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Isabella Sehnsucht. Mein ganzes Leben lang habe ich mich nach ihm gesehnt. Seit dem Tag in meiner Kindheit, an dem er mich vor dem Ertrinken gerettet hat. Er hat mich jedoch nie beachtet, keinen Gedanken an mich verschwendet. Für ihn bin ich immer noch ein Kind. Und jetzt soll er mich heiraten. Er will mich gar nicht, weder in seinem Herzen noch in seinem Bett. Aber im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt. Und ich bin bereit, alles zu tun, was nötig ist. Auch einen Mann anzulügen, der sich nicht mehr an seine Vergangenheit erinnert. Luca Sie ist ebenso gerissen, wie sie schön ist. Meisterhaft führt mich meine junge Frau durch die Untiefen der Cosa Nostra und sorgt dafür, dass niemand Verdacht schöpft. Seit dem Unfall besitze ich kein Gedächtnis mehr. Jetzt bin ich dabei, mich in eine Frau zu verlieben, an die ich mich nicht einmal erinnern kann. In die Frau, die mich stets belügt, seit dem Moment, in dem ich meine Augen wieder geöffnet habe. Und ich habe vor, all ihre Geheimnisse aufzudecken.
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Neva Altaj
RUINED secrets
Der Capo
(Perfectly Imperfect Serie)
Übersetzt von Alexandra Gentara
RUINED Secrets – Der Capo
© 2024 VAJONA Verlag GmbH
Übersetzung: Alexandra Gentara
Lektorat der Übersetzung: Anne Masur
Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Ruined Secrets«.
Umschlaggestaltung: Deranged Doctor mit Anpassungen durch VAJONA Verlag GmbH
Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz unter Verwendung von
Motiven von Canva
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Liebe Leserinnen und Leser, im Buch werden ein paar italienische Ausdrücke benutzt, hier sind die Übersetzungen und Erklärungen dazu:
tesoro – Schatz, Kosename.
stella mia – mein Stern, Kosename.
piccola – Kleines, Kosename.
Hinweis
Dieser Roman behandelt Themen wie blutige Szenen, Gewalt und grafische Beschreibungen von Folter, leichtes BDSM und die Verwendung von Spielzeug.
Isabella, 19 Jahre
Gegenwart
Sie haben ihm die Haare abrasiert.
Keine Ahnung, warum mich gerade dieses Detail so sehr trifft.
Ich greife nach der Hand meines Mannes, verschränke unsere Finger ineinander und lasse meine Stirn auf die Matratze sinken. Ich weiß nicht, was ich am meisten hasse – den Krankenhausgeruch, das Piepen der Maschine neben dem Bett, die seinen Herzschlag überwacht, oder die Tatsache, dass er so unheimlich still daliegt.
Minuten verstreichen. Vielleicht sogar Stunden, ich bin mir nicht sicher.
Und dann hätte ich es beinahe verpasst – das winzige Zucken seiner Finger in meiner Hand. Mein Kopf schnellt hoch und ich schaue in zwei dunkelbraune Augen, die mich ansehen.
»O Gott, Luca …«, stoße ich hervor, beuge mich über ihn und gebe ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Er sagt nichts, sieht mich nur weiterhin an und fragt sich vermutlich, wie ich es wagen konnte, ihn zu küssen. Aber das ist mir egal. Ich hatte solche Angst um ihn und musste mir diesen Kuss einfach von ihm stehlen, um mich davon zu überzeugen, dass er noch lebt.
Ich lasse seine Hand los, setze mich aufrechter in den Stuhl und warte darauf, dass er etwas sagt. Als er das tut, klingt seine Stimme ganz dunkel und rau, noch viel tiefer als sonst. Und die Worte, die seinen Mund verlassen, lassen mein Inneres zu Eis gefrieren.
»Wer bist du?«
Ich starre ihn an.
Luca legt den Kopf schief und mustert mich mit einem intensiven, fragenden Blick. Dieser Ausdruck ist mir mehr als vertraut, normalerweise bekomme ich ihn zu sehen, wenn ich etwas getan habe, das ihm nicht gefällt. Aber diesmal ist der Ausdruck anders. Es sind seine Augen. Dieselben Augen, von denen ich so lange gehofft habe, dass er mich damit liebevoll statt gleichgültig ansehen wird. Und jetzt starren sie mich einfach nur an, ohne den geringsten Hauch eines Wiedererkennens.
»Ich bin es, Isabella«, flüstere ich. »Deine … Frau.«
Er blinzelt, dann schaut er zum Fenster auf der anderen Seite des Zimmers und holt tief Luft.
»Also dann, Isabella«, sagt er und wendet sich wieder mir zu. »Würde es dir etwas ausmachen, mir auch noch zu verraten, wer ich bin?«
»Vorher«
Isabella, 16 Jahre
Drei Jahre zuvor
»Isa!«, ruft Andrea, während sie die Treppe hinunterpoltert.
Ich drehe mich im Stuhl um, als meine kleine Schwester gerade in mein Zimmer stürmt. Sie ist nur zwei Jahre jünger als ich, manchmal benimmt sie sich aber so, als wäre sie gerade erst in die Grundschule gekommen und nicht auf die High School. Als sie bei mir ankommt, ist sie völlig außer Atem.
»Renn doch nicht so schreiend durchs Haus.« Ich deute mit einem Bleistift auf sie. »Du bist vierzehn, nicht vier.«
»Er ist hier!« Sie greift nach meiner Hand und zieht mich aus dem Zimmer. Ein breites Grinsen lässt ihre Augen leuchten.
»Wer?«
»Luca Rossi.«
Mein Herz schlägt schneller, so wie jedes Mal, wenn ich seinen Namen höre. Dann eile ich meiner Schwester hinterher und ignoriere meine gerade ausgesprochene Ermahnung. Wir laufen durch den Flur und die große Steintreppe hinunter. Wie erwartet, werfen uns das Hausmädchen und zwei von den Leuten meines Großvaters unterwegs missbilligende Blicke zu, aber ich kann gerade nicht an die Benimmregeln denken. Er ist hier!
Wir stürmen durch die zweiflügelige Haustür und umrunden das Haus, bis wir die riesige Azalee hinten im Garten erreichen. Nur ein paar Meter von den Glastüren zum Büro meines Großvaters entfernt. So wie wir es schon unzählige Male getan haben, krieche ich hinter den Busch und ziehe Andrea zu mir nach unten. Das Versteck ist perfekt und erlaubt uns einen ungehinderten Blick in Nonno Giuseppes Arbeitszimmer.
»Ich hätte mich umziehen sollen«, murmele ich und schaue auf meine abgeschnittenen kurzen Jeans und das schlichte T-Shirt. »So darf Luca mich auf keinen Fall sehen.«
Andrea mustert mich von oben bis unten und zieht eine Augenbraue hoch. »Was stimmt denn nicht mit deinen Klamotten?«
»Ich sehe aus wie ein Schulmädchen«, sage ich, entferne eilig mein Zopfband und kämme mit den Fingern durch meine Haare. Mom sagte mal, wenn ich die Haare offen trage, sehe ich ein paar Jahre älter aus.
»Ach was?« Andrea kichert. »Newsflash, Isa – du bist ja auch eins.«
»Na ja, trotzdem muss ich mich ja nicht wie eins anziehen.« Schmollend schaue ich zum Fenster hoch, während wir warten. »Wenn ich gewusst hätte, dass Luca heute kommt, hätte ich das beigefarbene Kleid angezogen.«
Plötzlich geht die Tür des Arbeitszimmers auf und Luca Rossi, einer der Capos meines Großvaters, betritt den Raum. Ich greife nach Andreas Hand und drücke sie fest. Seit meinem sechsten Geburtstag bin ich total besessen von ihm. Damals ist er in den Pool gesprungen und hat mir das Leben gerettet, nachdem Enzo, der Idiot, mich ins Wasser geworfen hatte. Ich erinnere mich nicht daran, jemals zuvor eine solche Panik verspürt zu haben wie in dem Moment, als mein Kopf unter Wasser tauchte und mein nasses, vollgesogenes Kleid mich nach unten zog. Ich konnte nicht gut schwimmen und habe vergeblich mit den Beinen gestrampelt, um nicht unterzugehen. Als ich mir gerade sicher war, sterben zu müssen, griffen plötzlich zwei starke Hände nach mir und zogen mich nach oben.
Niemals werde ich diese Augen vergessen, die mich anlächelten, während Luca mich zu meiner hysterisch kreischenden Mutter trug. Sein teurer Anzug war klatschnass und Strähnen seiner langen, dunklen Haare klebten ihm im Gesicht. An jenem Abend sagte ich meiner Mutter, dass ich Luca Rossi heiraten würde, wenn ich groß wäre. Vielleicht habe ich mich schon damals in ihn verliebt.
»Er sieht noch heißer aus als beim letzten Mal«, sage ich und seufze.
Luca war schon immer ungewöhnlich schön und Mädchen und Frauen verdrehen sich regelmäßig die Köpfe, wenn er einen Raum betritt. Wahrscheinlich war es seine ernsthafte, immer ein wenig desinteressiert wirkende Haltung anderen Leuten gegenüber, inklusive Frauen, die ihn so interessant machte. Er betrat einen Raum, machte das, wozu er gekommen war, und ging wieder. Ohne unnötige Unterhaltungen. Ohne sich auch nur einen Deut für Klatsch und Tratsch zu interessieren. Wenn er bei irgendeinem Event mal länger bleiben musste, weil es so von ihm erwartet wurde, saß er entweder bei meinem Großvater und sprach über das Geschäft oder stand zurückhaltend in einer Ecke und betrachtete die Leute. Ich liebte es, ihn dabei zu beobachten, wenn sein breiter, großer Körper an der Wand lehnte und seine dunklen Augen den Raum abscannten, jeden Anwesenden musterten.
Jeder markante Zug seines perfekten Gesichts hat sich in mein Gehirn gebrannt. Im Laufe der Jahre haben sich seine Gesichtszüge jedoch verändert. Sein Gesicht wirkt erwachsener, sein Kinn ist markanter geworden und er versteckt es zum Teil unter einem kurzen Bärtchen. Auch seine dunklen Augen haben sich verwandelt und wirken jetzt härter, düsterer. Nur seine langen dunklen Haare, die er immer zu einem Dutt auf dem Kopf zusammengebunden trug, sind gleich geblieben. In unseren Kreisen braucht man als Mann einen ganz speziellen Charakter, um lange Haare zu tragen, ohne dafür belächelt zu werden. Aber Luca Rossi war schon immer speziell. Er war immer sehr viel mehr Mann als andere Männer.
»Du bist verrückt.« Andrea stößt mir ihren Ellbogen in die Seite. »Er ist doppelt so alt wie du.«
»Das ist mir egal.«
»Und er ist verheiratet, Isa.«
Als sie Simona, Lucas Frau, erwähnt, spüre ich einen Stich im Herzen. Vor vier Jahren habe ich eine ganze Woche im Bett gelegen und mir die Augen aus dem Kopf geheult, als ich hörte, dass er heiraten würde. Obwohl ich da erst zwölf war, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als eines Tages seine Frau zu werden. So wie die meisten Mädchen träumte ich oft von meiner Hochzeit, und in jeder einzelnen dieser kindlichen Fantasien stand Luca als mein zukünftiger Ehemann neben mir. Die Leute redeten viel und erzählten sich, dass Simona absichtlich schwanger von ihm geworden sei, um ihn zu einer Heirat zu zwingen, trotzdem schmerzte es unfassbar. Ich fühlte mich betrogen. Er sollte doch mir gehören!
Ich klammere mich an einem Ast vor meiner Nase fest. »Ich hasse diese Frau.« »Ich habe gehört, wie Tante Agata Mama erzählt hat, dass sie sich wieder gestritten haben«, flüstert Andrea. »Mitten in einem Restaurant, vor allen Leuten.«
»Worüber denn?«, frage ich, ohne meinen Blick von Lucas wunderschönem Gesicht zu lösen.
»Ich glaube, sie haben sich gezankt, weil Simona vergessen hat, Rosa vom Kindergarten abzuholen«, murmelt Andrea.
»Wie kann eine Mutter ihr eigenes Kind vergessen?« Ich starre sie ungläubig an. Auch wenn Simona ein Miststück ist, hätte ich nicht gedacht, dass sie zu so etwas fähig wäre.
»Wahrscheinlich war sie gerade bei der Kosmetikerin, um sich Botox spritzen zu lassen.« Meine Schwester lacht.
Kopfschüttelnd richte ich meinen Blick wieder auf Luca. Er sitzt auf einem Stuhl am Schreibtisch meines Großvaters und wendet mir sein Profil zu. Dem finsteren Gesichtsausdruck der beiden nach zu urteilen, geht es um etwas Ernstes. Ich kenne meinen Großvater sehr gut. Wenn Giuseppe Agostini, der Don der Cosa Nostra von Chicago, so dreinschaut, verheißt das nichts Gutes. Dass Luca so eine finstere Miene zieht, ist zwar nichts Neues, aber diesmal verursacht mir sein Gesichtsausdruck einen Kloß im Hals. Ich habe ihn schon seit Jahren nicht mehr lächeln sehen, und seit er Capo ist, kommt er ziemlich oft hierher.
»Ich gehe wieder.« Ich wische mir eine einsame Träne von der Wange und drehe mich um.
Es wird immer schwieriger für mich, ihn sehen zu müssen. Es fühlt sich an, als würde ein tonnenschweres Gewicht auf meiner Brust liegen. Ich weiß, dass er niemals mit mir zusammen sein wird. Trotzdem schaffe ich es nicht, mich von ihm fernzuhalten. Andrea nennt mich verrückt, weil ich von jemandem besessen bin, der so viel älter ist als ich. Vielleicht bin ich das auch. Aber ich kann nichts daran ändern. Es fing damit an, dass ich ihn als meinen Helden verehrt habe, nachdem er mir das Leben gerettet hat. In den letzten Jahren hat sich diese kindliche Vergötterung allerdings in etwas völlig anderes verwandelt.
»Sei nicht traurig, Isa.« Andrea legt ihren Arm um meine Taille. »Es gibt genug andere Männer, die alles für dich tun würden. Du bist die Enkelin des Dons der Cosa Nostra. Wenn du alt genug bist, um zu heiraten, werden die Männer bei dir Schlange stehen. Und da wird jemand dabei sein, der dich umhaut, danach vergisst du Luca Rossi. Er ist nur eine Schwärmerei.«
»Klar.« Ich nicke und zwinge mich zu einem künstlichen Lächeln, wie ich es mit Mom so oft geübt habe. »Du hast recht. Lass uns gehen.«
Isabella, 18 Jahre
1 Jahre zuvor
Trinkende und lachende Menschen verteilen sich im Garten. Mein Großvater muss zu meinem Geburtstag ganz Chicago eingeladen haben. Jedenfalls jeden, der italienisches Blut in sich hat.
»Der Kellner da ist ja super süß.« Catalina, meine beste Freundin, stupst mich mit dem Ellbogen an. »Ich hole mir noch ein Stück Kuchen und schaue ihn mir mal genauer an. Kommst du mit?«
»Nein, danke«, sage ich.
»Aber guck ihn dir doch mal an! Er hat so süße Grübchen, wenn er lacht.«
Ich werfe einen Blick zu dem Mann, der neben dem Buffet steht und sich mit einem Gast unterhält. Er ist Anfang zwanzig, hat kurze blonde Haare und ein wirklich nettes Lächeln.
»Geh nur.« Ich nicke in Richtung des Hübschen, für den sie sich interessiert. »Ich warte hier.« Catalina kichert, zwinkert mir zu und eilt auf den mit Essen überladenen Tisch zu. Sie nähert sich dem hübschen Kellner und flirtet mit ihm, und für einen kurzen Moment wünsche ich mir, dass ich dazu auch in der Lage wäre. Leider interessiert mich aber immer noch nur ein einziger Mann.
Ich schaue auf die andere Seite des Gartens, wo Luca bei meinem Großvater und Lorenzo Barbini, dessen Stellvertreter, sitzt. Sie scheinen über das Geschäft zu reden und interessieren sich nicht für die Party, die um sie herum stattfindet. Seit er hier angekommen ist, hat Luca mich nicht einmal angesehen, was leider nichts Neues ist.
Doch so war es nicht immer. Als ich klein war, bin ich über den ganzen Rasen gerannt, sobald er ankam. Er hat mich aufgefangen und herumgewirbelt, nachdem ich ihm in die Arme gesprungen war, und ich habe vor Vergnügen gequietscht. Seit meinem dreizehnten Geburtstag macht er das jedoch nicht mehr.
Ich erinnere mich an den Tag, als wäre es gestern gewesen. Ich sah, wie er aus dem Auto stieg, rannte nach draußen und über die Einfahrt zu ihm. Doch er breitete seine Arme nicht aus, um mich aufzufangen. Stattdessen strich er mir nur kurz über die Haare und ging ins Haus. Und das war auch alles, was er mir bei seinen folgenden Besuchen gönnte – ein kurzes Streicheln über mein Haar. Ich schätze, er hatte beschlossen, dass ich zu alt wäre, um noch von ihm herumgewirbelt zu werden. Vielleicht fand er es auch nicht mehr angemessen. Und dann hörte sogar das sanfte Streicheln meiner Haare auf. In den letzten Jahren konnte ich ihn nur noch aus der Distanz betrachten, das war alles.
So wie jetzt.
»Isabella!«
Ich schaue über die Schulter. Enzo, Catalinas dämlicher Cousin, rennt in meine Richtung. »Scheiße«, murmele ich und drehe mich wieder um, mit der Absicht, ins Haus zu gehen. Bevor ich flüchten konnte, ist er auch schon bei mir angekommen und versperrt mir den Weg.
»Du bist so schön.« Er greift um mein Handgelenk und legt seinen Kopf an meine Stirn, dann atmet er tief ein. »Und du duftest nach Blumen.«
»Lass mich in Ruhe, Enzo.« Ich versuche, mein Handgelenk zu lösen, aber sein Griff ist zu fest und verstärkt sich bei meinem Versuch nur noch.
»Ach, komm schon, Isa! Warum bist du immer so eiskalt zu mir?«
»Enzo! Du bist betrunken!« Ich schaue mich um und suche nach Andrea oder jemand anderem, der mich von ihm erlösen könnte. Dutzende Gäste flanieren durch den Garten, aber niemand ist uns nah genug, um mich zu retten. Ich könnte schreien, möchte aber keine Szene machen. Heute Abend sind zu viele wichtige Leute hier.
»Natürlich bin ich betrunken.« Er lacht. »Es ist dein achtzehnter Geburtstag. Darauf muss man doch anstoßen. Komm her, ich will dir einen Geburtstagskuss geben.«
»Hau ab«, fahre ich ihn an und versuche wieder, mein Handgelenk zu befreien.
»Nur ein Kuss. Komm schon, Isa. Sei doch nicht so eine –«
Mitten im Satz hält er plötzlich inne und starrt auf etwas hinter mir. Dann schnellt sein Kopf hoch, bis sein Blick direkt über meinem Kopf verharrt. Das Blut weicht ihm aus dem Gesicht und er wird blass. Eine Hand mit einem schmalen Ehering aus Weißgold schiebt sich von hinten an mir vorbei und umschlingt Enzos Handgelenk mit festem Griff. Enzo lässt mich los, aber die langen, kräftigen Finger des Neuankömmlings quetschen sein Handgelenk so fest, dass er wimmert. Ich achte nicht mehr auf Enzo. Mein Herzschlag beschleunigt sich, als ich auf den Armschmuck am Handgelenk der anderen Person starre. Eine breite, silberne Armmanschette und ein schwarzes Lederband. Beides habe ich vor fünf Jahren von meinem Taschengeld gekauft und ihm geschenkt. Aber ich wusste bisher nicht, dass er den Schmuck tatsächlich trägt.
Ich hole tief Luft, versuche, mein rasendes Herz davon abzuhalten, zu explodieren, dann lasse ich meinen Blick von dem Armschmuck zu dem Ehering an seinem Finger wandern. Wieder stirbt etwas in mir, so wie beim ersten Mal, als ich den Ring an seiner Hand gesehen habe.
»Fass sie noch einmal an«, sagt Lucas weiche, whiskyrauchige Stimme hinter mir, »und du bist tot.«
Enzo nickt wie ein Irrer und wimmert wieder los. »Ja, Mr. Rossi.«
»Und jetzt verpiss dich«, schnauzt Luca ihn an und lässt seine Hand los.
Ich starre auf Enzos Rücken, während er auf das Tor zuläuft. Und traue mich nicht, meinen Retter anzusehen. Wenn ich es täte, würde ich innerlich zerbrechen. Bis heute Morgen glaubte ich, es gäbe noch eine winzige Chance für mich, irgendwann mit Luca zusammen zu sein. Doch der Silberstreif am Horizont verschwand in dem Moment, als mein Vater mich darüber informierte, dass er vereinbart hätte, mich mit Angelo Scardoni zu verheiraten. Dem jüngsten Capo meines Großvaters. Sobald ich einundzwanzig werde. Ich wusste immer, dass ich eines Tages verheiratet werden würde, weil das für die Enkelin eines Dons der Cosa Nostra die einzige Option ist. Trotzdem schwelte in mir immer noch eine Art Hoffnung.
»Ist alles in Ordnung, tesoro?«
»Ja.« Ich nicke und starre weiter auf das Tor. »Danke, Luca.«
»Wenn er dich noch mal belästigt, sag mir Bescheid.«
»Das mache ich.«
»Okay.« Ich spüre eine zarte Berührung am Hinterkopf, als er mir über das Haar streichelt. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Isabella.«
Ich warte, bis ich Luca nicht mehr hinter mir spüre, dann drehe ich mich langsam um und schaue ihm nach, wie er davongeht. Und mich mit einer Überdosis von Gefühlen zurücklässt, die in mir brodeln und schäumen. Ich habe keine Ahnung, wo ich jetzt hingehen soll. Mein Brustkorb schmerzt. Ich frage mich, wie es sich anfühlen würde, wenn er nur einmal auf mich zukommen würde. Meinetwegen auch nur, um einen bedeutungslosen Smalltalk anzufangen, selbst ganz kurz im Vorbeigehen. So viele Worte wie gerade eben haben wir seit zwei Jahren nicht mehr miteinander gewechselt. Oft hatte ich schon Angst, er könnte vergessen haben, dass ich überhaupt existiere.
Jemand ruft meinen Namen, und als ich mich umdrehe, winkt Catalina mich zu sich. Ich werfe einen letzten Blick über die Schulter auf Lucas Rücken, dann gehe ich zum Buffettisch. Auf dem Weg fahre ich mir durch die Haare, genau da, wo seine Hand sie eben noch berührt hat.
Luca, 35 Jahre
Drei Monate zuvor
Ich stütze meine Ellbogen auf dem Lenkrad ab und betrachte das Video, das mein Handy gerade abspielt.
In der Mitte des Zimmers liegen eine schwarze Hose und ein rotes Kleid, die offenbar in Eile ausgezogen und hingeworfen wurden. Ein Mann in einem weißen Hemd sitzt auf der Bettkante, eine blonde Frau kniet zwischen seinen Beinen und lutscht ihm den Schwanz. Das Zimmer, in dem sie sich befinden, ist … mein Schlafzimmer. Und die Frau, die ihrem Bodyguard gerade so hingebungsvoll die Eier leckt, ist meine wunderbare Ehefrau.
Ich stecke das Handy ins Jackett, nehme meine Pistole aus dem Handschuhfach und steige aus dem Wagen aus.
Es ist halb zwei Uhr morgens und der Flur ist menschenleer. Meine Schritte hallen von dem dunklen Marmorfußboden wider und die breite Treppe hinauf bis nach oben. Als ich in der dritten Etage ankomme, gehe ich den rechten Gang entlang zum Zimmer meiner Tochter, um sicherzustellen, dass sie nicht zu Hause ist. Rosa übernachtet bei einer Freundin, so wie meistens, wenn ich für ein paar Tage beruflich verreist bin. Ihre Mutter und sie kommen nicht gut miteinander aus.
Ich öffne die Tür zu Rosas Zimmer und schaue hinein. Es ist leer. Dann schließe ich die Tür wieder und gehe ans andere Ende des Flurs. Zu meinem Schlafzimmer.
Als ich eintrete, kniet Simona immer noch vor ihrem Bodyguard. Die Stehlampe in der Ecke spendet gerade genug Licht, dass ich das rot angelaufene Gesicht des Mannes gut erkennen kann. Und Simonas schnelle Kopfbewegungen. Ich hebe meine Pistole, ziele mitten auf seine Stirn und drücke ab. Der laute Knall lässt den Nachttisch erbeben. Blut spritzt auf das weiße Satinlaken. Simona kreischt und springt auf, weg von der Leiche, die jetzt rücklings auf dem Bett liegt. Ich sehe rote Blutspritzer in ihren Haaren und auf ihrem Gesicht, auch ihre Brüste und ihr Hals haben etwas abbekommen. Und offenbar hat ihr Lover einen Teil seines Gehirns in ihren Haaren hinterlassen. Sie heult immer noch, als ich gemächlich zu ihr gehe und sie am Oberarm ergreife.
»Lass mich los!«, schreit sie, während ich sie aus dem Zimmer und durch den Flur zerre. »Du hast ihn umgebracht, du Monster!«
Auf dem Weg die beiden Treppen hinunter kreischt Simona die ganze Zeit und versucht, sich aus meinem Griff zu winden. Ich ignoriere ihren Protest und gehe auf die weit offenstehende Haustür zu. Zwei meiner Wachleute stürmen hinein, bleiben aber im Eingang stehen und starren uns mit weit aufgerissenen Augen an. Ein Dienstmädchen kommt aus dem Flur, in dem unser Personal seine Zimmer hat, und erstarrt mitten im Schritt. Sie schlingt mit beiden Armen ihre Strickjacke um sich, ihr Blick ist auf Simonas nackten und mit Blut bespritzten Körper fixiert. Ich gehe an den Wachen vorbei und zerre meine Frau nach draußen, dann schubse ich sie die vier Steinstufen hinunter in die Einfahrt.
»Morgen früh kriegst du die Scheidungspapiere«, stoße ich aus.
»Was? Luca, bitte! Ich habe einen Fehler gemacht.« Sie streckt den Arm aus, als wollte sie meine Hand ergreifen.
»Wag es verdammt noch mal nicht, mich anzufassen! Und verpiss dich von meinem Grundstück.«
»Das kannst du nicht machen!«, heult sie. »Luca!«
Ich drehe mich um und gehe wieder ins Haus. Aus irgendeinem Grund bin ich nicht einmal wütend. Ich verspüre nur Ekel. Ekel vor ihr, aber auch vor mir selbst, weil ich mich nicht schon viel früher von dieser Schlampe getrennt habe.
»Ein Dienstmädchen soll ihr was zum Anziehen rausbringen und ein Taxi rufen«, sage ich Marco, der neben der Tür steht. »Sie darf das Haus nicht mehr betreten.«
»Natürlich, Mr. Rossi.« Er nickt eifrig.
»In meinem Schlafzimmer liegt eine Leiche. Jemand soll sich auch darum kümmern«, sage ich und gehe auf die Treppe zu. Ich bin schon fast in der zweiten Etage angekommen, als ich die Stimme meines Bruders höre.
»Luca? Was ist hier los?«
Damian steht oben auf dem Treppenabsatz, nur mit Boxershorts bekleidet. Hinter ihm lugt eine dunkelhaarige Frau, die eine Decke um sich geschlungen hat, über seine Schulter.
»Simona und ich haben beschlossen, uns zu trennen«, sage ich und gehe weiter die Treppe hoch. »Sie zieht gerade aus.«
»Nackt?«
»Ja.« Ich bleibe vor ihm stehen und werfe einen Blick auf das Mädchen, das sich hinter seinem Rücken duckt. »Guten Abend, Arianna.«
»Hi, Luca.« Sie lächelt nervös.
»Weiß dein Vater, wo du die Nacht verbringst?«
»Nein«, murmelt sie.
Kopfschüttelnd schaue ich wieder zu meinem Bruder. »Franco wird dich umbringen.«
»Arianna ist einundzwanzig. Ich glaube, sie ist alt genug, um ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, Luca.« Er grinst.
»Und sie ist verlobt«, sage ich und gehe weiter nach oben. »Ich lege mich hin. Ich hab morgen früh um acht einen Termin.«
»Luca?«, ruft er mir nach. »Habe ich da vorhin einen Schuss gehört?«
»Ja.«
»Könntest du das bitte etwas weiter ausführen?«
»Nein. Geh wieder ins Bett, Damian.«
Als ich ganz oben in der dritten Etage ankomme, gehe ich in mein Schlafzimmer, um mein Handyladegerät und Wechselklamotten für morgen zu holen, dann lege ich mich in Rosas Bett und schlafe dort ein.
Isabella, 19 Jahre
Zwei Monate zuvor
Ich sitze auf der Bettkante und halte die zerbrechliche Hand meines Großvaters. Dabei versuche ich, den angeschlossenen Tropf, der ihn mit Flüssigkeit versorgt, nicht zu berühren. Vorsichtig lege ich den Schlauch um und verschiebe den Infusionsständer, um nicht versehentlich mit den Knien dagegen zu stoßen. Der Nachttisch ist mit allen möglichen Medikamenten vollgestellt. Es sind mindestens zehn verschiedene Fläschchen. Die Luft im Zimmer ist abgestanden und riecht nach Medikamenten und Desinfektionsmitteln.
»Nonno«, flüstere ich. Seine Wangen sind eingefallen, um seine Augen herum befinden sich große dunkle Ringe. Er sieht wirklich schlimm aus. »Wie geht es dir?«
»Als hätte mich ein Zug überfahren.«
»Du hattest einen Herzinfarkt, daher ist das wohl normal. In ein paar Tagen geht es dir wieder besser.«
Er lächelt traurig. »Wir wissen beide, dass das nicht stimmt.« Ich setze gerade an, etwas zu erwidern, aber er drückt meine Hand und fährt fort: »Wir müssen reden. Es ist wichtig.«
»Das kann warten, bis es dir wieder besser geht.«
»Nein, das kann nicht warten.« Er schüttelt den Kopf. »Wenn ich nicht mehr da bin, wird Chaos ausbrechen. Das weißt du genau.«
»Du stirbst noch nicht. Die Familie braucht dich doch.« Ich presse meine Lippen zusammen. »Und ich brauche dich auch.«
Giuseppe Agostini führt seit zwanzig Jahren die Cosa Nostra in Chicago an, aber er war auch immer der Fels in der Brandung für die ganze Familie. Auch wenn er seinen eigenen Flügel im Haus bewohnt, leben wir alle zusammen unter einem Dach. Ich kann mir gar nicht ausmalen, wie es ohne ihn hier sein wird.
»Das ist der Lauf des Lebens. Die Alten sterben und die Jungen bleiben zurück.«
»Du bist neunundsechzig. Das ist noch nicht alt.«
»Ich weiß, stella mia. Aber es ist, wie es ist.« Seufzend drückt er meine Hand. »Du weißt, wie es in unserer Welt abläuft. Wenn ein Don stirbt, ohne seinen Nachfolger bestimmt zu haben, bricht innerhalb der Familie ein Krieg aus. Ich habe die Capos für übermorgen herbestellt, um meinen Nachfolger zu benennen.«
Ich verstehe nicht, warum er mir das erzählt. Er wird nicht sterben. Es war nur ein kleiner Herzinfarkt. Nach so was leben die meisten Menschen noch viele Jahre lang.
»Der Mann, den ich benennen werde, braucht eine enge Verbindung zu unserer Familie, damit ihn niemand in Frage stellt«, fährt er fort. »Verstehst du, was ich dir damit sagen will, Isabella?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Wir müssen unsere Familien miteinander verbinden. Durch eine Heirat.«
Endlich verstehe ich, und mir läuft ein eisiger Schauer über den Rücken. »Du willst, dass ich heirate? Jetzt sofort?«
»Ja. Tust du das für mich, Isi?«
Tränen brennen mir in den Augen. Er ist der Einzige, der mich so nennen darf.
»Hast du schon mit Angelo geredet?«, frage ich.
Ich habe nichts gegen Angelo. Er ist nett, wir waren ein paarmal miteinander aus, aber ich empfinde nichts für ihn. Nicht einmal ein Fünkchen. Und ich hatte gehofft, mir würden noch ein paar Jahre in Freiheit bleiben.
»Ja.« Er nickt. »Ich habe ihm gesagt, dass die Verlobung aufgelöst ist.«
»Aufgelöst?« Ich blinzle. »Das verstehe ich nicht.«
»Angelo ist ein guter Junge, aber er ist noch zu jung, um Don zu werden, Isi. Der Rest der Familie würde niemals hinter ihm stehen.«
Ich ziehe verwirrt die Brauen zusammen. »Wen soll ich denn dann heiraten?«
»Den einzigen Mann, der es mit dem ganzen Mist aufnehmen kann, den ich ihm hinterlassen werde, ohne unter der Last zusammenzubrechen.«
Mein Atem wird flacher und mein Herz hämmert auf einmal so heftig, dass es sich anfühlt, als würde es mir gleich aus der Brust springen.
»Du wirst Luca Rossi heiraten«, spricht mein Großvater die Worte aus, nach denen ich mich mehr als zehn Jahre lang gesehnt habe, und ich starre ihn an.
»Aber … er ist doch schon verheiratet«, sage ich verblüfft.
»Simona und er lassen sich scheiden. Das sollte in den nächsten Tagen erledigt sein. Ich weiß, du bist erst neunzehn und er ist so viel älter als du, aber …«
Ich schüttle den Kopf und beuge mich nach unten, um seinen zerbrechlichen Körper zu umarmen. »Ich kann es kaum erwarten, Luca zu heiraten, Nonno.«
Luca
Ich klopfe an die Tür von Don Agostinis Arbeitszimmer.
»Komm rein«, ertönt eine schwache Stimme von drinnen.
Die Familie weiß schon seit geraumer Zeit, dass es Giuseppe nicht gut geht. Ich habe mich mindestens einmal die Woche mit ihm getroffen, um ihn über die Neuigkeiten bei den Immobiliengeschäften aufzuklären, daher habe ich seinen immer schlechter werdenden Zustand als Erster bemerkt. Trotzdem trifft mich sein Anblick, als ich das Zimmer betrete. Er sieht aus, als wäre er seit dem letzten Treffen um zwanzig Jahre gealtert.
»Luca.« Er nickt zu dem Stuhl auf der anderen Seite seines Schreibtisches. »Setz dich, bitte.«
»Wie geht es dir, Boss?«, frage ich und nehme Platz.
»Schrecklich, wie du siehst.« Er lächelt. »Ich fasse mich kurz, weil Lorenzo und die anderen Capos in einer Stunde kommen.«
Seit seinem Anruf gestern habe ich mich gefragt, was er mit mir besprechen will. Zuerst dachte ich, es würde wie immer ums Geschäft gehen. Aber wenn das der Fall wäre, könnten wir das auch noch nach dem Treffen mit den anderen Capos besprechen.
»Ich hatte vor zwei Tagen einen Herzinfarkt«, sagt er. »Es war nur ein kleiner, aber der Arzt hat mir sehr freundlich dazu geraten, meine Dinge zu ordnen. Und zwar schnell.«
»Verstanden. Wie kann ich dir dabei helfen?«
»Indem du übernimmst.«
»Okay.« Ich nicke.
In den letzten zwei Jahren hat Giuseppe mir mehr und mehr Verantwortung übertragen. Er hat mich auch das Immobiliengeschäft komplett leiten lassen und gemeint, er könnte sich nicht mehr selbst um alles kümmern. Ich schätze also, er will mir jetzt noch weitere Geschäftsbereiche überlassen. »Was soll ich sonst noch übernehmen?«
»Die Cosa-Nostra-Familie von Chicago, Luca.«
Ich starre ihn an. Es wäre untertrieben zu sagen, dass er mich damit total überrascht. Alle haben erwartet, dass Lorenzo Barbini der nächste Don wird.
»Was ist mit Lorenzo?«, frage ich.
»Lorenzo ist ein guter Stellvertreter. Er hat sich bisher gut um alles gekümmert und hat alles im Griff«, sagt Giuseppe. »Allerdings ist er nicht dazu in der Lage, Entscheidungen zu treffen, die das Wohl der ganzen Familie im Sinn haben und nicht nur sein eigenes. Daher hatte ich dafür immer dich im Sinn.«
»Nun, eine kleine Vorwarnung wäre ganz schön gewesen.«
»Betrachte dies als Vorwarnung.«
»Hast du deshalb alle Capos für heute zusammengetrommelt?«, frage ich.
»Ja, das ist einer der Gründe.«
»Und was sind die anderen?«
»Es gibt nur noch einen weiteren. Ich muss eine wichtige Angelegenheit vorziehen.« Er hält inne und sieht mich fest an. Trotz seines zerbrechlichen Äußeren ist sein Blick ruhig und prüfend. Was sucht er in meinen Augen? »Isabellas anstehende Hochzeit«, fährt er nach einer Pause fort.
»Mit Angelo Scardoni?«
Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. »Mit dir.« Ich schließe die Augen und reiße sie wieder auf. Angeblich hatte er doch einen Herzinfarkt und keinen Schlaganfall? »Isabella ist erst neunzehn«, sage ich. »Ich heirate kein Kind.«
»Sie ist kein Kind mehr. Ihre Mutter hat mit achtzehn geheiratet. Ich sehe also nicht, was das Problem sein soll.«
»Tja, ich schon. Rein theoretisch könnte ich ihr Vater sein.«
»Du bist gerade mal dreißig.«
»Ich bin fünfunddreißig.« Und das weiß er auch ganz genau, aber er wedelt nur mit der Hand, als wäre das unwichtig.
»Isabella ist ein gutes Mädchen, vielleicht manchmal ein bisschen stur, aber sie ist clever und kennt sich sehr gut mit den Familienangelegenheiten aus. Ganz zu schweigen von ihrer außerordentlichen Schönheit.«
Schön ist sie tatsächlich. Ich habe sie schon oft gesehen und kann das Offensichtliche natürlich nicht leugnen. Sie ist einfach bezaubernd mit ihren langen kastanienbraunen Haaren, die in weichen Wellen über ihren Rücken fallen, ihrer vorwitzigen Nase und ihren dunklen Augen, die fast zu groß für ihr schmales Gesicht wirken. Sie ist nicht gerade hochgewachsen, aber sie hat einen wunderbaren, zierlichen Körper, eine fast schon lächerlich schlanke Taille und den perfektesten Hintern, den ich je gesehen habe. Und es ist schlimm genug, dass ich überhaupt den Hintern einer gerade mal Neunzehnjährigen wahrgenommen habe. Schließlich kenne ich Isabella schon seit ihrer Kindheit, und der Gedanke, sie jetzt zu heiraten, klingt für mich völlig absurd.
Giuseppe nimmt meinen Widerwillen anscheinend nicht wahr, denn er redet einfach weiter. »Sie wird dir eine gute Ehefrau sein. Und wenn du sie lässt, auch eine gute Partnerin.«
»Partnerin für was?«
»Partnerin fürs Leben, Luca. Wenn man eine Machtposition innehat, ist eine Ehefrau, der man vertrauen und auf die man sich verlassen kann, unbezahlbar. Für Männer wie uns ist es sehr schwierig, eine Partnerin zu finden, mit der man die guten Zeiten ebenso teilen kann wie die schlechten. Und es wird jede Menge schlechte Zeiten geben, glaub mir.«
Ich schüttle den Kopf. Wer hätte gedacht, dass der Don so romantisch sein kann? »Die einzige Person, der man wirklich vertrauen kann, ist man selbst, Boss. Und manchmal noch seinen engsten Blutsverwandten. Diese Lektion habe ich gelernt.«
»Nicht alle Frauen sind so wie Simona.« Er greift nach dem Wasserglas auf dem Schreibtisch und ich bemerke, wie seine Finger zittern. »Was ist eigentlich zwischen euch beiden vorgefallen? Ich weiß, dass ihr euch nie besonders gut verstanden habt, aber warum jetzt so plötzlich diese Scheidung?«
Ich lehne mich im Stuhl zurück und verschränke die Arme vor der Brust. »Ich habe sie erwischt, wie sie ihrem Bodyguard einen geblasen hat. In unserem Bett. Ich hatte den Verdacht schon eine Weile und habe deshalb eine Kamera im Schlafzimmer installiert.«
»O Gott. Lebt er noch?«
»Nein. Und sie ist diesem Schicksal auch nur sehr knapp entronnen.«
»Ich habe mich schon gefragt, warum sie der Scheidung so schnell zugestimmt hat. Wie geht Rosa mit der Situation um?«, fragt er nach einer kurzen Pause.
»Simona hat sich sowieso nie um sie gekümmert. Für sie war Rosa nur ein Mittel zum Zweck. Um mich zu heiraten.«
»Das tut mir leid. Ich hoffe, Isabella versteht sich gut mit deiner Tochter.«
»Du meinst es also ernst mit dieser Hochzeit?«
Er neigt den Kopf und sieht mich über den Rand seiner Brille hinweg an. Dann öffnet er eine Schublade, zieht ein paar Dokumente heraus und wirft sie vor mich auf den Schreibtisch. Ein Ehevertrag. Ich kann nicht glauben, dass ich gerade erst meine Frau losgeworden bin und er mir schon eine kindliche Braut aufbürdet, noch bevor meine Scheidung überhaupt durch ist.
»Was soll ich denn mit einer Neunzehnjährigen anfangen, Boss?«
»Was auch immer du tust, behandle sie mit Respekt. Isabella ist zwar noch jung, aber sie ist auch meine Enkelin. Und damit wird sie dir dabei helfen, deine Stellung als neuer Don abzusichern. Vergiss das nicht.«
Ich starre auf die Papiere vor mir, dann nicke ich mit zusammengebissenen Zähnen und ergebe mich in mein Schicksal.
Isabella
Wie ist es möglich, dass ein einziger Tag gleichzeitig der glücklichste und der traurigste Tag meines Lebens sein kann?
Ich stehe auf einem Hocker und betrachte mein Spiegelbild, während zwei Schneiderinnen auf dem Boden knien und die Länge meines Hochzeitskleides anpassen. Für ein maßgeschneidertes Kleid blieb nicht genug Zeit, daher hat meine Mutter mich zu dem nobelsten Hochzeitsausstatter der Stadt geschleppt und einfach das teuerste Kleid ausgewählt, das sie dort hatten. Es musste wegen meines ausladenden Hinterteils allerdings noch angepasst werden.
Als Kinder waren Andrea und ich noch recht ähnlich gebaut, aber in der Pubertät hat meine Schwester im Gegensatz zu mir ihre schlanke Figur behalten. Es wirkt so, als würde mein Körper aus zwei unterschiedlichen Hälften bestehen, die nicht wirklich zueinander passen. Ich liebe meine schmale Taille und meinen flachen Bauch. Meine Brüste sind durchschnittlich groß, aber sehr fest. Und die Tatsache, dass mein Oberkörper schlank und kurz ist, erlaubt es mir, bei T-Shirts und Oberteilen die kleinste Größe zu tragen. Meine untere Hälfte ist allerdings von einem ganz anderen Kaliber. Mein Hintern und meine Hüften sind mindestens zwei Nummern zu groß für meinen Oberkörper. Diäten helfen nicht sonderlich, dadurch werden nur meine Brüste kleiner und meine ohnehin bereits schlanken Arme noch dünner. Bevor mein Hintern überhaupt etwas von einer Diät bemerkt hat.
Andrea sagt immer, ich wäre verrückt. Angeblich würde sie für einen Hintern wie meinen töten. Das kann ich allerdings nicht nachvollziehen. Auch wenn ich noch nie Minderwertigkeitskomplexe hatte, würde ich einen kleineren Hintern und schlankere Oberschenkel ganz sicher nicht ablehnen. Seufzend betrachte ich noch einmal mein Spiegelbild.
»Wie möchten Sie Ihre Haare tragen, Miss Isabella?«, fragt die Friseurin.
»Lass sie offen«, schlägt meine Mutter von ihrem Stuhl in einer Ecke des Zimmers aus vor. Sie überwacht die Hochzeitsvorbereitungen schon seit fünf Uhr heute Morgen.
»Meinetwegen, lassen wir sie offen.« Ich ziehe die Schultern hoch.
Luca ist noch nicht aufgetaucht, um sich mit mir zu treffen. Nicht an dem Tag, an dem mein Großvater verkündet hat, dass wir heiraten werden, und auch in den Wochen danach nicht. Ich schätze, er hielt es nicht für nötig, da wir uns ja bereits kennen.
Ich betrachte das lange weiße Spitzenkleid und das teure Diadem auf meinem Kopf im Spiegel. Mein Traum wird endlich wahr. Allerdings hätte ich nie damit gerechnet, dass diese Erfahrung so bitter für mich werden könnte. Nach der Unterhaltung zu urteilen, die ich an jenem Vormittag vor dem Büro meines Großvaters belauscht habe, hätte ich allerdings wohl damit rechnen müssen.
»Was soll ich mit einer Neunzehnjährigen anfangen?«, hat Luca gesagt. Als wäre ich irgendein Streuner, den jemand von der Straße aufgelesen hat. Ein Streuner, den er nicht einfach hinauswerfen kann, den er aber trotzdem auch nicht bei sich haben will.
Zum Glück habe ich nur das Ende ihres Gesprächs belauscht. Gott weiß, was er davor noch alles gesagt hat.
Es klopft an der Tür und mein Vater steckt seinen Kopf ins Zimmer. »Du siehst wunderschön aus, Isa.« Lächelnd wendet er sich an meine Mutter. »Emma, wir müssen uns beeilen, sonst kommen wir zu spät.«
»Wir sind in einer Minute unten«, sagt sie.
Zuerst verlässt das Personal den Raum, meine Mutter folgt ihnen, und als Letzte gehen Andrea und ich hinaus.
»Lächeln, Isa! Endlich heiratest du deinen Luca«, flüstert sie mir zu. »Es fühlt sich immer noch so unwirklich an.«
»O ja.«
»Ach, komm schon. Es ist dein Hochzeitstag, um Himmels willen. Ich dachte, du wärst total euphorisch. Die Leute erwarten doch auch, dass du glücklich bist.«
»Ich bin nur nervös«, lüge ich. Ich habe ihr nicht erzählt, was Luca in Nonnos Büro gesagt hat. »So. Besser?«, frage ich dann und setze mein schönstes künstliches Lächeln auf.
»Perfekt. Ich liebe dieses Lächeln. Leider habe ich es noch nie geschafft, gleichzeitig so glücklich und ein bisschen schüchtern auszusehen wie du. Du warst schon immer Moms beste Schülerin.« Sie lacht.
Ja, in unserer Welt bedeutet der schöne Schein alles.
Luca
Seit gestern Nachmittag ist meine Scheidung offiziell durch. Und nicht einmal vierundzwanzig Stunden später stehe ich vor einem Altar und warte auf meine neue Braut. Unfassbar. Die riesige Kirchentür geht auf und Isabella tritt am Arm ihres Vaters hinein. Ich nutze die Gelegenheit und betrachte meine zukünftige Ehefrau genauer, während sie auf mich zukommt. Vielleicht liegt es am Licht, aber ihr Gesicht sieht anders aus als bei unseren letzten Begegnungen, wenn ich sie mal etwas länger als für den Bruchteil einer Sekunde gesehen habe.
Sie ist immer noch atemberaubend schön. Das lange Haar, die großen Augen und die markanten Wangenknochen. Ich kann nicht genau ausmachen, woran es liegt, doch es scheint etwas zu fehlen. Sie erweckt den Eindruck, glücklich zu sein. Sie lächelt sanft, ihr Kopf ist hoch erhoben – das perfekte Abbild einer strahlenden Braut. Aber als ich den Blick wieder auf ihre Augen richte, erkenne ich es. Ihr Gesicht strahlt Glück und Freude aus, doch diese Gefühle spiegeln sich nicht in ihren Augen wider.