Hidden Truths - Der Killer (Perfectly Imperfect Serie 3) - Neva Altaj - E-Book

Hidden Truths - Der Killer (Perfectly Imperfect Serie 3) E-Book

Neva Altaj

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Beschreibung

Sergei Zuhause. Mein Zuhause ist die Bratva. Sie ist meine Zuflucht vor der Vergangenheit. Der einzige Ort, an den ein Killer wie ich gehört. Manchmal kehren meine Dämonen zurück und ich verliere die Kontrolle. Bin kurz davor, mich endgültig in meiner Wut zu verlieren. Bis mir eine gebrochene, verletzte Frau über den Weg stolpert. Sie weckt meinen Beschützerinstinkt und schickt meine Dämonen in den Schlaf. Sie gefangen zu halten, ist die einzige Option, die ich habe. Wenn sie wieder verschwindet, kehrt meine Dunkelheit zurück, und dieses Mal wird sie mich vollständig vernichten. Angelina Fliehen. Das ist alles, was ich tun kann. Nur um in den Händen eines verrückten Killers zu landen. Jetzt versuche ich, meinen Feinden zu entkommen und mich nicht in einen Mann zu verlieben, den ich überhaupt nicht wollen dürfte. Doch was passiert, wenn wir beide unsere verborgenen Wahrheiten offenbaren?

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Anmerkung der Autorin
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Epilog
Nachwort
Danksagung

Neva Altaj

 

HIDDEN truths

Der Killer

(Perfectly Imperfect Serie)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Übersetzt von Alexandra Gentara

HIDDEN Truths – Der Killer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© 2024 VAJONA Verlag GmbH

Originalausgabe bei VAJONA Verlag GmbH

 

 

Übersetzung: Alexandra Gentara

Lektorat der Übersetzung: Anne Masur

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Hidden Truths«.

Umschlaggestaltung: Deranged Doctor mit Anpassungen durch den VAJONA Verlag

Satz: VAJONA Verlag, Oelsnitz unter Verwendung von Motiven von Canva

 

VAJONA Verlag

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

 

 

 

 

 

 

Dieses Buch ist meinen Leserinnen und Lesern gewidmet, die meinen Büchern so viel Liebe geschenkt und mich als Neuautorin so toll unterstützt haben.

 

Danke, dass ihr meinen Geschichten eine Chance gegeben und mich so sehr zum Weiterschreiben motiviert habt. Ich liebe euch! <3

 

Anmerkung der Autorin

Liebe Leserinnen und Leser, im Buch werden ein paar russische Worte erwähnt. Hier sind die Übersetzungen und Erklärungen dazu:

 

Pakhan (пахан) – der Anführer der russischen Mafia.

Bratva (братваì) – die russische Mafia.

Lisichka (лисиìчка) – kleine Füchsin.

Palomita – Täubchen; der Diminutiv von Paloma (Taube)

 

 

Hinweis

 

Dieser Roman behandelt Themen wie Blutspiele, Gewalt, Missbrauch und grafische Schilderungen von Folter. Auch posttraumatische Belastungsstörungen (PTSD) und andere psychische Krankheiten werden thematisiert.

 

 

Prolog

E-Mail-Korrespondenz

 

 

 

 

Fünfzehn Jahre zuvor

 

 

 

 

Von: Felix Allen

An: Captain L. Kruger

Betreff: Sergei Belov

 

Captain,

 

es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen meine ernsthafte Besorgnis über den neuen Rekruten, der mir zugeteilt wurde – Sergei Belov – zum Ausdruck zu bringen. Der junge Belov ist extrem intelligent und hat auch körperlich ein großes Potenzial. Dennoch bin ich mir nicht sicher, ob er die richtige Wahl für unser Programm darstellt. Er ist erst vierzehn und damit noch viel zu jung. Obendrein passt sein psychologisches Profil nicht zu unseren Auswahlkriterien. Im Klartext: Er ist ein Beschützer. Auch ist er von seinem Naturell her nicht gewaltbereit, weshalb ich mir nicht sicher bin, wie klug es ist, weiter mit ihm zu arbeiten. Ich denke, er sollte entweder einer anderen Einheit zugewiesen oder zurück in die Jugendstrafanstalt geschickt werden, aus der er zu uns überführt wurde.

 

Felix Allen

Z.E.R.O. Einheit

Betreuer von Sergei Belov

 

 

 

Elf Jahre zuvor

 

 

 

 

Von: Felix Allen

An: Captain L. Kruger

Betreff: Dringend! Sergei Belov

 

Captain,

 

mir ist bewusst, wie Sie zu dem Belov-Jungen stehen. Und mir ist auch bewusst, dass seine überdurchschnittlichen Leistungen und Trainingserfolge der vergangenen Jahre zu dem Schluss führen könnten, dass er sich gut akklimatisiert hat und bereit dazu ist, zu Außeneinsätzen geschickt zu werden. Meiner professionellen Meinung nach ist er jedoch nicht dazu geeignet, die zur Operation Z.E.R.O. gehörenden Aufgaben zu erfüllen, daher empfehle ich dringend, ihn so bald wie möglich in eine der Standardeinheiten zu versetzen.

 

Felix Allen

Z.E.R.O. Einheit

Betreuer von Sergei Belov

 

 

 

Acht Jahre zuvor

 

 

 

Von: Felix Allen

An: Captain L. Kruger

Betreff: Antrag zur Versetzung

 

Captain,

 

seit Sergei Belov im Februar von dem Kolumbien-Einsatz zurückgekehrt ist, zeigt er ein höchst besorgniserregendes Verhalten. Ich füge dieser E-Mail meinen vollständigen Bericht bei, fasse aber die wichtigsten Punkte für Sie zusammen: Gewaltausbrüche, Verlust des Realitätsbezugs und unvorhersehbare katatone Störungen.

Ich möchte Sie darüber informieren, dass ich einen offiziellen Versetzungsantrag für ihn gestellt und auch ein psychiatrisches Gutachten angefordert habe.

Was ist da unten passiert, Lennox? Warum verweigert man mir den Zugriff auf die Berichte über den Einsatz? Sergei will mir auch nichts dazu sagen, und als ich versucht habe, herumzufragen, wurde mir gesagt, ich solle es lassen oder es werde Konsequenzen haben. Ich muss wissen, was in Kolumbien vorgefallen ist, denn es hat ganz offenbar eine schwere Wesensveränderung in ihm ausgelöst.

 

Felix Allen

Z.E.R.O. Einheit

Betreuer von Sergei Belov

 

 

 

Sechs Jahre zuvor

 

 

 

 

Von: Felix Allen

An: Captain L. Kruger

Betreff: Dringend

 

Ich ersuche Sie darum, Sergei Belov vom Dienst freizustellen. Er stellt eine Gefährdung für andere Menschen dar, vor allem aber ist er eine Gefahr für sich selbst. Ich habe bereits unzählige Male versucht, es Ihnen zu erklären, aber Sie wollten ja nicht auf mich hören. Sie können nicht einfach einen ganz normalen Jungen auswählen und ihn in Ihre persönliche Waffe verwandeln, ohne dass es Konsequenzen hätte. Nicht jeder ist dazu geeignet, ein verdammter Auftragskiller zu werden, Lennox, egal, wie jung er mit der Ausbildung dazu angefangen hat. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er ausrastet, und wenn das geschieht, wird er ein Chaos anrichten, das Sie unseren Vorgesetzten werden erklären müssen.

 

Felix Allen

Z.E.R.O. Einheit

Betreuer von Sergei Belov

 

 

 

 

Vier Jahre zuvor

 

 

Von: Captain L. Kruger

An: Felix Allen

Betreff: Wo ist mein Anteil?!

 

Felix,

 

ich erwarte Dich morgen früh in meinem Büro. Ich will wissen, wie zur Hölle Du den Admiral dazu überredet hast, Belov und auch Dich selbst zu entlassen. Und wo hast Du meinen Anteil versteckt?!

 

Captain Lennox Kruger

Projekt Z.E.R.O. Commander

 

***

 

Von: Felix Allen

An: Captain L. Kruger

Betreff: Re: Wo ist mein Anteil?!

 

Fick Dich, Lennox.

Ich hoffe, Dein Lieblingsprojekt kriegt Dich schon ganz bald am Arsch.

 

Felix

 

Kapitel 1

 

Angelina

 

 

Drei Tage zuvor

 

Auf dem Teller liegen genau elf Stücke Fleisch und dreiundzwanzig Pommes. Ich habe sie mindestens zwanzig Mal gezählt, seit Maria vor zwei Stunden das Essen hereingebracht hat. Es war schwieriger zu widerstehen, als das Essen noch warm war und meine Nase mit seinem köstlichen Duft gefüllt hat. Aber selbst jetzt läuft mir bei dem Anblick noch das Wasser im Mund zusammen und mein Magen verkrampft sich schmerzhaft.

Der zweite Tag war der schlimmste. Ich dachte, ich würde den Verstand verlieren, also fing ich an, die einzelnen Stücke vom Essen zu zählen und habe mir vorgestellt, sie zu essen. Das hat geholfen. Ein bisschen, jedenfalls. Vielleicht wäre es leichter gewesen, wenn das Fleisch nicht in so kleine Stücke geschnitten wäre, von denen mich jedes einzelne verführen wollte. Ich hätte ja bloß ein einzelnes Stück davon nehmen können und es wäre niemandem aufgefallen. Bis heute habe ich keine Ahnung, wie ich diesen Tag überstanden habe.

Inzwischen ist es der fünfte Tag meines Hungerstreiks. Sie bringen mir dreimal am Tag Essen und Wasser, aber abgesehen von dem Wasser rühre ich nichts an. Lieber verhungere ich, als einzuwilligen, den Mörder meines Vaters zu heiraten.

Die Tür auf der anderen Seite des Zimmers geht auf und Maria kommt herein. Wir waren einmal beste Freundinnen. Bis sie anfing, mit meinem Vater zu vögeln. Ich frage mich, wann sie sich dazu entschieden hat, sich stattdessen mit Diego Rivera einzulassen, dem besten Freund und Geschäftspartner meines Vaters – und seit fünf Tagen auch seinem Mörder.

»Es hat doch keinen Sinn, Angelina«, sagt Maria und bleibt mit in die Hüften gestemmten Händen direkt vor mir stehen. »Du wirst Diego so oder so heiraten müssen. Warum machst du es dir selbst so schwer?«

Ich verschränke die Arme und lehne mich gegen die Wand. »Warum heiratest du ihn eigentlich nicht?«, frage ich. »Du vögelst ihn doch sowieso. Wieso willst du es dabei belassen?«

»Diego würde nie die Tochter eines Bediensteten heiraten. Aber er wird weiterhin mit mir vögeln.« Sie wirft mir einen ihrer besonders herablassenden Blicke zu. »Ich bezweifle allerdings, dass er dich jetzt noch anfassen will, Manny Sandovals Tochter hin oder her. Du warst noch nie besonders hübsch, aber inzwischen siehst du halb tot aus.«

»Du könntest ihn doch bitten, mich gehen zu lassen. Dann hast du ihn ganz für dich.«

Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie sie es erträgt, sich von dem Schwein anfassen zu lassen. Diego ist älter, als mein Vater es war, und er stinkt. Ich werde den Geruch nach altem Schweiß und schlechtem Deo für immer mit ihm in Verbindung bringen.

»Oh, das würde ich gerne. Mit Vergnügen.« Sie lächelt. »Wenn ich glauben würde, dass es funktionieren könnte. Diego meint aber, dass es einfacher für ihn ist, die Geschäfte deines Vaters zu übernehmen, wenn er mit der Sandoval-Prinzessin verheiratet ist. Er wird vielleicht noch ein oder zwei Tage abwarten, bevor er dich zum Altar schleppt. Und er war bisher unglaublich geduldig mit dir, Angelina. Du solltest ihn nicht weiter auf die Probe stellen.« Sie nimmt den Teller mit dem unangetasteten Essen und verlässt das Zimmer. Die Tür schließt sie hinter sich ab.

Ich lege mich auf mein Bett und sehe zu, wie die Vorhänge in der leichten Abendbrise wehen. Seit heute Morgen ist mir schwindelig, daher kann ich zumindest leichter einschlafen als in den Tagen zuvor. Und auch meine Tränen sind versiegt.

Noch immer kann ich nicht glauben, dass mein Dad tot ist. Er war vielleicht nicht der beste Vater der Welt, aber er war mein Vater. Für Manuel Sandoval stand die Arbeit immer an erster Stelle, was nicht ungewöhnlich ist. Niemand hat von dem Kopf eines der drei größten mexikanischen Drogenkartelle erwartet, dass er mit seiner Tochter Verstecken spielt oder so was, aber auf seine Art hat er mich geliebt. Ein trauriges Lächeln huscht über meine Lippen. Auch wenn Manny Sandoval nie zu meinen Schulaufführungen kam oder mir bei den Hausaufgaben geholfen hat, sorgte er zumindest dafür, dass ich fast so gut schießen kann wie alle seine Männer.

Männliches Gelächter dringt von der Veranda zu mir herein und lässt mich erschaudern. Dieses verlogene Arschloch und seine Leute feiern immer noch. Es reichte ja nicht, dass er meinen Vater umgelegt hat. Den Mann, mit dem er seit mehr als zehn Jahren Geschäfte gemacht hat. O nein. Er hat sein Haus besetzt und seine Geschäftsverbindungen übernommen. Und jetzt will er auch noch seine Tochter haben.

Ich schließe die Augen und erinnere mich an den Tag, als Diego zu uns ins Haus kam. Niemand hatte einen Verdacht, denn er besuchte meinen Vater schon seit Jahren mindestens einmal im Monat. Und als wir merkten, was los war, war es bereits zu spät.

Ich hätte Diego an dem Tag nicht angreifen sollen. Das Einzige, das es mir gebracht hat, war ein kräftiger Schlag ins Gesicht, der mich Sterne hat sehen lassen. Als ich die Leiche meines Vaters auf dem Boden liegen sah, mitten in einer riesigen Blutlache, konnte ich nicht mehr klar denken. Ich wollte das Arschloch einfach nur umbringen. Statt auf eine bessere Gelegenheit zu warten, habe ich seine beiden Fußsoldaten einfach ignoriert, mir eins von den Deko-Schwertern an der Bürowand geschnappt und mich damit auf Diego gestürzt. Seine Männer hielten mich fest, noch bevor ich mich ihrem Boss überhaupt genähert hatte. Und lachten mich aus. Sie lachten noch lauter, nachdem Diego mir so hart ins Gesicht geschlagen hatte, dass er mir fast den Kiefer ausgerenkt hätte.

Erstaunlich, dass er noch nicht versucht hat, mich zu vögeln. Wahrscheinlich ist er noch zu sehr damit beschäftigt, die Mädchen zu vergewaltigen, die er entführt hat und im Keller einsperrt, bis er sie einem der Männer übergibt, die sie gekauft haben. Wird er mich auch verkaufen? Oder wird er mich einfach nur töten, sobald er merkt, dass ich nichts mit ihm zu tun haben will?

Verzweifelt vergrabe ich mein Gesicht im Kissen.

 

 

 

Das Geräusch von gehetzten Schritten weckt mich. Langsam und ohne die Augen zu öffnen, greife ich unter das Kissen und umklammere die Armlehne des Stuhls, die ich vor drei Tagen abmontiert habe. Die selbstgebastelte Waffe verstecke ich dort, für den Fall, dass Diego sich endlich dazu herablässt, mich zu besuchen.

»Angelinita!« Eine Hand greift mir an die Schulter und schüttelt mich. »Wach auf. Wir haben nicht viel Zeit.«

»Nana?« Ich setze mich im Bett auf und sehe mein ehemaliges Kindermädchen mit verengten Augen an. »Wie bist du hier reingekommen?«

»Komm schon! Und sei leise.« Sie greift nach meiner Hand und zerrt mich aus dem Zimmer.

Seit fünf Tagen halten sie mich in meinem Zimmer gefangen, und seitdem habe ich auch nichts mehr gegessen. Meine Füße bewegen sich nur schleppend voran, während ich versuche, mit meiner alten und zerbrechlichen Nana mitzuhalten, die mich regelrecht durch den Flur und die zwei Treppen hinunter zieht, bis wir in der Küche landen. Innerhalb des Hauses hat Diego keine Wachen postiert, das übrige Personal geht abends gegen zehn. Es muss also schon mitten in der Nacht sein, da wir unterwegs niemandem begegnen.

Nana schiebt mich zu der Glastür, die zum Garten führt, und deutet nach vorn. »Siehst du den Truck da? Sie fahren in zwanzig Minuten. Diego liefert den Italienern in Chicago Drogen und hat mir aufgetragen, eins der Mädchen als Geschenk mitzuschicken.« Sie schaut mich an. »Stattdessen wirst du mitfahren.«

»Was? Nein.« Ich lege eine Hand auf ihre runzlige Wange, während ich mich mit der anderen an der Wand abstütze, für den Fall, dass meine Beine den Dienst versagen. »Diego wird dich umbringen.«

»Du fährst mit. Ich lasse nicht zu, dass dieser Hurensohn dich bekommt.«

»Nana …«

»Wenn du es nach Chicago schaffst, kannst du bei einer von deinen amerikanischen Freundinnen bleiben, die du von der Uni kennst. Diego wird es nicht wagen, die Grenze zu überqueren, um dich zu verfolgen.«

»Ich habe keinen Ausweis und keine Papiere. Was soll ich denn machen, wenn ich angekommen bin?« Ich verzichte darauf, ihr mitzuteilen, dass ich auch nicht gerade viele Freunde dort habe. »Und der Fahrer wird mich doch erkennen.«

»Wahrscheinlich nicht, du siehst schrecklich aus. Aber für alle Fälle …«

Sie greift in eine Schublade, holt eine Schere heraus und fängt an, meine Shorts und mein T-Shirt an ein paar Stellen zu zerschneiden. Als sie fertig ist, bleibt kaum noch genug Stoff übrig, um meine Brüste und meinen Hintern zu verdecken. Genau so, wie Diego es mag.

»Und jetzt die Haare.«

Ich schließe die Augen, hole tief Luft und kehre ihr den Rücken zu. Während Nana meine hüftlangen Haare abschneidet, bis die unregelmäßigen Strähnen nur noch bis knapp über die Schulter reichen, versuche ich, meine Tränen zu unterdrücken.

»Du musst Liam O’Neil kontaktieren, sobald du in Chicago bist«, sagt sie. »Er kann dir dabei helfen, Papiere und einen neuen Ausweis zu bekommen.«

»Ich glaube nicht, dass das klug ist in Anbetracht der Situation. Was, wenn O’Neil Diego verrät, dass ich dort bin?« Mein Vater hat im vergangenen Jahr Geschäfte mit den Iren gemacht, aber er war nie ein Fan von deren Anführer. Er nannte Liam O’Neil immer einen »hinterhältigen Bastard«.

»Das Risiko musst du eingehen. Niemand sonst kann dir gefälschte Papiere besorgen.« Ich starre auf den Boden, wo schwarze Haarsträhnen um meine Füße herum verstreut liegen. Es wird wieder nachwachsen … falls ich lange genug überlebe.

Nana klopft mir auf die Schulter. »Dreh dich um.« Sie holt eine Handvoll Erde aus dem Blumentopf mit ihrer liebsten Agave und verteilt den Dreck auf meinen Armen und Beinen. Dann tritt sie einen Schritt zurück, schaut mich an und schmiert noch etwas davon auf meine Stirn.

»Gut.« Sie nickt.

Ich schaue an mir herunter. Meine Hüftknochen stechen hervor und mein Bauch wirkt eingefallen. Ich war schon immer sehr schlank, aber jetzt sieht mein Körper aus, als hätte jemand das gesamte Fleisch abgenagt und nur noch Haut und Knochen übrig gelassen. Auf jeden Fall sehe ich aus wie eins der Mädchen, die Diego im Keller einsperrt. Als ich wieder hochschaue, sieht Nana mich mit Tränen in den Augen an.

»Nimm das hier mit.« Sie greift nach einer Tasche, die über einer Stuhllehne hing, und drückt sie mir in die Hände. »Wasser und etwas zu essen. Ich habe mich nicht getraut, dir Geld mitzugeben, falls der Fahrer die Tasche überprüft.«

Ich schlinge meine Arme um sie und vergrabe mein Gesicht an ihrer Halsbeuge. Dann atme ich tief ihren Geruch nach Weichspüler und Keksen ein. Er erinnert mich an meine Kindheit, an Sommertage und an Liebe. »Ich kann dich nicht zurücklassen, Nana.«

»Dafür haben wir jetzt keine Zeit.« Sie schnieft. »Los, gehen wir. Kopf hoch und kein Wort sagen.«

Draußen zieht sie mich am Oberarm auf den Truck zu, der vor dem Dienstgebäude steht.

»Das wird aber auch Zeit, Guadalupe«, schnauzt der Fahrer und wirft seine Zigarette weg. »Setz sie hinten rein, wir sind schon spät dran.«

»Glaub mir, du willst lieber nicht in ihre Nähe kommen.« Nana stößt mich an dem Fahrer vorbei. »Die Schlampe hat sich total vollgekotzt und stinkt wie die Hölle.« Ich halte den Kopf gesenkt und versuche, nicht auszurutschen, während ich hinten in den Truck einsteige. Meine Beine zittern von der Anstrengung, mich aufrecht zu halten. Ich kauere mich hinter eine der Kisten und drehe mich noch einmal um, um Nana Guadalupe ein letztes Mal anzusehen. Aber die große Schiebetür fällt mit einem lauten Knall herunter, bevor ich noch einen Blick erhaschen kann. Absolute Finsternis umgibt mich, und eine Minute später erwacht der Motor dröhnend zum Leben.

 

Sergei

 

Das Handy in meiner Arschtasche klingelt. Ich werfe das Messer weg, greife nach dem Telefon und nehme den Anruf entgegen.

»Ja?«

»Die Lieferung für die Italiener hat Mexiko gerade verlassen«, sagt Roman Petrov, der Pakhan der russischen Mafia, am anderen Ende der Leitung. »Du musst Mikhail morgen begleiten, wenn die Männer aufbrechen, um sie abzufangen.«

»Ach? Heißt das, ich darf wieder ins Feld?«

Als ich vor vier Jahren der Bratva beitrat, habe ich als Fußsoldat angefangen. Und im Laufe der Jahre habe ich die Karriereleiter erklommen, bis ich es in den inneren Kreis des Pakhan geschafft habe. Bis vor einem Jahr war ich im Außendienst tätig, doch dann hat Roman mich von dort verbannt. »Nein. Das ist eine einmalige Sache. Anton ist noch im Krankenhaus und wir sind unterbesetzt, sonst würde ich dich nicht schicken.«

»Deine Motivationsreden solltest du mal dringend überarbeiten.« Ich schleudere das nächste Messer durch die Luft.

»Wenn du motiviert bist, schießt die Trefferquote durch die Decke, Sergei.«

Ich verdrehe die Augen. »Was kann ich für dich tun?«

»Überfallt den Truck und jagt ihn in die Luft. Es muss passieren, wenn der Fahrer zur Übernachtung irgendwo anhält. Unser Spitzel sagt, dass neben den Drogen auch noch ein Mädchen in dem Truck ist. Wir müssen sie vorher dort rausholen. Mikhail ruft dich nachher an und gibt dir mehr Details.«

»Okay.«

»Und sorg dafür, dass dieses Mal nur der Truck in die Luft fliegt«, fährt er mich noch an, dann legt er auf.

Ich werfe das letzte Messer, schalte das Licht ein und gehe zu dem schmalen Holzbrett, das an der Wand gegenüber angebracht ist, um meine Treffer zu begutachten. Zwei von den Messern stecken knapp unterhalb der Ziellinie. Ich bin wohl ein wenig eingerostet. Ich ziehe die Messer heraus und schlendere zurück auf die andere Seite des Zimmers. Dann konzentriere ich mich auf die weiße Linie, die horizontal auf das Holzbrett gemalt wurde, und schalte das Licht wieder aus.

 

 

 

Zwanzig Minuten später verlasse ich mein Zimmer und gehe nach unten, um nach Felix zu suchen.

»Albert!«, rufe ich.

Er hasst es, wenn ich ihn so nenne, deshalb nenne ich ihn immer so. Das geschieht ihm recht, schließlich hat er sich dazu entschlossen, meinen Butler zu spielen, statt seine Rente in einem Häuschen am Meer zu verbringen. Wie er es hätte tun sollen, nachdem das Militär uns gehen ließ. Er hat mir nie gesagt, wie genau er es damals hingekriegt hat, uns aus unseren Verträgen zu lösen.

»Albert! Wo hast du unseren C4-Vorrat versteckt?«

»In der Speisekammer!«, ruft er von irgendwo aus der Küche. »Die Box unter der Kartoffelkiste.«

Ich schnaube. Aber ich soll hier der Verrückte sein. Dann gehe ich um die Treppe herum und öffne die Speisekammer. »Wo?«

»Auf elf Uhr. Vorsicht mit dem Kopf!«

Ich wende mich leicht nach links und knalle mit dem Schädel gegen die Golftasche, die von der Decke baumelt. »Alter! Ich hab dir doch gesagt, du sollst deinen Kram in der Garage lassen!«

»Da ist kein Platz mehr«, sagt Felix hinter mir. »Wozu brauchst du das C4?«

»Roman braucht mich, ich muss morgen irgendeinen Scheiß in die Luft jagen.«

»Schon wieder ein italienisches Warenlager?«

»Diesmal einen Truck mit einer Drogenlieferung.« Ich stelle die Kartoffelkiste zur Seite und greife nach dem Karton darunter. »Du kannst den Sprengstoff nicht zusammen mit dem Essen aufbewahren, verdammt noch mal. Ich bringe das Zeug in den Keller.«

»Ich muss übermorgen einen Tag freinehmen!«, ruft er mir nach. »Ich gehe mit Marlene ins Kino.«

Ich bleibe stehen und schaue ihm in die Augen. »Du arbeitest nicht für mich. Du bist eine Seuche, die ich seit Jahren vergeblich loswerden will – aber du willst einfach nicht verschwinden. Ich freue mich auf den Tag, an dem du endlich mit Marlene zusammenziehst und ich dich los bin.«

»Ach, ich werde nicht so bald mit ihr zusammenziehen. Dazu ist es noch zu früh.«

»Du bist einundsiebzig! Wenn du noch länger wartest, ziehst du höchstens noch auf den verfluchten Friedhof um!«

»Ach was.« Er wedelt mit der Hand, als wäre ihm alles egal. »In meiner Familie werden alle sehr alt.«

Ich schließe die Augen und seufze. »Es geht mir gut. Du musst nicht meinen Babysitter spielen. Und Marlene ist eine sehr nette Frau. Geh einfach und genieß dein Leben.«

Felix knirscht mit den Zähnen und fixiert mich mit seinem Blick. Die sorglose Maske ist von seinem Gesicht verschwunden. »Du bist weit davon entfernt, dass es dir gut geht, und das wissen wir beide.«

»Selbst wenn das wahr wäre, bist du nicht mehr für mich verantwortlich. Geh endlich. Ich komme schon alleine klar mit meinem Scheiß.«

»Wenn du nachts durchschläfst, also die ganze Nacht, und zwar drei Mal hintereinander, dann gehe ich. Solange das nicht der Fall ist, bleibe ich hier.« Er dreht sich um und geht Richtung Küche, dann ruft er mir noch über die Schulter zu: »Mimi hat die Lampe im Wohnzimmer umgeworfen. Überall liegen Scherben.«

»Hast du die nicht weggeräumt?«

»Wieso sollte ich? Angeblich arbeite ich doch gar nicht für dich. Wenn du mich brauchst, ich bin in der Küche. Heute Mittag gibt es Fisch.«

 

 

Kapitel 2

 

Sergei

 

Ich liege gerade unter dem Truck und bringe die zweite Ladung Sprengstoff an, als Mikhail irgendwo auf der anderen Seite flucht.

»Sergei! Bist du fertig?«

»Eins noch!«, sage ich.

»Du hast genug Zeug da unten angebracht, um die ganze beschissene Gegend in die Luft zu sprengen. Lass es jetzt und komm her. Die Tür klemmt.«

Ich rolle mich unter dem Truck hervor und gehe nach hinten, wo Mikhail mit einem Stemmeisen die Ladetür aufhält.

»Halt du die Tür fest, ich hole das Mädchen«, sage ich, schalte die Taschenlampenfunktion am Handy ein und springe in den Truck.

Ich gehe um die Kisten herum und verschiebe sie dabei, finde aber kein Mädchen.

»Ist sie da?«, fragt Mikhail.

»Ich finde niemanden. Bist du sicher, dass sie …«

In der Ecke ist etwas, aber ich kann es nicht erkennen. Ich umrunde einen Stapel mit Kisten und richte den Lichtstrahl nach unten. »Oh, fuck!«

Ich verschiebe die Kisten, um näher zu kommen, und hocke mich vor einen zusammengerollten Körper. Das Mädchen versteckt ihr Gesicht hinter einem Arm. Einem extrem dünnen Arm. Eine Nacht von vor acht Jahren schießt mir durch den Kopf und ich schließe die Augen, um das Bild eines anderen Mädchens zu verdrängen. Das Bild ihres dürren, völlig verdreckten Körpers. Zum Glück verblasst die Erinnerung wieder.

Ich überprüfe den Puls des Mädchens und bin mir schon fast sicher, keinen mehr zu finden, doch da bewegt sie sich plötzlich und senkt ihren Arm. Zwei unglaublich dunkle Augen starren mich an. Sie sind so dunkel, dass sie im Licht meines Handys beinahe schwarz wirken.

»Alles gut«, flüstere ich. »Du bist in Sicherheit.«

Das Mädchen blinzelt, dann hustet sie und diese wunderschönen, dunklen Augen verdrehen sich kurz, bevor sich ihre Lider flatternd schließen. Sie ist wieder bewusstlos. Ich lege das Handy auf die Kiste neben mir, sodass der Lichtstrahl auf sie gerichtet ist, und schiebe meine Arme unter ihren zerbrechlichen Körper. Als ich sie hochhebe, schnürt sich mir die Kehle zu.

Großer Gott, sie wiegt höchstens vierzig Kilo.

»Sergei?«, ruft Mikhail von der Tür aus.

»Hab sie. Verdammt, sie ist in einem sehr schlechten Zustand.« Ich nehme das Handy an mich, beleuchte damit den Weg durch das Kistenlabyrinth und trage sie zur Tür. »Ich hab dich«, flüstere ich ihr ins Ohr, dann schaue ich hoch zu Mikhail. »Halt die Tür auf.«

Ich springe vom Truck und gehe zu Mikhails Wagen.

»Ich rufe Varya an, sie soll den Doc holen.« Mikhail lässt krachend die Tür fallen. »Wir können uns im Unterschlupf treffen.«

»Nein«, knurre ich und drücke den winzigen Körper an meine Brust. »Ich nehme sie mit zu mir.«

»Was? Bist du irre?«

Ich bleibe stehen und drehe mich zu ihm um. »Ich sagte, ich nehme sie mit zu mir.«

Mikhail starrt mich an, dann schüttelt er den Kopf. »Von mir aus. Setz sie ins Auto, jag den Truck in die Luft und lass uns von hier verschwinden.«

Ich öffne die Tür und klettere auf den Rücksitz, wobei ich das Mädchen fest in meinen Armen halte. Dann beuge ich mich zu ihr und versuche zu hören, ob sie atmet. Ihr Atem geht flach, aber sie lebt. Noch.

»Fertig?«, fragt Mikhail vom Fahrersitz, aber ich ignoriere ihn. »Herrgott, Sergei! Nimm die verdammte Fernbedienung und blas endlich diesen verdammten Truck weg!«

Ich hebe den Blick und schaue ihn an, während ich überlege, ob ich ihm eine Kopfnuss verpassen sollte, weil er mich gestört hat. Aber ich entscheide mich dagegen. Seine Frau ist anscheinend ganz schön verliebt in ihn und seine grantige Persönlichkeit. Wahrscheinlich wäre sie nicht gerade glücklich darüber, wenn er mit einer Beule und einem abgerissenen Ohr nach Hause käme.

Und mir würde es wahrscheinlich auch nicht viel besser ergehen. Mikhail ist ein verdammtes Kraftpaket. Ich habe ihn mal bei einem Kampf gegen drei Typen von seiner Statur beobachtet. Das war witzig. Ich erinnere mich nicht mehr so genau, aber ich glaube, er war der Einzige, der lebend aus der Schlägerei herauskam. Als er mich mit seinem linken Auge im Rückspiegel fixiert, frage ich mich kurz, was eigentlich mit seinem rechten Auge passiert ist. Grinsend greife ich nach der Fernbedienung in meiner Hosentasche und drücke den Knopf.

Und dann durchbricht ein gewaltiger Knall die Nacht.

 

 

Angelina

 

Dunkelheit. Nichts als Dunkelheit. Plötzlich blendet mich ein grelles Licht. Gemurmelte Worte. Danach folgt für eine Weile ein gewaltiges Nichts.

Licht. Schwerelosigkeit. Noch mehr Gemurmel, aber ich verstehe kein Wort. Wieder grelles Licht. Ein Hund bellt. Stimmen. Drei männliche, eine weibliche.

Wieder Schwerelosigkeit. Wasser. Warmes Wasser. Auf meinem Körper und in meinem Haar. Seufzend spüre ich, wie ich wegdrifte. Das Wasser verschwindet, und auf einmal ist mir kalt. So kalt. Ich zittere und versuche, die Augen zu öffnen, schaffe es aber nicht. Etwas Weiches und Warmes umhüllt meinen Körper, dann wieder Schwerelosigkeit. Arme, kräftige, starke Arme, halten mich. Wo bin ich? Wer trägt mich gerade? Ich gleite wie auf Wellen. Aber wohin?

Es hört auf zu schaukeln, aber die Arme sind immer noch da. Mir ist wieder kalt, ich zittere erneut. Die Arme umschlingen mich fester und ziehen mich an etwas Warmes und Stabiles.

Leises Flüstern. Eine Frau. Dann abgehackte, dunkle Worte. Ein Mann. Die Arme schlingen sich weiter zusammen, ziehen mich noch näher. Ein Zwicken an meinem Handrücken. Ein leichter Schmerz. Mehr Worte. Sie streiten. Die Sprache kommt mir entfernt vertraut vor. Es ist nicht Spanisch. Englisch ist es auch nicht. Der Truck sollte an die Italiener geliefert werden, aber das, was ich höre, klingt nicht nach Italienisch. Nicht einmal annähernd.

»Idi na khuy, Albert!«, blafft eine dunkle männliche Stimme direkt an meinem Ohr.

Das Blut gefriert mir in den Adern. Wie zur Hölle bin ich denn jetzt bei den Russen gelandet? Ich hatte nur ein Semester Russisch und verstehe nicht viel, aber es reicht zumindest, um die Sprache zu erkennen.

Ich versuche wieder, meine Augen zu öffnen, doch es ist noch schwieriger als vorhin. Haben sie mir Drogen verpasst? Erneut schwindet mir das Bewusstsein, und das Letzte, was ich noch mitbekomme, sind gemurmelte Worte an meinem Ohr und ein frischer, holziger Duft von einem männlichen Aftershave. Ich sollte mich nicht fallen lassen, solange ich in der Nähe dieser Leute bin, aber die dunkle, weiche Stimme umhüllt mich. Und ich fühle mich sicher in ihrer Nähe. Warum auch immer. Seufzend vergrabe ich mein Gesicht an der harten männlichen Brust und schlafe in den Armen des Feindes wieder ein.

 

 

Sergei

 

 

Ich bewege das schlafende Mädchen so, dass ihr Kopf auf meiner Schulter liegt, und stecke die Decke fest, die ich ihr umgelegt habe. Dann lehne ich mich im Sessel zurück und betrachte ihr leichenblasses Gesicht. Um ihre Augen herum sind dunkle Ringe, ein paar feuchte, unregelmäßig geschnittene Haarsträhnen kleben an ihrer Wange und verdecken den verblassten, gelben Bluterguss darauf. Sie sieht aus, als wäre sie durch die Hölle gegangen.

»Sie kann hier nicht bleiben, mein Junge«, sagt Varya, Romans Haushälterin. »Sie braucht medizinische Aufsicht.«

»Der Doc bleibt heute Nacht hier. Du kannst auch bleiben, wenn du willst.« Ich schaue zu ihr hoch. »Aber sie geht nirgendwohin.«

Varya schüttelt den Kopf und wendet sich an den Arzt. »Wie schlimm ist es?«

»Sie ist dehydriert. Und hat eine beginnende Lungenentzündung. Ich habe ihr ein Antibiotikum gespritzt. Gebt ihr bis Dienstag jeden Tag eine von diesen Tabletten.« Er reicht mir eine Flasche mit Medikamenten und nickt in Richtung des Infusionsbeutels, den Varya festhält. »Sie braucht auch noch einen zweiten Beutel mit Kochsalzlösung heute Nacht.«

»Sonst noch was?«

»Wahrscheinlich schläft sie bis morgen früh durch. Wenn sie aufwacht, gebt ihr Wasser und etwas zu essen, aber nur etwas Leichtes für den Anfang. Grundsätzlich ist sie eine gesunde, junge Frau. Das hier«, er gestikuliert in Richtung des Mädchens in meinen Armen, »ist erst kürzlich passiert. Vermutlich hat man sie aushungern lassen.«

Mein Körper versteift sich. »Du meinst, sie hat nicht genug zu essen bekommen?« Ich starre den Arzt an.

»Ich meine, dass sie in den letzten fünf, sechs Tagen nur sehr wenig oder gar kein Essen bekommen hat. Vielleicht sogar noch länger.«

Hitze durchströmt meinen Körper, breitet sich von meinem Magen immer weiter aus, bis sie mich zu verschlingen droht. Das Zimmer um mich herum verdunkelt sich und verwandelt sich in einen düsteren Kellerraum, in dem der einzige Lichtstrahl von meiner Taschenlampe herrührt. Kisten und ein paar zerbrochene Möbelreste liegen überall verstreut. Und Leichen. Mindestens zehn sehr junge Frauen, dreckig und dürr, liegen herum. Meine Schuld. Es war alles meine Schuld. Wäre ich früher hineingegangen, anstatt auf meine Befehle zu hören, hätte ich sie vielleicht noch retten können. Ich überprüfe ihren Puls, eine nach der anderen, obwohl mir klar ist, dass sie alle tot sind. Jede hat einen großen roten Fleck mitten auf der Stirn. Alle, bis auf eine. Ein kaum hörbares Stöhnen dringt über ihre Lippen, als ich meinen Finger an ihren Hals lege. Sie öffnet die Augen und sieht mich an, dann hört ihr Puls unter meinem Finger plötzlich auf zu schlagen.

»Sergei?« Varyas Stimme erreicht mich wie aus der Ferne.

Ich schließe die Augen und hole tief Luft, versuche, die erneute Welle von Bildern abzuwehren. Meine linke Hand zittert. Fuck. Ich knirsche mit den Zähnen und kneife meine Lider mit aller Kraft zusammen.

»Scheiße. Varya, geh weg von ihm. Langsam!«, ruft Felix von irgendwo rechts neben mir. »Alle raus hier. Sofort.«

Ein tiefer Atemzug. Noch einer. Es hilft nicht. Es fühlt sich an, als würde ich jeden Augenblick explodieren. Ich höre, wie Leute rausgehen und die Tür geschlossen wird, aber die Geräusche vermischen sich mit dem Klingeln in meinen Ohren. Das dringende Bedürfnis, etwas zu zerstören, egal was, überkommt mich, während sich in mir die Wut immer weiter und weiter aufbaut.

Das Mädchen in meinen Armen bewegt sich und ihr Kopf fällt nach links, ihr Gesicht drückt gegen meinen Hals. Ihr Atem fühlt sich an wie Schmetterlingsflügel auf meiner Haut. Dann verblasst die Erinnerung plötzlich. Sie seufzt und hustet. Ich öffne die Augen und schaue zu ihr herab, suche nach irgendwelchen Anzeichen dafür, dass ihr etwas wehtut, aber es scheint ihr gut zu gehen.

Also lehne ich mich im Sessel zurück, damit sie es bequemer hat, ziehe die Decke über ihre knochige Schulter und stelle fest, dass meine Hand aufgehört hat zu zittern. Mit zurückgelehntem Kopf schaue ich an die Decke und lausche ihrem Atem, dann versuche ich, meine sehr viel schnelleren Atemzüge ihren anzupassen. Sie zuckt und hustet erneut.

»Alles gut. Du bist in Sicherheit«, flüstere ich und schlinge meine Arme fester um sie.

Sie murmelt etwas, das ich nicht verstehe, und legt eine Hand auf meine Brust, direkt über mein Herz. Sie ist so klein. Und so verdammt dünn. Vermutlich könnte ich beide Handgelenke auf einmal mit Daumen und Zeigefinger umfassen. Ich lege eine Hand seitlich an ihren Nacken und spüre ihren Pulsschlag unter meinen Fingern. Er ist kräftig. Sie wird es schaffen. Der Druck, der sich in mir aufgebaut hatte, verschwindet langsam wieder.

Ohne den Blick von ihrem Gesicht zu lösen, schiebe ich die feuchten Haarsträhnen hinter ihr Ohr und betrachte sie. Obwohl sie fast zu Tode gehungert wurde, ist sie immer noch wunderschön. Aber es ist nicht ihre Schönheit, die meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ihre Gesichtszüge kommen mir entfernt bekannt vor. Mein Gedächtnis funktioniert hervorragend und ich bin mir sicher, dass wir uns noch nie begegnet sind, jedenfalls nicht persönlich. Und dennoch …

Ich neige den Kopf zur Seite und studiere ihre schwarzen Augenbrauen, die kecke Nase und die vollen Lippen. Und versuche mir vorzustellen, wie sie ausgesehen haben muss, bevor man sie ausgehungert hat und sie drei Tage in dem Truck verbracht hat. Als würde sie meinen Blick spüren, bewegt sie sich in meinen Armen. Dann öffnen sich nur für eine Sekunde ihre Augen und ihr unfokussierter, dunkler Blick trifft meinen.

Und plötzlich erinnere ich mich.

 

 

Kapitel 3

 

Angelina

 

Etwas Nasses landet auf meinem Handrücken und rinnt zwischen meinem Daumen und Zeigefinger herunter. Ein Keuchen. Ein warmer Atem schlägt mir ins Gesicht. Ich öffne blinzelnd die Augen – und erstarre augenblicklich. Dann versuche ich, die aufsteigende Panik im Griff zu behalten, als ich an einer langen Schnauze vorbei in zwei dunkle Augen schaue, die mich interessiert mustern. So langsam wie möglich setze ich mich auf und krieche auf die gegenüberliegende Bettseite, bis mein Rücken auf die Wand trifft. Dabei lasse ich das Biest keine Sekunde aus den Augen. Ich habe eigentlich kein Problem mit Hunden, aber das Tier, das mich da gerade anstarrt, ist so groß wie ein kleines Pony.

Es legt den Kopf schief, dann legt es sich auf den Boden und schließt die Augen. Wenige Augenblicke später höre ich ein dunkles Schnarchen. Ich atme auf und schaue mich im Zimmer um.

Ich bin in irgendeinem riesigen Schlafzimmer. Neben dem Bett gibt es noch einen großen Kleiderschrank aus Holz und ein Bücherregal, das bis zur Decke reicht. Davor stehen zwei Sessel und eine Stehlampe. Eine Lederjacke und ein Motorradhelm wurden auf einen der Sessel geworfen. Der Raum hat zwei Türen, die wahrscheinlich zu einem Badezimmer und nach draußen führen. Und dann gibt es noch eine seltsame Vorrichtung – ein dickes Holzbrett, auf das horizontal ein weißer Strich gemalt wurde. Ich blinzle mehrmals und fokussiere die Tür neben dem merkwürdigen Dekostück. Ich muss hier raus.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich irgendwie bei einem Fußsoldaten der russischen Bratva gelandet bin. Kein anderer hätte es gewagt, den Drogentransport abzufangen. Und es wäre untertrieben, zu behaupten, dass mein Vater nicht gerade das beste Verhältnis zu den Russen hatte. Wenn irgendwer herausfindet, wer ich bin und dass Diego mich sucht, liefern sie mich dem Mistkerl wahrscheinlich umgehend aus.

Ich muss abhauen. Sofort.

Aber bevor ich das überhaupt versuchen kann, muss ich erst mal ins Bad. Meine Blase fühlt sich an, als würde sie jede Sekunde platzen. Ich schiebe mich in Richtung des Bettrands, so weit weg wie möglich von dem schlafenden Höllenhund. Doch in dem Moment, als meine Füße den Boden berühren, schnellt der Kopf des Hundes in die Höhe.

---ENDE DER LESEPROBE---