Herzschlagmelodie - Laura Sommer - E-Book

Herzschlagmelodie E-Book

Laura Sommer

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Beschreibung

Inhalt:
Julie und Henry sind seit Kindertagen die besten Freunde.
Doch plötzlich ist nichts mehr so, wie es einmal war.
Nicht nur, dass ihre beiden besten Freundinnen sich von ihr abwenden,
sondern auch alte Gefühle für Henry sind plötzlich wieder da, als dieser sich scheinbar in eine andere verliebt.
Julie merkt, dass sie ihr Glück die ganze Zeit vor der Nase hatte, traut sich aber nicht, um Henry zu kämpfen.

Sie muss sich entscheiden. Gibt sie alles auf und zieht sich zurück?
Oder beginnt sie um ihre große Liebe zu kämpfen?

***

Die Protagonisten sind 15/16 Jahre alt!
Es geht um die erste, große Liebe :)

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Veröffentlichungsjahr: 2017

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Laura Sommer

Herzschlagmelodie

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Herzschlagmelodie

Herzschlagmelodie

 

Von Laura Sommer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1 – Henry

 

„Moment mal, junger Mann!“, hörte ich meinen Dad rufen, gerade als ich mich aus dem Haus schleichen wollte.

„Du willst jetzt schon gehen?“, fragte er und starrte mich aus großen Augen an.

„Dad!? Das Huhn!“ Ich konnte es kaum glauben, aber er war mir mit einem aufgetauten Huhn gefolgt, das er in seinen Händen hielt. Eigentlich hatte ich gehofft, dass er zu beschäftigt wäre, um mich zu bemerken, wenn ich mich zu Julie schleichen würde. Aber daraus wurde wohl nichts.

„Ja, genau, Richard!“ Meine Mutter stand plötzlich hinter meinem Vater und schüttelte genervt den Kopf.

„Was rennst du mit dem Huhn hier herum? Das gehört in den Bräter, nicht ins Wohnzimmer!“ Sie entriss ihm das gerupfte Federvieh und stapfte zurück in die Küche.

„Ja … aber ...“, stammelte mein Vater, was für mich die perfekte Gelegenheit war, der Situation zu entkommen.

„Junger Mann!“, rief mein Vater streng und kam auf mich zu. Dabei hielt er seine Hände auf Schulterhöhe in die Luft, da sie voller Marinade und Gewürze waren.

„Ja?“, fragte ich. Dabei versuchte ich nicht allzu genervt zu klingen, was mir anscheinend nicht so gut gelang, denn mein Dad hatte wieder diesen Blick. Diesen einen Blick, der mir wohl sagen sollte, dass ich es eindeutig zu weit trieb.

„Es ist erst kurz nach eins. Du willst doch wohl nicht jetzt schon rübergehen?“

„Ich bin aber verabredet. Eigentlich bin ich sogar schon zu spät.“ Ja gut. Ich hatte zweimal geduscht, mich mehrmals umgezogen und das alles nur, weil ich anfangs zu viel von meinem Parfüm aufgetragen hatte.

„Du kannst doch nicht ständig bei den Boltens rumlungern. Die fahren doch gleich eh weg. Ich finde es allgemein nicht gut, dass du ständig drüben bist. Thomas und Anna haben genug zu tun, da müssen sie nicht auch noch auf dich aufpassen.“ Er klang dabei wie üblich recht belehrend, was ich nicht kommentieren wollte, aber es purzelte einfach aus meinem Mund heraus, ehe ich darüber nachdenken konnte: „Sie müssen nicht auf mich aufpassen, ich will ja zu Julie. Die Blumen, Dad! Sie brauchen Wasser, sonst sind sie gleich ganz verwelkt. Das wäre kein gutes Geschenk.“ Musste er mich aufhalten? Hatte er nichts zu tun?

„Schatz! Jetzt lass den Jungen doch endlich gehen und hilf mir in der Küche!“ Ein Glück, dass meine Mutter erneut in den Flur platzte und es mit ihrer bezaubernd strengen Art schaffte, meinen Vater dazu zu bewegen, sich endlich von mir zu entfernen.

„Dann bring ihnen aber ein Gastgeschenk mit!“ Mein Vater zuckte mit seinem Ellenbogen, als wollte er auf etwas zeigen. „Nimm eine davon mit und bedanke dich artig!“ Er deutete auf das kleine Regal im Flur, wo einige seiner Weine lagen. Er war stolz auf seine Sammlung. Eigentlich lagerten die Weine ursprünglich im Keller, aber meine Mom erlaubte ihm nur noch dieses eine Regal. Der Keller wurde als Lagerraum umfunktioniert, sodass kein Platz mehr für seinen Alkohol war.

„Hatte Thomas nicht einmal erwähnt, dass er weniger trinken möchte?“ Meine Mutter stand erneut im Flur. Auch sie hielt ihre Hände in die Luft, da sie nichts dreckig machen wollte. Beide zusammen gaben ein sehr skurriles Bild ab.

„Ach, Papperlapapp! Ein guter Wein hat noch niemandem geschadet! Junge, komm und nimm eine Flasche mit.“

Da half keine Diskussion.

„Klar“, murmelte ich. Solange ich dann gehen konnte, war mir alles recht. Ich nahm eine beliebige Flasche aus dem Regal.

„Nicht die! Die andere!“, rief mein Vater und fuchtelte mit den Armen. „Er mag keinen Weißwein. Thomas liebt aber Rotweine. Den Baccanera muss er unbedingt probieren. Sag ihm, wenn er ihn gekostet hat, soll er mich anrufen.“

„Dad. Er wohnt gleich nebenan. Wie wäre es, wenn du einfach rübergehst?“ Seit wann war ich sein Laufbursche? Ich tauschte die Flaschen aus und blickte meinen Vater entnervt an.

„Nein, ich will die beiden nicht stören. Sie fahren ja gleich los. Aber sag ihm ...“

„Jaja, schon verstanden. Darf ich jetzt gehen?“

„Na, dann geh nur. Aber mach nichts kaputt und stell nichts an!“ Er wedelte noch einmal mit seinen Händen herum, was wohl drohend gemeint war. Durch die Kräuter und das Öl an seinen Händen und die unnatürliche Haltung wirkte es eher belustigend auf mich.

Mit dem Wein in der einen und den Blumen in der anderen Hand schaffte ich es endlich bis in den Garten. Vorbei am Pool und über die Wiese bis zu den hohen Büschen, die mein Vater so sehr liebte, dann kletterte ich über das kleine Gartentor. Es war nur etwa fünfzig Zentimeter hoch und diente eher der Dekoration. Ich sah mich um, entdeckte aber niemanden.

Der Poolreiniger lag am Beckenrand und ein Wasserball war auf einer der vier Liegen vergessen worden. Ihm ging langsam die Luft aus. Ich sah hinauf zu Julies Fenster, das geschlossen war. Für einen kurzen Moment musste ich meine Augen schließen und innehalten. Denn heute Nacht war es endlich soweit. Sie würde mit mir und ihren besten Freundinnen in ihren sechzehnten Geburtstag reinfeiern. Ich ging weiter bis zur Terrassentür und wagte einen Blick in die Küche hinein.

„Ah! Henry!“ Mr. Bolten sah mich sofort, obwohl er sein Gesicht zuvor in einer Zeitung vergraben hatte. Sein Blick verriet mir, dass er sich einerseits freute, mich zu sehen, andererseits aber auch noch ein Hühnchen mit mir zu rupfen hatte. Hoffentlich endete ich nicht so wie das, was meine Mutter gerade in den Ofen schob.

„Hallo Mr. Bolten!“ Ich bemühte mich um Freundlichkeit und setzte ein beinahe kumpelhaftes, leicht verlegenes Lächeln auf. Da ich weder Julie noch Mrs. Bolten sah, fürchtete ich, dass er ein ernstes Gespräch beginnen wollte.

„Komm mal her, mein Freund“, sagte er dann, in einem väterlichen, strengen Tonfall, der mich zusammenschrecken ließ. Am liebsten wäre ich einfach an ihm vorbeigelaufen, durch die Küche Richtung Flur und hinauf in Julies Zimmer. Aber ihr Vater glich einem Wachhund, der mich nicht eher zu ihr lassen würde, bevor ich mir nicht abermals seine Predigten angehört hätte. Die kannte ich nur zu gut. Als ob ich mich daran halten würde ... Ich lief ein paar Schritte auf ihn zu und beobachtete seine Hand, mit der er einladend auf den Barhocker neben sich klopfte. Ich atmete ruhig, aber tief ein, versuchte nicht nervös oder ängstlich zu wirken oder mich gar zu verraten. Wenn er wüsste, dass ich in Julie verliebt war, dann würde er seine über alles geliebte Tochter wie Rapunzel in einen Turm einsperren. Für weitere Besuche gäbe es dann keine Möglichkeit mehr, denn ihre rotbraunen Haare waren dafür nicht lang genug. Ich legte die Blumen auf die Kücheninsel direkt neben eine prall gefüllte Obstschale und stellte die Flasche Rotwein demonstrativ daneben. Sofort weitete Julies Dad seine Augen und nahm die Flasche an sich.

„Ich nehme an, die ist nicht für Julie?“ In seinen Augen sah ich, wie er sich bereits ausmalte, die Flasche genüsslich zu leeren.

„Nein. Die ist von meinem Vater, er lässt Sie grüßen. Oh, und Sie sollen ihn anrufen, wenn Sie ihn getrunken haben. Er möchte gerne wissen, wie Ihnen der Wein geschmeckt hat.“ Ich kam mir etwas albern vor. War es jetzt uncool, seinen Nachbarn und guten Freund anzurufen oder einfach hinüberzugehen? War das die neue Art der Nachrichtenübermittlung? SDJ – Sende deinen Jungen. Oder so ähnlich. SMS wäre auch wirklich langweilig, gab es ja schon lange genug. So ein eigenes Kind, das man durch die Gegend schicken konnte, das hatte doch was. Aber solange ich die Botschaften nicht singen musste und nicht in tiefsinnige Gespräche verwickelt wurde, war mir das egal. Mr. Bolten hob die Flasche, hielt sie gegen das Sonnenlicht, das durch ein Küchenfenster fiel und lächelte wohlwollend.

„Warum ist er nicht rübergekommen?“ Dass er das monierte, konnte ich gut nachvollziehen, schließlich fragte ich mich das ja selbst. Ich zuckte nur mit den Schultern und sah dann in Richtung Flur. Schritte waren zu hören, doch der Gangart nach war das Julies Mutter. Sie wirkte gestresst, als sie mit zwei Taschen, einer Tüte, einer Handtasche und einem Trolley den Flur herunterkam. Elegant wich sie einer Topfpflanze aus, hinter der Blacky maunzend hervorhuschte.

„Huch!“, rief sie erschrocken. Dabei fielen ihr die Taschen aus der Hand und landeten polternd auf den weißen Marmorfliesen.

„Ich helfe Ihnen!“, rief ich und ging zu ihr. Es war nur ein Reflex, doch als ich mich zu ihr kniete, merkte ich, wie sie mich anlächelte. Es war dieser stolze Blick, als wollte sie mich gleich ihren Schwiegersohn nennen. Beängstigend irgendwie. Aber gleichzeitig auch eine schöne Vorstellung.

„Danke.“ Doch kaum hatte sie dies ausgesprochen, wandelte sich ihr Ausdruck und sie starrte ihren Mann beleidigt an. Dieser saß noch immer an der Kücheninsel und bewunderte den Wein.

„Du könntest dir ja mal ein Beispiel an ihm nehmen!“, fauchte sie, eher gespielt beleidigt. Eigentlich stritten sie sich nie. Aber sie zankten oft, ähnlich wie meine Eltern. Ich ertappte mich dabei, dass ich unweigerlich anfing zu grinsen, denn ich stellte mir vor, wie ich und Julie wohl in einigen Jahren miteinander umgehen würden. Zum Glück konzentrierte sich Mrs. Bolten ganz auf ihren Mann, dem sie nun die Flasche aus der Hand nahm. Sie öffnete eine Tür in der weißen Küchenzeile und wollte dort den Wein verstauen.

„Aber so lagert man doch keinen guten Wein!“ Mr. Bolten sprang auf und rangelte mit seiner Frau, umarmte sie von hinten, indem er seine Arme um ihren Bauch schlang. Sie fing an zu lachen und schlug ihn halbherzig. Am liebsten wäre ich vor Scham im Boden versunken. Ich stand dort mit einigen Taschen, dem Kater zu meinen Füßen und zwei erwachsenen Menschen, die ihren zweiten Frühling durchlebten.

„Ähm.“ Ich wollte eigentlich zu Julie. Aber solange ich kein Okay von den beiden bekam, traute ich mich nicht die Treppen hinauf. Seit etwa zwei Jahren waren die beiden sehr misstrauisch. Das hatte kurz vor meinem fünfzehnten Geburtstag angefangen. Julie war damals dreizehn und machte eine tolle Entwicklung durch. Sie war schon immer niedlich gewesen, aber seitdem ...

„Was grinst du so?“ Ich spürte misstrauische Blicke, die mir auf der Haut brannten und erschrak, als ich Mr. Boltens Stimme hörte. Er und seine Frau sahen mich fragend an und ich merkte, wie ich dümmlich grinsend dastand und dabei beobachtet wurde.

„Äh. Ich wollte … kann ich jetzt zu Julie?“ Dabei hob ich meine Hände, mit denen ich die beiden Tüten festhielt.

„Stell die Tüten einfach hier ab. Und nein. Julie schläft noch. Ich habe sie zwar schon mehrfach gerufen, aber ich bekomme nur ein wirres Knurren zu hören. Eine Art möarrr ...“ Mrs. Bolten versuchte, die Geräusche nachzuahmen und verdrehte dabei angestrengt ihre Augen. „Ja, ich weiß, es sind Sommerferien, aber es ist längst Mittag!“, fügte sie noch hinzu.

Ich musste mich sehr anstrengen, nicht laut loszulachen.

„Genau, junger Mann. Und solange sie halbnackt in ihrem Bett liegt, setzt du weiß Gott keinen Fuß in ihr Zimmer!“ Als ob sie davon schwanger werden würde. Ich ermahnte mich innerlich selbst, nicht die Augen zu verdrehen oder laut zu seufzen. Wenn Mr. Bolten wüsste, wie oft ich Julie schon halbnackt gesehen hatte und in welchen Situationen … er würde mir sicher den Kopf abreißen. Oder mich für immer und ewig aus dem Haus verbannen. Ja, ich war Julies bester Freund. Wir hatten uns schon als Babys gekannt. Wir waren zusammen aufgewachsen, hatten miteinander gespielt, zusammen im Pool gebadet, damals sogar noch nackt, was natürlich auf Fotos und in Dutzenden von Filmen festgehalten worden war. Wir waren beste Freunde und blieben es auch, als wir in die Pubertät kamen. Auch jetzt noch waren wir ein Herz und eine Seele. Naja, bis auf die Tatsache, dass ich Julie liebte, sie mich aber nicht.

Ich seufzte und merkte im nächsten Moment, dass ich noch immer beobachtet wurde.

„Schade, was?“ Mrs. Bolten interpretierte meinen Seufzer falsch. Sie dachte wohl, dass ich traurig darüber war, die halbnackte schlafende Julie nicht in ihrem Zimmer besuchen zu dürfen. Dabei galt der Seufzer eher meinem eigentlichen Problem. Als ihr bester Freund kam ich ihr zwar unglaublich nahe, aber nie nah genug, um wirklich glücklich zu sein.

„Nein, nein! Ich bin nur etwas genervt, weil sie noch schläft. Ich bin schon seit acht Uhr wach, war Zeitungen austragen, habe schon zweimal was gegessen ...“ Und jetzt stand ich hier mit ihren Eltern in der Küche. Tolle Situation! Dabei hatten wir gestern noch gechattet und ausgemacht, dass sie ja um Punkt ein Uhr hier in der Küche auf mich warten sollte, um genau diese Situation zu vermeiden! Aber nein. Madame schlief noch tief und fest.

„Naja, du musst wohl noch warten. Setz dich doch solange. Wir fahren erst los, wenn sie wach ist. Wenn sie noch bis heute Abend schläft, dann sind wir wohl doch bei ihrer Party dabei.“ Mr. Bolten grinste hämisch und wirkte plötzlich gereizt und Mrs. Bolten beäugte mich skeptisch.

„Möchtest du was trinken?“ Sie ging zum Kühlschrank und holte eine Flasche Wasser hervor. Dann sah sie mich fragend an und ich nickte.

„Haben Sie Apfelsaft?“ Sie nickte ebenfalls, stellte eine Flasche Wasser und eine Packung Apfelsaft auf die Kücheninsel und nahm dann drei Gläser aus dem Küchenschrank. Julies Mutter war immer sehr bemüht, dass es allen Gästen gut ging. Sie konnte nicht nur gut kochen, sondern auch die leckersten Torten backen. Ihre Küche war ihr Heiligtum. Hier standen überall frische Kräuter, prall gefüllte Obstschalen und massenweise Kochbücher herum, einige davon waren sogar noch von ihrer Mutter. Zumindest erzählte sie das des Öfteren, wenn Julie kurz aus dem Raum ging und mich mit ihrer Mutter allein ließ. Aber Mrs. Bolten wirkte nur so freundlich. Tief in ihrem Innersten war sie wie eine Agentin! Sie schaffte es mit einem freundlichen Lächeln, alles aus ihren Opfern herauszubekommen. Und nun war ich an der Reihe!

„Sag mal ...“, begann Julies Mutter, flötete diese Worte beinahe lieblich, was mir Angst bereitete. Aber ich durchschaute ihr Spiel und atmete tief durch, denn nun musste ich gut aufpassen, um mich nicht zu verraten. Sie goss etwas Apfelsaft in ein Glas und lächelte mich überfreundlich an, was ihr Mann skeptisch beobachtete. Ich durfte mir nicht anmerken lassen, dass ich ihre Verhörtaktiken durchschaute und auf der Hut war. Also blieb ich ganz ruhig, zumindest versuchte ich das, und nahm das Glas Apfelsaft an mich.

„Danke“, sagte ich freundlich und trank einen Schluck. Schön langsam. Falls sie jetzt etwas fragen würde, könnte ich das ganze Glas austrinken und in der Zeit über eine Antwort nachdenken. Mrs. Bolten jedoch lächelte mich nur an. Es hatte sogar den Anschein, als wüsste sie genau, was ich vorhatte, weswegen ich das Glas abstellte. Erst jetzt fing sie an zu reden: „So.“ Sie setzte sich auf einen freien Barhocker, mir gegenüber.

„Also Amy und Louise kommen ja heute Nachmittag. Soweit ich mitbekommen habe, wollten Candra und Sophie auch kommen?“ Mir machte diese Frau nichts vor.

„Ja, genau.“ Ich schnappte mir wieder das Glas und trank winzigkleine Schlückchen daraus. Sie wollte mich also ausfragen. Julie … Julie! Wo blieb sie nur? Aber Mrs. Bolten wartete wieder, bis ich mein Glas absetzte. Mr. Bolten war wieder in seine Zeitung vertieft, an seiner Körpersprache erkannte ich aber, dass er uns sehr genau zuhörte.

„Und … du wirst der einzige Junge sein? Ist das nicht furchtbar langweilig?“ Mrs. Bolten beugte sich nach vorne, faltete dabei ihre Hände, stützte das Kinn auf ihre Fingerknochen und sah mich an, als wollte sie die Wahrheit hinter meinen Lügen erschnüffeln.

„Naja. Wir wollen ja etwas im Pool spielen. Ball und so und später an der Konsole. Wir finden sicher was, womit wir uns beschäftigen können.“ Ich lachte zögerlich und versuchte möglichst locker rüberzukommen, als wäre es das Normalste der Welt für mich, mit fünf Mädchen in einem Haus zu sein. Allein. Über Nacht. Ohne störende Eltern, die wie Haifische um die blutende Beute schwammen, bereit, jederzeit zuzuschnappen. Ich schluckte abermals und merkte, dass ich mich verspannte. Wieder griff ich zum Glas.

„Noch etwas Apfelsaft? Du scheinst durstig zu sein.“ Mrs. Bolten goss mir nach, ehe ich antworten konnte.

„Ja, danke.“ Meine Augen huschten unweigerlich zum angrenzenden Flur, der neben dem Kühlschrank begann. Doch von Julie war nichts zu sehen.

„Allein mit fünf Mädchen. In diesem großen Haus. Hm?“ Mrs. Bolten blinzelte, lächelte noch immer, ohne ihre wahren Absichten zu offenbaren. „Mitten in der Nacht. Wir sind nicht da. Deine Eltern schlafen friedlich ...“ Ich kam mir vor wie bei einem Polizeiverhör. Fehlte nur noch, dass man mir eine Lampe ins Gesicht hielt und die zwei ‚Guter Bulle – Böser Bulle‘ spielten.

„Ja, aber die vertragen sich ja alle. Und falls sie sich doch streiten sollten, schlichte ich gerne.“ Ich versuchte mich aus der Situation zu befreien, aber ich wand mich wie ein Fisch im Netz.

Kapitel 2 – Julie

 

„Jetzt steh endlich auf! Wir fahren gleich!“ Meine Mutter brüllte und polterte dabei mit dem Staubsauger gegen die Tür. Sie wollte noch das Haus sauber machen, dabei war sie schon die letzten Tage damit beschäftigt gewesen und man konnte eh vom Boden essen. Immer wieder stieß sie mit dem Staubsauger gegen meine Zimmertür und faselte etwas von aufstehen, aufräumen, anziehen, dass es schon Mittag sei und so weiter. Ich war einfach zu lange aufgeblieben in der letzten Nacht. Henry und ich hatten noch eine ganze Weile gechattet, hatten meinen Geburtstag geplant und ich konnte mich einfach nicht von ihm losreißen. Und seit heute früh um sieben Uhr wütete meine Mutter bereits durch das Haus. Ich wollte doch nur etwas schlafen! Ich lugte unter meiner Bettdecke hervor und sah, dass ich noch Zeit genug hatte. Henry hatte ja gemeint, dass er erst gegen zwei Uhr hier aufschlagen wollte.

„Julie!“ Sie konnte es nicht lassen. Was war denn da los? Befand sich ein Sandhaufen vor meiner Zimmertür, den sie jetzt in diesem Moment aufsaugen musste? Ging das nicht leiser? Das permanente Klopfen und Hämmern des Staubsaugers machte mich noch ganz verrückt.

„Lass mich schlafen!“, rief ich.

„Steh auf!“, rief sie zurück.

„Lass mich in Ruhe!“

„Steh endlich auf!“ Sie polterte weiter durch den Flur. Wollte sie das ganze Haus abreißen? War das ihr Plan?

„Lass mich doch bitte schlafen! Ich bin müde, verdammt noch mal!“ Ich strampelte wild mit meinen Beinen, brüllte dabei in mein Kopfkissen. Na ganz toll. Jetzt war ich wach. Der Staubsauger wurde ausgestellt. Sie hatte ihr Ziel erreicht.

„Ich packe jetzt die letzten Sachen zusammen!“, rief sie mir durch die verschlossene Tür zu.

„Schön für dich.“ Ich hatte keine Lust, jetzt mit ihr zu reden.

„Was?“, rief sie aus dem Schlafzimmer.

„Schön für dich!“, schrie ich zurück.

„Was?“, rief sie erneut.

„Oh Mann, Mama!“

„Schatz, ich verstehe dich nicht, du musst lauter reden!“ Sie lief über den Flur und rüttelte an meiner Zimmertür. Wie gut, dass ich einen Schlüssel hatte. Sonst hätte sie hier sicherlich auch noch gesaugt, die Fenster geputzt und das Bett gemacht, während ich noch drin lag.

„Lass mich doch schlafen!“, rief ich zurück.

„Ich sagte, wir fahren gleich. Steh endlich auf, zieh dich an und komm runter. Dann kannst du noch was essen.“ Was war das denn für eine Logik bitte? Ich wollte schlafen. Warum sollte ich jetzt aufstehen, wo ich doch gar nicht wollte? Hunger hatte ich auch nicht.

„Julie?“ Sie rüttelte wieder an der Türklinke und ich vergrub mich unter meiner Bettdecke.

„Julie! Du sollst doch nicht abschließen!“

„Boah, Mama! Lass mich jetzt endlich weiterschlafen!“ Ich setzte mich auf und warf ein Kissen Richtung Tür, das jedoch auf dem Boden landete und die Tür nicht im Entferntesten erreichte. Ich fühlte mich schwach und total ausgelaugt.

„Ja, schon gut. Musst ja nicht gleich schreien!“, rief sie durch die Tür. Ich hätte sie auch verstanden, wenn sie normal gesprochen hätte. Seufzend warf ich mich in die Kissen meines Bettes zurück und atmete tief durch.

„Schatz! Was machst du da noch? Wir fahren doch nur einen Tag weg!“ Jetzt fing mein Vater auch noch an, aus dem Flur die Treppen hinaufzubrüllen

„Und wenn es regnet?“ Meine Mutter konnte natürlich nicht die Treppen hinunterlaufen, um ein Gespräch mit ihm zu führen. Nein. Man brüllte sich durch das ganze Haus an. Wie schön, dass mein Zimmer genau zwischen beiden Gesprächsparteien lag. Wenn ich so tat, als würde ich schlafen, würden beide sicher schnell die Lust verlieren und ich könnte noch ein oder zwei Stunden liegen bleiben. Es war ja erst kurz vor zwölf, also noch genügend Zeit, bis Henry kommen würde.

Ich hörte noch ein paar Mal, wie meine Mutter irgendetwas rief und mein Vater irgendetwas erwiderte, aber dann schlief ich ein.

 

Vogelgezwitscher weckte mich und ich sah zu meinem Fenster, das auf der Gartenseite lag. Laut seufzend schaute ich auf meinen Wecker und bemerkte, dass es erst kurz nach eins war.

„Ist ja gut ...“, murmelte ich. Jetzt wollten schon die Vögel, dass ich keinen Schlaf mehr bekam. Also stand ich auf, schloss meine Zimmertür auf und lief ins Badezimmer.

„Julie?!“, rief meine Mutter aus der Küche.

„Wen hast du erwartet? Einen Einbrecher?“, rief ich mit sarkastischem Unterton zurück. Ich ging noch nicht ins Badezimmer, da ich auf ihre Antwort wartete.

„Was?”

„Wen hast du erwartet?“ Gab es das denn? Ich hielt mir eine Hand vor das Gesicht und rieb meine Augen, die voller Schlaf waren.

„Ich wollte nur wissen, ob du schon wach bist!“

„Nein, ich schlafwandle!“, rief ich wütend und öffnete die Badezimmertür.

„Bist du jetzt wach, oder was?“ Meine Mutter wollte mich also unbedingt noch heute in den Wahnsinn treiben.

„Nein, ich schlafe noch!“, rief ich und ging ins Badezimmer. Sie rief noch irgendetwas die Treppen herauf, doch ich machte die Dusche an. Das Prasseln des Wassers war, im Gegensatz zu der Stimme meiner Mutter, eine Wohltat. Ich putzte meine Zähne, ging auf die Toilette und betrachtete mein zerknautschtes Gesicht im Spiegel.

„Na, du siehst ja echt super aus“, murmelte ich. Meine rotbraunen Haare ließen sich kaum bändigen. Es wurde Zeit, dass ich sie wieder färbte. Ein knalliges Rosa-Pink-Rot wäre doch mal was. Ich betrachtete mich noch eine Weile im Spiegel und stellte mir diese Farbe vor. Das würde auch gut zu meinen grün-grauen Augen passen. Mit meinem Zeigefinger fuhr ich über meine Sommersprossen, die zum Glück recht blass waren, man sah sie kaum und ich war froh darüber. Ich würde lieber ein ganz normales Gesicht haben, ohne diese komischen Flecken, die mich aussehen ließen, als hätte ich viele kleine Pickelchen.

Ich wollte mich gerade ausziehen, als ich hörte, wie meine Mutter mir noch immer etwas zurief. Also stellte ich das Wasser ab und ging aus dem Badezimmer.

„Kann ich noch nicht einmal in Ruhe duschen oder aufs Klo gehen?“, motzte ich und schlurfte die Treppen hinunter.

„Ich sagte, Henry ist schon da und wir fahren gleich!“ Sie brüllte noch immer, da sie wohl glaubte, dass ich mich noch im Badezimmer befand. In diesem Augenblick betrat ich jedoch die Küche.

„Was?“ Ich erblickte Henry, der mich Hilfe suchend anstarrte. Die Angst war ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Als ich meinen Vater und meine Mutter sah, die ihn wahrscheinlich in ein Gespräch verwickelt hatten, wusste ich auch warum.

„Oh. Du bist aber früh da.“ Damit hatte ich ja nun gar nicht gerechnet.

„Wie läufst du denn herum?“ Mein Vater starrte mich entsetzt an und meine Mutter strafte Henry mit einem ernsten Blick ab. Dieser vergrub sein Gesicht aber sofort in das Glas, aus dem er trank.

„Das ist ein Schlafanzug?“ Ich sah an mir herunter. Was gab es denn an kurzen, eng anliegenden Shorts und einem Tanktop auszusetzen?

„Das ist bestenfalls ein Bikini!“ Mein Vater führte sich wieder auf. Ehe er jedoch noch etwas sagen konnte, unterbrach ich ihn. Das war besser so, denn eine erneute Debatte über Bekleidung wollte ich nicht mit ihm führen.

„Dafür ist die Hose zu breit und das Top bedeckt meinen Bauch“, sagte ich und versuchte meine Haare zu sortieren, die wild nach allen Seiten abstanden.

„Vollkommen egal! Ein Schlafanzug oder ein Nachthemd sollte mehr Stoff haben!“ Doch, mein Vater wollte diskutieren. Wie gut, dass ich gerade bester Laune war!

„Es ist Sommer, Anfang Juli. Es sind fast dreißig Grad draußen. Soll ich ein Baumwollnachthemd mit Rüschen tragen?“

„Oh, als Baby hattest du so etwas ...“ Meine Mutter erinnerte sich und schaute gedankenverloren ein Loch in die Luft.

„Ja, aber … Okay, egal. Ich wollte jetzt eh duschen und mich anziehen. Wolltet ihr nicht längst fahren?“ Warum waren die beiden überhaupt noch da und warum war Henry schon hier? Ich nickte Henry zu, dass er mit mir kommen sollte und er stand auf.

„Moment mal, was wird das hier?“ Mein Vater sprang plötzlich auf, als wollte er sich jeden Augenblick vor mich werfen.

„Ich will duschen gehen?“ Ich formulierte dies beinahe wie eine Frage, was meinen Vater jedoch keineswegs besänftigte.

„Ja, du kannst duschen gehen, aber du, mein Freund, du bleibst schön hier!“ Er tippte dabei mit seinem Zeigefinger auf die Kücheninsel, als wollte er ein Loch in die Tischplatte hämmern. Henry schluckte und setzte sich zögerlich auf den Barhocker zurück. Ich erkannte an seinem Blick, dass er sich ganz verloren vorkam und von mir gerettet werden wollte.

„Ja, ich werde schon nicht mit Henry zusammen duschen. Er wartet so lange in meinem Zimmer, ihr macht ihn ja ganz nervös.“ Ich lief auf Henry zu und legte einen Arm um seine Schulter und drückte ihn kurz zur Begrüßung an mich, natürlich auch, um meinen Vater zu ärgern.

„Gut so, wenn er nervös ist“, begann mein Vater, erneut mit diesem belehrend klingenden Unterton. Ich musste die Chance ergreifen, um ihn zu unterbrechen, als er tief einatmete. Sonst würde er ohne Punkt und Komma weiterreden und am Ende nicht mit meiner Mutter wegfahren!

„Genau, dann kann er das arme Töchterlein nicht befummeln!“ Ich hob meine Hand und formte daraus einen plappernden Mund und untermalte dies mit einem genervten „Bla, bla, bla“.

„Junge Dame!“, riefen meine Eltern empört im Chor.

„Bitte, ihr tut gerade so, als wäre Henry ein Fremder. Wir gehen doch später noch schwimmen, da habe ich viel weniger an. Das ist echt so peinlich … als ob ich draußen auch so herumlaufen würde!“ Während ich schimpfte, griff ich mir Henrys Handgelenk und zog ihn mit mir.

„Ich werde morgen sechzehn und ihr tut so, als sei ich noch ein kleines Kind. Vertraut ihr mir denn gar nicht?“ Das durfte doch alles nicht wahr sein. Als ob zwischen mir und Henry je was laufen würde. Meine Eltern starrten mich fassungslos an und auch Henry wirkte unsicher.

„Nein!“, riefen meine Mutter und mein Vater erneut im Chor.

„Du bist fünfzehn und noch lange nicht volljährig und selbst dann hast du noch gar nicht ...“ Wieder musste ich meinen Vater unterbrechen. Dachte er sich denn nie einen neuen Spruch aus?

„Jaja. Die Lebenserfahrung, die eine Frau mit fünfundzwanzig Jahren hat. Aber du wirst immer unser Kind sein und so weiter. Ich hab es ja verstanden.“ Ich liebte meine Eltern wirklich sehr. Sie waren die tollsten Eltern, die man sich vorstellen konnte. Meine Mutter war immer für mich da und mein Vater tat zwar streng, aber eigentlich war auch er sehr locker. Was sie seit einigen Monaten gegen Henry hatten, das konnte ich mir wirklich nicht zusammenreimen. Manchmal aber nervten sie einfach. Wenn meine Mutter wieder anfing zu putzen oder mein Vater wegen der Noten in der Schule nörgelte. Ich war halt kein Mathegenie, aber was sollte es schon?

„Aber du ziehst dir was Ordentliches an!“ Meine Mutter hob den Zeigefinger und ging zum Kühlschrank, an dem ein Zettel hing.

„Anna?“ Mein Vater wirkte entsetzt, als meine Mutter nachgab.

„Nichts da, Thomas. Es wird Zeit, dass wir Henry ein wenig mehr Vertrauen schenken. Und wenn sie schon … wenn sie sich näherkommen, dann will ich das wenigstens wissen. Sonst machen sie das noch heimlich!“

„Mom!“, schrie ich auf und zerrte dabei an Henrys Handgelenk.

„Was denn? Ich spreche doch nur aus ...“

„Wir sind nur Freunde! Freunde! Kann es denn keine Freundschaft zwischen einem Jungen und einem Mädchen geben? Ihr seid manchmal echt peinlich!“ Wie gut, dass es nur Henry war und nicht Christian. Henry kannte das Theater ja schon, aber Christian wäre sicher gleich wieder aus dem Haus gerannt. Damit würde meine Chance, mit ihm zusammenzukommen, verschwindend gering werden.

„Vollkommen egal, ob ihr nur Freunde seid. Es gibt Grenzen und die Grenze in diesem Haus heißt, dass du keine Jungs mit in dein Zimmer nehmen darfst. Henry ist da die absolute Ausnahme.“ Meine Mutter rieb sich ihre Schläfe.

„Aber auch nur, weil wir wissen, wo er wohnt. Falls er dich anfassen sollte, brauche ich nur durch den Garten zu gehen.“ Dad fixierte Henry, der nervös schluckte und darauf gar nichts erwidern konnte.

„Sag doch auch mal was!“ Jetzt konnte ich wirklich seine Unterstützung gebrauchen. Warum schwieg Henry nur?

„Ähm. Also ich würde nie etwas Derartiges tun. Also gegen den Willen von irgendjemandem, meine ich“, murmelte Henry und verkrampfte sich dabei total. Wirklich hilfreich war das ja nicht. Meine Mutter hob zweifelnd ihre Augenbrauen. Sie glaubte Henry wohl kein bisschen. Mein Vater hingegen las weiter Zeitung, als wäre die Diskussion für ihn beendet. Na, ein Glück.

„Bevor wir fahren: ich habe dir hier noch alle Notfallnummern aufgeschrieben.“ Meine Mutter stand am Kühlschrank und deutete abermals auf den Zettel, der dort mit einem Magneten befestigt war. „Polizei, Krankenhaus, Feuerwehr, Giftambulanz, unsere Nummer im Hotel und von der Rezeption und die von Oma ...“

„Boah, Mama! Die Nummer von denen kenne ich doch. Giftambulanz? Warum sollte ich denn da anrufen? Was glaubst du, was wir hier machen?“ Fehlte nur noch, dass sie einen Babysitter bestellte.

„Falls was ist, ist es immer gut, so eine Nummer in greifbarer Nähe zu haben. Also, Schatz. Falls was passiert, bitte ruf uns an.“ Sie faltete ihre Hände, als betete sie zu Gott, dass ich mich auch ja daran halten würde.

„Ich glaube, du brauchst diesen freien Tag dringender als ich. Es wird schon alles gut gehen. Es kommen nur ein paar Freundinnen vorbei, wir gehen in den Pool, spielen hier etwas. Wir trinken ja noch nicht einmal Alkohol. Niemand von uns raucht. Du hast eine brave Tochter, die sich an alle Vorschriften halten wird und die sich furchtbar auf die sturmfreie Bude freut!“ Ich ließ Henrys Handgelenk los und untermauerte meine Entschlossenheit damit, dass ich meine Hände zu Fäusten ballte und damit herumfuchtelte.

„Und du hast auch nichts im Internet geschrieben? Das hört man ja öfters, dass es dann plötzlich einige Hundert oder Tausend Besucher gibt, die das Haus ruinieren.“ Mein Vater lugte über die Oberkante der Zeitung hinweg.

„Nein. Da bin ich seit Monaten nicht mehr angemeldet. Das ist doch echt so was von out. Das nutzen jetzt einfach viel zu viele alte Leute.“ Ich zuckte mit den Schultern und hoffte einfach, dass sie mir das glauben würden. Tatsächlich hatte ich mich damals auf der Seite abgemeldet, weil meine Mutter mich als Freundin adden wollte. Unter falschem Namen hielt ich aber weiterhin Kontakt zu Freundinnen.

„Also ich finde das echt toll. Man kann mit so vielen Menschen in Kontakt treten!“ Meine Mutter lächelte und nahm ihr Smartphone aus der Handtasche. „Ich sollte mal wieder schnell schauen, ob es etwas Neues gibt ...“

„Ja, genau das meinte ich … zu viele alte Leute.“ Ich seufzte und sah zu Henry, der mir vorkam, als wäre er zu einer Salzsäule erstarrt.

„Ich bin nicht alt. Ich bin reif!“ Mom warf ihr Haar zurück und sah zu meinem Vater, der sie nur skeptisch beäugte.

„Nicht wahr?“, sagte sie nun direkt zu ihm.

„Natürlich, mein Träubchen. Reif.“ Er räusperte sich und ich bemerkte, wie er Henry noch immer streng ansah.

„Wir gehen dann“, meinte ich und zog Henry mit mir.

„Oh, noch etwas!“, rief mein Vater und brachte mich so zum Stehen.

„Jaaa …?“ Ich atmete tief durch und blinzelte meinen Vater an, zwang mich zu einem Lächeln. Er sollte ruhig merken, dass er mich nervte.

„Sie haben eine Leiche im Wald gefunden“, sagte er trocken. Ich weitete vor Schreck meine Augen, als er weitersprach: „Ein Junge. Siebzehn Jahre alt. Schlimm zugerichtet. Na, der wird wohl die Tochter eines liebenden Vaters angefasst haben, obwohl dieser es ihm untersagt hat. Pech aber auch ...“ Danach vergrub er sein Gesicht wieder in der Zeitung. Was sollte das denn werden? Meine Mutter ging zu ihm und schaute Dad über die Schulter.

„Davon steht … oh!“ Jetzt schien auch sie seinen Manipulationsversuch durchschaut zu haben und verstummte abrupt. Na, das konnte ich besser!

„Komm, Henry. Ich will endlich duschen und danach haben wir Sex.“ Ich zog ihn hinter mir her und fing an zu rennen.

„Julie!“ Meine Mutter rief mir noch nach, aber ich konnte sie nicht mehr hören, da ich laut lachen musste. In der ersten Etage angekommen, zog ich Henry mit in mein Zimmer und ließ erst dort von ihm ab.

„Ich gehe jetzt aber wirklich mal duschen und dann hoffe ich, dass die endlich weg sind. Ich brauche dringend elternfreie Zeit, sonst ist meine Stimmung heute Abend im Keller.“

„Kann ich verstehen“, murmelte Henry, der ganz verloren dastand. Es war ihm anzusehen, dass ihn das Gespräch mitgenommen hatte.

„Wieso warst du überhaupt schon da? Du hast doch gesagt, dass du erst um zwei Uhr vorbeikommen wolltest?“, fragte ich ihn und verschränkte meine Arme.

„Nein. Ein Uhr. Das habe ich sogar mehrmals geschrieben. Nicht zwei Uhr, sondern ein Uhr.“ Henry seufzte. „Deine Eltern hätten mich beinahe gelyncht … vergiss mich bitte nie wieder!“ Er wirkte erschöpft.

„Ups, sorry! Ja, ich war gestern schon sehr müde und konnte kaum die Augen offen halten, da habe ich wohl etwas durcheinandergeworfen!“ Ich lachte, doch Henry schien das nicht sonderlich lustig zu finden.

„Jetzt setz dich schon hin. Am besten an meinen Schreibtisch. Meine Mutter wird hier noch mindestens zweimal auftauchen und kontrollieren, ob wir nicht zusammen auf dem Bett liegen. Geben wir ihr keinen Grund, hierzubleiben.“ Ich suchte nebenbei nach einem dunkelblauen Faltenrock und einem weißen, trägerlosen Shirt, das ich heute anziehen wollte.

„Nein, geben wir ihr besser keinen Grund. Nicht, dass sie noch denken, wir hätten hier Sex, wenn du mit dem Duschen fertig bist.“ Er klang so sarkastisch und ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen.

„Ach, das denken die doch die ganze Zeit. Total verrückt. Als ob wir jemals … nein, wirklich nicht. Ich meine, es gibt auch Freundschaften unter Jungs und Mädchen, ohne das man gleich … du weißt schon. Nicht wahr?“ Ich war zwar mal in Henry verliebt gewesen, aber das war schon ewig her. Damals war ich zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen und ich hatte wirklich geglaubt, dass aus uns etwas werden könnte, doch dann war er mit Leonie zusammengekommen. Auch wenn ihre Beziehung nur etwa drei Monate angehalten hatte, war das doch ein sehr deutliches Zeichen, dass er nichts von mir wollte. Dabei hatte er damals schon so gut ausgesehen … Henry war wirklich ein Traummann. Groß, etwa 1,80m und mit wuscheligem, dunkelbraunem Haar, das ihm bis zu den Augenbrauen ging. Man konnte seine blauen Augen noch gut erkennen, die so eine schöne und klare Farbe hatten.

„Ja, die soll es geben. Habe ich mal gehört.“ Henry grinste mich schief an und drehte sich dann zu meinem Laptop herum. Wenn er mich so anlächelte, musste ich immer an meine Gefühle von damals denken. Er war kein Macho, sondern jemand, der seine Gedanken mit mir teilte. Er spielte Gitarre, fuhr mit dem Skateboard zur Schule und hatte gute Noten. Sogar in Mathe. Eigentlich war Henry jemand, mit dem ich … nein. Das war nicht gut. Aus besten Freunden sollte niemals ein Paar werden! Das ging nicht gut. Das ging einfach nie gut. Bestes Beispiel waren meine Eltern. Auch wenn sie so taten, als wäre alles in Ordnung zwischen ihnen, wusste ich doch, dass dem nicht so war. Früher, als meine Eltern noch jung gewesen waren, waren sie wie Henry und ich die besten Freunde gewesen. Aber dann hatten sie geheiratet und dann ging alles den Bach runter. Dass sie so taten, als würden sie sich noch immer lieben, das konnte doch nur an mir liegen. In zwei Jahren würde ich achtzehn werden und dann zog sicher mein Vater aus und ich blieb mit meiner Mutter allein hier. Es wäre doch besser gewesen, wenn die beiden nie geheiratet hätten? Dann wären sie heute noch Freunde.

„Ich bin dann duschen!“, sagte ich noch, als ich aus dem Zimmer ging. Ich huschte über den Flur und sah, wie meine Mutter die Treppen hochschlich. Sie machte unserem Kater wirklich Konkurrenz. Aber daran wollte ich mich nicht weiter stören, Henry saß ja auf dem Schreibtischstuhl, daran konnte ja nun wohl wirklich keiner Anstoß nehmen. Nach einer ausgiebigen Dusche zog ich mich an, machte meine Haare zurecht und ging zurück in mein Zimmer. Ich sah meinen Vater, der gerade die Treppe heraufkam, mich aber entdeckte, stehen blieb, lächelte und wieder kehrtmachte.

„Na? Wie oft waren sie da?“ Ich war etwa eine halbe Stunde im Badezimmer gewesen, oft konnte es also eigentlich nicht gewesen sein. Ich schloss die Tür hinter mir und setzte mich auf die Bettkante. Henry drehte sich zu mir herum und verdrehte die Augen.

„Deine Mutter zweimal, dein Vater einmal. Ich glaube, sie haben was gegen mich.“ Dabei lachte er, was mich ein wenig beunruhigte.

„Warum sollten sie etwas gegen dich haben? Ich kapier das einfach nicht.“ Dann sah ich, dass er ein Spiel auf dem Laptop spielte.

„Was machst du da?“, fragte ich ihn, beugte mich vor und erkannte dann, dass es sich dabei um mein Onlinespiel hielt.

„Ich habe deinen Charakter gelevelt. Du bist jetzt zwei Stufen höher und hast 2000 Gold mehr. Oh, und neue Stiefel, damit kannst du durch den Wald rennen.“ Er grinste mich stolz an.

„Wie? Moment mal! Das ist mein Spiel! Sag nicht, dass du schon gespeichert hast!“ Ich schubste ihn beiseite, sodass er mit dem Stuhl wegrollte und sah dann, dass er tatsächlich gespeichert hatte.

„Vollidiot!“, brüllte ich und ballte wütend die Hände zu Fäusten.

„Du kannst ja wieder von vorne anfangen! Am besten, wir spielen das Spiel einfach gemeinsam.“ Henry lachte laut los und zwickte mich in die Seite.

„Hey!“ Ich schlug seine Hand weg, nahm den Laptop an mich und setzte mich aufs Bett.

„Hier ist Sperrzone. Lass dich nicht erwischen, ha!“ Ich grinste ihn frech an und deutete mit meinem Zeigefinger eine unsichtbare Linie an, die an der Bettkante verlief. Doch Henry konterte sofort. Er zog einfach den Stecker meines Laptops heraus.

„Das bringt gar nichts, ich habe einen vollen Akku, ha!“

„Ja, für zwei Stunden und dann?!“ Er schwang das Kabelende wie ein Lasso und wir mussten beide lachen.

 

„Julie!“, hörte ich meine Mutter rufen.

„Wir fahren jetzt! Komm runter, Tschüss sagen!“ Ich ließ mich noch einmal in die Kissen fallen, als ich ihre Stimme hörte und rollte mich herum, sodass ich auf der anderen Bettseite ankam.

„Kommst du mit runter?“, fragte ich Henry, der schon aufstand.

„Klar, nichts lieber als das ...“ Er schaute etwas gequält drein, aber er kam mit. Gemeinsam gingen wir die Treppen hinunter und trafen in der Küche auf meine Mutter, die meinen Vater mit Bergen von Gepäck belud.

„Wie schade, dass ihr schon los müsst.“ Ich konnte mir diesen Satz einfach nicht verkneifen.

„Oh, Vorsicht, sonst bleiben wir hier.“ Meine Mutter grinste, was mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ.

„Ähm, ich meinte, fahrt vorsichtig, ich freue mich auf morgen! Kommt gut an, erholt euch und lasst euch Zeit.“ Ich setzte mein zauberhaftestes Lächeln auf und versuchte möglichst unschuldig auszusehen. Das wiederum löste bei meiner Mutter ein großes Schluchzen aus. Sie kam blinzelnd und mit feuchten Augen auf mich zu und drückte mich fest an sich.

„Wenn irgendetwas ist, dann geh ruhig zu den Osments rüber, sie haben auch alle Telefonnummern.“ Ich umarmte meine Mutter zurück.

„Ja, ich weiß. Mach dir keine Sorgen.“ Dass Henrys Eltern eingeweiht waren und einen guten Blick auf unseren Pool hatten, durchkreuzte leider meine Pläne, mit den Jungs im Pool schwimmen zu gehen. Endlich machten sich die beiden auf den Weg nach draußen.

„Und schließ das Haus ab, auch die Balkontüren! Und lass niemanden rein, wenn es klingelt. Außer es sind die Nachbarn. Oder Oma ...“

Ich nickte brav und folgte ihnen zur Haustür. Henry war dicht hinter mir. Mom sprach die ganze Zeit hektisch vor sich hin, bis sie endlich ins Auto stieg, sich aus dem offenen Fenster zu mir umdrehte, mir lauter Luftküsschen zuwarf und dann winkte, als würden wir uns mindestens ein Jahr lang nicht mehr sehen.

„Schön winken, Henry“, sagte ich lächelnd und sah dem Auto nach, das vom Hof fuhr und die Straße entlangsauste. Ich winkte jedoch noch eine Weile weiter, falls sie spontan umdrehen würden. Als ich aber kein Auto mehr sah, zog ich Henry ins Haus und ließ einen freudigen Schrei los.

„Sturmfrei!“, jubelte ich und flitzte in die Küche zurück.

„Julie?“ Ich hörte Henry noch nach mir rufen, doch da war ich schon am Kühlschrank, nahm die Packung Milch, öffnete sie und trank daraus.

„Alles okay?“, fragte Henry mich, schaute verwundert und trat dann zögernd an mich heran.

„Ich wollte nur mal aus der Milchpackung trinken, ohne zurechtgewiesen zu werden. Aber irgendwie ist das doch nicht ganz so cool, wie ich mir das immer vorgestellt habe.“

Henry griff sich die Milchpackung aus meiner Hand und trank ebenfalls daraus.

„Ah, lecker! Es gibt nichts Besseres! Ich finde ja, Milch kann man nur aus der Packung trinken.“ Er grinste mich frech an und stellte die Packung zurück in den Kühlschrank. Wir mussten lachen und sahen uns in der Küche um, als mir der Blumenstrauß auffiel.

„Oh, Blumen! Warum sind die nicht in der Vase?“, fragte ich und lief auf die Kücheninsel zu.

„Ach, Mist! Warte!“ Henry eilte an mir vorbei, schnappte sich die Blumen und hielt sie stolz vor seine Brust. „Die habe ich dir mitgebracht.“ Dann überreichte er sie mir.

„Für mich?“ Ich weitete neugierig meine Augen und betrachtete das braune Papier, das um die Blumen gewickelt war. Sofort erkannte ich das Logo des Blumenhändlers, der jeden Samstag auf dem Markt war. Ich liebte frische Blumen und ging oft mit meiner Mutter dorthin, um mir welche zu kaufen. Mit Herzklopfen nahm ich die Blumen an mich und zerriss an der oberen Seite das Papier, um nachzusehen, welche Blumen es wohl waren.

„Das sind ja Callas!“, rief ich überrascht. „Du hast es dir also gemerkt.“ Ich lächelte Henry an, der verlegen zur Seite sah und sich am Hinterkopf kratzte.

„Naja, du redest ständig davon. Es war nicht schwer, mir das zu merken.“ Er half mir, sie vom Papier zu befreien und sie in eine Vase zu stellen.

„Sie sind wunderschön ...“ Ob Christian mir wohl auch welche mitbringen würde? Und überhaupt, was würde er mir wohl schenken? Ich hatte ihn ja spontan eingeladen, er wusste eigentlich nicht wirklich was von mir.

„Henry, komm mal mit. Ich muss jetzt an dir üben“, sagte ich entschlossen und lief durch den Flur, die Treppen hinauf und in mein Zimmer.

„Wieso üben?“ Henry ging mir nach.

„Ich habe mir etwas gekauft und ich will deine Meinung dazu hören!“ Ich grinste ihn an und wühlte in meiner Schreibtischschublade. Henry setzte sich derweil auf den Stuhl.

„Setz dich ruhig auf das Bett, das machst du doch sonst auch immer. Keine Sorge, hier sind keine Kameras.“ Ich fischte lachend einen neuen Nagellack aus der hintersten Ecke meiner Schreibtischschublade und schnappte mir auch noch eine Packung Taschentücher. Henry setzte sich ans Kopfende meines Bettes und fing die Taschentücher auf.

„Die wirst du noch brauchen“, meinte ich und setzte mich nun auch auf die Bettdecke.

„Ähm, was hast du denn vor?“, fragte er mich. Er klang total nervös und nestelte an der Verpackung der Taschentücher herum. Erst jetzt entdeckte er den Nagellack, mit dem ich vor seinen Augen herumwedelte.

„Du weißt doch, dass meine Eltern es nicht mögen, wenn ich mich schminke. Sie meinen, das würde meine Haut schädigen und mich viel älter machen. Aber jetzt bist du ja da und ich kann in Ruhe üben.“ Ich setzte mich neben ihn und zupfte ein Taschentuch aus der Verpackung, begann es auszubreiten und summte dabei.

„Du willst dir jetzt die Nägel machen? Wie aufregend“, murrte Henry leise, verdrehte die Augen, ließ sich nach hinten auf mein Kopfkissen fallen und starrte seufzend die Decke an.

„Und ich dachte schon ...“, murmelte er.

„Nein, ich will deine Nägel lackieren, was hast du denn gedacht?“, antwortete ich ihm. Mit einem Ruck setzte er sich auf.

„Was? Meine? Du willst mir die Nägel lackieren? Auf gar keinen Fall! Ich bin ein Kerl. Ein Mann. Mir kommt keine Farbe an meine Finger. Vergiss es!“ Er wirkte recht panisch, was die Sache natürlich um einiges spaßiger für mich machte.

„Och, na komm schon! Ich muss üben! Bislang konnte ich nur an meinen Zehen üben, aber jetzt im Sommer sieht meine Mutter das doch sofort. Ich habe auch Nagellackentferner da. Der stinkt zwar, aber wenn du dir danach...“

„Nein! Du lackierst mir nicht die Nägel!“ Obwohl er sich so vehement dagegen zu wehren versuchte, lächelte Henry, als ob er die Situation gar nicht ernst nahm.

„Ich muss aber üben! Und du hast große Hände, da ist die Fläche der Fingernägel auch größer. Stell dich mal nicht so an!“ Das gab es ja gar nicht. Diese kleine Memme.

„Ich bin ein Kerl, nicht deine beste Freundin.“ Henry machte Anstalten aufzustehen, aber ich zog ihn zurück aufs Bett.

„Gewissermaßen bist du meine beste Freundin. Du hast halt nur keine Brüste und so. Du weißt schon. Ich würde mich vor Amy und Louise nur blamieren. Vor Candra und Sophie erst recht! Ich kenne die beiden noch nicht so lange, aber die sind immer top geschminkt! Wie sieht das denn aus? Es ist schon schlimm genug, dass ich ohne Schminke in die Schule muss.“ Da ich auf eine Privatschule ging, mit Schuluniform und strengen Regeln, war dort auch Schminke nicht erlaubt. Auch bunte Haarsträhnen waren untersagt. Das war meiner Mutter ganz recht. Sie schminkte sich selbst nur sehr dezent und sprach von „natürlicher Schönheit“.

„Heeenryyy!“, jammerte ich und zerrte an seinem Arm, bis er sich wieder setzte.

„Du bist schlimm.“ Er blickte mich etwas genervt an, gab dann aber nach und machte es sich bequem.

„Oh, danke!“ Ich nahm seine Hand, hob sie an und legte sie dann auf das Taschentuch, das ich auf sein Knie gelegt hatte. Jedoch kam ich nicht so gut an die Finger, trotz Verrenkungen.

„Ach Mist, so wird das nichts ...“ Ich kniete mich hin und bedeutete ihm, sich weiter in die Bettmitte zu setzen.

„Ich muss mich anders hinsetzen, sonst klappt das nicht.“ Irgendwie wurde ich nervös. Ein Kribbeln machte sich in meinem Bauch breit, doch ich versuchte es zu ignorieren. Ach ja, ich hatte heute ja noch gar nichts gegessen, es war ja schon Nachmittag.

„Und wir müssen gleich mal was essen. Mein Bauch tut schon weh“, sagte ich noch, bevor ich mich einfach zwischen seine Beine setzte.

„Was wird das denn?“, fragte Henry, der plötzlich ganz nervös wurde.

„Ich muss das so üben, als wären das meine Hände, also muss ich auch so sitzen.“ Ich spürte seine Brust an meinem Rücken und nahm dann seine Hand, die ich auf mein Knie legte. Darunter legte ich das Taschentuch, hob meine Knie an und hatte so die ideale Position.

„Und … jetzt?“, fragte Henry.

„Halt einfach still.“ Ich musste mich jetzt konzentrieren. Der Nagellack war schnell geöffnet und ich probierte mich zuerst an seinem Daumen.

„Das ist hellgrün, matt. Momentan total angesagt.“ Ich fuhr mit dem Pinsel über seinen Daumennagel.

„Super. Steht mir total gut ...“, murmelte er. Sein ironischer Unterton war viel sanfter als zuvor.

„Alles okay?“, fragte ich ihn, da ich spüren konnte, wie sein Körper erschauderte.

„Ja. Warum fragst du?“ Er beugte sich leicht vor und sah mir über die Schulter.

„Ich dachte nur ...“, meinte ich und konzentrierte mich wieder auf seine Nägel. Auch die anderen Finger waren schnell bemalt, doch das Ergebnis ließ zu wünschen übrig.

„Sieht ja suuuper aus ...“, beschwerte er sich und entzog mir seine Hand, um sich das Ergebnis genauer anzusehen. Dabei nahm er mich fast in den Schwitzkasten.

„Na, ich muss ja auch noch üben. Gib mir mal deine andere Hand. Der Nagellack dürfte schon trocken sein. Der ist mit so einer Schnelltrocknungsformel versehen.“ Ich nahm seine noch unbemalte Hand an mich und legte das Taschentuch auf meine andere Kniescheibe, wo ich seine Hand platzierte.

„Was es nicht alles gibt.“ Henry prüfte seine Fingernägel und wischte mit seinem Daumen über die anderen Finger.

„Tatsächlich. Wie Sekundenkleber.“ Henry schien überrascht zu sein. Er schielte wieder über meine Schulter und beobachtete meine Lackierkünste.

„Du machst das doch ganz falsch“, monierte er meinen Versuch.

„Bitte?“ Plötzlich schlang Henry seine Hand um meinen Bauch und zog mich näher an sich. Er legte seinen Kopf auf meine Schulter, griff mit seiner noch unbemalten Hand in meine Kniekehle und hob mein Bein so an.

„Sonst ruinierst du dir noch deinen Rücken“, sagte er ganz ruhig, was ich nur selten von ihm kannte. Meistens reagierte er so besonnen, so … so ganz anders nur, wenn er auf seiner Gitarre spielte oder an einem Songtext schrieb. Oft war er einfach nur albern, ärgerte mich oder wirkte gedankenverloren.

„Wie rücksichtsvoll von dir“, meinte ich und nahm nun wieder seine Hand. Ich übte mit dem nächsten Fingernagel weiter, doch Henry nahm seine Hand nicht von meinem Bauch. Irgendwie war das eine seltsame Situation. Eigentlich lag ich ja schon fast in seinen Armen. Er hielt mich fest, ich konnte seine Wärme spüren und seinen Atem auf meiner Haut. Es machte mich nervös, obwohl ich das gar nicht wollte. Warum machte Henry mich plötzlich so unsicher? Nun fing auch noch meine Hand an zu zittern. Irgendwie war das alles zu viel auf einmal. So viel plötzliche Nähe. Seine Art, wie er mich in Besitz nahm, durch einfachste Gesten. Durch seine Stimme, die so verändert klang.

„Alles okay?“, fragte er plötzlich. Ich erschrak und merkte, dass ich gar nichts mehr getan hatte.

„Äh, ja, ich überlege nur“, meinte ich knapp und versuchte mich anders hinzusetzen. Ich wollte sehen, ob Henry mich auch dann noch weiter festhalten würde. Er zog mich aber einfach in seine Arme zurück und ich landete wieder mit meinem Rücken an seiner Brust. Was war denn nur los? So etwas hatte er früher nie getan. Was sollte das? Warum saß ich überhaupt hier und übte nicht an meinen eigenen Fingern? Wenn ich mir später meine Nägel lackieren wollte, musste ich das doch auch an meinen Fingern machen … Wie kam ich nur auf die Idee, an Henry üben zu wollen?

„Ich glaube, das reicht. Ich hole dir den Nagellackentferner“, meinte ich und entzog mich seiner Umarmung. Er ließ sofort von mir ab und ich sah aus den Augenwinkeln, wie er skeptisch seine bemalte Hand betrachtete.

„Also eins ist sicher. Es wird immer, immer uncool sein, wenn Männer Nagellack tragen. Das sieht einfach komisch aus.“ Henry schien wieder er selbst zu sein. Oder war er das schon die ganze Zeit über gewesen? Hatte ich mir das alles nur eingebildet? Ich beobachtete ihn eine Weile, bis er mich fragend ansah.

„Also Daniel aus der Parallelklasse, der trägt Nagellack. Nur nach der Schule natürlich. Er schminkt sich dann die Augen schwarz und trägt so Lederarmbänder. Das sieht richtig cool aus.“ Daniel war schon süß, auf eine seltsame Art und Weise. Ganz anders als Henry oder Christian. Daniel war so der unnahbare Typ, der schweigend und lesend in den Pausen dasaß und mit niemandem redete. Das hatte schon etwas. Christian war der Coole. Beliebt, ordentlich gekleidet, aus gutem familiärem Umfeld. Er spielte Fußball und hatte dieses unglaublich süße Lächeln. Ich musste seufzen, als ich daran dachte, dass dieser tolle Junge noch heute Abend auf meiner Geburtstagsfeier auftauchen würde. Ach ja. Und da war Henry. Mein bester Freund. Kumpeltyp. Witzig, lustig. Er war eher der Skatertyp, der zwar mit seinen Jungs Basketball spielte, aber auch oft im Park abhing und die Bahnen besetzte, auf denen sie fuhren. Manchmal trug er ein Basecap und oft hing seine Hose eine Etage zu tief, sodass seine Boxershorts herauslugten. Ich vertraute ihm voll und ganz. Und doch machte er mich plötzlich so nervös. Für einen winzigen Augenblick war da wieder die Erinnerung, dass ich ja mal in ihn verliebt gewesen war. Aber nur für den Hauch einer Sekunde. Da war ja mal was. Es war Jahre her, doch damals wäre ich einfach in seinen Armen liegen geblieben und hätte mich nicht so plötzlich davongestohlen, um nach einem Nagellackentferner zu suchen. Damals, vor fast drei Jahren, ließ ich keine Gelegenheit aus, um mich ihm zu nähern oder ihn zu berühren.

„Gefunden!“, rief ich und setzte mich wieder neben ihn.

„Meine Rettung!“ Henry lachte und gab etwas von der klaren Flüssigkeit auf ein zweites Taschentuch, um sich damit die Fingernägel zu säubern. Ich beobachtete ihn dabei und bekam erneut dieses Bauchkribbeln. Waren das Bauchschmerzen? Wurde ich krank? Hatte ich Hunger? Es durften keinesfalls alte Gefühle sein! Henry wollte nichts von mir. Ich interpretierte einfach viel zu viel in sein Verhalten hinein. Wir waren die besten Freunde und das sollte auch so bleiben. Ich brauchte Henry um mich herum … und das durfte ich keinesfalls kaputt machen, nur weil ich glaubte, in ihn verliebt zu sein. Da war nichts. Da durfte nichts sein!

„Wir sollten was essen. Amy und Louise wollten zwar gegen fünf kommen, aber bis dahin bin ich verhungert. Worauf hast du Hunger?“, fragte ich ihn. Es war sicher nur mein Magen. Wenn ich erst einmal etwas gegessen hätte, würde dieses komische Kribbeln auch wieder verschwinden.

„Mh. Pizza oder was mit Nudeln? Eis? Ich wette, deine Mutter hat noch etwas im Kühlschrank gebunkert.“ Henry roch an seinen sauberen Fingernägeln und verzog das Gesicht.

„Jetzt musst du sie noch ordentlich mit Seife waschen ...“ Ich begann zu lachen und stand auf. „Mom hat noch eine Schokoladentorte und einen Nusskuchen gemacht, die stehen auch im Kühlschrank, werden aber erst um Mitternacht angeschnitten und dann werde ich sie komplett aufessen!“ Ich untermalte meinen Entschluss mit einem breiten Grinsen. Henry stand auf und verschwand im Badezimmer. Ich hörte nur noch, wie er den Wasserhahn aufdrehte. In der Küche öffnete ich den Kühlschrank. Es gab so ziemlich alles. Ich liebte dieses große Teil! Salat, Gemüse, Fleisch, Reste vom Abendessen … meine Mutter kaufte so viel ein, dass immer etwas da war.

„Oh, sehr gut!“ Ich holte ein paar Plastikdosen heraus, in denen sich die Reste des gestrigen Abendessens befanden, die Mom fein säuberlich getrennt verpackt hatte.

„Oha, Dosenfutter?“, fragte Henry, der plötzlich neben mir stand.

„Reste von gestern. Es gab Steak mit Bratkartoffeln und Salat.“ Ich öffnete die Dosen und hielt sie Henry unter die Nase. „Muss nur noch mal angebraten werden. Du liebst doch Steaks?“

Henry weitete seine Augen, grinste die Fleischstücke an und rieb sich die Hände.

„Sehr gut, ich mach das schon!“, meinte er, ging dabei zielstrebig auf die Kochplatten zu und griff sich eine Pfanne und das Öl.

„Du bist meine Rettung!“ Ich stellte ihm die geöffneten Plastikdosen neben die Herdplatten und nahm selbst Platz auf einem der Barhocker, um ihm beim Kochen zuzusehen.

„Schon klar. Wenn du das machst, dann bleibt nur noch Holzkohle übrig und wir haben die Feuerwehr vor der Tür stehen.“ Henry lachte laut los und wich gekonnt meinem Angriff aus, als ich spielerisch mit einem Geschirrtuch nach ihm schlug.

„Das ist nur einmal passiert! Einmal!“ Ja, das war schon was gewesen, als ich vor einigen Jahren selbst gekocht hatte. Damals war ich zehn Jahre alt gewesen und hatte mir Nudeln machen wollen. Ich war nur kurz in mein Zimmer gegangen, als die Nudeln kochten und hatte nicht mitbekommen, wie das Wasser allmählich verkocht war. Die Nudeln waren angebrannt und der Topflappen, der damals noch direkt an der Wand neben den Herdplatten hing, hatte Feuer gefangen. Innerhalb kürzester Zeit hatte ein Teil der Küchenfront in Flammen gestanden. Meine Eltern waren zu dem Zeitpunkt bei den Nachbarn zu Besuch und Henry war gerade zu mir gekommen.

„Das war das pure Chaos“, flüsterte ich. Meine Eltern waren mit den Nachbarn angerannt gekommen, da wir damals keinen Feuerlöscher in der Küche hatten. Henry hatte sie geholt.

„Ohne dich wäre das Haus wohl abgefackelt“, meinte ich ein wenig kleinlaut.

„Du meinst wohl, ohne die Feuerwehr? Die haben ja den Rest der Küchenzeile gelöscht.“

„Ich musste vier Wochen Hausarrest absitzen. Das war furchtbar. Und ich musste jedes Wochenende zur Feuerwehr und mir dort alles Mögliche erklären lassen.“ Ich stützte meinen Kopf auf meine Hand und lächelte.

„Meine Mutter hat geweint, weil sie solche Angst um mich hatte.“ Die Erinnerungen daran stimmten mich traurig, denn ich sah alles noch genau vor mir. Ich lächelte und sah dann zu Henry auf, der auf mich zukam. Er boxte mir sanft gegen den Oberarm.

„Und genau deswegen lasse ich dich nicht mehr aus den Augen. Wer weiß, was du als Nächstes anzündest. Ich werde ganz genau aufpassen, wenn wir heute Nacht die Kerzen anstecken.“ Er grinste frech und boxte mich abermals sanft.

„Schon gut, schon gut!“ Ich musste lachen und boxte ihn zurück, allerdings mit mehr Kraft. Henry hatte muskulöse Oberarme. Nicht so richtig wie ein Bodybuilder, aber gut definiert. Ihm machte es nichts aus, wenn ich mit meiner kleinen Hand zuhaute. Ob er das überhaupt merkte? Ich boxte ihn noch einmal.

„Hey, hey! Was wird das denn?“, beschwerte er sich.

„Lass mich doch. Als ob du das merken würdest.“ Ich begann ihn zu zwicken und zog ihn an seinem T-Shirt zu mir, um ihn besser treffen zu können. Wir lachten und ich fühlte mich gar nicht mehr traurig.

„Das tut ganz schön weh! Au! Hey!“ Er versuchte meinen Faustschlägen auszuweichen und hielt plötzlich meine Handgelenke fest.

„Du hast ganz schön Kraft“, sagte Henry. Er hielt mich nur ganz vorsichtig fest, sodass ich mich jederzeit hätte losreißen können, doch irgendwie wollte ich das gar nicht. Henry bekam plötzlich wieder diesen Blick, diese Stimmlage, die mich komplett aus dem Konzept brachte. Das ging schon seit einigen Wochen so, dass mich solche Situationen aus der Bahn warfen. Und jetzt sah er mich wieder so an. Schon das zweite Mal heute.

„Stell dich nicht so an“, meinte ich dann und entzog mich vorsichtig seinem Griff. „Als ob du das überhaupt gespürt hättest.“

Ich stützte mich erneut an der Kücheninsel ab und beobachtete ihn weiter, wie er die Steaks in der Pfanne wendete und die Bratkartoffeln ins heiße Öl gab.

„Du bist das stärkste Mädchen, das ich kenne. Die anderen kratzen immer. Aber du kannst ganz schön zuhauen.“ Henry rieb sich spielerisch seinen Oberarm und für einen kurzen Moment glaubte ich wirklich, ihm wehgetan zu haben.

„Okay, so schlimm war es auch nicht. Du bist halt nur ein Mädchen. Klein und schwach. Du brauchst einen Beschützer. Jemanden, der sich für dich prügeln würde.“ Dabei schwenkte er den Pfannenwender und wirkte wie ein Professor in einer Vorlesung.

„He!“ Ich hob mein Bein und stupste ihm leicht mit meinem Fuß gegen die Hüfte.

„Uah!“ Er ging theatralisch zu Boden und spielte den Verletzten.

„Sehr witzig!“ Ich stand auf und stellte mich über ihn, entriss ihm den Pfannenwender und hielt diesen wie ein Zepter triumphierend in die Höhe.

„So, das hast du jetzt davon. Küchenverbot! Setz dich hin, ich mache den Rest.“ Ich stellte mich an den Herd und wendete die Bratkartoffeln noch ein paar Mal, bevor Henry aufstand.

„Was bist du denn so rot im Gesicht?“, fragte ich ihn, doch er eilte schnell zum Küchenschrank, um zwei Teller herauszuholen.

„Rot? Ich doch nicht!“ Er drehte sich von mir weg und stellte die Teller auf den Tisch.

„Du bist knallrot. Hab ich dir vielleicht doch wehgetan?“ Mein Herz schlug schneller. Verletzen wollte ich ihn wirklich nicht!

„Ach was!“ Er grinste mich an und klopfte mir auf die Schulter. „Diesen Tag wird es nie geben. Vielleicht nur der Kreislauf“, sagte er mit ruhiger Stimme und strubbelte durch mein Haar.

„Ah!“ Ich schrie auf, denn es hatte eigentlich bis zu diesem Zeitpunkt perfekt gelegen. „Henry!“, rief ich empört und versuchte, meine Frisur wieder zu richten. Er flüchtete um die Kücheninsel herum und lachte mich aus.

„Na warte!“ Ich wollte ihm schon nachrennen, aber dann besann ich mich und ging zurück an den Herd.