Hidden Legacy - Rubinglut - Ilona Andrews - E-Book

Hidden Legacy - Rubinglut E-Book

Ilona Andrews

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Beschreibung

Eine Welt voller Magie und Gefahren!

Eine entlaufene Spinne, die unerwartete Ankunft eines russischen Prinzen, die Ermordung einer mächtigen Persönlichkeit, ein erschreckender Angriff auf den angeblich unbesiegbaren Hüter von Texas, der Catalinas Boss ist ... und es ist gerade mal Montag!

Plötzlich liegt das Schicksal von Houston - und das des Hauses Baylor - allein in Catalinas Händen und sie muss all ihre Kräfte sammeln, um der Bedrohung entgegenzutreten. Doch selbst mit ihrem Verlobten Alessandro Sagredo an ihrer Seite erscheint ihre Aufgabe schier unlösbar - kann sie die Verantwortlichen entlarven, bevor alles in Chaos versinkt?

Band 6 der Hidden-Legacy-Reihe

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Prolog

1

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4

5

6

7

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9

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18

Epilog

Die Autorin

Die Romane von Ilona Andrews bei LYX

Impressum

ILONA ANDREWS

Hidden Legacy

RUBINGLUT

Ins Deutsche übertragen von Marcel Aubron-Bülles

Zu diesem Buch

Eine entlaufene Spinne, die unerwartete Ankunft eines russischen Prinzen, die Ermordung einer mächtigen Persönlichkeit, ein erschreckender Angriff auf den angeblich unbesiegbaren Hüter von Texas, der Catalinas Boss ist … und es ist gerade mal Montag!

Plötzlich liegt das Schicksal von Houston – und das des Hauses Baylor – allein in Catalinas Händen und sie muss all ihre Kräfte sammeln, um der Bedrohung entgegenzutreten. Doch selbst mit ihrem Verlobten Alessandro Sagredo an ihrer Seite erscheint ihre Aufgabe schier unlösbar – kann sie die Verantwortlichen entlarven, bevor alles im Chaos versinkt?

Prolog

»Spukt es dort?«

Oh, um Himmels willen … »Nein, Arabella.«

Meine Schwester bedachte das ungeheure Anwesen mit einem kritischen Blick, während der SUV die sanft ansteigende Zufahrt entlangraste. »Schau dir all diese Türme an. Das sieht doch aus, als ob es dort spuken würde.«

»Tut es aber nicht«, sagte Bernard.

»Woher weißt du, dass es da keine Geister gibt?«, erkundigte sich Leon vom Rücksitz aus.

Weil Geister nicht existierten. »Weil Trudy eine nette Person ist, ich sie mag und sie nicht zulassen würde, dass wir ein Haus voller Geister kaufen.«

»Ja«, sagte Arabella. »Aber hast du sie konkret dazu befragt?«

»Habe ich, und Trudy hat Nein gesagt.« Unsere arme, leidgeprüfte Immobilienmaklerin hatte wahrscheinlich in den letzten Monaten häufiger abstruse Fragen beantworten müssen als in ihrer bisherigen Karriere zusammengenommen.

Meine kleine Schwester zückte ihr Handy und beugte ihren blonden Kopf darüber.

Die gesamte Familie Baylor befand sich bei mir im Wagen, abgesehen von Oma Frida, meiner älteren Schwester und meinem Schwager. Wir waren unterwegs, um ein Haus zu kaufen.

Als ich sehr jung war, lebten wir in einem Haus, das ganz typisch für die Vorstadt war. Da waren wir nur zu fünft gewesen: mein Dad, meine Mom, meine ältere Schwester Nevada, meine jüngere Schwester Arabella und ich. Dann zogen unsere beiden Cousins ein, Bernard und Leon – denn ihre Mutter hatte diese Bezeichnung mitnichten verdient, und niemand wusste, wer eigentlich ihre Väter waren. Dann wurde Dad krank. Wir verkauften das Haus, um für seine Behandlung aufkommen zu können, und zogen mit Oma Frida in ein Lagerhaus. Dad starb. Nevada, die damals siebzehn gewesen war, übernahm die Leitung unseres Familienunternehmens, der Baylor Investigative Agency, und sie und Oma Frida arbeiteten an Panzern und Panzerartillerie für die magische Elite Texas’, um uns ernähren und einkleiden zu können.

Schließlich zeigte sich Nevadas magische Begabung, und wir wurden zu Haus Baylor, einer der bekanntesten Familien, die über zwei lebende Hochbegabte verfügten, der höchsten Stufe aller magisch Begabten. Nevada verliebte sich und zog aus, was mich zur Herrin des Hauses machte. Eine meiner ersten herausragenden Leistungen war es, das Lagerhaus, das uns als Zuhause diente, in die Luft zu jagen. Dass diese Explosion bloß totaler Zufall war, konnte nichts an der Tatsache ändern, dass wir kein Dach mehr über dem Kopf hatten und auch nicht, wie schuldig ich mich deswegen fühlte.

Eine Zeitlang hatten wir uns mit einem alten Industriegebäude beholfen, das wir irgendwie bewohnbar gemacht hatten, aber jeder hasste es dort. Unsere Bedürfnisse hatten sich verändert. Wir waren nun alle erwachsen, sogar meine kleine Schwester. Wir wollten zusammenbleiben, nicht nur, weil wir uns liebten, sondern weil Haus Baylor ein neues, junges Haus war und wir jedes Mal, wenn wir das Gebäude verließen, ein unsichtbares Fadenkreuz auf dem Rücken trugen. In unserem Fall traf der Satz »zu mehreren ist man sicherer« wortwörtlich zu. Aber jeder von uns brauchte seine Privatsphäre.

Wir wollten zusammenwohnen, doch nicht auf engstem Raum zusammengepfercht sein.

Ein Haus in der geeigneten Preislage für uns zu finden dauerte ewig, aber ich hatte all meine Hoffnungen auf dieses hier gesetzt. Es gefiel mir richtig gut.

»Ich habe gehört, dass Makler angeben müssen, wenn es in einem Haus spukt«, wandte Leon ein.

Ich warf Mom einen Blick zu, die den Wagen fuhr. Sie schenkte mir ein amüsiertes Lächeln. Von ihr war keine Hilfe zu erwarten.

»Anscheinend ist es nur in vier Bundesstaaten vorgeschrieben, dass paranormale Aktivitäten offengelegt werden müssen«, meldete sich Arabella. »In neun Bundesstaaten muss dem Käufer mitgeteilt werden, wenn es auf dem Anwesen einen Todesfall gegeben hat. In Texas muss man gar nichts.«

»Auf dem Anwesen gab es keine Todesfälle. Und in dem Haus selbst ist auch niemand gestorben, also kann es hier nicht spuken«, sagte ich zu ihnen.

»Woher willst du wissen, dass niemand gestorben ist?«, fragte Leon.

»Weil ich die Archive durchgegangen bin«, knurrte Bernard.

»Was nichts zu bedeuten hat«, sagte Arabella.

Es war offensichtlich, dass es in diesem Fahrzeug zwei Teams gab: Team Wir-glauben-an-die-Fakten und Team Fakten-sind-uns-egal.

»Was, wenn sie es geheim gehalten haben?«, fragte Leon.

Bernard bedachte seinen jüngeren Bruder mit einem säuerlichen Blick. Wenn es darum ging, Fakten ausfindig zu machen, gab es niemand Besseren als Bernard. Wenn es zu irgendetwas einen Eintrag gab und dieser Eintrag irgendwo in einen Computer eingegeben worden war, der am Internet hing, dann würde er ihn finden.

Wir hatten die Zufahrt hinter uns gelassen und kamen auf einem niedrigen Hügel zum Stehen. Mom musterte die drei Meter hohe Mauer, die das Anwesen umgab. Direkt vor uns erhob sich ein kurzer, gewölbter Tunnel, durch den wir das Innengelände erreichen konnten. Normalerweise war dieser Zugang durch ein schweres Metalltor versperrt, das aber jetzt in der Mauer zu unserer Linken verschwunden war. Auf der rechten Seite befand sich ein Wachhaus, das in die Mauer eingelassen war.

»Das wirkt ziemlich sicher«, sagte Mom.

»Mir gefällt’s«, kommentierte Leon. »Wenn die Ungläubigen sich entscheiden, unsere Mauern erstürmen zu wollen, dann können wir sie mit Pfeilhagel und kochendem Pech willkommen heißen.«

Ha. Ha.

Mom steuerte unseren gepanzerten Chevy Tahoe vorsichtig durch die Durchfahrt und auf den Parkplatz rechts dahinter. Alessandros silberfarbener Alfa Romeo stand bereits auf einem der Parkplätze.

Wir alle wuchteten uns aus dem Wagen. Eine breite, gepflasterte Straße führte, von ausladenden alten Eichen flankiert, geradeaus nach Süden zum Hauptgebäude. Rechts von uns stand ein großes Gartenhaus mit hohen Fenstern, dessen Mauerwerk von dicken Holzbalken durchzogen war.

Mom nickte in Richtung des Gebäudes. »Was ist das denn?«

»Das ist ein Hochzeitspavillon. Die Balken im Inneren sehen wirklich hübsch aus. Ich dachte mir, wenn wir es vernünftig dämmen, dann könnten wir es als unser Bürogebäude nutzen.«

Leon runzelte die Stirn. »Du meinst sowas wie ein eigenes Bürogebäude. Eins, wo wir erst unserem Geschäft nachgehen, und dann nach Hause gehen und nicht gleichzeitig auf der Arbeit sind? Es gibt Leute, die so was haben?«

Ich seufzte.

»Leon«, sagte Mom. »Alessandro und Catalina haben die beiden letzten Wochen damit verbracht, den Ort komplett prüfen zu lassen. Sie hat kaum geschlafen und praktisch nichts gegessen. Soweit ich mich erinnere, hat außer Bernard niemand von euch geholfen. Wie wäre es, wenn du die nächste Stunde deinen messerscharfen Verstand ein bisschen zurücknimmst und etwas weniger du selbst bist?«

»Jawohl, Ma’am.« Leon nahm Haltung an und versuchte, ernst zu wirken. Das würde zwar nicht ewig so bleiben, aber zumindest versuchte er es. Mein jüngerer Cousin war gerade mal zwanzig, und er zeigte nicht das geringste Interesse daran, sich jemals zu ändern. Und das war für mich völlig in Ordnung. Ich mochte Leon so, wie er war.

Mom bedachte das zweistöckige, rechteckige Gebäude auf der anderen Seite der Zufahrt mit einem misstrauischen Blick. »Und das da?«

»›Cuartel‹«, sagte ich. »Laut dem Immobilienangebot.«

Sie hob ihre Augenbrauen. »Eine Kaserne?«

»Ja. Unten befinden sich die Küche, die Kantine und die Waffenkammer. Oben ist Platz für zehn Betten und ein Bad, in dem sich vier Toilettenkabinen und drei Duschen befinden.«

»Hmmm.«

Normalerweise hatte ich nie ein Problem damit, Moms »Hmmms« zu deuten, aber hier und jetzt hatte ich nicht die geringste Ahnung, was sie sich dachte.

Wir spazierten die Zufahrt entlang. Zu beiden Seiten der Eichenallee erstreckte sich eine zugewucherte Zierhecke, die den Rest des Anwesens vor Blicken schützte. Die Bäume streckten sich über unseren Köpfen ihre Äste entgegen, und die Zufahrt entlangzugehen fühlte sich an, als beträte man einen grünen Tunnel.

»Nette Zufahrt«, meinte Leon.

»Genieße diesen ersten Eindruck«, sagte ich zu ihm. »Das ist die einzige gerade Straße auf diesem Anwesen.«

»Wie viel Hektar Fläche haben wir hier nochmal?«, fragte Mom.

»Neuneinhalb«, sagte Bernard, der uns voran ging. »Sechseinhalb sind ummauert, der Rest mit Wildzäunen umgeben.«

»Wir werden die Ummauerung abschließen müssen«, meinte Mom.

»Frage!« Arabella hob ihre Hand. »Wenn wir das hier kaufen, kann ich dann einen Golfwagen haben?«

»Du kannst dir einen Golfwagen von deinem eigenen Geld kaufen«, sagte Mom.

Die Zufahrt führte uns schließlich auf den großen Vorplatz einer zweistöckigen Villa im mediterranen Stil.

»Das Haupthaus hat eine Wohnfläche von gut vierhundertfünfzig Quadratmetern«, sagte ich. »Das untere Stockwerk ist in zwei Flügel aufgeteilt. In beiden Flügeln befindet sich ein großes Schlafzimmer. Oben sind vier Schlafzimmer, alle mit Bad und WC.«

»Vier Schlafzimmer?«, fragte Arabella. »Das heißt, Mom und Oma können unten wohnen, und wir ziehen nach oben?«

Es wäre eine maßlose Untertreibung gewesen, ihren Tonfall als unbeeindruckt zu bezeichnen.

»Das könnten wir tun«, sagte ich, »oder wir könnten in die Nebengebäude ziehen.«

Arabella sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Welche Nebengebäude?«

Ich drehte mich mit dem Rücken zur Villa und gestikulierte mit beiden Händen in die andere Richtung.

Die Familie wandte sich um. Zu beiden Seiten der Zufahrt erstreckte sich ein Labyrinth aus Gebäuden und Grün, getrennt durch gepflegte Hecken. Zu unserer Linken erhob sich ein dreistöckiger, runder Turm. Zur Rechten standen zwei zweistöckige Gästehäuser, die durch die Landschaftsgestaltung halb verborgen waren. Beide hatten eine Fläche von hundertfünfzig Quadratmetern und waren im ersten Stock durch einen Übergang miteinander verbunden. Zwischen all diesen Gebäuden lagen Gärten, standen Bänke und Gartenlauben, und Wasserspiele plätscherten munter vor sich hin. Steinpfade, die anscheinend ein betrunkener Seemann entworfen hatte, versuchten Verbindungspfade zu sein und scheiterten zumeist.

Leon musterte den Turm. Er hatte diesen verträumten Blick, der normalerweise bedeutete, dass er an fliegende Schiffe, geflügelte Wale und blutrünstige Weltraumpiraten dachte. »Meins.«

»An dem muss noch einiges erledigt werden«, warnte ich ihn.

»Das ist mir egal.«

Bernard trat einen Schritt vor und sagte in seiner grollenden Stimme: »Mir gefällt es hier.« Er hielt einen Augenblick inne, um alles auf sich wirken zu lassen, und bog dann nach rechts auf einen der Steinpfade ab, der in die ungefähre Richtung eines der Gästehäuser führte.

»Wo gehst du hin?«, rief Mom ihm hinterher.

»Nach Hause«, rief er zurück, ohne sich umzudrehen.

Sie sah mich an. »Mag Runa diese Gästehäuser?«

Ich nickte.

Mein ältester Cousin und meine beste Freundin bewegten sich langsam, aber sicher, auf eine Hochzeit zu. Runa und ihre Geschwister wohnten bei uns, und es fiel uns allen immer schwerer, Runa morgens zu ignorieren, wenn sie sich aus Bernards Zimmer über den Flur zum Badezimmer schlich.

Ich konnte ihre Situation nur zu gut nachempfinden. Alessandro und ich schliefen jede Nacht im selben Bett, aber uns beiden war aus unterschiedlichen Gründen der Gedanken peinlich, dass er in mein Zimmer ziehen könnte. Also entschlossen wir uns, im Nebengebäude zu bleiben und das Fenster offen stehen zu lassen. Es war ihm tausendmal lieber, durch dieses Fenster zu klettern, als ein ständiger Spießrutenlauf an meiner Familie vorbei, bloß um an meine Tür klopfen zu können.

»Wo komme ich denn unter?«, fragte Arabella. »Ziehe ich auch in eins der Gästehäuser ein?«

»Ich glaube, die sind schon vergeben«, sagte Mom, die zusah, wie Bernard sein Tempo erheblich anzog. »Bernard und Runa bekommen eins, und die Kinder der Ettersons werden wohl die restlichen beanspruchen.«

»Hinter dem Hauptgebäude befindet sich eine große Hütte«, informierte ich Arabella. »Du kannst dort wohnen.«

Sie stapfte um das Gebäude herum. Mom und ich folgten auf dem schmalen Pfad, der von Cordia boissieri und gelben Trompetenblumen eingerahmt war, die noch ihre letzten Blüten trugen. Unterbrochen wurde das Ensemble immer wieder von üppigen Büscheln aus Schusterpalmen mit ihren breiten grünen Blättern.

»Also dürfen sich Bernard und Leon ihre Wohnungen aussuchen, und ich muss mich mit dem Rest zufriedengeben«, rief Arabella uns über die Schulter zu.

»Jepp.« Ich nickte. »Du bist die Jüngste.«

Sie fluchte leise. Sie zu quälen war einfach großartig.

»Was hattest du gesagt, was dieses Anwesen früher mal war?«, fragte Mom.

»Ein Urlaubshotel, das pleitegegangen ist. Die ersten Besitzer haben das Hauptgebäude errichtet, Leons Turm und das größere Gästehaus. Dann haben sie das Anwesen an einen Mann verkauft, der sich entschloss, das hier in ein ›rustikales‹ Hotel für Hochbegabte und Begabte zu verwandeln. Auf seiner Webseite hat er es als ›Refugium auf dem Lande für die Elite Houstons‹ bezeichnet.«

Arabella lachte schnaubend.

»Das hier hat ihm ungefähr zwölf Jahre lang gehört, und er hat all diese Nebengebäude dazugepackt. Irgendwann ist ihm dann das Geschäft weggebrochen, und er versucht jetzt das Anwesen loszuwerden, um seine Schulden zu begleichen.«

Nichts an dem, was wir vor uns sahen, folgte irgendeiner Logik. Was das Ganze noch schlimmer machte, war, dass der zweite Besitzer sich für handwerklich äußerst geschickt gehalten und einen großen Teil der Renovierungen und Instandhaltungsarbeiten selbst erledigt hatte, anstelle dafür Fachkräfte anzuheuern. Laut der Aussage unseres Bauinspektors war es mit seiner Geschicklichkeit allerdings nicht so weit her.

»Wie viel will er für alles haben?«, fragte Arabella.

»Zwanzig Millionen.«

»Das sprengt unser Budget«, sagte Mom.

»Nicht, wenn wir dafür eine Finanzierung geklärt bekommen«, erwiderte ich. Wir hatten bereits bei einer Hypothekenbank, die Connor gehörte, einen Antrag gestellt und das Anliegen war in Rekordzeit durchgewunken worden.

»Wir können es uns leisten, die Hälfte anzuzahlen«, warf Arabella ein. »Aber das hier ist keine zwanzig Millionen wert. Ich meine, ich bekomme ja nicht mal ein Haus. Ich muss in eine Hütte ziehen …«

Wir bogen um die Ecke, der Pfad wurde breiter, und wir traten auf eine freie Fläche hinaus. Vor uns erstreckte sich eine Steinterrasse, die sich um einen riesigen Rechteckpool legte. Hinter der beeindruckend weitläufigen Wasserfläche verjüngte sich die Terrasse zu einem langen Steinpfad, der zu dem über 16 000 Quadratmeter großen See führte. Zwischen Swimmingpool und See erhob sich rechts ein weiterer dreistöckiger Turm.

Während Leons Wohnsitz aussah, als ob man ihn einer normannischen Burg entrissen hätte, passte der Turm vor uns zweifellos an den Strand von Palm Beach. Schlank, weiß, mit überdachten Balkonen in den oberen beiden Stockwerken und einer Sonnenterrasse auf dem Dach. Der Anblick schrie geradezu »Urlaub«. Vom zweiten Stock aus führte ein überdachter Übergang zum Hauptgebäude. Im Vergleich zu allen anderen Gebäuden auf dem Anwesen war dies das neueste, und hier musste am wenigsten getan werden, um es wieder bewohnbar zu machen.

»Deine Hütte«, eröffnete ich ihr.

Arabella rannte über die Terrasse.

Mom und ich spazierten am Swimmingpool vorbei zum Seeufer. Eine Laufstrecke zog sich um das Gewässer, und die Dächer von drei weiteren Häusern lugten an mehreren Stellen aus dem Grün hervor.

»Der südliche Eingang befindet sich dort.« Ich deutete auf das andere Ende des Sees. »Wir können Omas Werkstatt da unterbringen, in Richtung der Straße.« Wir würden ihr einen Golfwagen für den Weg dorthin besorgen müssen. Oma Frida war zwar rüstig, aber doch schon jenseits der siebzig.

»Können wir uns das hier wirklich leisten?«, fragte Mom.

»Ja. Wenn wir fünfundzwanzig Prozent der Gesamtsumme anzahlen, dann haben wir immer noch genug, um die Geschäftskosten für ein Jahr zu stemmen, und eine halbe Million übrig, um die Renovierungen machen zu lassen. Wir müssen die Reparaturen schrittweise angehen; und wir sollten in Viehbestand investieren, um dadurch Steuerersparnisse zu erhalten. Das Anwesen ist bereits mit Solarpaneelen ausgestattet, damit können wir schon Geld sparen. Aber wir brauchen trotzdem für die Gärten und den Hof Leute und wahrscheinlich auch einen Reinigungsservice.«

Mom reagierte gereizt. »Ich habe noch nie jemanden gebraucht, der für mich das Haus führt. Wenn du alt genug bist, um dir dein eigenes Haus zu leisten, dann bist du auch alt genug, es selbst in Ordnung zu halten.«

»Ich bin ganz deiner Meinung, aber das Hauptgebäude ist riesig, und da sind noch die Kaserne und die Büros. Wir werden alle unglaublich beschäftigt sein und haben eine Horde Leute zu beaufsichtigen. Wir treffen Entscheidungen zu den Renovierungen, und dann müssen wir uns auch noch um unsere Fälle kümmern. Mal ganz abgesehen von der anderen Sache …«

Ich konnte schlichtweg nicht mehr frei über meine Zeit verfügen. Einen kleinen Block konnte ich meiner Familie und der Leitung unseres Hauses widmen, aber der wesentlich größere Teil gehörte nun dem Staate Texas und den komplizierten Irrungen und Wirrungen, die nur magische Familien verursachen konnten.

Arabella platzte auf den Balkon im zweiten Stock. »Gefällt es mir hier? Nein, ganz und gar nicht. Ich liebe es hier!«

Mom grinste. »Tja, ihre Stimme hast du schon mal. Wo kommen Alessandro und du unter?«

»Da drüben.« Ich deutete nach links auf ein zweistöckiges Haus am See. »Er ist wahrscheinlich gerade dort. Soll ich dir noch das Hauptgebäude zeigen?«

Mom winkte ab. »Ich komm allein zurecht. Kümmere dich um ihn.«

Ich umarmte sie kurz und ging dann die Treppe hinunter, die von der Terrasse zu dem Pfad führte, der mich zu dem zweistöckigen Haus brachte, das Alessandro und ich für uns ausgesucht hatten.

Hoffentlich war er noch dort. Ich hatte ihm eine Nachricht geschickt, als wir auf dem Anwesen angekommen waren, aber er hatte mir nicht geantwortet. Vielleicht war er einfach eingeschlafen.

In unserer Welt besaßen Hochbegabte eine unglaubliche Macht. Selbst diejenigen, die nur mit durchschnittlichen Kräften ausgestattet waren, konnten erhebliche Verheerungen anrichten, vor allem, wenn ihre Fähigkeiten dem Kampf dienten. Niemand wollte das Chaos haben, das unweigerlich ausbrechen würde, ließe man magisch Begabte ohne jegliche Kontrolle herumlaufen. Auch wenn alle dem Gesetz unterlagen, so überließen die zivilen Behörden im Fall magischer Begabter die Durchsetzung des Rechts der magischen Gemeinschaft. Die magisch Begabten in jedem Bundesstaat wurden durch eine Kongregation regiert, die sich wiederum der Nationalkongregation gegenüber verantwortlich zeichnete.

Die Nationalkongregation ernannte für jeden Bundesstaat einen Wächter, eine einzelne Ordnungskraft, deren Identität aus offensichtlichen Gründen geheim gehalten wurde. Die Wächter untersuchten die Verbrechen, die die magische Elite beging, und sprachen in einigen Fällen auch direkt das Urteil. Der Name unseres Wächters war Linus Duncan, ich diente ihm als Stellvertreterin, und Alessandro war die Schildwache, unser Leibwächter. Die Schildwachen waren für die Wächter, was ein Gerichtsdiener für einen Richter war. Während die Wächter einen Fall untersuchten, wurden sie durch die Schildwachen geschützt, die dann Gewalt einsetzten, wenn Gewalt nötig war. Alessandro war wie ich stets auf Abruf, und Linus nahm ihn häufig in Anspruch.

Was das Ganze für Alessandro so anstrengend machte, war, dass er – seiner Ansicht nach – nur seine Fähigkeiten und sich selbst in unsere Beziehung einbringen konnte, weshalb er sich vollkommen unserem Familienunternehmen verschrieben hatte. Er war intelligent, er war effizient, und er hatte unser Einkommen eigenhändig um fast dreißig Prozent gesteigert, was auch dazu geführt hatte, dass wir die Anzahlung so schnell zusammengebracht hatten. Aber ein Tag hat immer nur vierundzwanzig Stunden. Die Stunden, die er als Schildwache zur Verfügung stand, konnte er nicht reduzieren, sein Engagement für Haus Baylor wollte er nicht dezimieren. Also sparte er am Schlaf und döste seitdem an irgendwelchen beliebigen Orten einfach ein. Vor einer Woche hatte ich ihn schlafend auf der Treppe entdeckt. Er hielt einen Teller mit einer halb verspeisten Fajita in Händen. Bei dieser Gelegenheit hatte ich ihn gewarnt, ich würde ihn aus meinem Schlafzimmer aussperren, wenn er damit nicht aufhörte. Er hatte mir Stein und Bein geschworen, er würde von da ab mindestens sieben Stunden pro Nacht schlafen.

Ich kam am Haus an. Es war ein hübsches, zweistöckiges Gebäude, einfach bezaubernd und perfekt für uns beide. Die Eingangstür stand offen. Ich stieg die Treppe hinauf zur überdachten Veranda und betrat die Eingangshalle. Jemand hatte alle Vorhänge von den Fenstern genommen, und Licht durchflutete das Haus. Meine Schritte hallten auf dem Travertinboden wider.

Der Boden musste ein Vermögen gekostet haben, und das Geld hatte man offensichtlich an der Küche gespart, die dringend renoviert werden sollte. Ich trat in die Küche und blieb stehen. Ein Dutzend blutrote Rosen standen in einer schlichten Glasvase auf der bedauerlich großen Kücheninsel, die ich sofort ersetzen lassen würde, sobald ich genügend Geld dafür zusammenkratzen konnte. Eine Flasche Giulio Ferrari Rosé und zwei Weingläser erwarteten mich auf der Arbeitsfläche neben dem Kühlschrank.

Alessandro hatte mir Wein und Rosen gekauft.

Ich grinste.

Ein Mann, den ich noch nie zuvor gesehen hatte, trat aus dem Flur zur Linken in mein Blickfeld. In dem Sekundenbruchteil, den ich benötigte, um dem Eindringling meine Magie entgegenzuschleudern, tauchte Alessandro wie ein rachsüchtiger Geist hinter ihm auf, schlug dem Mann seine Hand über den Mund und rammte ihm ein Messer in die Seite. Es war ein schneller, präziser Stich, den ich beinahe übersehen hätte, wenn sich die Szene nicht direkt vor mir abgespielt hätte.

Alessandro drehte das Messer. Seine Miene war ruhig und entspannt. Er wirkte konzentriert, aber nicht furchterregend. Die Augen des Mannes rollten nach oben, und als er erschlaffte, fiel er sanft gegen Alessandro. Der Mann, den ich liebte, hob sein Opfer wie ein Kleinkind hoch und legte ihn ordentlich auf der Kücheninsel ab. Das Messer steckte noch zwischen seinen Rippen. Die Vase rutschte von der Kücheninsel, und ich fing sie reflexartig auf.

Eine Person war vor meinen Augen gestorben, ohne auch nur das geringste Geräusch zu verursachen. Es war wunderschön und schreckenerregend zugleich.

»Arkan?«, fragte ich.

Er nickte.

Arkan war das Monster im Schrank, das Gespenst, das sich unter dem Bett verbarg. Der frühere Agent des Russischen Imperiums hatte seine Zelte in Nordamerika aufgeschlagen und sich mit einer Eliteeinheit aus Attentätern umgeben. Er war so gefährlich, dass er in der Datenbank des Wächters eine schwarze Markierung erhalten hatte, die sonst nur den Diktatoren kleiner Länder und den Anführern von weltweit tätigen Terrorismusgruppen zugeteilt wurde.

Linus Duncan wollte ihn töten, weil Arkan den Vereinigten Staaten eine Probe des Osiris-Serums gestohlen hatte. Die Bewachung des Serums, dessen Nutzung durch einen internationalen Vertrag verboten worden war, gehörte zu den wichtigsten Aufgaben des Wächters. Alessandro wollte Arkan töten, weil Arkan seinen Vater umgebracht hatte. Ich wollte ihn umbringen, weil ich Alessandro in Sicherheit wissen wollte. Wir waren zweimal aufeinandergetroffen, und beide Male hatte Arkan Männer und Verbündete verloren, aber ihn selbst konnten wir nicht erwischen, auch weil er außerhalb unseres Zuständigkeitsbereichs lebte.

Der Meuchelmörder lag reglos auf unserer Kücheninsel. Arkan hatte nicht seinen besten Mann geschickt. Er hatte jemanden entsandt, der gerade gut genug war, sich an mich heranzuschleichen, von dem er aber wusste, dass er den Auftrag nicht überleben würde. Arkan hatte soeben ein Leben verschwendet, nur um uns sanft auf die Schulter tippen und sagen zu können: »Hübsches Haus. Ich habe euch nicht vergessen.«

Alessandro nahm mir die Vase aus den Händen, stellte sie ab und schloss mich in seine Arme. »Catalina, mach dir keine Sorgen.« Seine Stimme war warm und tröstlich. »Wir haben das im Griff. Das ist völlig unbedeutend.«

Ich legte meinen Kopf an seine Brust. Wir mussten das mit Arkan ein für alle Mal in Ordnung bringen. Wir konnten erst dann wirklich glücklich sein, wenn die Bedrohung durch ihn nicht mehr existierte.

Er würde uns sonst niemals in Ruhe lassen. Letztes Jahr, direkt nachdem wir das Konstrukt in der Grube vernichtet hatten, ließ Arkan – der dabei natürlich seine Finger im Spiel gehabt hatte – seinen Lieblingstelekineten, Xavier Secada, antanzen. Er hatte Xavier mit der Warnung zu uns geschickt, wir sollten ihn in Ruhe lassen. Wir machten ihm daraufhin deutlich, was wir von seinen Worten hielten und wo er sie sich hinschieben konnte.

Der Hass auf Haus Baylor und vor allem auf mich, der in Xavier brannte, besaß die Kraft von zehntausend Sonnen. Früher war er ein Mitglied von Connors erweiterter Familie mütterlicherseits gewesen, doch nachdem ich aufgedeckt hatte, dass er tatsächlich versuchte, Connors und Nevadas Hochzeit zu sabotieren, wurde er aus der Familie geworfen. Ich war davon ausgegangen, dass Xavier sich an mir rächen würde. Das tat er aber nicht. Stattdessen reiste er nach Spanien und griff seine frühere Familie an. Er suchte sich allerdings nicht die Erwachsenen als Ziel aus. Nein, Xavier hatte es auf Mia Rosa abgesehen, ein zehnjähriges Mädchen, denn sie war eine zukünftige Hochbegabte und der ganze Stolz ihrer Familie.

Hätte sie nicht bereits über entsprechende Fähigkeiten verfügt oder wären seine eigenen Fähigkeiten nicht so instabil gewesen, dann hätte er sie umgebracht. Doch so überlebte sie den Angriff, der einen monatelangen Krankenhausaufenthalt nach sich zog. Zu behaupten, dass Connor ihn gern in die Finger bekommen wollte, wäre noch eine Untertreibung. Und Arkan, der das Ganze abgesegnet hatte, schickte Mia Rosa Blumen ins Krankenhaus, mit einer Karte, auf der stand: »Bis bald.«

Das war die Sorte von Gegnern, mit denen wir hier zu kämpfen hatten. Sie befanden sich noch zwischen uns und unserem Glück.

»Das wird nicht noch mal passieren, sobald die Wachleute eingezogen sind«, sagte Alessandro.

»Ich weiß.« Unsere private Wachtruppe war erstklassig und die Sicherheitschefin Weltklasse.

Ich würde nicht zulassen, dass Arkan unser Haus beschmutzte. Nein, dies würde unser Zuhause sein, und ich würde es in einen Ort verwandeln, der für uns Sicherheit und Wärme bedeutete.

»Möchtest du ein Glas Wein?«, fragte er.

»Nein.«

Alessandros Miene verfinsterte sich. »Das ist nicht ganz so gelaufen, wie ich es geplant hatte.«

»Was meinst du damit?«

Alessandro warf einen Blick auf den toten Mörder. »Aber dann ist es vielleicht auch besser so. Ehrlicher.«

Er wich einen Schritt zurück. Wie durch Zauberei tauchte in Alessandros Händen eine kleine Schachtel auf.

Wein, Blumen, neues Zuhause, Schmuckkästchen. Mein Gehirn setzte die Puzzleteile in Windeseile zusammen, und ich konnte ihn noch am Arm packen, als er gerade vor mir in die Hocke gehen wollte. »Knie dich nicht hin. Bitte.«

Er öffnete die Schachtel. Ein Goldring auf schwarzem Samt, verziert mit einem ovalen Rubin.

»Das ist kein Erbstück«, sagte Alessandro mit grimmiger Entschlossenheit. »Ich habe ihn nicht meiner Familie genommen. Ich habe ihn für dich entworfen und für dich anfertigen lassen. Niemand hat ihn je zuvor getragen, und wenn du Nein sagst, wird es auch nie jemand tun.«

Der facettierte Edelstein glitzerte wie ein Stern, der in einem Blutstropfen eingeschlossen wurde.

»Ich liebe dich von ganzem Herzen«, sagte er. »Ich kann dir zwar kein ruhiges Leben zusichern, aber ich verspreche dir, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde, um dich glücklich zu machen. Willst du mich heiraten?«

Dann verstummte er, und ich bemerkte die Unsicherheit in seinem Blick. Trotz all der Dinge, die wir zusammen durchgemacht hatten, wusste er nicht, wie meine Antwort lauten würde. Wir hatten den Punkt im Leben erreicht, an dem sich unsere Wege trennen oder wir gemeinsam in die Zukunft blicken konnten. Ein Wort, ein winzig kleines Wort, das unsere Leben unwiderruflich verändern würde. Dieser Augenblick fühlte sich so intim an, dass er fast schon wehtat.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, schlang die Arme um seinen Hals und sah ihm in die Augen.

Er wartete auf meine Antwort.

Ich küsste ihn sanft und flüsterte: »Ja. Die Antwort lautet Ja.«

1

Sechs Monate später

Der Montagmorgen hatte zwar schlecht angefangen, aber seitdem ging es beständig bergab.

Auf dem Computerbildschirm versuchte Ruben Hale mich wütend anzustarren. Ich bedachte ihn mit meinem patentierten Blick à la Tremaine. Bedauerlicherweise funktionierte der wesentlich besser, wenn man sich persönlich gegenüberstand. Er verlor einiges an Nachdruck, wenn man einem Gesprächspartner die Aussicht auf einen schnellen Tod über Videocall nahezubringen versuchte.

»Wir werden mit der Arbeit nicht fortfahren, solange der Vorschuss nicht auf unserem Konto eingezahlt worden ist.«

Ruben war Ende fünfzig, recht stämmig, hatte sonnengebräunte Haut und ein markantes Kinn. Außerdem war er ein Begabter. Mit Begabten kam man in vielerlei Hinsicht schwerer zurecht als mit Hochbegabten. Hochbegabte waren wie Tiger – sie waren natürlich im schlimmsten Falle tödlich, scheuten aber vor Konflikten zurück. Denn wenn sie einen Kampf erst mal anfingen, dann waren am Ende möglicherweise ganze Straßenblöcke von der Karte gelöscht. Für die meisten Hochbegabten war es unter ihrer Würde, magisch weniger Begabte einzuschüchtern. Sie nahmen es als gegeben hin, dass man ihnen mit Respekt begegnete, und schließlich mussten sie ja ihrem Ruf gerecht werden.

Die Begabten hingegen wollten Hochbegabte sein. Ihre Fähigkeiten hoben sie vom Großteil aller Magienutzenden ab, aber sie standen immer noch eine Treppe unterhalb der obersten Machtstufe. Viele von ihnen sahen sich gezwungen, sich andauernd wichtig zu machen, bloß um sicherzustellen, dass man ihren besonderen Status anerkannte. Und sie hatten etwas gegen Hochbegabte. Wenn sich ihnen die Gelegenheit bot, einen Hochbegabten ohne Konsequenzen zu verärgern, dann schlugen sie sofort zu.

Rubens Blick machte mir deutlich, dass es für ihn selbstverständlich war, Leute niederzumachen, um seinen Willen durchzusetzen. Ich wusste vom ersten Augenblick an, dass wir Ärger mit ihm bekommen würden. Deshalb hatte ich mit der eigentlichen Arbeit abgewartet, bis seine Anzahlung auf unserem Konto eingegangen war. Und Stand heute war sie schon seit sechs Tagen überfällig.

»Hören Sie mir mal zu.« Ruben beugte sich näher an den Monitor heran, was mir einen sehr genauen Blick auf seine Nasenhaare ermöglichte. »Ich bin aus einem einzigen Grund zu Ihnen gekommen. Sie waren billiger als Montgomery.«

»Billiger, Mr Hale. Nicht kostenlos.«

Plötzlich wurden Stimmen laut, die durch die Glastür und die Wände meines Büros zu hören waren. Jemand – oder wahrscheinlich mehrere Personen – schien aus vollem Hals im Konferenzraum etwas zu rufen. Seltsam. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass für heute irgendwelche problematischen Besprechungen angesetzt waren.

»Wissen Sie eigentlich, mit wem Sie reden?«

Anscheinend hatten wir die Phase in unseren Verhandlungen erreicht, die weltweit als »Was fällt Ihnen ein« bezeichnet wurde. »Sie haben einen Vertrag unterzeichnet, Mr Hale. Laut den Vertragsvereinbarungen …«

»Vereinbarungen können sich ändern.«

»Nicht, wenn man den Vertrag unterschrieben hat. Vielleicht sollten Sie sich die Definition des Wortes ›Vertrag‹ genauer anschauen.«

Matilda rannte mit wehendem schwarzen Haar an mir vorbei. Die dürren Beinchen der Zehnjährigen waren blitzschnell wieder aus meinem Blickfeld verschwunden.

»Sie haben Glück, dass Sie meinen Auftrag bekommen haben. Offenbar wollen Sie ihn gar nicht.«

»Eine Geschäftsvereinbarung zieht auch immer eine Bezahlung nach sich. Was Sie anscheinend haben wollen, ist eine Wohltätigkeitsveranstaltung.«

Ruben riss die Augen weit auf. Seine Nasenflügel bebten.

Ragnar raste an meinem Büro vorbei. Erst Cornelius’ Tochter, nun war Runas Bruder in eine mir unbekannte Angelegenheit verwickelt. Was zur Hölle ging da draußen vor?

»Was glauben Sie, wer Sie sind?«, donnerte Ruben.

»Begabter Hale!« Ich wechselte zu meiner Tremaine-Stimme. »Wer ich bin, steht hier nicht zur Debatte. Meine Identität als Hochbegabte und Anführerin meines Hauses ist in aller Öffentlichkeit bestätigt worden. Das Einzige, was hier infrage steht, ist Ihre Befähigung, uns zu bezahlen. Sie haben meine Zeit lange genug verschwendet. Betrachten Sie unsere Vereinbarung als nichtig.«

»Sie …«

»Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, um Ihre nächsten Worte sorgfältig zu überdenken. Es reicht mir jetzt mit Ihrem Gehabe. Bringen Sie mich nicht auf die Idee, Ihnen und Ihrer Familie meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken zu müssen.«

Er entschied sich gegen eine weitere Wortmeldung. Und setzte sich auf. »Miss Baylor …«

»Hochbegabte Baylor.«

»Hochbegabte …«

Ich hielt den Vertrag vor seinen Augen hoch und zerriss ihn. »Unser Gespräch ist hiermit beendet.«

Er starrte mich entsetzt an.

Dann schloss ich den Videocall und öffnete die Tür. Lärm schlug mir entgegen. Mehrere Leute schrien gleichzeitig, und dieser vielstimmige Chor aus Wut und Trauer war mit dem Schluchzen einer Frau durchsetzt.

Ich marschierte den Flur entlang und riss die Tür zum Konferenzraum auf. Acht Menschen, vier von ihnen mittleren Alters, saßen oder krochen über den Boden. Matilda und Ragnar standen auf der Seite und wirkten zutiefst erschüttert.

»Was ist hier los?«

»Sie ist weg!« Ein weißer, wohl sechzigjähriger Mann saß stöhnend am Tisch und hatte die Hände über die Augen geschlagen. Eine Frau in einem weißen Chanelkostüm, die einige Jahre jünger zu sein schien, hatte ihm schützend die Arme um die Schultern gelegt.

»Wer ist weg?«, verlangte ich zu wissen.

»Jadwiga«, warf Matilda ein.

»Ihr beiden, raus auf den Flur.«

Ich führte die Kinder auf den Flur hinaus und schloss die Tür hinter uns. »Was hat die erste Königin von Polen mit dem zu tun, was immer auch gerade hier passiert?«

Ragnar starrte mich ehrfürchtig an. »Woher weißt du so was?«

Ich hatte keine Ahnung, warum ich den Namen der ersten polnischen Königin kannte. Es war einfach ein Stück nutzloses Wissen, das ab und zu in meinem Kopf hängen blieb.

»Jadwiga ist eine Spinne«, setzte Matilda zur Erklärung an. »Eine ganz besondere Spinne.«

Oh nein.

»Ist das die Familie Dabrowski?«

Ragnar nickte.

Jadwiga war eine ganz besondere Spinne. Sie hatte in etwa die Größe einer bunten Rotfußvogelspinne und glänzte wie poliertes Mahagoni. Im Gegensatz zum Abdomen einer gewöhnlichen Spinne sah Jadwigas Hinterleib aus, als hätte man ihn gestutzt. Er endete in einer gehärteten Scheibe, auf der ein Muster abgebildet war, das einer uralten Maske glich. All das verlieh ihr eine einzigartige Sanduhrgestalt.

Diese außergewöhnliche Scheibe war nur bei einer einzigen Spezies zu finden: Cyclocosmia. Sie war unglaublich selten – man hatte bisher nur sieben Exemplare entdecken können – und geradezu verboten teuer. Trefon Dabrowski, der Anführer des Hauses Dabrowski, hatte Jadwiga für die lockere Summe von 250 000 Dollar von einem chinesischen Orangenbauern erstanden, der sie entdeckt hatte. Irgendwie schmuggelte er sie durch den Zoll und brachte sie dann in einem aufwendig gestalteten Terrarium in der Villa des Hauses Dabrowski unter, um sie zum neuen Star in seiner umwerfenden Arachnidensammlung zu machen. Nur wurde sie ihm eine Woche später gestohlen.

Wir verdankten es Cornelius, dass unser Unternehmen den erstklassigen Ruf hatte, schwierige Fälle mit Tieren in den Griff zu bekommen. Als Haus Dabrowski seine Spinne verloren hatte, kamen wir natürlich als Erste infrage. Und sie hatten uns beinahe unter einem Berg aus Geld begraben.

»Als ich das letzte Mal davon gehört habe, hatten wir den Fall doch abgelehnt. Matilda, dein Vater hat in aller Deutlichkeit gesagt, dass Spinnen einen ganz besonderen Arachnidenmagier benötigten, und dass du und er sich auf Vögel und Säugetiere spezialisiert haben.«

Matilda reckte ihr Kinn. Den Blick kannte ich. Ich stand kurz davor, eine sehr lange, sehr strategische Diskussion führen zu müssen. Wenn ich ihr zu sprechen erlaubte, würden wir den gesamten Tag hier rumstehen.

»Nicht nur das«, setzte ich daher eilig nach. »Diese Spinne ist in die Vereinigten Staaten geschmuggelt worden. Matilda, wie lautet die Definition von ›geschmuggelt‹?«

»Illegal in ein Land ein- oder ausgeführt«, erwiderte sie.

»Das entscheidende Wort ist illegal. Weder Haus Baylor«, ich sah Matilda an, »noch Haus Harrison«, ich sah zu Ragnar hinüber, »noch Haus Etterson dürfen in das Schmuggeln einer seltenen, gefährdeten Spezies verwickelt werden.«

»Eigentlich …«, setzte Matilda an.

»Nein.«

»Ich habe die Spinne gespürt. Sie hatte Angst und war total gestresst.«

Ich sah Ragnar an. »Erkläre es mir kurz.«

»Matilda wollte die Spinne suchen, um herauszufinden, ob sie eine Verbindung zu dem Tier aufnehmen kann.«

»Es ist eine Sie«, sagte Matilda.

»Bazyli Dabrowski hat die Spinne seinem Bruder gestohlen. Wir haben sie gefunden, und wir wollten sie zurückzugeben. Sie haben sich im Konferenzraum gestritten. Trefon hat Bazyli gesagt, er würde Jadwiga nie wiedersehen, und dann hat Bazyli ihn angegriffen und versucht, seinem Bruder das Terrarium aus den Händen zu reißen. Es ist zu Boden gefallen, und dann ist Jadwiga in die Lüftungsschächte gelaufen.«

Ich atmete tief ein und langsam wieder aus. »Matilda ist zehn. Sie darf unvernünftig sein und muss die möglichen Folgen ihres Handelns nicht immer durchdenken.«

Matilda sah aus, als hätte ich ihr eine Ohrfeige verpasst.

»Ragnar, du bist sechzehn Jahre alt. Du bist kaum noch zwei Jahre davon entfernt, juristisch als Erwachsener zu gelten.«

»Wir werden sie finden«, versprach Ragnar.

»Warum habt ihr beide eigentlich damit zu tun? Ihr seid Dienstleister, was bedeutet, dass ihr nicht das Recht habt, Fälle anzunehmen. Wer hat den Vertrag unterschrieben? Welcher Name steht auf dem Papierkram?«

Die Kinder sagten nichts mehr.

Cornelius kam auf keinen Fall infrage. Ihm war diese ganze Angelegenheit sehr unangenehm gewesen. Wer in aller Welt würde einer zehn Jahre alten hochbegabten Tiermagierin und einem sechzehn Jahre alten hochbegabten Giftmagier freie Hand zur Entführung einer illegal eingeführten Spinne lassen …

Natürlich. Er wäre der Einzige, der das erlaubte.

Mein Handy, das auf meinem Schreibtisch lag, begann zu vibrieren. Eine nicht bekannte Nummer. Ich nahm den Anruf entgegen.

»Stellvertreterin Baylor«, sagte eine tiefe Stimme.

Im gesamten Staate Texas wusste nur eine Handvoll Leute, dass ich die Stellvertretende Wächterin war. Ich zeigte erst auf Ragnar und Matilda, dann auf den Fußboden, um ihnen klarzumachen, dass sie sich nicht von der Stelle bewegen sollten. Keinen Millimeter. Anschließend huschte ich in mein Büro und schloss die Tür hinter mir.

»Ja?«

»Mein Name ist Stéphane Gregoire. Ich bin der Maître d’hôtel des Respite.«

Das Respite war ein französisches Restaurant, ausgesprochen geschmackvoll und sehr exklusiv, das einem äußerst gehobenen Klientel kulinarische Genüsse bereitete. Wenn die wirklich einflussreichen Macher Houstons zum Mittagessen einladen wollten, um in aller Diskretion Geschäftsvorhaben zu besprechen, dann gingen sie ins Respite. Keiner von ihnen wusste, dass Linus insgeheim der Eigentümer war.

»Wir haben uns bereits kennengelernt«, warf ich kurz ein. »Was kann ich für Sie tun?«

»Es hat einen Mord gegeben«, sagte Mr Gregoire. »Ich habe schon versucht, den Hochbegabten Duncan zu erreichen, aber ohne Erfolg.«

»Wer wurde ermordet?«

»Luciana Cabera.«

Oh, scheiße.

»Wer weiß es sonst noch?«

»Sie sind die zweite Person, die ich angerufen habe. Ich wurde angewiesen, Sie zu kontaktieren, sollte ich den Wächter nicht erreichen.«

»Warten Sie auf mich. Schließen Sie das Restaurant. Ich komme sofort.«

Ich beendete das Gespräch und rief Linus an. Es klingelte, einmal, zweimal, dreimal …

Linus ging immer für mich ans Telefon. Egal, ob mitten in der Nacht oder tagsüber; egal wann, er ging immer beim zweiten Klingeln ran.

Viermal, fünfmal …

Er sagte mir jedes Mal vorher Bescheid, wenn er davon ausging, nicht erreichbar zu sein. Alessandro und ich hatten heute Abend einen Termin mit ihm. Ich beendete den Anruf und öffnete die Tür.

Matilda und Ragnar sahen mich blinzelnd an.

»Macht, dass die Familie Dabrowski hier rauskommt und findet diese teure, total gestresste und verängstigte Spinne, bevor sie jemanden beißt oder Eier legt.«

Ich rannte den Flur entlang zum Ausgang und rief Alessandro an. Er war heute Morgen losgefahren, um Dag Gunderson zur Strecke zu bringen. Er nahm den Anruf sofort entgegen.

»Wo steckst du?«

»Ich bin gerade am Tor.«

»Bei mir gibt es einen Notfall«, sagte ich zu ihm.

»Wir nehmen meinen Wagen.«

Ich verließ das Gebäude und rannte hinaus in den Sonnenschein. Auf dem Weg zum Tor tippte ich Leons Nummer ein.

»Wenn es wegen dieser Spinne ist …«, setzte Leon an.

»Spinne später. Linus geht nicht ans Telefon. Du musst sofort für mich zu seinem Haus fahren.«

»Alles klar.«

»Ruf mich an, wenn du bei ihm bist.«

Alessandros silberfarbener Alfa Romeo flitzte vom Tor auf mich zu und blieb rutschend vor mir stehen. Ich stieg ein, er machte eine Kehrtwende, und wir rasten die Zufahrt entlang.

»Wohin geht’s?«, fragte Alessandro.

»Zum Respite. Die Sprecherin der Kongregation des Staates Texas ist ermordet worden.«

2

Das Respite nahm ein wunderschönes, zweistöckiges Gebäude auf der Ecke von Milam und Anita Street in Midtown Houston ein. In Houston gab es Stadtteile, die bemerkenswert glanzvoll waren. Diese Gegend gehörte allerdings nicht dazu. Hier standen nur die üblichen Apartmentanlagen, es gab Karaoke-Bars, Bistros und Lieferservices. Dazwischen fanden sich reichlich Starbucks-Filialen und Chipotle-Restaurants, die von den zahlreichen Berufsanfängern lebten, die entweder auf dem Weg in die Stahl-und-Glas-Türme im Nordosten Midtowns oder auf dem Nachhauseweg dort einkehrten.

Das Respite gab sich als ein durchschnittliches Mittelklasserestaurant aus. Das Erdgeschoss des Backsteinbaus wies hohe Bogenfenster auf, und wenn man es durch den Vordereingang betrat, dann konnte man sich auf ein Essen freuen, wie es für Texas typisch war, mit einem Hauch französischer Küche. Doch die besonderen Gäste kamen nicht durch den Vordereingang. Sie gingen durch den Nebeneingang und wurden über ein schmales Treppenhaus in den ersten Stock geleitet. Dort hatten sie die Wahl zwischen einem geräumigen Speisesaal, in dem die Tische weit auseinanderstanden, um die Privatsphäre zu wahren, und der Terrasse, die unter freiem Himmel auf zwei Seiten von Pflanzenwänden und auf der dritten Seite von einer Steinmauer umschlossen war. Auf dieser waren Kunstwerke mit Motiven aus dem Wilden Westen angebracht, von alten, gerahmten Landkarten bis hin zu Schwarzweißfotos von der »Frontier«, nur für den Fall, dass die Besucher irgendwie vergessen hatten, dass sie sich in Texas befanden.

Luciana Cabera hing an dieser Wand, zwischen einem Foto, auf dem eine Gruppe Cowboys zu sehen war, und einem verträumt wirkenden Original von Dawson Dawson-Watson, auf dem ein Feld voll Blauer Wiesenlupinen zu sehen war, der Staatsblume von Texas.

Ein Metalldorn von über einem halben Meter Länge war durch ihre Brust in die Wand gerammt worden. Ein zweiter Dorn ragte aus ihrem offen stehenden Mund hervor. Sie war zu Lebzeiten eine schlanke Frau gewesen mit kurzen gelockten Haaren, die sie modern geschnitten trug, als eine pfiffige Anspielung auf die typischen Politikerfrisuren. Sie lächelte gern, machte sich mit munteren Gesten verständlich und in ihren Augen sprühte der Lebensfunke.

Die Gestalt, die vor mir an der Wand hing, war nur noch eine blasse, entseelte Kopie. Ihr beigefarbenes Kostüm war blutverschmiert. Ihr Markenzeichen, die Brille mit dem dunkelgrünen Gestell, lag auf dem Boden vor ihr. Die dunklen Pumps waren abgefallen, und die nackten Füße baumelten schlaff in der Luft. Die Zehennägel, die sie hellgrün lackiert hatte, hatten etwas Verstörendes, Verletzliches an sich. Ich hatte sie nie ohne ihre Schuhe gesehen. Es fühlte sich einfach falsch an. Ich konnte es nicht erklären, aber dieser Anblick sorgte dafür, dass mir fast die Luft wegblieb.

In den ersten Monaten meiner neuen Aufgabe hatte ich mir immer eingeredet, dass ich irgendwann im Angesicht der unvorstellbaren Brutalität magischer Gewalt abstumpfen würde, aber mittlerweile waren fast zwei Jahre vergangen. Inzwischen wusste ich es besser. Der Drang zur Flucht, dieses beunruhigende Gefühl eines flauen Magens und einer unsichtbaren Faust, die meinen Hals zu zerquetschen drohte, wenn ich eine Leiche vor mir sah, würden mich immer begleiten. Immer. Aber ich hatte gelernt, diesen Gefühlen auszuweichen, um meinen Job zu erledigen. Die Handschuhe waren eine große Hilfe. Wenn ich vor dem Betreten des Tatorts Handschuhe anlegte, verstand ein Teil von mir dies als Zeichen, dass ich meine persönlichen Sorgen und Ängste beiseiteschieben musste.

Alessandro musterte die Leiche mit finsterer Miene.

Wenn die Bürgerinnen und Bürger des Staates Texas erfuhren, dass die Sprecherin der Kongregation ermordet worden war, dann würde die Kacke am Dampfen sein, und das war noch eine Untertreibung. Dies würde politische Folgen haben. Unsere Aufgabe war es, diese möglichst gering ausfallen zu lassen.

Als Allererstes mussten wir dafür sorgen, dass wir das Respite aus dem Fokus der Öffentlichkeit bekamen. Natürlich musste Lucianas Leiche entdeckt werden – sie war zu bekannt, um einfach zu verschwinden. Aber wenn man sie hier fand, dann würden das Respite und sein Personal zum Mittelpunkt einer Medienkampagne. Das würde unsere Möglichkeiten erheblich einschränken, den Fall zu untersuchen. Das öffentliche Interesse wäre wie ein Scheinwerferstrahl auf Linus gerichtet, und das mussten wir um jeden Preis verhindern.

Alessandro gab eine Nummer ein. »Ich brauche eine Reinigungstruppe, oberste Priorität. Vollständige Dokumentation, Entfernung, Nachstellung.« Er nannte die Adresse des Respite und beendete das Gespräch.

Es war fast schon beängstigend, wie oft sich unsere Gedankengänge glichen.

Ich zwang mich dazu, die Leiche zu untersuchen. Der Winkel der beiden Metalldorne ließ vermuten, dass der Angriff von oben nach unten durchgeführt worden war. Der erste war so tief in die Wand eingedrungen, dass nur etwa zehn Zentimeter hervorstanden. Der zweite steckte nur mit seiner Spitze in der Wand, so dass beinahe noch ein halber Meter davon zu sehen war. An den Enden beider Metalldorne befand sich ein Ring mit einem Loch, durch das man ein schweres Seil führen konnte.

Das gefiel mir nicht. Ganz und gar nicht.

Alessandro starrte auf die Metalldorne und neigte dann den Kopf leicht zur Seite, um einen Blick zu dem Hochhaus zu werfen, das einige Straßenzüge entfernt in Richtung Südosten stand.

»Mr Gregoire, könnten Sie die Szene bitte mit mir durchgehen«, sagte ich.

Stéphane Gregoire nickte. Er war Mitte vierzig, von mittlerer Größe, sauber rasiert. Ein weißer Mann mit der für Texas so typischen Sonnenbräune, in dessen gewelltem dunklen Haar graue Strähnen zu sehen waren. Er trug eine Brille, einen Maßanzug und schien von der menschlichen Deko an der Wand seines Restaurants unbeeindruckt. Die Kellnerin neben ihm, eine junge blonde Frau in schwarz-weißer Uniform, wirkte nicht so beherrscht. Sie hatte ihre Hände zu Fäusten geballt und sah direkt vor sich zu Boden. Ich verstand ihr Bedürfnis. Ich hätte auch gern zu Boden geblickt.

»Madam Cabera ist zwei Minuten nach elf allein hier eingetroffen. Sie hat mir mitgeteilt, dass sie einen Gast erwartete«, erklärte Mr Gregoire.

»Hat sie gesagt, wer es sein würde?«

»Nein. Sie nahm an dem für sie üblichen Tisch Platz.« Er deutete auf einen Tisch, der etwa zweieinhalb Meter von uns entfernt stand. Einer der an ihm stehenden Stühle war umgekippt. »Simone brachte ihr wie immer den Wein. Vor der Mahlzeit nahm sie gern ein Glas La Scolca Gavi zu sich.«

»Hat sie sofort bestellt?«

»Nicht sofort. Sie ließ sich oft ein wenig Zeit. So konnte sie sich mit ihrer Arbeit beschäftigen und gleichzeitig einen Schluck genießen. Wenn sie schließlich bereit war zu bestellen, hat sie einfach der Bedienung ein Zeichen gegeben.«

Ich hatte hier schon mit Linus zu Abend gegessen. Das Respite folgte den europäischen Vorstellungen der Bewirtung. Im Gegensatz zu amerikanischen Kellnern, die stets darauf getrimmt wurden, die Gäste regelmäßig anzusprechen, überließ das Servicepersonal des Respite einen Gast sich selbst. Sie ignorierten die Leute natürlich nicht, sondern reagierten praktisch sofort auf jede noch so kleine Geste oder einen Blick, ohne sich aufzudrängen. Die Mahlzeit zu stören, indem man das Nachfüllen eines Glases anbot oder ungefragt die Rechnung präsentierte, wäre eine unverzeihliche Unhöflichkeit gewesen.

»Madam Cabera saß etwa sechs Minuten lang hier. Das erste Geschoss traf sie in der Brust, riss sie aus ihrem Stuhl und nagelte sie an die Wand. Das zweite Geschoss traf sie im Gesicht. Der Tod trat sofort ein. Sie hatte nicht einmal die Chance zu einem Schrei.«

Einen Metalldorn mit solcher Wucht zu schleudern setzte eine große Menge Kraft voraus. Wir hatten es mit einem Hochbegabten oder einem begabten Telekineten der obersten Kategorie zu tun.

»Wer sonst befand sich auf der Terrasse?«, fragte Alessandro.

»Hochbegabte Curtis und ihre Tochter.«

Das Haus Curtis war auf Gartenbau spezialisiert, vor allem Baumwolle, Sonnenblumen und Mais. Sie konnten unmöglich mit dem hier zu tun haben. Sie waren vermutlich einfach in aller Ruhe aufgestanden und gegangen, und ein Gespräch mit ihnen wäre zwecklos.

»Haben Sie von hier draußen Videoaufnahmen?«, fragte Alessandro.

»Das Respite zeichnet seine Gäste nicht auf.«

Das hörte sich so gar nicht nach Linus an. Hm. »Können Sie mir genau sagen, was Hochbegabte Cabera zu Ihnen gesagt hat?«

Mr Gregoire öffnete den Mund und sprach die folgenden Worte mit Luciana Caberas Stimme. »Stéphane, wie schön, dass wir uns wiedersehen.«

Er wechselte zu seiner eigenen Stimme zurück. »Es ist mir eine Freude, Madame. Ihr Tisch wie üblich?«

»Ja, bitte. Ich erwarte einen Gast.« Erneut die weibliche Stimme, ein fehlerfreier Vortrag.

»Sehr gern, Madame.«

Alessandro lachte leise.

Mr. Gregoire besaß die Fähigkeit zur perfekten akustischen Kopie. Linus brauchte keine Videoüberwachung. Gregoire war das vollendete Aufnahmegerät, und das ohne jede Technik.

Mein Handy pingte. Die Reinigungstruppe war da.

»Mr Gregoire, unsere Leute sind draußen, bitte lassen Sie sie herein.«

Er nickte und nahm die Kellnerin mit sich. Simone wäre auf ihrer Flucht vor diesem Ort beinahe über ihre eigenen Füße gestolpert.

Alessandro deute mit dem Kinn in Richtung des Hochhauses. »Was ist das für ein Gebäude?«

Ich warf einen Blick auf mein Handy, wo ich kurzerhand die Karte unserer Umgebung aufrief. »HCC. Houston Community College. Du meinst das Dach?«

»Ja. Da oben hätte ich mich eingerichtet.«

Ich rief ein Bild eines fünfzig Zentimeter langen Metalldorns mit einem Ring am stumpfen Ende auf meinem Handy auf und hielt es ihm hin. Er wirkte identisch mit den beiden, die aus Luciana hervorstanden.

»Ein Marlspieker«, sagte Alessandro. »Den benutzen Seeleute für Arbeiten am Tauwerk.«

»Die meisten Telekineten schleudern Armbrustbolzen oder riesige, nagelförmige Spieße. Ich kenne nur eine einzige Familie, die mit Marlspiekern um sich wirft.«

Alessandro hob seine Augenbrauen. »Haus Rogan?«

Ich nickte. »Der Telekinet, der uns in der Grube angegriffen hat, hat auch Marlspieker verwendet.«

»Du glaubst, es war Xavier.« In Alessandros Augen funkelte es drohend.

»Ich bezweifle ernsthaft, dass Connor auf das HCC-Gebäude gestiegen ist, um der Sprecherin der texanischen Kongregation zwei riesige Marlspieker in den Leib zu rammen. Wenn er sie hätte töten wollen, dann hätte er das ohne jedes Aufsehen erledigt.«

Die Fähigkeiten meines Schwagers waren jenseits von Gut und Böse. Hätte er Luciana umbringen wollen – und dieser Gedanke war für mich einfach unvorstellbar –, dann hätte er ihr aus hunderten Meter Entfernung die Kehle aufschlitzen, sie mit ihrer eigenen Halskette oder ihrer Kleidung erwürgen oder ihr eine winzige Nadel durch das Auge rammen können, um ihr Gehirn zu zerfetzen. Dieser Angriff war reine barbarische Aggression. Es musste Xavier gewesen sein. Ich hatte keinen Beweis, aber ich wusste es einfach. Es fühlte sich nach ihm an.

Alessandros Handy klingelte. Er starrte es an, als ob es sich um eine Schlange handelte.

»Entschuldige mich bitte kurz. Ich muss diesen Anruf entgegennehmen.« Er ließ mich stehen und begann auf Italienisch zu sprechen, doch so leise, dass ich ihn nicht verstehen konnte.

Etwas stimmte mit ihm nicht, und dieses Etwas war nichts Gutes.

Ich sah mir den Metalldorn wieder an.

Xaviers magische Fähigkeiten waren recht bescheiden gewesen, bis Arkan sich seiner angenommen hatte. Als Arkan vor einigen Jahren eine Probe des Osiris-Serums gestohlen hatte, was ihn in alle Ewigkeit auf Linus Duncans Abschussliste setzte, hatte er etwas davon für sich behalten. Wenn man das Serum einmal genommen hatte, dann hielten die Nachwirkungen mehrere Generationen lang an. Wenn einer der Nachfahren dieser ersten Person es erneut mit dem Serum versuchte, dann bedeutete das seinen Tod. Arkan war von dem Gedanken besessen, dieses Todesurteil irgendwie zu umgehen, und er hatte Xavier zu seinem Versuchskaninchen gemacht. Die meisten von Arkans Versuchspersonen waren qualvoll gestorben, aber Xavier hatte die Leben-oder-Tod-Lotterie tatsächlich gewonnen und war mit einem Schlag zu einem unglaublich mächtigen Hochbegabten geworden.

Xavier war im Schatten meines Schwagers aufgewachsen. Für Xavier verkörperte Connor, sein entfernter Cousin, all das, was er zu erreichen versuchte. Connor war außergewöhnlich mächtig, wohlhabend und genoss höchsten Respekt. Er war ein Kriegsheld, zu dem die gesamte Familie aufblickte. Er war jemand, dem Xavier mit seinen bescheidenen telekinetischen Fähigkeiten niemals gleichkommen konnte. Jetzt, wo er dank Arkans Hilfe an Macht gewonnen hatte, glaubte er sich auf Connors Niveau zu bewegen und stellte seine Kräfte offen zur Schau. Die Marlspieker waren ein in Richtung Connor erhobener Mittelfinger.

Du hast geglaubt, ich wäre nicht stark genug, die hier zu benutzen. Tja, schau her!

Alessandro kehrte zu mir zurück, das Handy hatte er eingesteckt. Xavier und er hatten noch eine Rechnung offen. Alessandro hatte versucht, Arkan für den Mord an seinem Vater umzubringen. Xavier hatte ihm daraufhin einen Sattelschlepper entgegengeschleudert, was Alessandro beinahe das Leben gekostet hätte. Die Feststellung, dass sie sich hassten, konnte man nur als Untertreibung des Jahrhunderts bezeichnen.

Ich blickte in seine Augen und sah den flammenden, aber unterdrückten Zorn. Mir wurde übel vor Angst. Ich hatte die letzten sechs Monate damit verbracht, eine Konfrontation zwischen ihm und Arkan zu verhindern, doch sie raste wie ein außer Kontrolle geratener Zug auf uns zu und war unvermeidlich.

»Das war ein genehmigter Angriff«, sagte Alessandro.

Ich nickte. Es gab keine andere Erklärung. Xavier mochte vielleicht völlig durchgeknallt sein, aber er huldigte Arkan in allem, was er tat. Er hätte die Sprecherin der texanischen Kongregation nicht allein und ohne Grund umgebracht. Arkan steckte dahinter, und er hielt die Leine seines Lieblingshaustiers fest in der Hand. Er wies auf ein Ziel, und Xavier biss zu.

»Das ist so …« Ich deutete mit kurzer Geste in Richtung der Leiche.

»Auffällig«, beendete Alessandro mit finsterer Miene meinen Satz.

Es passte so gar nicht zu Arkan. Er bevorzugte es, im Verborgenen zu handeln. War dies eine Nachricht für jemanden? An wen war sie gerichtet? Und warum? Handelte es sich um jemanden, der Luciana nahestand?

Luciana Cabera war eine halkyonische Hochbegabte. Ihre besondere Fähigkeit war es, magisch zu beruhigen. Psioniker konnten Mengen aufstacheln, und Halkyoniker beruhigten sie. Vor zwanzig Jahren gab es in der Ellis Unit, dem gefährlichsten Gefängnis in Texas, einen Aufstand. Die Behörden wollten eine gewaltfreie Lösung dieses Problems und wandten sich daher an die besten Halkyoniker im Bundesstaat. Luciana betrat das Gefängnis, allein und unbewaffnet, und als ihr fünfzehn Minuten später die Vollzugsbeamten folgten, sahen sie die Häftlinge in langen Reihen zufrieden lächelnd auf den Fluren sitzen. An diesem Tag hatte ihre politische Karriere ihren Anfang genommen.

Eine Karriere, die ihr Leben lang offen und ehrlich verlief. Sie widmete sich ihrer Arbeit in der Kongregation wie eine erfahrene Realschullehrerin: Sie war streng genug, die üblichen Vorgehensweisen durchzusetzen, aber auch flexibel genug, Kompromisse dort einzugehen, wo eine Sonderbehandlung zwingend notwendig war. In ihrem Alltagsleben war Luciana die Leiterin eines Klinikums, in dem Menschen mit Angststörungen behandelt wurden. Sie hatte in Harvard promoviert.

Aber nichts davon wäre für Arkan ein Grund gewesen, sie ins Visier zu nehmen. Ich brauchte mehr Informationen. Wo zur Hölle steckte Linus?

Die Titelmelodie zu »Für eine Handvoll Dollar« ertönte aus meinem Handy. Leon. Er schickte mir keine Nachricht, sondern versuchte mich anzurufen.

Ich nahm das Gespräch an. Leons Gesicht tauchte auf meinem Bildschirm auf.

»Ich bin vor Linus’ Haus. Das Tor ist verschlossen. Ich habe den Code eingegeben, aber er hat nicht funktioniert. Ich habe ihn angerufen. Keine Reaktion, weder per Telefon noch per Gegensprechanlage. Außerdem haben wir das hier.«

Er drehte sein Handy herum. Der Nummernblock neben dem Tor glühte gelb. Er hätte einen Grünton annehmen sollen, sobald der Code eingegeben war.

Linus hatte den Belagerungszustand aktiviert. Scheiße.

»Möchtest du, dass ich über das Tor springe?«

»Nein! Geh auf keinen Fall da rein. Leon, alle Waffen sind aktiv. In dem Augenblick, in dem du einen Fuß auf das Anwesen setzt, werden dich die Geschütztürme zerfetzen.«

»Na gut. Musst nicht gleich dramatisch werden.«

»Bitte warte da auf mich.«

»Was denn jetzt, vor und hinter dem Tor?« Er riss gespielt die Augen auf.

»Leon!«

»Keine Sorge. Ich hab’s begriffen.«

Ein vermeintlich unwichtiger Gedanke zuckte kurz durch meinen Kopf. Er hatte zwar keine konkrete Form, wirkte aber auch so schon verstörend. »Kannst du mir das Tor zeigen, ohne es anzufassen?«

Das Handy wurde gedreht, und ich sah die gusseisernen Torflügel vor mir. Der Innenhof war in tadellosem Zustand.

Alessandro sah mich an. »Was ist denn los?«

»Da sind keine Leichen.«

Wenn Linus die Abriegelung anordnete, dann hieß das, dass er einen Angriff erwartete oder dass er bereits stattfand. Bei einem früheren Überfall hatte er meinen Anruf angenommen.

»Leon, warte auf uns. Bitte.«

»Mach ich.«

Er beendete das Gespräch.

Mr Gregoire kehrte an der Spitze einer Gruppe aus fünf Leuten auf die Terrasse zurück. Alle trugen einen großen Seesack. Sie stellten die Säcke ab, holten Schutzanzüge heraus und zogen sie an. Eine ältere schwarze Frau trat auf mich zu. Wir hatten bereits miteinander gearbeitet. Ich kannte ihren Namen nicht, aber ich wusste, dass Linus ihr vertraute.

»Wie lange und wo?«, fragte ich.

»Neunzig Minuten. Ein Lagerhaus an der Cedar Crest Street.«

Sie nannte mir die Adresse und zog dann selbst einen der Schutzanzüge an. Die Truppe sammelte sich vor der Leiche und begann Plastikplanen auszubreiten.

»Ich brauche einen Zip-lock-Beutel und Lucianas Handtasche«, sagte ich.

Einer der Kriminaltechniker brachte mir die Handtasche und den Beutel. Ich öffnete den Reißverschluss und warf einen Blick hinein. Eine Packung Taschentücher, ein Brillenetui, eine rosafarbene Bürste … Das musste reichen. Ich holte die Bürste heraus, steckte sie in den Zip-lock-Beutel und bedeutete dem Kriminaltechniker, weiterzumachen.

Ich verschloss den Zip-lock-Beutel. Vermutlich lag ich falsch, aber nur für den Fall.

Ich wandte mich von der Truppe ab und sah Mr Gregoire an. »Sprecherin Cabera war heute nicht hier.«

»Ich verstehe.«

»Wird Simone ein Problem darstellen?«, fragte Alessandro.

»Nicht im Geringsten. Ich wähle meine Mitarbeiter sehr sorgfältig aus.«

Damit blieben noch die beiden Curtis-Damen, die ganz bestimmt nicht hierüber redeten, weil sie sonst unter Umständen mit verdächtigt würden, Xavier, der vermutlich schon lange fort war, und die Person, die Cabera hier hatte treffen wollen. Das war unsere beste Spur. Über eine Stunde war seit dem angeblichen gemeinsamen Mittagessen vergangen, und der Gast war nicht aufgetaucht.

Es gab ein klapperndes, metallenes Geräusch, als ein Mitglied der Reinigungstruppe den Metalldorn mit einer Zange aus der Wand zog.

Ich nickte Mr Gregoire zu und eilte mit Alessandro nach unten. Wir verließen das Restaurant und marschierten zu Alessandros Alfa. Ich wäre lieber gerannt, aber man wusste nie, wer einen im Blick hatte.

Wir stiegen ein. Alessandro startete den Wagen, und der Motor meldete sich mit lautem Brüllen.

»Zu Linus?«, fragte er.

»Ja.« Bitte, sei in Ordnung. Bitte, bitte, sei in Ordnung.

Alessandro betätigte die Kupplung. Der Alfa flog vom Parkplatz und raste die Straße mit halsbrecherischer Geschwindigkeit entlang.

Linus Duncan lebte in River Oaks, dem vornehmsten Stadtviertel Houstons, das quasi nur aus Villen, Alleen und äußerst ärgerlichen Bodenschwellen bestand. Alessandro raste wie der Teufel, und er hatte auf der Strecke über die Autobahn zehn Minuten Fahrzeit herausgeholt. Aber River Oaks machte es einfach unmöglich, zügig voranzukommen.

Bums.

Bums.

»Porca miseria!«

Eine Formulierung, die die Begriffe »Schwein« und »Misere« beinhaltete, beschrieb unsere Situation recht treffend. Ich versuchte erneut, anzurufen. Nichts.

»Du glaubst, dass ihm etwas zugestoßen ist. Etwas Ernstes«, sagte Alessandro.

»Er hat den Belagerungszustand aktiviert.«

»Das heißt nicht, dass er tot ist. Es könnte ein Test sein.«

Ich sah ihn an.

Er zuckte mit den Achseln. »Linus könnte mit einem Zeitmesser in diesem Haus sitzen und darauf warten, wie lange wir brauchen, bis wir sein Spiel durchschauen.«

»Ich hoffe, dass du recht hast.«

So eine Sache abzuziehen wäre durchaus etwas, was Linus uns antun könnte. Aber ein Gefühl tief in meinem Inneren sagte mir, dass etwas furchtbar schiefgelaufen war. Als Nevada mir den ersten Unterricht in Ermittlungsarbeiten erteilt hatte, hatte sie mir beigebracht, meinem Bauchgefühl zu vertrauen. Wenn es nicht gut aussah, dann war es das wahrscheinlich auch nicht. Wenn dir die Haare zu Berge standen, dann solltest du dich auf jeden Fall verdünnisieren. Dasselbe hatte sie Arabella beigebracht. Meine jüngere Schwester nannte das »auf mein Echsenhirn hören«. Ich vertraute meinem Echsenhirn. Es sorgte dafür, dass ich weiter atmete.

Mein Handy pingte. Eine Nachricht von Ragnar.

Wir können Jadwiga nicht finden. Matilda meint, sie sind nachtaktiv, also kommen wir heute Abend noch mal hierher. Wir haben den Konferenzraum abgeschlossen und dir den Schlüssel auf deinen Schreibtisch gelegt.

»Was gibt’s?«, fragte Alessandro.

»Jadwiga.«

Er sah mich an.

»Eine sehr teure und vermutlich vom Aussterben bedrohte Spinne treibt in unserem Konferenzraum ihr Unwesen. Sie wurde ins Land geschmuggelt, gestohlen, zurückgeholt und ist bei der Übergabe an den jetzigen Eigentümer entflohen.«

»In unserem Konferenzraum?«

»Ja.«

»Wie groß ist diese Spinne?«

»Ihre Beine sind etwa zehn Zentimeter lang.«

Alessandro sah zum Himmel hinauf. Das Autodach verhinderte den freien Blick gen Himmel, aber ich war mir sicher, dass eine höhere Instanz seine stumme Bitte um Gnade wahrgenommen hatte.

»Ich habe ganz vergessen zu fragen, wie es mit Gunderson gelaufen ist?«

Alessandro zuckte mit den Achseln. »Wir haben miteinander geredet. Ich habe ihn gefesselt und wie ein Stück Vieh am Gerichtsgebäude abgeliefert. Von jetzt ab kann sich Lenora darum kümmern.«

Lenora Jordan, die Staatsanwältin des Harris County, würde sich definitiv darum kümmern. Connor hatte einmal gesagt, dass Recht und Ordnung ihre Götter wären und sie ihnen als treu ergebene Paladinin diente.

Wir fuhren um die Kurve. Das Tor zu Linus’ Anwesen tauchte vor uns auf. Leons blauer Mustang Shelby GT350 stand neben dem Nummernblock. Alessandro hielt direkt hinter ihm an.

Ich stieg aus dem Wagen und trat an den Nummernblock heran. Leon hatte den unserer Familie zur Verfügung gestellten Code eingegeben, aber ich besaß natürlich die Zahlenfolge der Stellvertretenden Wächterin. Ich gab sie ein.

Leon ließ das Fenster herunterfahren. »Ich habe vorschriftsgemäß gewartet.«

Das Tor glitt mit metallischem Klirren auf. Die Beleuchtung des Nummernblocks blinkte kurz, behielt aber ihre zitronengelbe Färbung bei.