte Männi. »Also euch, meine ich. Euch, wenn es mich erwischt.«

Tina nickte langsam. Männi hatte recht. Ole und sie vier waren ein Team gewesen. Und einen Teamgenossen ließ man nicht allein. Schon gar nicht zum Schluss. »Dann sollten wir am besten ganz schnell herausfinden, wohin wir zu seiner Bestattung müssen, und uns eine Mitfahrgelegenheit suchen«, sagte sie und musste fast ein wenig lächeln. Ausgerechnet sie, die anfangs ihr Zimmer kaum verlassen hatte, schlug einen Klassenausflug vor. Und doch fühlte es sich richtig an. Ole hatte so viel für sie getan – einiges, ohne es zu wissen. Nun waren sie an der Reihe. Bestimmt schnappte sie sich Hedis Flachmann und hielt ihn in die Runde. »Also, was sagt ihr, seid ihr dabei?«

(49°47’07’’N)

Karel starrte auf seine zitternden Hände. Sein ganzer Stolz waren sie gewesen. »Pianistenhände« hatte Margo immer gesagt und nicht selten hinterhergeschoben, dass er damit etwas anderes machen könnte, als Tote umzubetten. Aber Karel hatte das Beerdigungsinstitut seiner Eltern übernommen, schon als Junge mit angefasst und von seinem Großvater gelernt, wie man mit Trauernden umging. Dafür hatte er eine echte Begabung: aus der Bahn geworfene Menschen ernst zu nehmen. Ihnen keine Plattitüden zu bieten, sondern ehrliches Mitgefühl, ihnen Zeit zu geben, keinen Druck aufzubauen – all das hatte er über die Jahre verfeinert. Manche brauchten länger, um sich mit der Unwiederbringlichkeit auseinanderzusetzen und sich zu entscheiden, andere waren schnell fertig und flohen aus den geschmackvollen Räumen von Parlinger und Sohn, als wäre der Tod ansteckend.

So wie der gut gekleidete junge Mann eben. Der hatte Karel nicht einmal Zeit gelassen, ihn zu beraten. Warum auch, er war mit einer Liste hier hereingefegt, bereit, sich an den nächsten Bestatter zu wenden, wenn Karels Angebot nicht seinen Vorstellungen entsprach. Oder Sarg und Beerdigung übers Internet zu bestellen. Karel schüttelte sich. Zumindest fiel dabei sein Zittern nicht auf. Während des Gesprächs hatte er darauf geachtet, seine Hände unter der Tischplatte zu verstecken.

»Papa, was sollen die Leute denken, wenn sie das sehen?«, redete ihm seine Tochter Marion seit Wochen ins Gewissen. »Die müssen ja Angst haben, dass du als Nächstes tot umfällst. Die wollen nicht doppelt daran erinnert werden, dass alles zu Ende geht.«

Sensibel war Marion noch nie gewesen. Dafür schon immer effizient. Und direkt. Das hatte sie von ihrer Mutter. Margo hatte auch nie ein Blatt vor den Mund genommen. Bis ihr zum Schluss die Sprache abhandengekommen war.

Karel seufzte. Margo.

Ihre Pläne hatten anders ausgesehen: den Betrieb der Kleinen überschreiben, sobald sie einen passenden Mann gefunden hatte. Reisen, sich zu zweit ein schönes Häuschen suchen, irgendwo, wo das Klima besser war und eine Putzfrau nicht viel kostete. Stattdessen hatte er die letzten fünfzehn Jahre durchgearbeitet, um nicht daran denken zu müssen.

Wie sollte er all das in Schach halten, wenn er hier nicht mehr benötigt wurde? Dann konnte er wirklich gleich die Straße runterziehen, ins Altersheim, wie Marion regelmäßig vorschlug. Sie hatte sich sogar schon erkundigt, wie es mit der Miete aussah, einen Finanzplan erstellt und ihn dazu gedrängt, dort mal vorbeizugehen, um einen Platz zu beantragen. »Die Warteliste ist lang«, hatte sie erklärt, »und wird immer nur dann kürzer, wenn jemand …« Wenigstens hatte sie so viel Anstand besessen, den Satz unvollständig zu lassen.

Denn Karel saß an der Quelle. Wenn in Schafweide jemand starb, landete er oder sie automatisch bei ihm auf dem Tisch. Das Heim war nur ein paar Schritte entfernt und Marion mit der Direktorin befreundet. Die drückte den Hinterbliebenen sicherlich einen von Karels Tochter gestalteten Flyer in die Hand: Kompetent und schnell. Klang irgendwie nach Fast-Food-Restaurant. Aber vielleicht musste er sich daran gewöhnen. Alles ging immer schneller, warum also sollte es mit der letzten Dienstleistung auf Erden anders sein?

Der Kunde eben war dafür das beste Beispiel gewesen. Die Entscheidung zur Kremierung, die Wahl der Urne und des Friedhofplatzes, Aussegnungsmusik, Blumen – all das hatte er schon parat gehabt. Von Terminierung hatte er gesprochen und irgendwas auf seinem Handy überprüft, das in einem schnieken Lederetui steckte, passend zu den Schuhen mit Budapester Lochmuster und dem Anzug, der sicher nicht von der Stange kam. Typisch für das Alter. Die glaubten, das alles beträfe sie nicht persönlich, wollten möglichst schnell wieder zurück in ihr ach so wichtiges Leben voller Termine, Familie, Urlaubspläne und dem 13. Monatsgehalt.

Irgendwas musste ihm einfallen. So ging es nicht weiter, Marion hatte recht. Aber für das Abstellgleis und die Wartehalle zur Aufbahrung war er noch nicht bereit.

»Was meinst du, alter Junge, sollen wir uns nach einer kleinen Wohnung umsehen?«

Pi, Karels Terrier-Mischling, hob nicht einmal den Kopf. Zufrieden schlief er in seinem Körbchen zu Karels Füßen. Pis Pfoten zuckten. Er träumte vermutlich von der goldenen Zeit, als er noch Kaninchen gejagt hatte.

Wenn Karel weniger gearbeitet hätte, alte Freundschaften nicht so leichtfertig vernachlässigt, dann hätte er jetzt zumindest jemanden, mit dem er sich beratschlagen könnte.

Gestern, auf der Nachtrunde mit Pi, war er an dem überwucherten Grundstück des alten Schreiners vorbeigekommen, der in dem windschiefen Häuschen gegenüber von Katis Klause lebte. Ebenso verwundert wie neidisch hatte Karel die kleine Versammlung im Garten bemerkt. Der Kerl sprach kaum ein Wort und schien sich die letzten verbliebenen vier Haare mit der Nagelschere zu stutzen. Trotzdem hatte er da mit anderen in seinem verwilderten Garten gesessen, geraucht und getrunken. Wie machte der das nur? Vermutlich, indem er nie in seinem Leben auf ein Ziel hingearbeitet hatte. Karel aber hatte Marion etwas hinterlassen wollen, das genug für seinen und Margos Lebensabend abwarf, ohne dass seine Tochter sich dafür einschränken musste.