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Willkomen bei Haus Baylor!
Drei Jahre sind vergangen, seit der Grundstein für Haus Baylor gelegt wurde. Mittlerweile ist es Catalinas Job, die Familienehre (der Dank für erfolgreiche Trainingseinheiten geht dabei an Mrs Rogan!) zu verteidigen. Noch immer fällt es ihr schwer, ihre ganz besondere Magie einzusetzen. Doch da werden Mutter und Schwester einer Freundin ermordet. Catalina beginnt auf eigene Faust zu ermitteln, um die abscheuliche Tat aufzuklären. Doch finstere Mächte sind am Werk. Und Alessandra Sagredo - gefährlich, unberechenbar und Catalinas einstiger Schwarm - scheint Teil dessen zu sein. Um den Fall zu lösen, scheint Catalina nun nichts anderes übrig zu bleiben, als ihre ungeliebten Fähigkeiten einzusetzen - und sowohl ihr Haus als auch ihr Herz dabei aufs Spiel zu setzen ...
"Bildgewaltig, fantasievoll und actionreich ... Ilona Andrews ist eine Meisterin ihres Fach!" KIRKUS
Band 4 der HIDDEN-LEGACY-Reihe
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Seitenzahl: 598
Titel
Zu diesem Buch
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Epilog
Die Autorin
Die Romane von Ilona Andrews bei LYX
Leseprobe
Impressum
ILONA ANDREWS
Hidden Legacy
SAPHIRFLAMMEN
Ins Deutsche übertragen von Marcel Aubron-Bülles
Drei Jahre sind vergangen, seit der Grundstein für Haus Baylor gelegt wurde. Mittlerweile ist es Catalinas Job, die Familienehre (der Dank für erfolgreiche Trainingseinheiten geht dabei an Mrs Rogan!) zu verteidigen. Noch immer fällt es ihr schwer, ihre ganz besondere Magie einzusetzen. Doch da werden Mutter und Schwester einer Freundin ermordet. Catalina beginnt auf eigene Faust zu ermitteln, um die abscheuliche Tat aufzuklären. Doch finstere Mächte sind am Werk. Und Alessandro Sagredo – gefährlich, unberechenbar und Catalinas einstiger Schwarm – scheint Teil dessen zu sein. Um den Fall zu lösen, scheint Catalina nun nichts anderes übrig zu bleiben, als ihre ungeliebten Fähigkeiten einzusetzen – und sowohl ihr Haus als auch ihr Herz dabei aufs Spiel zu setzen …
Ich schwamm im warmen Wasser des Golfs von Mexiko, als jemand auf den Himmel einschlug. Die glänzenden kleinen Fische, die mir gefolgt waren, huschten davon, das kristallklare Wasser um mich herum löste sich auf, und ich landete krachend auf Sand.
Über mir erzitterte der Himmel. Bumm, bumm, bumm!
Mein Traum zerfaserte wie ein feuchtes Taschentuch, und einen verwirrenden Augenblick lang wusste ich nicht, wo ich mich befand. Langsam tauchten vor mir in den Schatten die vertrauten Umrisse meines Schlafzimmers auf. Der Wecker auf meinem Nachttisch flammte glühend rot. 02:07.
Jemand schlug auf meine Tür ein.
»Catalina!«, hörte ich meine Schwester brüllen. »Steh auf!«
Panik durchzuckte mich. Ich sprang aus dem Bett, rannte durch mein Zimmer und riss die Tür auf. »Ist das Flugzeug abgestürzt?«
»Was? Nein!«
Ich lehnte mich erleichtert an den Türrahmen. Unsere ältere Schwester Nevada, ihr Ehemann und ihre Schwiegermutter waren auf dem Weg zu einem Begräbnis in Spanien. Und sie flogen über den Ozean. Was mir ernsthafte Sorgen machte.
»Mit dem Flugzeug ist alles in Ordnung«, sagte Arabella.
»Was ist denn dann los?«
Arabellas Gesicht war gerötet, und ihre blonden Haare standen seltsam in alle Richtungen ab. Sie trug ein altes, fleckiges Sailor-Moon-T-Shirt, und ihre Basketballshorts hatte sie falsch herum angezogen.
»Augustin ist unten.«
»Welcher Augustin? Augustin Montgomery?«
»Ja!«
Meine Erleichterung verwandelte sich schlagartig in hundertprozentige Alarmbereitschaft. »Warum?« Warum in aller Welt sollte der Herr des Hauses Montgomery mitten in der Nacht unten sein?
»Er will mit dir sprechen. Er sagt, es sei ein Notfall. Beeil dich, bevor Mom ihn abknallt.«
Sie drehte sich auf dem Absatz um und rannte die Treppe hinunter, die von meiner Loftwohnung zum Rest des Lagerhauses führte, das wir unser Zuhause und unseren Geschäftssitz nannten.
Augustin war mit Abstand die letzte Person, die ich um zwei Uhr morgens bei uns erwartet hätte. Etwas Schlimmes musste passiert sein.
Ich sah an mir hinab. Ich trug ein viel zu großes graues T-Shirt, das mir bis zu den Knien ging und die Aufschrift »ICH SCHLAF« trug. Aber es war keine Zeit, mich jetzt noch umzuziehen. Ich lief barfuß die Treppe hinunter und folgte meiner Schwester in einen breiten Flur. Das Licht im Medienzimmer war angeschaltet und verbreitete ein warmes elektrisches Glühen, gerade hell genug, um den Weg zu erkennen.
Der Flur führte zu einer Tür auf der Linken, wo ein kleiner Teil des Lagerhauses der Baylor Agency als Büro diente. Vor dieser Tür stand die gesamte Familie versammelt, alle, außer Mom.
Oma Frida, schlank, braun gebrannt, mit platingrauen Locken, sah besorgt aus. Bernard, mein ältester Cousin, wirkte wie ein Bär, den man aus dem Winterschlaf gerissen hatte – groß, muskulös, zerzaustes hellbraunes Haar. Er hielt ein Tablet in der Hand, das in seinen Pranken zu klein erschien. Neben ihm lehnte hellwach Leon an der Wand, mein jüngerer Halbbruder und das absolute Gegenstück zu mir. Leon war ein drahtiges dunkelhaariges Energiebündel. Er trug immer noch dieselbe Jeans und dasselbe T-Shirt, das er schon gestern Abend angehabt hatte. Entweder war er in den Klamotten eingeschlafen, oder er hatte das Bedürfnis gehabt, um zwei Uhr morgens komplett angezogen zu sein, weil er mal wieder Schandtaten im Sinn hatte. In Leons Fall kamen keine anderen Gründe in Betracht.
Vor mir rannte Arabella die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer und kehrte mit einem riesigen Texas-A&M-University-Sweatshirt in den Händen zurück. Sie schmiss es mir ins Gesicht. »Titten.«
Bernards Wachheitszustand hatte eine Ebene erreicht, bei der ein Augenrollen wieder möglich war.
»Danke!« Ich zog mir das Sweatshirt über, um die Tatsache zu vertuschen, dass ich keinen BH trug. »Wie ist Augustin hier reingekommen?«
Bei Nacht war der Zugang zum Lagerhaus durch Betonabsperrungen blockiert. Der Zugang war nur über eine einzige Straße möglich, und die wurde von Sicherheitspersonal bewacht, das genau das, was gerade passierte, hätte verhindern sollen. Augustin war gnadenlos. Er hätte uns alle im Schlaf töten können.
»Haben unsere Wachleute ihn reingelassen? Hat jemand angerufen und Bescheid gesagt, dass er kommt?«
»Witzig, dass du fragst«, sagte Leon. »Schau dir doch mal dieses nette Video an.«
Bernard drehte mir das Tablet hin. Das Bild stammte von der Überwachungskamera innerhalb des Kontrollhäuschens, in dem sich die beiden Wachleute befanden, eine hispanoamerikanische Frau in den Vierzigern und ein dunkelhaariger Weißer Mitte zwanzig. Lopez und Walton. Ein silberfarbener Bentley Bentayga rollte an das Häuschen heran. Das Fenster auf der Fahrerseite wurde heruntergefahren und gab den Blick auf mich frei.
»Hallo, Ms Baylor«, sagte Walton.
Catalina, die Hochstaplerin, nickte.
»Schaut in die Anwesenheitsliste, schaut in die Anwesenheitsliste …«, sang Leon.
Das Protokollbuch für Ankünfte und Abfahrten zu unserem Gelände befand sich direkt vor ihnen auf der Ablage. Ein kurzer Blick würde ihnen zeigen, dass ich bereits zu Hause war.
Der Wachmann beugte sich vor, doch seine Hand griff nicht nach dem Buch, sondern darüber hinweg nach dem Schrankenschalter.
»Totalversagen!«, stellte Leon fest.
Walton betätigte den Schalter, und ein lautes metallisches Scheppern vermeldete, dass die robuste Nagelsperre eingezogen wurde. Das Fenster wurde wieder hochgefahren, und das gepanzerte Fahrzeug glitt vorwärts und aus dem Bild.
Mir fehlten nicht nur die Worte. Es fehlte mir an so ziemlich allem.
Lopez runzelte die Stirn. »Seit wann haben die denn einen Bentley?«
Der Wachmann zuckte mit den Achseln. »Wer weiß das schon? Vielleicht war es ein Geburtstagsgeschenk.«
»Volltrottel«, sagte Arabella.
Augustin Montgomery war ein hochbegabter Illusionsmagier. Er konnte das Aussehen jedes Menschen imitieren, er konnte jede Stimme nachahmen, und er war in der Lage, alle Fingerabdruck- und Netzhautscanner zu täuschen. Und er war gerade fröhlich bei uns hereingeschneit, allen Sicherheitsmaßnahmen zum Trotz.
»Wir haben ein echtes Problem«, sagte ich.
»Was du nicht sagst«, meinte Leon.
»Catalina«, meldete sich Oma Frida, »deine Mutter sitzt mit dem Idioten und einer Desert Eagle im Konferenzraum. Rein mit dir, bevor sie ihm eine Kugel zwischen die Augen jagt.«
Ich öffnete die Tür, betrat den Büroflur und schloss die Tür wieder hinter mir. Dieser Teil des Lagerhauses sah mit seinem strapazierfähigen beigefarbenen Teppich, der abgehängten Decke und den Glaswänden aus wie der typische Arbeitsplatz. Die drei Büros zu meiner Rechten und der Pausenraum zur Linken mit seiner kleinen Teeküche lagen im Dunkeln. Nur im Konferenzraum, direkt hinter dem Pausenraum, war das Licht eingeschaltet und strahlte durch die Glaswand in den Flur.
Ich ging einen Schritt weiter und hielt dann inne. Als ich vor drei Tagen ganz offiziell meinen einundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte, war ich gleichzeitig auch die Herrin des Hauses Baylor geworden. Wir waren ein brandneues Haus, dessen Gründung nur drei Jahre zurücklag. Unsere Schonfrist, während der uns andere Häuser nicht angreifen durften, würde schon bald ablaufen. Im Lauf unserer Geschäfte hatte ich schon das eine oder andere Mal mit magischen Schwergewichten zu tun gehabt, aber dies wäre der erste Umgang mit einem anderen Hochbegabten als Herrin eines Hauses. Und Augustin war ein Hai in einem Viertausend-Dollar-Anzug, ein Weißer Hai mit rasiermesserscharfen Zähnen.
Ich musste es richtig angehen. Einfach reinplatzen kam gar nicht infrage. Egal, ob es sich um einen Notfall handelte oder nicht, ich hatte eine Rolle zu spielen.
Mein Magen zog sich zusammen.
Denk daran, du bist eine Hochbegabte, Herrin des Hauses, Victoria Tremaines Enkelin, selbstbewusst, gefährlich, du kennst keine Angst, bist mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen worden … du bist sauer. Definitiv sauer.
Ich setzte eine leicht säuerliche Miene auf und betrat den Konferenzraum.
Augustin drehte sich auf seinem Stuhl zu mir um. Louis Auchincloss, der Romane über die feine Gesellschaft schrieb, war berühmt für seine Aussage »Perfektion ist genauso irritierend, wie sie anziehend ist, egal ob in der Literatur oder im Leben«. Augustin irritierte mich maßlos.
Da Augustin ein hochbegabter Illusionsmagier war, gestaltete er sein Aussehen, wie ein Ausnahmekünstler sein Meisterwerk plante. Sein Gesicht wirkte wie gemeißelt – scharf konturierte Wangenknochen, ein kantiges Kinn, das Männlichkeit zum Ausdruck brachte, ohne Primitivität zu vermitteln, eine gerade Nase und eine breite Stirn. Die leicht hohlen Wangenknochen machten auch deutlich, dass er die Reife des Alters für sich in Anspruch nehmen konnte. Ein meisterhafter Herrenfriseur hatte seine beinahe platinblonden Haare in ein Kunstwerk verwandelt. Seine rahmenlose Brille war die einzige Unvollkommenheit, die sich Augustin erlaubte, aber sie reichte nicht. Er hatte etwas Kühles und Zeitloses an sich. Was bedeutete, dass er in etwa so lebendig wirkte wie eine Marmorstatue.
Am anderen Tischende hatte meine Mutter Platz genommen und musterte ihn wie eine angriffslustige Kobra. Ihre rechte Hand war unter dem Tisch verborgen, vermutlich, weil sie mit ihr die Desert Eagle.50 AE berührte. Keine andere legal erwerbbare Handfeuerwaffe in den USA besaß ein größeres Kaliber. Näher konnte Mom mit dem, was sie da unter dem Tisch versteckt hielt, nicht an ein tragbares Geschütz herankommen. Eine Kugel vermochte einen prall gefüllten Kühlschrank zu durchschlagen und auf der anderen Seite noch jemanden zu töten.
Meine Mutter hatte fast zehn Jahre als Scharfschützin gedient, und ihre magische Begabung sorgte dafür, dass sie niemals verfehlte. Wenn sie Augustin tötete, dann würde Montgomery International Investigations uns in den Staub treten. Das Unternehmen gehörte Augustin. Sollte er wie durch ein Wunder überleben, dann würde er sie töten. Wie so oft im Leben gab es keine guten Entscheidungen. Ich musste ihn sofort hier rausholen.
Ich verlieh meiner Stimme einen kühlen, leicht verärgerten Ton. »Mr Montgomery, Sie sind uns immer willkommen, aber es ist mitten in der Nacht.«
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er. »Es handelt sich um einen Notfall.« Er griff in seine Anzugtasche, holte sein Handy hervor und hielt es mir hin.
Auf dem Display lächelte ein Jugendlicher in die Kamera. Leuchtend rote, kurz geschnittene Haare, graue Augen, blasse Haut und das selbstzufriedene Grinsen eines Teenagers, der gerade Unfug angestellt hatte und damit durchgekommen war. Er kam mir irgendwie bekannt vor, aber ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, ihn früher schon mal gesehen zu haben.
»Das ist Ragnar«, erklärte Augustin. »Er ist fünfzehn. Er hat einen Hund namens Tank. Er mag Krimis und liebt die neue Sherlock-Holmes-Serie. In Hero Tournament spielt er einen Ranger. Vor zwei Tagen sind seine Mutter und seine Schwester bei einem Brand ums Leben gekommen.«
»Warum erzählen Sie mir das?«
»Weil er in diesem Augenblick auf dem Dach des Memorial-Hermann-Krankenhauses steht. Er hat vor zu springen, und da er ein Hochbegabter ist, kommt niemand an ihn ran. Wenn wir uns nicht beeilen, wird sein zerschmetterter Leichnam die Schlagzeile in den Morgennachrichten sein.«
Besorgnis durchzuckte mich wie ein elektrischer Schlag.
»Augustin, Sie wissen genau, dass ich so etwas nicht mache. Ich habe noch nie jemanden von einem Dach geholt. Wenn ich scheitere, dann werde ich für seinen Tod verantwortlich sein …«
»Aber Sie können es. Es liegt in Ihrer Macht.« Er sah mir direkt in die Augen. »Ihre Schwester hat mich einmal um einen Gefallen gebeten. Ich bitte nun Sie um Ihre Hilfe, vom Herrn eines Hauses zur Herrin eines anderen. Er hat nur noch eine Schwester. Die sich in diesem Augenblick beim Krankenhaus befindet und betet, dass er sich nicht zu Tode stürzt.«
Wenn ich es versuchen würde und dabei scheiterte, gäbe es eine schmerzerfüllte Hochbegabte, die ihren ganzen Kummer und Zorn auf mich konzentrieren könnte. Dies zu riskieren wäre mehr als leichtsinnig.
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen helfen kann. Mein Eingreifen könnte alles nur noch schlimmer machen.«
Augustins Fassade bekam einen Riss, und in seinen Augen entdeckte ich zum ersten Mal menschliche Emotionen. »Er ist nur ein Kind, Catalina. Er hat schon so viel verloren. Noch nie in seinem Leben hat er solche Schmerzen empfinden müssen, und er hat einfach keine Ahnung, wie er damit umgehen soll. In diesem Augenblick will er nur, dass dieser Schmerz aufhört. Bitte versuchen Sie es.«
Ich wollte gerade schon mit einem Nein antworten und dachte dabei an einen Jungen, der allein in der Dunkelheit an einem Abgrund stand. So verzweifelt, so verletzt, dass er bereit war, sein Leben auf diese schmerzhafte Weise zu beenden.
Mein Vater hatte auch an einem solchen Abgrund gestanden, nur hatte sein Abgrund Krebs gehießen. Wir hatten alles versucht, ihn dieser Dunkelheit zu entreißen. Wir hatten jeden Augenblick um ihn gekämpft. Wir hatten unser Haus verkauft und waren hierhergezogen, in dieses Lagerhaus, damit wir seine Arztrechnungen bezahlen konnten. Und dann hatten wir unser Unternehmen an Augustin verpfändet, um Dad experimentelle Therapien zu ermöglichen. Er hatte die Baylor Investigative Agency aus eigener Kraft aufgebaut. Er hatte sie als sein Vermächtnis angesehen, ein Unternehmen, das uns ernähren und ein Dach über dem Kopf bieten würde, und wir hatten es als Pfand benutzt, um uns Geld zu leihen. Es fühlte sich wie ein Verrat an, und wir verheimlichten es vor meinem Vater, weil es ihn schneller umgebracht hätte als jeder Krebs. Am Ende konnten wir das Unausweichliche nur einige Monate lang hinauszögern, aber das war es uns wert. Ich würde alles tun, um nur noch einen einzigen Tag mit meinem Dad verbringen zu können. Alles.
Ragnar war gerade mal fünfzehn.
»Ja. Ich werde es versuchen.«
»Bist du dir sicher?«, fragte meine Mutter.
»Ja.«
»Nimm Leon mit«, sagte sie.
»Nein.« Wenn etwas schiefgehen sollte, wollte ich nicht, dass er etwas abbekam.
»Ich werde sie wohlbehalten zurückbringen«, versprach Augustin.
Meine Mutter richtete ihren Scharfschützenblick auf ihn. »Das sollten Sie auch.«
Augustins silberfarbener Bentley raste auf der Gessner Road Richtung Süden. Es war kurz nach zwei Uhr morgens, und selbst die Straßen Houstons waren leer. Der Chauffeur holte auch noch die letzte Pferdestärke aus dem schwer gepanzerten Fahrzeug heraus. Normalerweise hätte die Fahrt zum Memorial Hermann mindestens fünfzehn Minuten gedauert. Diesmal würden wir es in weniger als der Hälfte der Zeit schaffen. Augustin saß auf dem Beifahrersitz. Ich konnte auf seinen blonden Schopf blicken. Ich hätte ihm wirklich gerne eins übergezogen. Wenn mir gestern jemand erzählt hätte, ich würde mitten in der Nacht auf dem Rücksitz von Augustins Auto landen, ein Sweatshirt über meinem Schlafshirt und Sneaker ohne Socken tragen, dann hätte ich diese Person gefragt, was sie heute geraucht hatte, und ihr dringend den Besuch bei einem Therapeuten empfohlen.
Mir fehlten meine Waffen. Ich fühlte mich total hilflos.
Augustin hatte allerdings mit einer Sache recht. Nevada schuldete ihm einen Gefallen.
Mein Vater war in das Haus Tremaine hineingeboren worden, ein kleines Haus, das nur aus ihm und meiner Großmutter Victoria bestanden hatte. Victoria war eine Wahrheitssucherin wie Nevada und konnte somit jedem Menschen gegen seinen Willen alle Informationen entreißen. Mein Vater war ohne Magie auf die Welt gekommen, und Victoria erwies sich als furchtbare Mutter. Als er achtzehn war, floh er und baute sich unter falschem Namen ein neues Leben auf. Meine Großmutter hatte sich im Lauf ihrer Suche nach ihm auf dem gesamten Kontinent durch zahllose Häuser gewütet. Die bloße Erwähnung ihres Namens ließ selbst mächtige Hochbegabte zusammenzucken.
Vor drei Jahren, kurz vor der Gründung unseres Hauses, war Victoria auf der Suche nach uns gewesen. Augustin kannte Nevadas Identität. Er hätte es meiner Großmutter mitteilen und aus dieser Information großen Nutzen ziehen können, aber stattdessen hatte er Nevada erlaubt, in seinem Verstand herumzupfuschen, sodass Victoria mit leeren Händen hatte abziehen müssen. Ich hasste es, Schulden zu haben. Es würde sich gut anfühlen, diese Schuld zu begleichen.
Das änderte allerdings nichts an der Tatsache, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, was ich eigentlich tun sollte.
»Woher kennen Sie die Familie?«, fragte ich.
»Ragnars Schwester hat MII wegen des Todes ihrer Mutter und ihrer Schwester kontaktiert. Sie ist der Ansicht, dass der Brand kein Zufall war.«
»War es wirklich keiner?«
»Es ist mir nicht gestattet, über diesen Fall zu sprechen.«
Tja. »Haben Sie den Fall angenommen?«
»Sie kennt unseren Stundensatz.«
»Sie haben sie abgelehnt. Augustin! Sie ist zu Ihnen gekommen, und Sie haben sie abgelehnt. Und jetzt wird ihr Bruder sich umbringen.«
Er blickte in den Rückspiegel und sah mich kühl an. »Wenn ich meine Leute in Gefahr bringen soll, dann muss ich sie angemessen bezahlen. Ich führe keine Wohltätigkeitsorganisation, Catalina. Gerade Sie sollten wissen, wie viel auf dem Spiel steht, wenn man den Tod eines Hochbegabten untersucht.«
Oh ja, das wusste ich. Wenn dein Zuhause von einem Team aus Auftragsmördern angegriffen wird, das Feuerstürme und heraufbeschworene Monster aus Anderwelten in die Schlacht schickt, hinterlässt das einen bleibenden Eindruck.
Ich schaute durch die Windschutzscheibe und erblickte die futuristisch wirkende Krone auf dem Memorial Hermann Krankenhaus. Sie wurde durch rot, weiß und blau glühende Dreiecke erhellt und hob sich auf einer Höhe von zweiunddreißig Stockwerken vom pechschwarzen Himmel ab. Wir waren fast da.
»Haben Sie wenigstens seiner Schwester erzählt, was sie zu erwarten hat, wenn ich meine Magie einsetzen muss?«
»Ich habe ihr gesagt, dass der Junge ruhiggestellt werden muss.«
Der Wagen fuhr auf den Parkplatz. Ein hispanoamerikanischer Mann rannte mit hektischem Blick auf uns zu und riss meine Tür auf. Eiskalte Luft schlug mir entgegen. Die Winter in Houston waren in der Regel recht mild, aber eine Kaltfront war hierhergezogen, und die Temperaturen waren unter null gefallen. Meine nackten Knie begannen zu zittern.
»Ist er gesprungen?«, blaffte Augustin ihn an.
»Nein, Sir.«
»Dann los.« Augustin sprang aus dem Wagen.
Ich kletterte mühselig aus dem Fahrzeug. Der pfeifende Wind zerrte an mir mit eisigen Klauen.
Augustin und ich rannten praktisch zur Tür. Die Glasschiebetüren öffneten sich automatisch, und ich tauchte in die warme Luft des Gangs vor mir ein. Mehrere Leute standen vor den Aufzügen, einige in OP-Klamotten, andere in Anzügen, aber alle hatten denselben panischen Blick. Als sie uns bemerkten, liefen sie schnell davon, und nur eine junge rothaarige Frau blieb noch übrig. Sie drehte sich zu mir um. Als ich sie wiedererkannte, war es wie ein Schlag in die Magengrube.
»Runa? Runa Etterson?«
Ihre tränenüberströmten Augen wurden groß, als sie mich ebenfalls erkannte. »Catalina?«
Vor drei Jahren hatte ein Feind des Hauses Rogan vor Nevadas Hochzeit die Hochzeitstorte vergiftet. Der einzige Grund, warum wir alle noch am Leben waren, einschließlich Augustin, war Runa, die die Gifte aus der Torte entfernt hatte, bevor wir sie zu essen bekamen. Sie war eine hochbegabte Venenata, eine Giftmagierin. Sie hätte alle in diesem Raum in nur wenigen Sekunden töten können. Und der Junge oben auf dem Dach war ihr Bruder. Oh mein Gott!
Augustin ging an mir vorbei und betrat den Aufzug. »Catalina, wir haben keine Zeit.«
Jetzt war ich schon mal hier. Ob nun Giftmagier oder nicht, Ragnar war immer noch ein fünfzehnjähriger Junge am Dachrand eines Wolkenkratzers. Wenn ich nicht versuchte, ihn zu retten, würde ich nachts nicht mehr schlafen können.
Ich rannte in den Aufzug. Hinter uns schloss sich die Tür. Das Letzte, was ich sah, war Runa, die mich anblickte, als ob ich die Lösung all ihrer Probleme wäre.
Mit leisem Summen brachte uns der Aufzug nach oben, hell beleuchtet und absolut normal. Ich erblickte mich in einer Spiegelwand. Ich sah aus, als wäre ich gerade erst aus dem Bett gefallen. Die Situation kam mir fast schon surreal vor: Hier stand ich in einem hell erleuchteten Aufzug mit Spiegelwänden, in dem leise Musik erklang, und neben mir befand sich der unerreichbar perfekte Augustin. Vielleicht war alles nur ein Traum.
Runas Mutter und Schwester waren tot. Und Augustin musste einen unbezahlbaren Preis genannt haben. Ich hatte eigentlich vorgehabt, sofort wieder nach Hause zurückzukehren, wenn ich den Jungen erst mal in Sicherheit gebracht hatte, aber dies änderte alles.
»Sie haben mir nicht gesagt, dass er ein hochbegabter Venenata ist.«
»Ich habe Ihnen gesagt, er lässt niemanden an sich ran.«
Furcht durchzuckte mich. »Hat er jemanden getötet?«
Augustin seufzte. »Er ist ein netter Junge. Er hat dafür gesorgt, dass allen so übel wurde, dass sie zurückweichen mussten, aber niemand hat bleibende Schäden.
»Was hat er angestellt?«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Sie werden es riechen.
Die Zahl auf der Digitalanzeige im Aufzug wurde beständig höher.
»Wenn die Tür aufgeht, biegen Sie nach links ab«, sagte Augustin. »Gehen Sie bis zur Tür mit der Aufschrift AUSGANG und dann eine Treppe hinauf. Dort finden Sie eine Metalltür, über die Sie auf das Dach gelangen.«
»Das ist ein schrecklicher Plan«, sagte ich zu ihm.
»Ragnar wird zögern, Ihnen Schmerzen zuzufügen. Wenn er es versucht, werde ich da sein und helfen.«
»Wenn er Sie sieht …«
»Er wird mich nicht sehen.«
Die Aufzugtüren glitten mit einem sanften Klingeln auf. Ich bog nach links ab, folgte dem Flur bis zur Ausgangstür und die Treppe hinauf. Meine Hände zitterten.
Es stank nach Säure und Erbrochenem. Eine Spur aus schmutzigen Bröckchen zog sich vor mir die Stufen hinab. Die wollte ich mir lieber nicht genauer ansehen.
Die eiskalte Metallklinke verbrannte mir die Fingerspitzen. Ich öffnete die Tür und trat auf das Dach hinaus. Über mir erstreckte sich der Himmel in unendlicher Finsternis, von der sich die strahlende Krone deutlich absetzte. Der eisige Wind fraß sich mühelos bis auf die Knochen durch meine dünne Kleidung.
Ragnar stand direkt am Dachrand, eine dürre Gestalt in verblassten Jeans und einem Hoodie, die auf einem Betonvorsprung balancierte. Im Panorama der Nacht wirkte er winzig, wie eine Ameise auf einem Wolkenkratzer.
Er drehte sich um und sah mich an. Das Neonlicht der Krone erhellte sein Gesicht. In seinem Blick lagen zugleich Bestimmtheit und Erleichterung. Er war nicht erleichtert, mich zu sehen. Er war erleichtert, weil er die Entscheidung getroffen hatte und springen würde. Mir blieb keine Zeit mehr.
»Sag Runa, dass es mir –«
Ich entfesselte meine Magie mit aller Macht.
Als der Registrar nach einer Bezeichnung für meine Magie suchte, hatte er mich als Sirene bezeichnet, was tatsächlich gut passte – wie die Sirenen aus Sagen und Mythen rief ich die Menschen zu mir, und sie konnten meinem Ruf nicht widerstehen. Und wie die alten Sirenen besaß ich Flügel, wunderschöne, magische Flügel, die niemand sehen konnte, wenn ich es nicht erlaubte. Ich breitete sie hinter mir aus, als ich den fokussierten Magiestrom auf Ragnar richtete.
Er erstarrte. Seine Fersen schwebten nun einige Zentimeter über dem Abgrund. Eine falsche Bewegung, und er würde sterben.
»Ragnar …« Ich sang seinen Namen, und mein Gesang war Verheißung für ihn.
Er fuhr sich nervös mit seiner Zunge über die Lippen. »Hallo!«
»Hallo! Mein Name ist Catalina.« Meine Magie entströmte mir, umfasste ihn, wob mit jeder Silbe ein Netz aus unsichtbaren Fäden um ihn.
»Du bist so schön«, sagte er.
»Danke! Es ist kalt, und es ist dunkel. Meinst du, wir könnten vielleicht hineingehen?«
Er nickte fasziniert.
Ich streckte meine Hand aus. »Ich habe Angst hier oben. Nimmst du meine Hand?«
Er machte einen Schritt, stolperte, schwankte am Rand, versuchte mit den Armen rudernd das Gleichgewicht zu bewahren … Mein Herz schlug heftig und schien meinem Brustkorb entfliehen zu wollen.
Aus dem Nichts tauchte Augustin direkt neben Ragnar auf, packte ihn am Hoodie und riss ihn aus der Leere unter ihm zurück. Runas Bruder landete krachend auf dem Dach.
Heilige Scheiße! Beinahe hätten meine Knie versagt.
Ragnar kam wieder auf die Beine, lief auf mich zu und ergriff meine Hand mit einem schüchternen Lächeln.
Ich erwiderte sein Lächeln. »Lass uns reingehen.«
Wir traten durch die Tür ins Treppenhaus, Augustin direkt hinter uns. Ich musterte ihn kurz. Er war rein. Meine Magie hatte ihn nicht einmal berührt. Ich hatte sie in einem extrem fokussierten Strahl auf Ragnar gerichtet. Augustin konnte sich unsichtbar machen. Nevada würde ausflippen, wenn ich ihr das erzählte.
Wir betraten den Aufzug. Auf Augustins perfekter Stirn glänzten Schweißtropfen. Er keuchte, als ob er die gesamte Strecke bis zum Dach die Treppe hinaufgelaufen wäre. Ragnar fasste meine Hand sehr zärtlich an, als ob meine Finger aus Glas wären. Das würde aber nicht so bleiben.
Die meisten magisch Begabten mussten sich anstrengen, um ihre Magie zu wirken. Bei mir war es das Gegenteil. Ich musste sie im Zaum halten. Kurz nach meiner Geburt hatte eine Krankenschwester versucht, mich zu entführen. Das kostete sie ihre Karriere. In den darauffolgenden Jahren, bevor ich lernte, meine Kräfte zu kontrollieren, taten ganz normale Menschen die verrücktesten Dinge, um mich in ihre Gewalt zu bekommen. Meine Grundschullehrerin versuchte mich aus ihrer Klasse und in ihren Wagen zu schmuggeln. Meine Klassenkameraden rissen mir Haare aus, um einen Teil von mir zu besitzen.
Andere Kinder wurden dazu ermuntert, süß zu sein, damit Erwachsene sie mochten. Wenn ich lächelte, dann waren die Erwachsenen wie hypnotisiert, und wenn ich wollte, dass sie mich mochten, dann liebten sie mich geradezu zwanghaft. Ihre Kinder begannen hysterisch zu weinen, sobald ich den Spielplatz verließ.
In diesem Augenblick liebte mich Ragnar mehr als alles andere auf dieser Welt. Bald schon würde eine Berührung nicht mehr genügen. Er würde mich in die Arme nehmen und an sich drücken wollen, mir eine Strähne ausreißen, um an ihr schnuppern und sie schmecken zu können. Er würde einen Teil von mir haben wollen, den er liebkosen und beißen konnte.
Der Registrar hätte mich genauso gut auch Orpheus nennen können. Früher oder später wollten alle, die von meiner Magie zu schmecken bekommen hatten, mich in Stücke reißen. Sie würden jeden einzelnen Tropfen meines Blutes, jedes noch so kleine Stück Fleisch lieben und verehren, während sie mich töteten. Nur unser Arzt war immun. Wir hatten keine Ahnung warum. Und meine Familie. Sie musste ich nicht verzaubern. Sie liebten mich bereits.
Der Aufzug erreichte das Erdgeschoss. Die Türen glitten auf, und Runa sprang auf ihren Bruder zu, um ihn zu umarmen. Als sie ihre Arme um ihn schlang, musste Ragnar mich loslassen.
Ragnar schrie laut auf, als ob ihn jemand mit einem Messer verletzt hätte. Der Schrei hatte etwas von einem Tier an sich. Seine Schwester ließ ihn wie benommen los. Er stürzte sich auf mich und klammerte sich an meine Hand.
Ein Mann bahnte sich einen Weg durch die Menge. Er trug einen kleinen Arztkoffer bei sich.
»Ragnar«, rief ich sanft.
Er sah mich an, und grenzenlose Liebe lag in seinem Blick. Ich wusste, dass dies nur vorübergehend war, aber ich zuckte dennoch innerlich zusammen.
»Der Herr dort drüben wird dir gleich eine Spritze geben. Ich habe Angst vor Spritzen. Du auch?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin tapfer.
»Zeigst du mir, was es heißt, tapfer zu sein, Ragnar?«
Er streckte seinen Arm aus, ohne den Blick von mir zu nehmen. Runa umarmte ihn. Ich sah zu, wie der Arzt die Nadel setzte. »Du wirst dich gleich müde fühlen. Schlaf ruhig ein, das ist okay.«
»Lass mich nicht allein!«
»Ich werde dich nicht allein lassen«, versprach ich ihm. »Ich bleibe hier und halte deine Hand.«
Ragnars Hand erschlaffte. Er seufzte glücklich, schloss seine Augen, und seine Schwester fing ihn auf.
Ich wandte mich an Augustin. »Ich muss ihn zum Lagerhaus bringen.«
»Er muss unter Bewachung gestellt werden«, sagte Augustin.
»Nein, er muss in unser Lagerhaus gebracht werden, damit ich ihn von meiner Magie befreien kann. Wenn er aufwacht, und ich bin nicht bei ihm, wird er versuchen, zu fliehen und mich zu finden. Und dann werden Menschen sterben.«
Augustin wandte sich an Runa. »Es ist deine Entscheidung.«
Ich sah ihr in die Augen. »Du kennst mich. Du hast gesehen, was ich kann. Bitte vertraue mir.«
»Dann los«, sagte sie.
Die Rückfahrt dauerte wesentlich länger als unsere Fahrt zum Krankenhaus. Der Chauffeur ließ sich offenbar Zeit, und der Bentley schien die dunklen Straßen entlangzuschleichen. Runa konnte in ihrem gemieteten Nissan Rogue problemlos Schritt halten. Sie hatte darauf bestanden, uns mit Ragnar in ihrem Wagen zu folgen.
Ich saß neben Augustin auf dem Rücksitz. Nach dem Adrenalinschub von eben gab ich mich meiner sanften Ermattung hin. Hätte ich mich nicht im Fahrzeug eines gefährlichen Hochbegabten befunden, hätte ich die Augen geschlossen und wäre eingeschlafen.
»Gut gemacht«, sagte Augustin.
Ich hatte seine Billigung nicht nötig. »Nevadas Schulden sind hiermit beglichen. Wir sind quitt.«
»Einverstanden. Obwohl es, um genau zu sein, ein Gefallen dem Hause Etterson gegenüber war.«
»Was Sie und Haus Etterson angeht, machen Sie zwischen sich und Runa aus. Ich wundere mich nur, dass Sie sich überhaupt die Mühe gemacht haben.«
»Ich weiß, was es heißt, für einen jüngeren Bruder verantwortlich zu sein.«
Ah! Menschlichkeit von Augustin. Unerwartet.
Augustin neigte den Kopf zur Seite. »Haus Etterson mag sich für Sie als wertvoller Verbündeter erweisen, wenn Sie überleben. Sie schulden Ihnen einen Gefallen, den Sie jederzeit einfordern können. Sie brauchen Verbündete, Catalina. Die Galgenfrist, die Ihrem Haus gewährt worden ist, läuft bald ab. Es werden eine Menge Leute Jagd auf Sie und die Ihren machen. Sie sind mächtig, aber unerfahren, und weil Ihre Fähigkeiten geheim gehalten wurden, sind Sie eine unbekannte Größe. Leider reicht das als Abschreckungsmittel nicht aus.«
»Wie lauten Ihre Bedingungen?«, fragte ich.
Augustin hob eine Augenbraue.
Ich zählte die Punkte an meinen Fingern ab. »Sie haben mich von meiner Familie getrennt. Sie wissen genau, dass meine ältere Schwester und mein Schwager nicht im Lande sind und mich daher im Augenblick nicht beraten können. Es ist mitten in der Nacht, und ich bin erschöpft, weil ich gerade meine Magie eingesetzt habe. Sie haben mir Komplimente gemacht, Sie haben mir die Gefahren aufgezeichnet, die meinem Haus drohen, und wir fahren gemütliche achtzig Kilometer die Stunde. Sie möchten mir ein Angebot machen. Nun, raus damit.«
Augustin räusperte sich kurz. »Einverstanden. Ausführliche Erklärungen und das Händchenhalten zu überspringen macht die Dinge einfacher.«
Ich wartete.
»Ich biete Ihnen ein strategisches Bündnis zwischen Haus Montgomery und Haus Baylor an. Von Zeit zu Zeit landen Fälle auf meinem Tisch, die genau auf die Fähigkeiten ihrer Familie zugeschnitten sind. Ich möchte, dass Sie diese für mich übernehmen. Im Gegenzug biete ich eine großzügige Bezahlung, den Zugang zu allen Ressourcen von MII im Rahmen dieser Fälle und den Vorteil eines Bündnisses mit meinem Haus.«
Er bot mir nicht nur Schutz, sondern auch ein festes Einkommen. Für uns bedeutete ein solches Bündnis exzellente Kontakte und Informationen. MII unterhielt ein ausführliches Netzwerk aus Informanten und Beobachtern. Es gab in Houston nicht viel, von dem Augustin nichts wusste. Er sammelte vertrauliche Informationen, bis ihn jemand dafür angemessen bezahlte oder er sie einsetzen konnte, um einer Bedrohung zu begegnen. Der Zugriff auf diese Datenbank war absolut unbezahlbar.
Zu Augustins besonderen Talenten zählte außerdem die Fähigkeit, genau zu wissen, was jemand brauchte. Man musste allerdings kein Schlaukopf sein, um zu verstehen, dass wir vor allem Schutz benötigten.
Ich musste eine Entscheidung treffen.
»Haus Baylor fühlt sich angesichts Ihrer Großzügigkeit geschmeichelt. Bedauerlicherweise müssen wir Ihr Angebot zu diesem Zeitpunkt ablehnen.«
Daran hatte Augustin einen Augenblick lang zu knabbern.
»Warum?«
»Sie haben Nevada schon dreimal etwas Ähnliches angeboten. Ich bin mir bewusst, dass sie jedes dieser Angebote ausgeschlagen hat, und ich teile ihre Ansichten zu diesem Thema.«
»Erklären Sie es mir«, verlangte Augustin.
»Nun gut. Der eigentliche Vorteil einer solchen Partnerschaft wäre nicht das Geld.« Wir könnten es allerdings gut brauchen. »Der Vorteil wären die Verbindungen und die entsprechend höhere Stellung, die Hochbegabte als Klienten mit sich bringen würden. Damit könnten wir einen entscheidenden Schritt in Richtung Hochbegabtengesellschaft tun und Bündnisse schmieden, die unserem Haus ein belastbares Fundament liefern würden.«
Und natürlich den Zugang zur MII-Datenbank und ihren Agenten, die gleichermaßen legendär waren. Das wussten wir beide, und deswegen musste ich es auch nicht erwähnen.
Ich fuhr fort. »Ich möchte betonen, dass mir der Nutzen Ihres Angebots absolut klar ist. Doch im Augenblick gibt es einen erheblichen Machtunterschied zwischen Haus Montgomery und Haus Baylor. Ich habe gesehen, wie MII arbeitet. Wenn ich Ihren Vorschlag annehme, dann werden Sie davon ausgehen, dass ich Ihren Regeln folge. Und das könnte bedeuten, dass wir unseren Wertekatalog unterlaufen müssen. Wir sind ein Familienunternehmen, wir haben nur unseren Namen und unseren Ruf. Wir kennen nur drei Regeln. Erstens: Wenn unsere Dienste in Anspruch genommen werden, bleiben wir dem Klienten treu. Zweitens: Wir versuchen, nichts Illegales zu tun. Und drittens: Am Ende eines jeden Tages müssen wir in der Lage sein, unserem Spiegelbild ins Auge blicken zu können. Das sind die Prinzipien, die mein Vater für uns festgelegt hat, dies sind die Regeln, denen meine ältere Schwester treu geblieben ist, und so werde ich es auch halten. Wenn wir ein Bündnis mit Haus Montgomery eingehen, dann als Gleichgestellte, nicht als Untergebene oder Subunternehmen, und wir werden unseren eigenen Regeln folgen.«
Stille folgte.
Augustin öffnete den Mund. »Wir sind keine Gleichgestellten.«
»Genau. Haus Montgomery ist ein Koloss, und wir sind klein und jung. Wie Sie schon gesagt haben, vielleicht überleben wir, vielleicht auch nicht. Aber wir müssen auf eigenen Füßen stehen. Wir haben hart daran gearbeitet, aus dem Schatten des Hauses Rogan zu treten, und ich werde diese Unabhängigkeit nicht gegen leicht verdientes Geld eintauschen.«
Augustins Miene blieb ungerührt. »Vielen Dank für ihre Ehrlichkeit.«
»Es kann durchaus passieren, dass ich Sie um Hilfe bitten werde«, sagte ich zu ihm. »Wenn ich das tue, dann werde ich dafür sorgen, dass die von mir gelieferten Informationen Ihren Erwartungen entsprechen oder sie übertreffen.«
Der Bentley bog auf unsere Straße ein.
»Dann verabschiede ich mich von Ihnen mit diesem Ratschlag«, sagte Augustin. »Und der ist kostenlos. Lassen Sie sich nicht in den Fall Etterson hineinziehen. Ich weiß genau, mit wem Sie sich einlassen müssten, und was ich ihr als Kostenvoranschlag genannt habe, war geradezu geschenkt. Wenn man sich in der Nacht auf Suche begibt, kann es sein, dass man in der Finsternis auf Monster trifft. Sie sind dafür noch nicht bereit.«
»Ich werde es im Gedächtnis behalten«, sagte ich zu ihm.
Ich hatte Mom von unterwegs eine Nachricht geschickt, und meine Familie erwartete mich schon. Bernard nahm Ragnar von Augustin entgegen und trug ihn in mein Büro. Oma Frida legte Runa eine Decke über die Schultern, Arabella drückte ihr eine Tasse heiße Schokolade in die Hand, Leon sagte zu ihr, dass sie nun in Sicherheit sei, und Mom bedankte sich bei Augustin. Dann schlug sie ihm die Tür vor der Nase zu.
Anschließend gingen alle aus dem Büro und ließen uns allein. Runa saß auf dem Besucherstuhl, blinzelte mich an und hielt die Tasse heiße Schokolade fest umschlungen. Sie wirkte ein wenig, als ob sie gerade von einem Fronteinsatz zurückgekehrt wäre.
Ich ging zu Ragnar hinüber, der links neben meinem Schreibtisch auf dem Boden lag. Jemand hatte bereits den Teppich zur Seite geschoben, unter dem sich ein arkaner Kreis befand, und anschließend hatte Bernard den Jungen in seine Mitte gelegt. Arkane Kreise, die von Hand mit Kreide gezeichnet wurden, dienten den unterschiedlichsten Funktionen. Einige verfeinerten die magischen Talente, andere verstärkten oder fokussierten sie. Dieser ließ überschüssige Magie abfließen. Ich hatte ihn für genau solche Notfälle gezeichnet und wiederholte dies jede Woche, um mich ständig zu üben. Von oben betrachtet sah er wie ein komplexer Doppelkreis aus, der von Symbolen umschlossen war. Zahlreiche Striche unterschiedlicher Länge durchschnitten den Kreis, dem Strahlenkranz der Sonne ähnelnd.
Ich nahm ein Stück Kreide aus dem Regal und zeichnete zwei weitere Striche hinzu, die den zweiten Kreis unter meinem Stuhl mit dem verbanden, in dem Ragnar lag. Ich setzte mich wieder hin und ließ einen Magiestoß in den kleineren Ring zu meinen Füßen fließen. Die Kreislinien leuchteten silbern auf und verblassten zu einem leichten weißen Glühen. Der Kreis begann Ragnar meine Magie abzuziehen. Irgendwann würde ich müde werden und musste aufhören, aber ich verfügte über große Macht und hätte darauf gewettet, dass Ragnar schon lange vorher von meiner Magie frei sein würde.
»Er wird wieder«, sagte ich zu Runa. »Es lässt sich nicht verhindern, dass ihm auch seine Magie entzogen wird. Er könnte sich also in den nächsten Tagen ziemlich fertig, kraftlos und emotional irgendwie taub fühlen.«
»Das wäre wahrscheinlich sowieso am besten«, erwiderte sie.
Ich hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, aber mein Kopf weigerte sich, etwas Passendes hervorzubringen. Es wäre sinnlos, sie zu fragen, ob sie in Ordnung sei. Ihre Mutter und ihre Schwester waren gerade gestorben. An ihrer Stelle wäre ich in völlige Katatonie verfallen.
Runas Blick wandte sich von mir ab und glitt zur Schreibtischecke. Ihre Augen wurden groß. Ich blickte nach rechts, um zu sehen, was sie bemerkt hatte.
Auf meinem Schreibtisch stand ein gerahmtes Foto von Alessandro Sagredo. Der Rahmen hatte ein quadratisches Format, aber das Foto war in Herzform ausgeschnitten. Jemand hatte die Ränder mit Heißkleber versehen und liebevoll Strasssteine aufgeklebt. Die linke Hälfte des Rahmens war ein abgrundtief hässliches Rosa, die rechte Hälfte voll rosafarbenem Glitzer. Auf beiden Hälften klebten riesige Plastikjuwelen. Es war ein Schwarz-Weiß-Foto von Alessandro, und jemand hatte mit einem rosafarbenen Glitzermarker die Worte »Mein Schnuckiputzifutz« geschrieben.
Diese Handschrift würde ich überall wiedererkennen. Meine achtundzwanzigjährige Schwester hatte einen prall gefüllten Terminkalender. Er enthielt neben Terroristen auch Mörder, denen es die Wahrheit zu entreißen galt. Sie musste einen längeren Auslandsaufenthalt vorbereiten. Und dennoch fand sie die Zeit, diese Ungeheuerlichkeit zu erschaffen, sich mit meiner anderen Schwester zu verbünden und mich anschließend damit zu nerven.
Warum, Nevada? Warum …
Er war groß gewachsen und hatte breite Schultern. In seiner Haltung lag schlichte, natürliche Eleganz. Ich hatte ihm auf Instagram nachgestellt und kannte jedes noch so kleine Detail seines Gesichts, aber er hatte schon eine ganze Zeit lang kein Bild mehr geteilt. Und die waren normalerweise gestellt. Alessandro vor einem Maserati. Alessandro auf einer Jacht. Alessandro, der auf einem eleganten Andalusier saß, als ob er zum Reiten geboren wäre. Alessandro, der Hochbegabte. Graf Sagredo. Der Erbe einer der ältesten italienischen Adelsfamilien. Reich, mächtig, gut aussehend. Früher ein jugendlicher Mädchenschwarm mit Millionen von Anhängern auf Herold und Instagram, und heute ein Mann, der sich sein Aussehen und seinen Einfluss zunutze machte. Er war in der Lage, mit einem Foto alles auszudrücken, was er wollte.
Aber das hier, auf dem man sehen konnte, wie der Wind durch seine Haare fuhr und die Sonne ihn erstrahlen ließ, das war echt. Und sein Lächeln war pure Magie. Ich warf einen Blick auf das Bild und war wieder achtzehn. Ich stand ihm gegenüber in dem Raum, in dem wir unsere Prüfungen abgelegt hatten und ich mit meiner Magie gegen seine angetreten war, um zu beweisen, dass ich hochbegabt war. Er hatte Worte mit mir gewechselt, mit diesem überwältigend guten Aussehen, diesen bernsteinfarbenen Augen und dem leicht schiefen Grinsen, und ich hatte nicht einmal ein Grunzen hervorgebracht.
Ich hatte gedacht, ich wäre über ihn hinweg.
»Dein Freund?«, fragte Runa.
»Nein.« Und das tat überhaupt nicht weh.
Wann immer ich Alessandro erblickte, ob nun auf Fotos oder im wahren Leben, dachte ich immer zuerst an Duelle, wie er mir den Hof machte zu einer Zeit, als Männer noch Schwerter und Frauen heimlich Dolche trugen. Er hatte etwas Gefährliches an sich, etwas, das sich tief in seinen Augen verbarg, und das zog mich an wie ein Magnet. Aber Alessandro war nicht mehr als pure Fantasie. Ich hatte einfach zu viele Bücher gelesen, die im mittelalterlichen Italien spielten mit seinen Kriegen, seiner Kunst, seinem Glamour und reichlich Gift. Er war Fantasie, so wie die Vorstellung, insgeheim eine Prinzessin zu sein, Träumerei war. Ich wusste, dass zwischen uns nie etwas passieren würde, aber es war so unglaublich verführerisch, ich kam einfach nicht davon los.
Der wahre Alessandro trug kein Schwert. Er war ein Widerstandshochbegabter und damit in der Lage, ähnliche magische Fähigkeiten aufzuheben. Der Registrar hatte ihn ausgewählt, um meine Fähigkeiten während der Prüfungen einzuschätzen. Um als Hochbegabte anerkannt zu werden, hatte ich Alessandro damals dazu zwingen müssen, einen auf dem Boden eingezeichneten Strich zu überschreiten. Ich hatte ihn mit der vollen Wucht meiner Magie konfrontiert, der er mehrere Minuten lang hatte widerstehen können, aber am Ende war er mir unterlegen.
Alessandro standen mit einem solchen Talent nur zwei Wege im Leben offen: zur Armee zu gehen oder als Bodyguard zu arbeiten. Er lehnte beides ab. Stattdessen tat er das, was viele junge Hochbegabte mit zu viel Geld und zu vielen Freiheiten taten: Er ließ es sich verdammt gut gehen. Er segelte auf Jachten, fuhr schnelle Wagen und war mit atemberaubenden Frauen zusammen.
Ihn und mich trennten Welten. Er würde nie das sein, was ich mir von ihm vorstellte, und das war wahrscheinlich auch gut so.
Ich ließ den Rahmen nach vorne auf den Schreibtisch knallen. Auf der Rückseite hatte jemand den gesamten Rahmen mit rosa Herzen überklebt und kleine Fotos von Alessandros Instagram-Konto ausgedruckt und ebenfalls hingepappt.
Hätte diese Welt noch einen Funken Mitleid besessen, hätte sie mich jetzt tausend Meilen wegteleportiert.
Runa sah mit zusammengekniffenen Augen auf den Rahmen. »Ist das Alessandro Sagredo?«
Ich schnappte mir den Rahmen, um ihn in den Mülleimer zu werfen, entschied mich aber auf halbem Wege dagegen und warf ihn in die oberste Schreibtischschublade. Ihn in den Müll zu werfen konnte ich nicht. »Meine Schwestern haben eine seltsame Art Humor.«
»So sind Schwestern halt«, sagte sie mit tonloser Stimme.
Und ihre war tot. »Es tut mir so unglaublich leid.«
Sie sah mich mit verzweifeltem Blick an. »Danke!« Seitdem das passiert ist, bist du die erste Person, die nett zu mir ist.«
Wer würde denn nicht nett zu ihr sein? Sie hatte gerade den größten Teil ihrer Familie verloren. »Was meinst du damit?«
»Ich habe an der UCLA studiert. Ich arbeite gerade an meinem Master in molekularer Toxikologie.«
Sie sprach mit emotionsloser Stimme und wirkte sachlich und kühl. Wahrscheinlich stand sie kurz vor dem Zusammenbruch. Ich kannte das Gefühl, so am Ende zu sein, dass man sich um jeden Preis zusammenriss, denn wenn man nur einen Augenblick lang Schwäche zeigte, verlor man jegliche Kontrolle und löste sich in seine Bestandteile auf.
»Am Montag bekam ich einen Anruf von der Houstoner Polizei. Sie meinten: ›Ihr Haus in Piney Point Village ist abgebrannt, und wir befürchten, dass Ihre Mutter und Ihre Schwester bei dem Brand ums Leben gekommen sind.‹ Ohne Vorankündigung. Ich habe den Satz verstanden, aber irgendwie auch nicht. Ich wusste, was die Worte bedeuteten, aber ich war nicht in der Lage, sie nachzuvollziehen. Vermutlich stand ich zehn Minuten lang reglos mit dem Telefon in der Hand da, um das irgendwie zu verarbeiten, verstehst du?«
Ich verstand es nicht, aber ich konnte es mir lebhaft vorstellen.
Runa seufzte. »Ich bin in die nächste Maschine gestiegen.«
Heute war Mittwoch. Sie war seit zwei Tagen in der Stadt.
»Als ich dort ankam, stand ich vor einer ausgebrannten Ruine und zwei Leichen. Ragnar war auf einem Schulausflug in Colorado, in einem Astronomie-Camp. Kein Handyempfang. Ich musste die örtliche Polizei anrufen, damit sie ihm Bescheid geben konnten. Am ersten Tag, nachdem ich die Leichen gesehen hatte, wusste ich einfach nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Ich meine, was macht man denn, wenn die eigene Mutter und Schwester verbrannt auf einem Seziertisch liegen und der Gerichtsmediziner sie nur anhand ihres Zahnschemas identifizieren kann?«
Das klang seltsam. Warum hatte er sie anhand ihrer Zähne identifiziert? Der Hauptantrieb aller Hochbegabten war, die eigene Magie zu bewahren und zu stärken. Das galt vor allem für den Nachwuchs. Die Häuser entschieden sich für eine Hochzeit, wenn eine DNA-Analyse mit hoher Wahrscheinlichkeit bestimmte, dass der geplante Nachwuchs mindestens genauso magisch begabt wie die Eltern sein würde. Daher hatten sich alle magisch bedeutsamen Blutlinien in einer Gendatenbank registrieren lassen. Es würde höchstens vierundzwanzig Stunden dauern, die Leichen mit den dazugehörigen genetischen Profilen zu vergleichen. Im Gegensatz zu einem Zahnschema war eine DNA-Analyse praktisch fehlerfrei.
Runa starrte in ihre Tasse. »Ich wollte nicht allein sein, also habe ich Michelle angerufen. Wir sind seit der Mittelstufe Freundinnen. Sie hat meinen Anruf nicht angenommen. Dann habe ich Felicity angerufen, meine andere Freundin. Sie ist rangegangen und hat all das gesagt, was man in so einer Situation halt sagt. Aber dann habe ich sie gefragt, ob ich eine Nacht bei ihr bleiben dürfe, und sie meinte nur, ob sie mich in fünf Minuten zurückrufen könne.«
Runa sah mich mit leerem Blick an. Es brach mir das Herz. Als ich Runa vor drei Jahren kennengelernt hatte, war sie ein unwiderstehliches Energiebündel gewesen. Sie machte Witze, sie aß vergiftetes Fondant, sie flirtete mit Rogans Wachleuten. Sie war stark und selbstbewusst und voller Leben. Die Runa, die nun vor mir saß, war nicht mal ein Schatten ihrer selbst. Sie war ein Gespenst.
»Felicity hat dich nicht zurückgerufen?«, vermutete ich.
»Nein. Ich kenne diese Leute seit Jahren. Sie waren mein Team. Wir haben uns seit dem College zwar ein bisschen aus den Augen verloren, aber in den Ferien haben wir immer was zusammen gemacht. Wir sind uns gegenseitig auf Herold gefolgt. Das waren meine Freundinnen, Catalina.« Ein wenig Leben kehrte in ihren Blick zurück. »Ich bin davon ausgegangen, dass sie für mich da sind.«
Ihr Verhalten überraschte mich nicht. Häuser gingen Bündnisse gemessen an Familienbanden und gegenseitigem Nutzen ein. Als Runa Augustins Dienste in Anspruch nehmen wollte, wurde klar, dass ihrer Ansicht nach ihre Familie ermordet worden war. Und wenn sie recht hatte, dann waren sowohl sie als auch Ragnar die nächstmöglichen Ziele. Runa war allein und unerfahren, und das machte sie angreifbar. Sie aufzunehmen, ihr zu helfen oder überhaupt mit ihr etwas zu tun zu haben, brachte keinen Vorteil. Es brachte einen nur in Gefahr.
»Ich habe die Nacht im Hotel verbracht«, sagte sie. »Ragnar ist am nächsten Tag eingeflogen. Ich habe ihn am Flughafen abgeholt. Als er mich dann sah, zog er ein langes Gesicht. Er muss gehofft haben, dass ich ihm sagen würde, dass alles nicht wahr ist, aber es ist nun mal echt, und er hat dichtgemacht. Ist auf der Stelle zusammengeklappt. Ich habe ihn nicht tragen können, er war zu schwer. Die Flughafenpolizei hat dann den Notarzt gerufen, und ich habe sie ihn ins Krankenhaus fahren lassen. Ich wusste nicht, was ich sonst machen sollte. Ich war zu spät zum Treffen mit Montgomery, aber er erklärte sich einverstanden, im Krankenhaus mit mir zu reden. Den Rest kennst du ja. Als Montgomery mir das Treffen um ein Uhr nachts im Krankenhaus angeboten hat, dachte ich noch, er würde uns helfen. Ich hätte es besser wissen müssen.«
»Welchen Preis hat er verlangt?«, fragte ich.
»Zwanzig Millionen. Selbst wenn ich alles, was wir besitzen, zu Geld mache, würde es nicht ausreichen.« Runa schüttelte den Kopf.
Das war selbst für MII ein verdammt hoher Preis. Aber dann war Augustin zu mir gekommen und hatte dafür gesorgt, dass ich ihr helfe. Ein kurzer Moment des Mitgefühls. Aber selbst wenn ich ihr das erzählte, würde es die Situation nicht besser machen.
Runa starrte auf ihre heiße Schokolade. »Noch mal vielen Dank. Ich werde mich still und leise davonstehlen, sobald Ragnar wieder wach ist.«
Als Herrin meines Hauses musste ich sie wegschicken. Es war das einzig Vernünftige. Dieser Kampf war nicht unser Kampf, und er würde uns auch kein Geld einbringen. Wir waren ein junges Haus, und wir hatten weder die finanziellen Möglichkeiten noch das Personal von MII. Wenn ich ihr half, dann würde ich uns alle in Gefahr bringen.
Aber sie war eine Freundin. Sie war der Grund, warum wir nicht alle bei Nevadas Hochzeit gestorben waren. Und wenn ich sie anblickte, brannte es in meiner Brust.
»Du gehst nirgendwohin«, sagte ich zu ihr. »Wir haben reichlich Gästezimmer, und wenn du nicht allein sein willst, kannst du dich auf die Couch im Medienzimmer setzen. Es ist immer jemand im Medienzimmer.«
Sie starrte mich an.
»Es ist eine sehr spezielle Couch«, sagte ich zu ihr. »Mad Rogan ist mal auf ihr eingepennt. Wir haben darüber nachgedacht, sie vergolden zu lassen und einem Museum zu stiften …«
Die gläserne Fassade ihrer Selbstbeherrschung zersplitterte, und Runa brach in Tränen aus.
Ich stand auf, zog ihr die Tasse weg, bevor sie sich das Zeug über ihre Klamotten kippte, und nahm sie in den Arm.
Der Morgen kam wieder viel zu früh. Normalerweise stand ich um sieben Uhr morgens auf, aber Ragnars Kräfte waren erst gegen vier Uhr aufgezehrt. Als mein Wecker mich kurze Zeit später aus dem Schlaf riss, stellte ich ihn aus und schlief noch eine Stunde. Das erwies sich als großer Fehler. Ich hatte einen Albtraum und wachte völlig verängstigt auf. Als ich es schließlich verpennt mit meinem Laptop nach unten schaffte, waren Mom, Oma Frida und Bernard bereits in der Küche und beendeten gerade ihr Frühstück. Oma bedachte mich mit einem Zombieblick über den Rand ihres Kaffeebechers. Wir beide kamen mit wenig Schlaf einfach nicht zurecht.
Ich ließ mich auf meinen Stuhl fallen. Mom stellte mir eine Teetasse hin, und ich nahm einen Schluck. Er war so heiß, dass ich mir den Gaumen verbrühte, aber es war mir egal.
»Immer langsam«, sagte Bernard.
»Lass mir meine Drogen.« Ich nahm einen weiteren Schluck. »Hm, Koffein. So köstlich. Wo sind denn alle?«
»Leon ist gestern Abend aufgebrochen, um den Yarrow-Fall abzuschließen«, sagte Bernard. »Arabella hat einen Termin bei Winter, Ltd.«
»Lass mich raten, sie haben uns immer noch nicht bezahlt?«
»Genau.«
Manchmal ließen sich unsere Klienten mit der Bezahlung Zeit. Wir ermahnten sie ein Mal, wir ermahnten sie zwei Mal, und dann schickten wir meine Schwester, im Armani-Kostüm und mit ihrem Laptop bewaffnet. Keiner von uns hatte die geringste Ahnung, was sie bei diesen Gesprächen sagte, aber unser Geld landete danach innerhalb eines Tages auf unserem Konto.
Mein Handy vermeldete eine Benachrichtigung. Eine Nachricht von Nevada. Sicher gelandet. Alles in Ordnung?
Ich schrieb ihr zurück. Alles bestens. Wo bleibt das Beweisbild?
»Sie sind in Barcelona gelandet. Alles in Ordnung.« Man konnte mir meine Erleichterung deutlich anhören.
Bernard hob seine lohfarbenen Augenbrauen. »Dir ist schon klar, dass du eher im Auto auf dem Weg zum Flughafen ums Leben kommst als bei einem Flugzeugabsturz?«
»Ja, aber ich habe direkten Einfluss auf meine Fahrt. Ich kann selbst fahren oder mir einen Fahrer mieten. Ich kann mir das Auto aussuchen und die Strecke, auf der ich fahren will. Auf ein Flugzeug habe ich keinen Einfluss.«
Wenn Bernard in ein Flugzeug stieg, machte er es sich auf seinem Sitz gemütlich und starrte begeistert aus dem Fenster, weil »Uuuh, Technik!«. Wenn ich in ein Flugzeug stieg, berechnete ich die Absturzwahrscheinlichkeit.
Das Pling meines Handys ertönte erneut. Meine Schwester grinste breit in die Kamera. Hinter ihr erhoben sich in der Ferne grüne Berge. Sie war wunderschön. Ihr Haare hatten einen hellen Honigton und ihre Haut eine sanft goldene Bräunung. Neben ihr erhob sich Connor Rogan: riesig, muskulös, mit dunklen Haaren. Seine blauen Augen bildeten einen auffälligen Kontrast zu seiner bronzefarbenen Haut. Er lächelte auch, ein echtes, zufriedenes Lächeln. Sie auf diesem Foto zu sehen machte mich unglaublich glücklich. Ich konnte Spaniens Sonne nahezu spüren.
»Zu den Ettersons«, warf Bernard ein.
Ich seufzte und klappte meinen Laptop auf. Bernard hatte mir eine E-Mail mit dem Betreff »Etterson« geschickt. Ich klickte sie an.
Haus Etterson:
Sigourney Etterson, hochbegabte Venenata, 50, alleinstehend;
Runa Etterson, hochbegabte Venenata, 22, alleinstehend;
Halle Etterson, hochbegabte Venenata, 17, alleinstehend;
Ragnar Etterson, hochbegabter Venenata, 15, alleinstehend.
James Tolbert, Begabter, Läuterer, früherer Ehemann und Vater der Kinder; Aufenthaltsort unbekannt.
Wie ich mir schon gedacht hatte. Sowohl Runas Mutter als auch ihre Geschwister waren Hochbegabte.
Keine Hausbündnisse bekannt. Geschätztes Vermögen: $ 8 Millionen.
In den Untiefen der Houstoner Eliten stellten die Ettersons relativ kleine Fische dar, die auch noch allein schwammen. Keine engen Verbindungen zu anderen Häusern. Keine Gönner von Bedeutung. Das war nicht ungewöhnlich. Viele kleinere Häuser zogen es vor, unabhängig zu bleiben und sich nicht an eine größere Familie zu binden. Mächtige Häuser besaßen mächtige Feinde, und wenn man ein Bündnis einging, dann erbte man nicht nur deren Freunde, sondern auch die Rivalen.
Bernard nahm einen tiefen Schluck aus seinem Kaffeebecher. »Bist du dir wirklich sicher?«
»Ja.«
Er sah mich an. »Unsere Gnadenfrist läuft morgen aus. Ich muss dich nicht an die Statistik erinnern.«
Musste er nicht. Ich hätte die Zahlen auswendig aufsagen können. Seit der Erfindung des Osiris-Serums vor über einem Jahrhundert waren Magie und Macht untrennbar miteinander verbunden und praktisch gleichbedeutend. Magische Talente waren erblich. Wer immer diese Talente besaß, setzte ein Zuchtprogramm auf, um sie zu behalten. Die Blutlinien magischer Familien entwickelten sich zu den neuen Machtzentren unserer Gesellschaft. Wenn eine Familie innerhalb von drei Generationen zwei Hochbegabte hervorbrachte, konnte sie den Antrag stellen, offiziell als Haus anerkannt zu werden. Das brachte lebensverändernde Vorteile, aber auch einige Nachteile mit sich.
In der Regel traten jedes Jahr siebzehn neue Häuser ins magisch erleuchtete Rampenlicht unseres Landes. Nur ein Viertel dieser Häuser überlebte die ersten achtzehn Monate nach Ende der Gnadenfrist. Nur ein Drittel dieser Überlebenden überschritt die Fünf-Jahres-Grenze, ohne ihre Unabhängigkeit zu verlieren. In dem Augenblick, in dem diese Häuser zu Freiwild wurden, wurden sie von ihren Konkurrenten ausgelöscht, oder die mächtigeren Familien nahmen sie auseinander, um die Hochbegabten ihren eigenen Reihen hinzuzufügen. Einige gingen freiwillig Bündnisse ein, wie Augustin mir gerade eins angeboten hatte, und wurden zu Untergebenen. In der Regel schluckten die Schutzherren später diese kleineren Häuser, oder sie wurden so lange an die Front geschickt, bis die Grabenkämpfe der Häuser sie auslöschten. Statistisch betrachtet überlebten nur 1,42 Familien eines jeden Jahrgangs dieses Gemetzel.
Das nächste Jahr war für uns entscheidend, genauso wie der erste Fall mit mir als Herrin des Hauses.
An diesem Morgen hatte ich in der Zeit vom Schlag auf meinen Wecker bis zu meinem abrupten Aufwachen geträumt, dass Arabella verbrannt war. In meinem Albtraum hielt ich ihre verkohlte Leiche an mich gedrückt, starrte auf ein Foto von ihr auf meinem Handy und weinte. Als ich aufwachte, war mein Gesicht tränenverschmiert. Für Runa war dies kein Albtraum, sondern die Realität.
»Venenata sind Kampfmagier. Runa Etterson würde sich als beachtliche Verbündete erweisen«, sagte ich. »Ich habe mir unseren Terminkalender angeschaut, und wenn Leon heute den Yarrow-Fall abschließt, haben wir sonst nichts zu tun.«
Wir hatten nichts zu tun, weil wir zum ersten Mal in den letzten drei Jahren den Entschluss getroffen hatten, unser Arbeitspensum über die Feiertage zu reduzieren. Das hatten wir ziemlich gut hinbekommen, abgesehen vom Betrugsfall Yarrow und dem Fall Chen. Der Fall Chen war ein Albtraum. Jemand hatte an Heiligabend einen Transporter mit drei preisgekrönten Boxern gestohlen. Den Transporter hatte man am nächsten Tag gefunden. Die drei Hunde waren verschwunden, und der Züchter war außer sich vor Sorge. Cornelius, ein Tiermagier und der einzige Mitarbeiter, der nicht Familienmitglied war, hatte den Fall übernommen. Wir hatten weder von ihm noch von Matilda, seiner Tochter, seit dem zweiten Weihnachtsfeiertag etwas gehört. Gestern hatte er mir dann eine E-Mail geschickt, dass er noch lebte und am Fall dran war.
Bernard lächelte. »Das ist ein gutes Argument, und wenn ich nicht dein Cousin wäre, dann würde ich es dir auch abkaufen. Du lässt dich bei dieser Entscheidung von deinen Emotionen leiten. Du würdest ihr auch helfen, wenn sich ihr magisches Talent darin erschöpfte, süße Gartenzwerge zu beschwören.«
»Bernard«, sagte meine Mom mit ihrer »Ich bin übrigens deine Mutter, mein Freund«-Stimme.
»Ich möchte ihr auch sehr gerne helfen«, sagte Bernard, »aber in dieser Familie, die manchmal nur aus Glücksbärchis zu bestehen scheint, ist es meine Aufgabe, sachliche Argumente zu betonen. Tu mir also den Gefallen und sag was dazu.«
»Ich verstehe deinen Einwand. Und er ist nicht unangebracht.« Ich nahm einen Schluck Tee, um Zeit zu gewinnen. Bernard ließ sich durchaus überzeugen, aber man musste ihm alle Argumente in logischer Reihenfolge präsentieren. »Du hast recht. Unsere Gnadenfrist ist fast vorbei, und ich gelte als unbekannte Größe. Die Situation würde sich anders darstellen, wenn Nevada die Herrin unseres Hauses wäre.«
»Wenn Nevada hier wäre, würde meine Einschätzung nicht anders lauten«, entgegnete er.
»So oder so, man wird uns im Blick behalten, und den ersten Fall unter meiner Leitung werden die anderen Häuser mit Argusaugen beobachten. Ich habe sorgfältig darüber nachgedacht, und ich bin der Ansicht, dass dieser Fall die richtige Botschaft vermittelt.«
»Welche Botschaft?«, fragte Oma Frida. Der Kaffee schien seine Wirkung getan zu haben.
»Wir leisten unseren Freunden Beistand«, sagte ich. »Wir sind kein Haus, das Verbündete aus Bequemlichkeit aufgibt. Wer unser Vertrauen erwirbt, kann auf uns zählen.«
Bernard nickte. »Nun gut. Wir sollten uns aber alle klar darüber sein, worauf wir uns da einlassen. Zwei hochbegabte Venenata wurden vermutlich in ihrem eigenen Haus verbrannt. Wir wissen alle, was das bedeutet.«
»Was bedeutet es denn?«, fragte Runa. Sie stand in der Küchentür. Heute trug sie ein weites T-Shirt und Leggings. Ihre Frisur war das totale Chaos, sie hatte dunkle Augenringe, aber wenigsten schien sie nicht mehr so angespannt zu sein wie gestern.
»Häuserkrieg«, sagte Mom.
Der Krieg unter Häusern folgte seinen eigenen Regeln. Wenn Leute, die ganze Stadtviertel abfackeln und sich Busse an den Kopf schmeißen konnten, sich gegenseitig umbrachten, dann sah die Regierung so lange weg, wie ein ausreichender Schutz der Zivilbevölkerung gewährleistet war. Man ging zum Gerichtshof, reichte einige Unterlagen ein und erhielt die Vollmacht, seine Feinde umzubringen, wie es einem gefiel. Befand sich ein Haus im Krieg und Leute mit Waffen und magischen Begabungen stürmten deine Bude, dann würde beim Polizeinotruf niemand abheben. Wenn man eine Straße entlanglief, verfolgt von herbeibeschworenen Monstern, dann würde kein Polizist stehen bleiben, um einem zu helfen. Das gehörte zu den Nachteilen, eine Hochbegabte zu sein. Man stand nicht über dem Gesetz, aber in vielen Fällen interessierte sich das Gesetz nicht für dich.
»Wir können nicht sicher sein, dass es sich um einen Häuserkrieg handelt«, sagte ich. »Erst werfen wir einen Blick auf alle Fakten, dann treffen wir eine Entscheidung.«
»Ich möchte niemanden in Gefahr bringen«, sagte Runa.
»Gefahr gibt es bei uns zum Frühstück«, meldete sich Oma Frida.
Mom hielt in der Bewegung inne und starrte Oma Frida entgeistert an.
»Was denn?« Oma Frida zuckte mit den Achseln. »Es ist hier in letzter Zeit viel zu friedlich gewesen. Ich brauche mal wieder ein bisschen Spaß.«
»Als du letztes Mal Spaß hattest, bist du mit Romeo durch das Gelände eines Sturmmagiers gefahren, während Nevada auf dem Beifahrersitz saß und mit einem Granatwerfer auf riesige animierte Konstrukte gefeuert hat, die euch aufs Korn genommen haben«, sagte Mom. »Deinen Panzer mussten wir komplett neu bauen, du hattest vier gebrochene Rippen und eine Platzwunde am Kopf, die mit dreißig Stichen genäht werden musste.«
»Mach dir keine Gedanken, dass ich Spaß haben könnte, Penelope.« Oma Frida nahm eine Handvoll ihrer weißen Locken und schob sie zur Seite. Der Rand einer langen Narbe kam zum Vorschein. »Das verleiht eine ganz persönliche Note.« Sie hielt inne. »Und eine Aura des Geheimnisvollen. Eine Frau kann nie geheimnisvoll genug sein.«
»Gott, hilf mir«, sagte Mom.
»Vielen Dank, dass ihr mich eingeladen habt«, sagte Runa. »Aber das ist mein Problem. Ich möchte nicht, dass wegen uns jemand von euch verletzt wird.«
Mom deutete auf den Platz neben Bernard und sagte: »Setz dich.«
Runa nahm Platz. Die Kombination aus Mom und Sergeant hatte schon immer funktioniert.
»Du hast unserer Familie geholfen«, sagte Mom. »Jetzt bist du in Gefahr, und du bist für deinen Bruder verantwortlich, der auch zum Ziel werden könnte. Ihn zu schützen sollte dir am wichtigsten sein. Wir bieten dir eine sichere Basis und unsere Unterstützung. Wir haben vielleicht nicht die Ressourcen und das Personal größerer Agenturen, aber wir schließen unsere Fälle ab. Du bist jetzt die Herrin deines Hauses, Runa. Tu, was das Richtige für dein Haus ist.«
»Jawohl, Ma’am«, sagte Runa.
Ich wandte mich an Runa. »Hast du einen Dollar?«
Sie warf mir einen seltsamen Blick zu und durchwühlte ihre Taschen. »Ich hab einen Fünfer.«
»Wenn du mir diesen Fünfdollarschein gibst, dann betrachte ich uns als offiziell angeheuert. Deine Entscheidung.« Ich streckte ihr meine Hand entgegen.
»Ich erwarte nicht, dass ihr für mich umsonst arbeitet …«
»Keine Sorge, wir werden dir alle entstehenden Kosten in Rechnung stellen. Wenn du immer noch der Meinung bist, dass du uns darüber hinaus angemessen entlohnen möchtest, können wir deine Dienste als Gift-Erkennerin in Anspruch nehmen.«
Runa atmete tief durch und gab mir den Schein. »Haus Etterson fühlt sich geehrt, die Unterstützung des Hauses Baylor anzunehmen.«
»Gut.« Mom stellte ihr einen Teller mit Pancakes und Würstchen hin.
»Erzähl uns von dem Brand«, sagte ich.
»Das ist totaler Quatsch«, sagte Runa.
»Iss deine Pancakes«, ordnete Mom an.