"Hier stehe ich..." Über Martin Luther - Thomas O. H. Kaiser - E-Book

"Hier stehe ich..." Über Martin Luther E-Book

Thomas O. H. Kaiser

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Beschreibung

Das vorliegende Buch über Leben und Werk Martin Luthers (1483-1546) erscheint in dem Jahr, in dem sich nicht nur der Todestag des Wittenberger Reformators zum 475. Mal jährte, sondern in das auch das Datum der 500. Wiederkehr des Reichstags zu Worms fiel. In Worms hatte sich Luther einst geweigert, vor dem mächtigen Kaiser Karl V. und den Reichsständen seine Ideen, mit denen er die mächtige römisch-katholische Kirche erschüttert hatte und die evangelische Kirche begründete, zu widerrufen. Einige sehen deshalb nicht den Anschlag der 95 Thesen, sondern Luthers Verhör in Worms als das eigentliche Gründungsdatum der evangelischen Kirche an. Der Autor geht auf das Leben und das Denken Martin Luthers ein. Er erläutert dessen Theologie, die Theologie seiner Widersacher und die Veränderungen, die die Reformation für die Gesellschaft mit sich brachte. Ausführlich berücksichtigt er die einzelnen Stationen im Leben Luthers. Dabei spart er auch die Schattenseiten der Reformationszeit im Allgemeinen und Martin Luthers im Besonderen nicht aus.

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Inhalt

Vorwort

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung

In Eisleben und Mansfeld

In Erfurt

In Wittenberg

Im Konflikt mit Kirche und Obrigkeit

Auf der Wartburg

Im Konflikt mit radikalen Reformatoren

Zurück in Wittenberg

Luthers Tod in Eisleben

Mit Luther über Luther hinaus

Zeittafel allgemein

Zeittafel zu Martin Luther

Zeittafel zu Philipp Melanchthon

Zeittafel zu Thomas Müntzer

Personenverzeichnis

Glossar

Literaturverzeichnis

Über den Autor

Über den Künstler und das Bild

Den Konfirmandinnen und Konfirmanden der evangelischen Kirchengemeinden Klettgau und Kadelburg gewidmet

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“1

„Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen…“2

„Das Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein ein Frommwerden…“3

„Wiltu aber den leib darumb verwerffen, das er rotzet, eitert und unrein machet, so stich dir selb den Hals abe.“4

„Wenn ich schreibe, fließt"s mir zu, ich brauche nicht zu pressen und zu drücken.5!

1 Gal 5,1.

2 EG 362,1.

3 WA 7, 336 (Grund und Ursach aller Artikel D. Martin Luthers, so durch römische Bulle unrechtlich verdammt sind, 1521).

4 WA 45, 648, Z. 21f. (1538).

5 WA BR 2, Nr. 251, 35.

Vorwort

Der Titel dieses Buches lautet: „`Hier stehe ich…´ Über Martin Luther. Eine persönliche Annäherung an den Reformator“. Dahinter verbirgt sich meine fast vierzigjährige punktuelle Beschäftigung mit der Reformation und dem Leben und Werk Martin Luthers.

In diesem Jahr jährte sich nicht nur der Todestag des Wittenberger Reformators zum 475. Mal, sondern auch zum fünfhundertsten Mal das Datum der Wiederkehr des Reichstags zu Worms. 6 In Worms hatte sich Luther damals geweigert, vor dem mächtigen Kaiser Karl V., den Fürsten und den Reichsständen seine Ideen, mit denen er die mächtige römisch-katholische Kirche erschüttern und die evangelische Kirche begründen sollte, zu widerrufen.7 Diesen Akt der Zivilcourage des unerschütterlichen, sich allein auf sein Gewissen stützenden Bekenners und sein mutiges Einstehen für eigene Überzeugungen, sind für mich der Anlass, Martin Luthers zu gedenken und sein Leben, sein Werk und seine Wirkung näher zu beleuchten.8

Seit 2011 reise ich mit Konfirmand*innen der Evangelischen Kirchengemeinde Klettgau und Kadelburg jährlich zum Abschluss ihrer Konfi-Zeit zu den Originalstätten der Reformation. Nirgendwo anders, finde ich, kann man mehr über diese Zeit lernen als im `Wilden Osten´ Deutschlands. Selbst, wenn so mancher Krieg zwischen Luthers Zeit und der unsrigen liegt – angefangen mit dem blutigen Schmalkaldischen Krieg über den grausamen Dreißigjährigen Krieg bis hin zum schrecklichen Ersten und Zweiten Weltkrieg –, sind die erhalten gebliebenen Gebäude aus der Reformationszeit in einem solch’ authentischen Zustand, dass man sich mit ein wenig Phantasie vorstellen kann, wie es damals gewesen sein muss, als Luther, seine Familie, viele seiner reformatorischen Freund*innen und auch einige seiner Feind*innen dort lebten: Luthers Häuser in Eisleben, Mansfeld und Wittenberg, das Erfurter Augustiner-Eremitenkloster, in dem er Mönch war, der Erfurter Dom, in dem er zum Priester geweiht wurde, die Wartburg bei Eisenach, heute (2021) die größte erhaltene zusammenhängende Burganlage Deutschlands – auf ihr übersetzte Luther das Neue Testament ins Deutsche –, die Marienkirche in Wittenberg, in der Luther viele Jahre als Prediger wirkte; Schloss Allstedt, Burg Heldrungen, das Bauernkriegsmuseum in Mühlhausen, das Panoramamuseum in Bad Frankenhausen als Orte, die an Luthers Antipoden Thomas Müntzer erinnern, u. v. m.9 Überall an diesen ostdeutschen Stätten ist man auf historischem Boden, fühlt sich zurückversetzt ins ausgehende Mittelalter, kämpft hin und wieder mit Schaudern, die einem angesichts der Authentizität und Historizität der Orte und Schriften kalt über den Rücken laufen, und staunt…

An der Reformation waren viele beteiligt. Die keineswegs konforme, sondern ausgesprochen heterogene reformatorische Bewegung hinterließ ihre Spuren nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Teilen Europas. In diesem Buch soll es jedoch weniger um die Reformation als vielmehr vor allem um das Leben Martin Luthers gehen: um den Mönch, der angetreten war, die römisch-katholische Kirche zu reformieren, und dabei die evangelische Kirche ins Leben rief; um den Übersetzer, der wollte, dass die Bibel von allen verstanden werden sollte; um den Schriftsteller, der am meisten von allen seinen Zeitgenoss*innen schrieb; um den Dichter und Musiker, der zahlreiche Lieder komponierte, die noch heute, fast 500 Jahre nach ihrer Entstehung, im Evangelischen Gesangbuch zu finden sind und überall auf der Welt, wo sich Christ*innen versammeln, gesungen werden; um den evangelischen Geistlichen, der mit anderen Gesinnungsgenossen den Zölibat brach, eine aus dem Kloster geflohene Nonne heiratete, eine Familie gründete und dadurch indirekt die Institution `Evangelisches Pfarrhaus´ begründete, aus dem ganze Generationen begabter Persönlichkeiten hervorgingen. Dabei fließen wichtige theologische Themen aus dem umfangreichen Werk des am meisten porträtierten Zeitgenossen seiner Zeit mit ein.10

Schon immer hat mich die Reformationszeit besonders interessiert: Als Theologiestudent in Heidelberg gehörten ein kirchengeschichtlich-theologisches Proseminar und eine Vorlesung über die Reformation und den Deutschen Bauernkrieg zu den ersten Veranstaltungen, die ich direkt nach Studienbeginn belegt hatte.11 Luther und seine Freunde faszinierten mich – natürlich vor allem der junge Luther, und das sollte auch die kommenden Jahre so bleiben. Gerne hätte ich damals schon die Originalplätze besucht; leider war das wegen der politischen Situation, der deutschen Teilung, Anfang der 1980er-Jahre nicht möglich. Als ich dann viele Jahre später und längst im Berufsleben stehend um das Jahr 2000 herum den Osten Deutschlands erstmals mit Jugendlichen erkundete, war ich erstaunt, wieviel neben den historischen Bauten auch von Luthers Schriften im Original noch vorhanden war. Phänomenal!

Doch gehen wir noch einmal einen Schritt zurück. Ich stamme aus dem Weserbergland. Ich wurde in Stadtoldendorf/Südniedersachsen am 18. März 1963 geboren und wuchs in der Kleinstadt Eschershausen auf. Getauft wurde ich in der altehrwürdigen St. Martin-Kirche der Wilhelm-Raabe-Stadt, und zwar evangelisch-lutherisch.12 Das war am 16. Juni 1963, fast auf den Tag genau drei Monate nach meiner Geburt. Bei meiner Taufe mit dabei waren meine Eltern, meine Schwester, meine Großeltern und drei Pat*innen. Ein Pate hielt mich, das Baby, über den Taufstein, so, wie es seit jeher Tradition in meiner Familie war. Auf Fotos wurde dieser Moment festgehalten: Ich hatte das weiße Taufkleid an, das schon mein Vater bei seiner Taufe getragen hatte und das auch meine Kinder bei ihrer Taufe als Symbol der geistlichen Verwandlung trugen. Im Prinzip war damals alles so, wie es noch heute bei Taufen in den Kirchengemeinden der Evangelischen Kirche in Deutschland der Fall ist. Allerdings mit einer Einschränkung: Taufen sind hier wie da heute nicht mehr so selbstverständlich wie früher – genauso wenig wie die Mitgliedschaft in der Evangelischen Landeskirche Hannovers, die ich 1993 verließ.

Als Jugendlicher wurde ich vierzehn Jahre später, im Mai 1977, in genau derselben Kirche konfirmiert. Mein Konfirmandenunterricht hatte, wie in den lutherischen Kirchen im Norden Deutschlands noch heute üblich, zwei Jahre lang gedauert. Nach meiner Konfirmation engagierte ich mich ehrenamtlich in der Jugendarbeit der evangelischen Kirchengemeinde und auf Kirchenkreisebene. Es ging damals munter zu bei uns, die Jugendarbeit war, im Rückblick betrachtet, ihrer Zeit voraus. Regelmäßig wurden Jugendgottesdienste gefeiert, in denen moderne Lieder gesungen wurden, viele davon kurz, nachdem sie komponiert worden waren. Einige davon sind in die Gesangbücher eingegangen und werden noch immer von Jugendlichen gesungen. E-Gitarren und Schlagzeug im Gottesdienst waren damals in Eschershausen schon eine Selbstverständlichkeit. Jahrelang wurden dreiwöchige Jugendsommerfreizeiten mit bis zu 100 Jugendlichen nach Frankreich und Italien durchgeführt. Viele Freundschaften wurden in dieser Zeit geschlossen.

Zum gemeindlichen Leben gehörte mit der größten Selbstverständlichkeit auch Martin Luther dazu. Die abendlichen St. Martinsumzüge, an denen ich schon im Kleinkindalter teilgenommen hatte, und das traditionelle Martinisingen in Eschershausen, mit dem die Kinder wie einst der Schüler Martin Luther von Haus zu Haus zogen, vor den Haustüren sangen oder Gedichte gegen Süßes aufsagten, waren in meinem lutherischen Umfeld selbstverständlich auf den Reformator Martin Luther und nicht, wie in Süddeutschland, auf den Heiligen Martin von Tours, einer der Gründergestalten des Abendlandes, bezogen. Die evangelische Mehrheit im Weserbergland hält die Erinnerung an Martin Luther wach – sind doch die römisch-katholischen Glaubensgeschwister bis heute dort in der Minderheit, denn im Herzogtum Braunschweig waren 1542 mit dem Fürsten auch dessen Untertanen entweder getreu dem politischen Motto `cuius regio, eius religio´ (= wer das Land regiert, der soll den Glauben bestimmen) evangelisch geworden oder hatten das Land verlassen. So gibt es in meinem Familienstammbaum, soweit ich ihn zurückverfolgen kann, nach der Reformation keine römisch-katholischen Christ*innen mehr. Da ich in der Schule bis zur achten Klasse kaum Religionsunterricht hatte, wurde mir bis zu meiner Konfirmation staatlicherseits ein Großteil religiöser Bildung vorenthalten. Im Konfirmandenunterricht konnte ich vieles nachholen, und das, obwohl sich der Pastor kurz vor seinem Ruhestand befand.

So kann ich heute, gegen Ende meines fünften Lebensjahrzehnts, sagen, dass ich in den traditionellen Strukturen der größten deutschen Landeskirche aufgewachsen bin, die mich – neben meiner Herkunftsfamilie mit ihrer unaufdringlichen Religiosität – sowohl in meinem Frömmigkeitsbewusstsein als auch in meiner kirchlichen Ausrichtung geprägt haben.

Nach dem Theologiestudium in Heidelberg, einem Forschungsaufenthalt im Südlichen Afrika und Arbeiten an meiner theologischen Dissertation wechselte ich zur zweiten Ausbildungsphase zum Pfarrer in die unierte Evangelische Landeskirche in Baden, wurde in ihr ordiniert und lernte dadurch die südwestdeutsche Spielart des Protestantismus kennen. In meiner pädagogischen Arbeit als Pfarrer – in den süddeutschen Landeskirchen ist im Unterschied zu den norddeutschen Landeskirchen jede*r Gemeindepfarrer*in verpflichtet, evangelischen Religionsunterricht in der Schule zu erteilen – wollte ich nicht nur drögen Unterrichtsstoff vermitteln, sondern auch an die evangelische Jugendarbeit, wie ich sie selbst als Jugendlicher erlebte, anknüpfen. Das ist einer der Gründe, warum ich mit Konfirmandinnen und Konfirmanden der Evangelischen Kirchengemeinden Klettgau und Kadelburg zum Abschluss ihrer halbjährigen Konfi-Zeit nach Ostdeutschland Exkursionen unternehme, und zwar, wie gesagt, genau in den Landstrich, in dem die Reformation entstand und von wo aus sie sich in alle Welt ausbreitete.13

Oft habe ich die Reisen und den Besuch der historischen Stätten dazu genutzt, um vor Ort über Martin Luther und die Reformation zu referieren und eine gedankliche Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. Oft standen ortsund sachkundige Reiseleiter*innen zur Verfügung. 14 Es hat mich gefreut, wie interessiert die Mehrheit der Jugendlichen bei der Sache war und ihr Interesse bei diesen Exkursionen gezeigt hat.15 Gerne habe ich auf den Reisen etwas von meinem Wissen über die Reformation an die jüngere Generation zu vermittelt. Jetzt versuche ich es mit diesem Buch weiterzugeben. Die Erkenntnis, dass alles Wissen Stückwerk, also Fragment, ist, braucht dabei nicht extra hervorgehoben zu werden.

Noch etwas zur Form: Zitate mit Quellenangabe stehen in doppelten, Zitate ohne Quellenangabe in einfachen Anführungszeichen. Luther-Zitate wurden um der Lesbarkeit willen und auch aus Gründen des Umfangs dieses Buches aufs Wesentliche beschränkt. In den Anmerkungen, die dazu dienen, meine Überlegungen in das Textgeflecht wissenschaftlicher Publikationen einzuweben, befinden sich Belege für die angeführten Zitate, darüber hinaus Kommentare, Verweise, Ergänzungen, Gedanken über Gott und die Welt, die nicht mehr in den Fließtext Eingang gefunden haben, Assoziationen und weiterführende Literaturangaben sowie Internet-Links zum Thema. Der Fließtext ist aber ohne weiteres ohne die Lektüre dieser Anmerkungen verständlich. Wenn ein Name zum ersten Mal im Text auftaucht, so ist er kursiv gesetzt; nähere Angaben zur Biografie der entsprechenden Person gibt es dazu dann im alphabetisch geordneten Personenverzeichnis am Ende dieses Buches. Leser*innen sind so in der Lage, sich schnell einen Überblick über die betreffende Person zu verschaffen. Zeittafeln informieren über zeitgeschichtliche Ereignisse und über die Vitae von Martin Luther, Philipp Melanchthon und Thomas Müntzer. Ins Literaturverzeichnis fand nicht nur die in diesem Buch verwendete Literatur Eingang, sondern darüber hinaus wurden auch ältere und jüngere Werke Martin Luthers aufgenommen, außerdem eine Auswahl aus der inzwischen schier unüberschaubaren Luther-Sekundärliteratur.16

Ich möchte mich bei folgenden Personen herzlich bedanken: Barbara Dammenhayn-Scott, engagiertes langjähriges Mitglied des Kirchengemeinderates der Evangelischen Kirchengemeinde Kadelburg, hat in bewährter Weise mit ihren Adleraugen dafür gesorgt, dass die Druckfehlerquote in diesem Buch gegen Null geht. Herzlichen Dank, liebe Barbara!

Andreas Richert, freier Künstler aus Berlin, hat seiner Kreativität erneut freien Lauf gelassen und auf meinen Wunsch verschiedene Bilder zu Martin Luther gemalt, die auf dem Cover und auf den letzten Seiten dieses Buches zu sehen sind. Sie tragen den Titel: „Hier stehe ich“ und „Martin Luther“. Herzlichen Dank, lieber Andreas!

Seit 2007 findet der Konfirmand*innenunterricht der evangelischen Kirchengemeinden Klettgau und Kadelburg gemeinsam statt. Ich danke nicht nur dem Kirchengemeinderat beider Kirchengemeinden für die Ermöglichung dieser besonderen Art des Unterrichts, sondern vor allem meiner Ehefrau, Andrea Kaiser, Pfarrerin in Kadelburg, die mit mir in all den Jahren auf den Spuren Martin Luthers und der Reformation in Deutschlands `wildem Osten´ unterwegs war. Herzlichen Dank, liebe Andrea!

Gewidmet ist dieses Buch den Konfirmandinnen und Konfirmanden der Evangelischen Kirchengemeinden Kadelburg und Klettgau, verbunden mit der Hoffnung, dass es mit dazu beitragen möge, ihnen mit der Reformationszeit eine fremde Welt zu erschließen und das Bewusstsein dafür wach zu halten, dass Frieden, Freiheit, soziale Gerechtigkeit und die Rechtsstaatlichkeit, die wir heute in Deutschland haben, alles andere als selbstverständlich sind. Ich freue mich auf die Zeit, in der die derzeit grassierende Pandemie beendet ist und die Umstände es wieder erlauben, mit Jugendlichen an die Originalstätten der Reformation zu reisen und das Leben unbeschwert zu genießen.

Kadelburg, den 31. Oktober 2021

Thomas O. H. Kaiser

6 Infolge der Corona-Pandemie wurde in Worms das Jubliäumswochenende `500 Jahre Wormser Reichstag´ am 16. April 2021, genau 500 Jahre nach Luthers Einzug in die Stadt, nicht in Präsenz, sondern mit einem digitalen Festakt eröffnet, bei dem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (geb. 1956), selbst Mitglied der evangelischen Kirche, eine Videoansprache hielt und von einer „europäischen Sternstunde des erwachten individuellen Gewissens“ (https://www.ekd.de/terveys-_ja_sosiaalipalvelut/paivystys/feierlichkeiten-zu-500-jahre-wormser-reichstag-eroeffnet-64298.htm, aufgerufen am 7.8.2021) sprach. Zu weiteren Redner*innen zählten die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer, SPD (geb. 1961), der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm (geb. 1960), und der römisch-katholische Mainzer Bischof Peter Kohlgraf (geb. 1967), der Wormser Oberbürgermeister Adolf Kessel (geb. 1957) und der Intendant der Nibelungen-Festspiele Worms, Nico Hofmann (geb. 1959). Auch die geplanten Jubiläumsfeierlichkeiten wurden anders gestaltet: So wurde die Multimedia-Inszenierung `Der Luther-Moment´ am 17. April 2021 zwar auf dem Marktplatz der Stadt als Licht-Ton-Installation mit Live-Musik und Schauspieler*innen aufgeführt und vom SWR resp. im Internet übertragen, fand aber ohne Publikum statt. Die Inszenierung stammte von dem deutsch-iranischen Sounddesigner Parviz Mir-Ali (geb. 1967) und spannte einen Bogen von Martin Luther und seinen Gewissensnöten auf dem Wormser Reichstag zu Persönlichkeiten wie Sophie Scholl (1921-1943), Christian Führer (1943-2014), Martin Luther King Jr. (1929-1968) und Rosa Parks (1913-2005), online hier zugänglich: https://www.swrfernsehen.de/500-jahre-wormser-reichstag-100.html (aufgerufen am 31.7.2021). Die Stadt Worms und die evangelische Kirche feierten das Ereignis darüber hinaus mit der großen Landesausstellung `Hier stehe ich. Gewissen und Protest – 1521 bis 2021´ im Wormser Museum vom 3. Juli bis zum 30. Dezember 2021: https://www.museum-andreasstift.de/museum-andreasstift/Ausstellungen/Hier-stehe-ich.-Gewissen-und-Protest-1521-bis-2021.php (aufgerufen am 31.7.2021). Dort wurden die Gewissensfreiheit und der Protest von der Reformationszeit bis in die Gegenwart thematisiert und Beispiele gezeigt, in denen Einzelne, wie z. B. Nelson Mandela (1918-2013), für ihre Ideale entschlossen eintraten. Vgl. dazu Kirchenamt der EKD (Hg.), Gewissen befreien. Haltung zeigen. Gott vertrauen. Luther vor dem Wormser Reichstag. Das Themenheft zum 500. Jubiläum *1521-2021, Hannover 2021, und kenntnisreich und ausführlich Thomas Kaufmann, „Hier stehe ich!“ Luther in Worms – Ereignis, mediale Inszenierung, Mythos (Zeitenspiegel Essay), Stuttgart 2021, sowie Thomas Kaufmann/Katharina Kunter (Hg.), Hier stehe ich. Gewissen und Protest – 1521 bis 2021, Worms 2021.

7 Da `katholisch´ übersetzt `umfassend´ heißt und in diesem Sinne der Begriff der Wortbedeutung nach weiter gefasst ist als die Konfessionskirche, wird im Folgenden die katholische Kirche präzisierend als `römisch-katholische´ bezeichnet.

8 Luthers Werke geben einen guten Einblick in das Leben und Denken des Reformators. Sie sind gesammelt in der berühmten Weimarer Ausgabe (abgekürzt: WA), die von 1883-2009 [sic!, TOHK] ediert wurde und heute 80000 Seiten in 127 Bänden umfasst, darunter fünfzehn Bände mit Luthers Bibelübersetzungen (WA DB), achtzehn Bände mit Briefwechseln (WA BR), sechs Bände mit Tischreden (WA TR) und achtzig Bänden Schriften/Werke (WA). Vorwiegend wird in der wissenschaftlichen Diskussion nach ihr zitiert. Sie ist auch online verfügbar unter: luther.chadwyck.com (aufgerufen am 18.2.2021). Neben der WA gibt es zahlreiche Taschenbuch- und Studienausgaben der Werke Luthers, vgl. dazu Michael Beyer, Lutherausgaben, in: Luther Handbuch, hg. v. Albrecht Beutel, Tübingen 22010, 2-8 (Lit. auf 491-516); Ulrich Köpf, Lutherausgaben, in: RGG4 Bd. 5, 2002, 600-602; Johannes Schilling, Lutherausgaben, in: TRE 21, 1991, 594-599. Daneben gibt es auch einfache Sammlungen von Texten Luthers, vgl. exemplarisch Martin Luther. Das große Lesebuch, herausgegeben, in modernes Deutsch gebracht, kommentiert und mit einer Einleitung versehen von Karl-Heinz Göttert, FfM 2016 (Lit. auf 510ff.). Einen guten Überblick über Luthers Schriften verschafft einem das Buch von Josef Benzing und Helmut Claus, Lutherbibliographie. Verzeichnis der gedruckten Schriften Martin Luthers bis zu dessen Tod, Baden-Baden 1989.

9 Vgl. dazu Jan Scheunemann, Lutherstätten heute, in: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt – Landesmuseum für Vorgeschichte/Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt/Stiftung Historisches Museum/Stiftung Schloss Friedenstein Gotha/Minneapolis Institute of Art/The Morgan Library Museum (Hg.), Martin Luther. Schätze der Reformation. Katalog, Dresden 2016, 411-422 (Lit. auf 456-479). Scheunemann spricht davon, dass anhand authentischer Orte, die seit Jahrhunderten fester Bestandteil deutscher und internationaler Memorialkultur sind, Geschichte erfahrbar und greifbar wird sowie identitätsstiftend wirkt.

10 Allein Vater und Sohn Cranach haben Martin Luther über 130-mal porträtiert und sind damit für das Bild verantwortlich, das heute jede und jeder vor ihrem oder seinem geistigen Auge hat. Die Sekundärliteratur zu Luthers Leben und Werk ist inzwischen unüberschaubar geworden. Ein Standardwerk stammt von Martin Brecht, Martin Luther, Bde. 1-3, Stuttgart 1986, 1987 und 1990. Vgl. ferner Hanns Lilje, Martin Luther in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten [rm 98], Reinbek 1965, Neuauflage 1983; Michael Meisner, Martin Luther. Heiliger oder Rebell, München-Zürich 1981; Heiko A. Oberman, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, München 1981, 1986, 2016; Volker Leppin, Martin Luther, Darmstadt 2006; Thomas Kaufmann, Martin Luther, München 2006, 22010; Christian Feldmann, Martin Luther, Reinbek 2009; Ulrich Köpf, Martin Luther. Der Reformator und sein Werk, Stuttgart 2015; Reinhard Schwarz, Martin Luther. Lehrer der christlichen Religion, Tübingen 2015, 22016; Bernhard Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995; ders., Martin Luther. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk, München 1997; Hans-Martin Barth, Die Theologie Martin Luthers. Eine kritische Würdigung, Gütersloh 2009; Dietrich Korsch, Martin Luther. Eine Einführung, Tübingen 22017, und Markus Buntfuß/Friedemann Barniske (Hg.), Luther verstehen. Person – Werk – Wirkung, Leipzig 2016. Es gibt darüber hinaus zahlreiche Luther-Biografien, die auf dem Hintergrund des 500jährigen Reformationsjubiläums, das „eine Springflut von Publikationen“ (Albrecht Beutel, Martin Luther als Religionslehrer. Der Reformator in seiner gedanklichen Gestalt, in: NZZ v. 6.1.2016) hervorbrachte, entstanden sind, vgl. Joachim Köhler, Luther! Biographie eines Befreiten, Leipzig 2016; Heinz Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie, München 2016; Lyndal Roper, Luther. Der Mensch Martin Luther. Die Biographie, FfM 2016; Willi Winkler, Luther. Ein deutscher Rebell, Berlin 2016; Volker Reinhardt, Luther, der Ketzer. Rom und die Reformation, München 2016; Heimo Schwilk, Luther. Der Zorn Gottes. Biografie, München 2017, und Alberto Melloni (Hg.), Martin Luther – Ein Christ zwischen Reformen und Moderne (1517-2017), Berlin 2017. Erwähnenswert ist auch – geschrieben aus römisch-katholischer Sicht – der Bestseller von Heiner Geißler, Was müsste Luther heute sagen?, Berlin 2015; Albrecht Beutel, Martin Luther, in: Irene Dingel/Volker Leppin (Hg.), Das Reformatorenlexikon, Darmstadt 22016, 154-162 (Lit.: 162). Natürlich ist auch das Internet voll von Links zu Luther und der Reformation (siehe das Verzeichnis der Internetlinks am Ende des Literaturverzeichnisses), wie ein erster Blick in Wikipedia zeigt: https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Luther und https://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Werk_von_Martin_Luther (beide Links aufgerufen am 2.2.2021).

11 Zwei Monate lang, von November 1524 bis Januar 1525, soll sich der Überlieferung zufolge der sog. `Bauernführer´ Thomas Müntzer im Klettgau (Grießen) und im Hegau aufgehalten haben. Die in vielen Veröffentlichungen verwendete Bezeichnung `Bauernführer´ ist problematisch: Denn in seinem relativ kurzen Leben lebte und wirkte Müntzer an unterschiedlichen Orten, meist jedoch in ostdeutschen Städten (Stolberg, Leipzig, Frankfurt/Oder, Frose, Beuditz, Glaucha, Quedlinburg, Aschersleben, Halberstadt, Halle/Glaucha, Weimar, Braunschweig, Wittenberg, Jüterbog, Zwickau, Prag, Allstedt, Nürnberg, Frankenhausen, Nordhausen, Orlamünde, Fulda, Bibra, Eisenach, Erfurt, Mühlhausen, Basel und Grießen). Vgl. weiterführend Thomas O. H. Kaiser, Thomas Müntzer. Der Mann mit der Regenbogenfahne, Norderstedt 2018, bes. 164-176. Eine Landkarte mit zentralen Orten im Leben Thomas Müntzers findet man bei Siegfried Bräuer/Günter Vogler, Thomas Müntzer. Neu Ordnung machen in der Welt. Eine Biographie, Gütersloh 2016, 406.

12 Die evangelisch-lutherische St. Martin-Kirche befindet sich schon lange im Zentrum der Stadt. Es war im Jahre 1736, als der Südflügel der Kirche während eines Gottesdienstes einstürzte. Zehn Jahre danach, am Pfingstsonntag 1746, konnte sie wieder ihrer Bestimmung übergeben werden. Bis 1765 lag um die Kirche herum der Friedhof (erst um 1871 wurde ein neuer Gottesacker vor den Toren der Stadt angelegt). In der Kirche befinden sich neben dem Altar an der Ostseite zwei Epitaphe für Heinrich Julius Freyenhagen und seine Gattin Auguste Ottilie zu Lippe-Brake sowie August Philipp Freyenhagen und seine Ehefrau Charlotte Louise Bonhorst. Als Oberamtmänner verwalteten die beiden Männer fast 100 Jahre lang das Amt Wickensen. Der letzte Nachkomme der Familie Freyenhagen, Carl Friedrich Konrad von Rosenstern, war von 1828 bis 1853 Bürgermeister von Eschershausen. Ein Mitglied der Familie, Friedrich Freyenhagen von Rosenstern (1865-1957), war Pastor. Am 26. September 1831 wurde als Kind der Erzähler, Schriftsteller und Vertreter des poetischen Realismus Wilhelm Raabe (1831-1910) in der St. Martin-Kirche getauft.

13 Übernachtet wurde auf den Fahrten in der Regel im Wasserschloss Heldrungen, jenem geschichtsträchtigen Ort, der eng mit Thomas Müntzer verbunden ist – heute eine moderne Jugendherberge: http://www.jugendherberge.de/de-de/jugendherbergen/heldrungen162/portraet (aufgerufen am 3.2.2021).

14 Zu den legendären Reiseführern in der Lutherstadt Wittenberg, deren Vorträge die Konfis und ich erlebten, gehört Bernhard Naumann (geb. 1955), der langjährige Kirchmeister der Wittenberger Stadtkirche. In den vergangenen Jahren schlüpfte er hin und wieder in die Rolle des berühmten Reformators, wie z. B. erstmals 1997 beim Wittenberger Stadtfest `Luthers Hochzeit´. Anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 erschien ein Buch von ihm, in dem er aus der Perspektive Luthers erzählt, vgl. Bernhard Naumann, Ich, Martin Luther, erzähle Euch aus meinem Leben, Leipzig 2017.

15 Spuren von Martin Luther gibt es in Ostdeutschland heute noch allerorten. Man wundert sich, dass die historischen Stätten aus dem Zeitalter der Reformation die stramme antikirchlich-sozialistische Staatsdoktrin und die damit verbundene staatliche Zerstörungswut und behördliche Willkür überlebt haben und das SED-Regime nicht noch mehr vernichtete, vgl. dazu Norbert Roth, Martin Luther neu begegnen. Auf Entdeckungsreise durch Mitteldeutschland, Paderborn 2010. Der promovierte Autor (geb. 1973) ist Pfarrer der Evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern.

16 Im Jahre 2008 wurde von der EKD die sog. `Lutherdekade´ als `Dekade der Freiheit´ ins Leben gerufen. In deren Zuge fanden in den Jahren darauf Themenjahre (mit entsprechenden Themenheften) statt, beispielsweise `Reformation und Musik´ (2012), `Reformation und Toleranz´ (2013), das Verhältnis von Christ*innen zu Politik und Wirtschaft (2014), zu den Kommunikationsmitteln (2015) sowie weltweite Verantwortung (2016). Doch Luther und die Reformation wurden nicht nur von den evangelischen Landeskirchen und der EKD gefeiert, sondern auch vom deutschen Staat bzw. der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland gewürdigt. Der Deutsche Bundestag förderte zur Würdigung des `welthistorischen Ereignisses´ Reformationsjubliäum ab 2011 dieses mit einer jährlichen Summe von fünf Millionen Euro, insgesamt mit einer Summe von 35 Millionen Euro bis 2017. Das Land Sachsen-Anhalt förderte die Dekade mit 75 Millionen Euro aus Landesmitteln. 2012 ließ die rot-grüne Landesregierung Baden-Württembergs verlautbaren, dass der 31. Oktober 2017 anlässlich der Wiederkehr des 500. Jahrestags des Thesenanschlages ein einmaliger arbeitsfreier Feiertag sein würde, da der Thesenanschlag nicht nur die Reformation einleitete, sondern die Geschichte in ganz Europa und auch das politische, kulturelle und gesellschaftliche Leben in dem südlichen Bundesland mit prägte. Luther wurde also in ganz Deutschland von Staat und Politik auf dem Hintergrund seiner Leistungen für die `deutsche Nation´ gefeiert, vgl. dazu online: https://www.luther2017.de/neuigkeiten/deutschland-feiert-historischen-reformationstag/index.html (aufgerufen am 19.8.2021). Mit seinem Namen ist auf alle Zeit nicht nur die Entstehung der evangelischen Kirche, sondern auch die Nationwerdung Deutschlands verbunden.

Abkürzungsverzeichnis

Die Abkürzungen folgen dem Abkürzungsverzeichnis der TRE, zusammengestellt von Siegfried M. Schwertner, Berlin-New York 21994.

Anm.

Anmerkung

Aufl.

Auflage

BSELK

Die Bekenntnisschriften der evangelischlutherischen Kirche, zuletzt 11. Aufl.

CA

Confessio Augustana

EG

Evangelisches Gesangbuch

EKD

Evangelische Kirche in Deutschland

hg./Hg.

herausgegeben/Herausgeber

MBW

Melanchthons Briefwechsel: kritische und kommentierte Gesamtausgabe, Texte

NDB

Neue deutsche Biographie

RGG

3

Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl. Tübingen 1957-1965

RGG

4

Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl. Tübingen 1998-2007

TRE

Theologische Realenzyklopädie, Berlin-New York 1977-2004

WA

D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Weimarer Ausgabe, Weimar 1883-2009

WA Br

D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Briefwechsel, Weimar 1883-2009

WA TR

D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Tischreden, Weimar 1883-2009

1. Einleitung

„Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.“17 Der Überlieferung zufolge waren es diese Worte, mit denen Martin Luther im April 1521 seine Rede vor Kaiser Karl V.18 und dem Reichstag in Worms19 beendet haben soll.

Der junge Augustinermönch, Professor der Theologie, war in die 7000 Einwohner*innen zählende Stadt zitiert und aufgefordert worden, seine veröffentlichten theologischen Erkenntnisse vor höchsten weltlichen Autoritäten in Anwesenheit des Kaisers zu widerrufen, das heißt, seine schriftlich geäußerte theologische Kritik an der korrupten römisch-katholischen Kirche zurückzunehmen, also einen Rückzieher zu machen. Aber wer nimmt schon gerne etwas öffentlich zurück, was er einmal gesagt oder geschrieben hat – erst recht in jungen Jahren? So auch damals der junge Luther nicht: Ausgestattet mit großem Sendungsbewusstsein und erratischem Temperament, erklärte der am 16. April 1521 triumphzugartig in Worms eingezogene Mönch vor dem Kaiser, der, „begabt und ernsthaft, klug und willensstark, zudem auf seine Weise ein frommer Christ“20, ein Weltreich regierte, das sich über den gesamten Globus erstreckte und in dem die Sonne nie unterzugehen schien, und den versammelten Fürsten aus allen Teilen Deutschlands auf diesem Reichstag, dass er unter keinen Umständen widerrufen würde, was er gesagt hatte, weil er die aus der Bibel gewonnenen Einsichten für wahr hielt und weil es ihm sein Gewissen gebot: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.“ So will es jedenfalls die Legende.21

Obwohl Luther diesen Satz mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Worms nie gesagt hat, verkörpert er bis heute „den Geist von Luthers Auftritt vor dem Reichstag.22!

Martin Luther – das ist die Geschichte eines Lebens, das gekennzeichnet ist von Ängsten, Widersprüchen und Lebenskrisen. Es ist aber auch die Geschichte der Freiheit – die Geschichte der Freiheit des Evangeliums und der Freiheit eines Christenmenschen. Martin Luther – das ist der Name, der für die Erneuerungsbewegung der römisch-katholischen Kirche und für die Entstehung der evangelischen Kirche steht: für die Reformation. 23 Der ursprünglich römisch-katholische Mönch wurde zum Initiator einer von ihm so nicht vorgesehenen Kirchenreform. Sie fand innerhalb kurzer Zeit eine Menge an Unterstützer*innen: zunächst von Angehörigen des aufstrebenden deutschen Bürgertums, zu Luthers Zeiten „die innovativste Schicht“24, dann darüber hinaus von allen Teilen der Bevölkerung.25

Vor Luthers prägender Gestalt traten oft andere bedeutende Reformatoren in den Hintergrund; doch die Reformation war nicht nur Sache eines Einzelnen. Sie entstand in einem komplexen Gefüge religiöser Ideen, einem Geflecht geistesgeschichtlicher Ansichten und politischer Winkelzüge unter Mitwirkung vieler Persönlichkeiten.26 Und sie war nicht nur auf Deutschland beschränkt, sondern ein „internationales Ereignis“27 Die-Reformation wurde von Luther angestoßen, verbreitete sich in Windeseile und wuchs bald über ihn hinaus; viele waren am Schluss an ihrer Umsetzung beteiligt.28 So sprechen einige Historiker*innen wegen der Heterogenität der von Wittenberg ausgehenden Reformbestrebungen von „Reformationen“29. Die Beziehungen der einzelnen Reformatoren untereinander waren freundschaftlich; man geht davon aus, dass sie gut miteinander vernetzt waren.30 Im Folgenden wird es angesichts des gebotenen Umfangs vor allem um das Leben und Werk Martin Luthers gehen, also darum, wie er lebte, wie er dachte, was er schrieb und wie er handelte. Die theologische, historische und politische Einordnung – also gewissermaßen die Metaebene – überlasse ich der wissenschaftlichen Forschung und den geschätzten Kirchenhistoriker*innen und Historiker*innen an den Universitäten in Deutschland. Dazu zählt die Frage, ob Luther zu den Vertreter*innen einer „frühbürgerlichen Revolution“31 gehörte, wie die Geschichtsschreibung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) gern proklamierte; ferner der Dissens über Verständnis, Deutung und historische Einordnung der Person Luthers unter den führenden deutschen Reformationsexperten der Gegenwart, wie im er im `Reformationsdeutungs-Streit´32 zum Ausdruck kam.

500 Jahre ist die Reformation nun her. Sie begann mit dem 31. Oktober 1517. Der Begriff Reformation bedeutet nicht die schlagartige, plötzliche Umwälzung der Verhältnisse, sondern meint die kirchliche Erneuerungsbewegung zwischen 1517 und 1648, die zur Spaltung des westlichen Christentums in die römisch-katholische, lutherische und reformierte Kirche führte, und darüber hinaus die Veränderung gesamtgesellschaftlicher Systeme in Deutschland und in der Welt.33 Der Begriff steht nicht zuletzt für eine Epoche, die die Moderne einläutete.34

Wer also war dieser Martin Luther, der zu den am meisten porträtierten Personen der frühen Neuzeit gehörte und von dem im Unterschied zu vielen anderen seiner Zeitgenoss*innen viele persönliche Gegenstände, authentische Schriften und schließlich auch sein Grab durch all die Jahrhunderte erhalten geblieben sind? Dies ist seine Geschichte.

17 Martin Luther, Rede auf dem Reichstag in Worms am 18. April 1521, hier zit. nach: Martin Luther. Ausgewählte Schriften, hg. v. Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, FfM 21983, 265-269. Zum Originalzitat Luthers in der Weimaraner Ausgabe vgl. WA 7, 838, 2-9. Während die Historizität von Luthers Schlusssatz in Worms lange als authentisch galt, kamen im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts Zweifel daran auf, vgl. Armin Kohnle, Luther vor Karl V. Die Wormser Szene in Text und Bild des 19. Jahrhunderts, in: Lutherinszenierung und Reformationserinnerung (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 2), hg. v. Stefan Laube und Karl-Heinz Fix, Leipzig 2002, 35-62. Inzwischen gilt dieser Ausspruch Luthers in der Lutherforschung als literarische Erfindung, vgl. Volkmar Joestel, „Hier stehe ich!“ Luthermythen und ihre Schauplätze, hg. von der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Wettin-Löbejün 2013, 201; Ute Mennecke, „Ich kann nicht anderst, hie stehe ich, Got helff mir, Amen.“ Der Streit um die Authentizität des Wormser Lutherdiktums, in: Streit um die Wahrheit. Kirchengeschichtsschreibung und Theologie, hg. von Stefanie Frost, Ute Mennecke und Jorg Christian Salzmann, Göttingen 2014, 215-244, sowie Christian Feldmann, Martin Luther, a. a. O., 61, der darauf verweist, dass der berühmte Satz in den erhaltenen Reichstagsakten fehlt. Der deutsche Historiker und Theologe Dr. Martin Treu (geb. 1953), von 1991 bis 1997 Direktor der Lutherhalle in Wittenberg, wagte eine Datierung: Er datierte die Interpolation auf 1557, als sich erstmals Luthers legendäre Worte auf einer zeitgenössischen Darstellung nachweisen ließen, vgl. Martin Treu, Martin Luther in Wittenberg. Ein biografischer Rundgang, Wittenberg 2010, 51. Ziel des plakativen Ausspruchs war es, dass ein „heldischer“ Luther geschaffen werden sollte, der den historischen Begebenheiten jedoch nicht entsprach, vgl. Volker Leppin, Martin Luther, a. a. O., 177. Thomas Kaufmann hingegen wies nach, dass die berühmten Worte Luthers vom 18. April 1521 bereits im selben Jahr im Druck erschienen, vgl. Thomas Kaufmann, „Hier stehe ich!“ Luther in Worms – Ereignis, mediale Inszenierung, Mythos, Stuttgart 2021, 78ff. Aber auch der renommierte Göttinger Kirchenhistoriker, u. a. Träger des Gottfried Wilhelm Leibniz-Preises (2020), meint, dass der Satz zwar „als authentischer Luthersatz zu gelten (hat). Gesprochen wurde er am 18.4. mutmaßlich nicht“ (79).

18 Es ist faszinierend, mit welcher Detailtreue die Spitzenmaler der Renaissance, Lucas Cranach d. Ä. (~1475-1553), Raffael (1483-1520), Tizian (~1477-1576) und Albrecht Dürer (1471-1528) ihre Porträts anfertigten. Einem Foto gleich sieht das Gemälde von Karl V. aus, vgl. Volker Leppin, Das Zeitalter der Reformation. Eine Welt im Übergang, Darmstadt 2009, 56 und 57, 75 und 105.

20 Johann Hinrich Claussen, Reformation. Die 95 wichtigsten Fragen, München 2016, 32017, 119. Der evangelischlutherische Pastor und habilitierte Systematische Theologe (geb. 1964) ist seit 2016 Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

21 Viele Publikationen erschienen zum Reformationsjubiläum, z. B. das Heft über die Reformation mit dem Titel: „Hier stehe ich!“ Er kann nicht anders: Martin Luther. Vielen Dank für ein Stück Freiheit. chrismonspezial. Das evangelische Magazin zum Reformationstag am 31. Oktober 2012, bes. 24-27. Das monatlich erscheinende evangelische Magazin lag zum Reformationstag 2012 bundesweit in einer Auflagenhöhe von 6,7 Millionen Exemplaren über 40 Tages- und Wochenzeitungen bei. Vgl. dazu online: https://chrismon.evangelisch.de/spezial/alle-inhalte (aufgerufen am 19.8.2021).

22 Lyndal Roper, Luther, a. a. O., 238. Die Mehrheit der Luther-Forscher*innen ist der gleichen Meinung wie Lyndal Roper. Vgl. dazu Thomas Kaufmann, „Hier stehe ich!“, a. a. O., 125, Anm. 3 und 4. Kaufmann spricht davon, dass hier „ein erstes großes Medienereignis, die Inszenierung des ersten Medienstars der Druckgeschichte und die Geburt eines Mythos“ ineinander (11) fielen. Es gibt noch andere berühmte Zitate, die zwar dem Reformator zugeschrieben werden, aber definitiv nicht von ihm stammen, wie z. B. `Und wenn die Welt morgen untergehen würde, ich würde noch heute ein Apfelbäumchen pflanzen.´ Dieser Luther fälschlich zugeschriebene Satz lässt sich erst in einem Rundbrief der hessischen Kirche vom Oktober 1944 nachweisen, vgl. Alexander Demandt, Über allen Wipfeln – Der Baum in der Kulturgeschichte, Köln 2002, 211ff., und weiterführend Andreas Malessa, Hier stehe ich, es war ganz anders. Irrtümer über Luther, Stuttgart 1999, 62016 (Lit. auf 178-180).

23 Es gibt über das Zeitalter der Reformation zahlreiche historische und theologische Veröffentlichungen. Die maßgebliche Darstellung zur Geschichte der Reformation wurde im 16. Jahrhundert von dem Straßburger Juristen und Diplomaten Johannes Sleidan (~1506-1556) verfasst. Er hatte diese Aufgabe 1545 im Auftrag des Schmalkaldischen Bundes übernommen und ließ das Werk als historische Darstellung der Ereignisse 1555 drucken. Zu den Standardwerken zählen u. a. folgende Bücher: Kurt Aland, Die Reformation Martin Luthers, Gütersloh 1982; Bernd Moeller, Deutschland im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1977, 41999; Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, FfM 2009, und ders., Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation, München 2016; sowie Volker Leppin, Das Zeitalter der Reformation. Eine Welt im Übergang, Darmstadt 2009, und ders., Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, München 2016. Prof. Dr. Dr. h. c. Kurt Aland (1915-1994) war in den 1960er-Jahren Professor für Neutestamentliche Einleitungswissenschaft und Kirchengeschichte. Sein Name ist nicht nur mit vielen Arbeiten über Luther und die Reformation, sondern vor allem auch mit der neu bearbeiteten textkritischen Auflage des Novum Testamentum Graece (Nestle/Aland) 1979 verbunden. Der Göttinger Kirchenhistoriker Dr. Dr. h. c. Bernd Moeller (1931-2020) war von 1964 bis zu seiner Emeritierung 1999 Professor in Göttingen. Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Thomas Kaufmann (geb. 1962) ist (seit 2000) der Nachfolger von Bernd Moeller auf dem Lehrstuhl für Kirchengeschichte in Göttingen; 2020 wurde er für seine wissenschaftliche Arbeit mit dem renommierten Leibniz-Preis ausgezeichnet. Prof. Dr. Volker Leppin (geb. 1966) lehrt Kirchengeschichte mit dem Schwerpunkt Mittelalter, Reformationszeit (insbesondere Martin Luther und Huldrych Zwingli), Aufklärung, Scholastik und Mystik an der Eberhard Karls Universität Tübingen und ist Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Prof. Dr. Ulrich Köpf (geb. 1941).

24 Johann Hinrich Claussen, Reformation, a. a. O., 103.

25 Vgl. weiterführend Diarmaid MacCulloch, Die Reformation 1490-1700, München 2010. Der Oxford-Professor für Kirchengeschichte entwirft unter Einbeziehung des sozialen Spektrums der damaligen Welt ein Panorama der theologischen und politischen Folgen der Reformation für ganz Europa.

26 Es gibt unzählige Veröffentlichungen zu den führenden Persönlichkeiten der Reformation. Eine erste Orientierung bieten die Kompendien von Veit-Jakobus Dieterich, Die Reformatoren, Reinbek 2002, 22010 (Lit. auf 148-152); Uwe Birnstein, Who is Who der Reformation, Freiburg 2014, und Volker Leppin/Gury Schneider-Ludorff (Hg.), Das Luther-Lexikon, Regensburg 2015, sowie Gerhard Markert, Menschen um Luther. Eine Geschichte der Reformation in Lebensbildern, Ostfildern 2008.

27 Thomas Kaufmann, Erlöste und Verdammte, a. a. O., 111.

28 In der neueren Forschung wird davon ausgegangen, dass die Reformation eine europäische Bewegung war und sich die einzelnen Protagonst*innen kannten und gut miteinander vernetzt waren. Außerdem ist nachweisbar, dass die Reformatoren ähnlich den humanistischen Gelehrten ein hohes Freundschaftsethos entwickelten und deshalb miteinander lange in Verbindung blieben. Luther selbst wies einmal darauf hin, wie sehr seine Arbeit von einem Netz fast gleichaltriger, in jedem Fall aber gleichgesonnener befreundeter Theologen getragen wurde (vgl. WA BR 1, Nr. 38, 94). Mit vertrauten Kollegen verfasste er Texte, besprach er alltägliche Probleme und diskutierte intellektuelle Themen, vgl. dazu weiterführend Stefan Rhein, Von Freunden und Kollegen. Martin Luther und die Wittenberger Mitreformatoren, in: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt et al. (Hg.), Martin Luther. Aufbruch in eine neue Welt, Dresden 2016, 192-198. Rhein zufolge war die Reformation „nicht das Werk eines Einzelnen, sondern gründet auf dem Denken und Wirken einer Gruppe von Gelehrten (…) und ist in ihrer vitalen Vielfalt das Ergebnis eines produktiven Miteinanders zahlreicher Begabungen…“ (198) Man spricht heute von einer Organisation in Sodalitäten, also Gelehrtennetzwerken, und von einer `Verflechtung´. Dieser Begriff ist in der reformationsgeschichtlichen Forschung relativ neu.

29 Ulrich A. Wien (Hg.), Reformationen am Oberrhein. Wahrnehmungen von Luther und Calvin in der Region, Speyer 2011, V. Vgl. dazu auch Gunther Schendel, Reformation. Reformation heute, hg. v. Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD (SI), Hannover 2014, bes. 9f. Zur weiteren Begriffsklärung vgl. Rolf Decot, Geschichte der Reformation in Deutschland, Freiburg/Brsg.-Basel-Wien 2015, 14ff. (Lit.: 261-276). Rolf Decot (geb. 1942), emeritierter römischkatholischer Professor für Kirchengeschichte an der Universität Mainz, bezieht sich hier auf die reformationsgeschichtliche Studie des Heidelberger Historikers Eike Wolgast, Reform, Reformation, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. von Otto Brunner et al., Bd. 5, Stuttgart 1984, 313-360. Auch dem emeritierten Münchner Theologen Friedrich Wilhelm Graf (geb. 1948) stellt sich die Frage, ob man wegen der Vielschichtigkeit des Protestantismus nicht besser von „den Reformationen des 16. Jahrhunderts“ (Friedrich Wilhelm Graf, Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart, München 2006, 32017, 7) sprechen sollte.

30 Ähnlich vernetzt waren auch die Drucker, die die Reformation mit ihren Produkten unterstützten und vorantrieben – die Welt damals war klein, man kannte sich.

31 Ludwig Rommel, Reisen zu Müntzer. Erinnerungsstätten in der DDR, Ost-Berlin/Leipzig 1989, 15. In der marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung ist die Geschichte bekanntlich eine Geschichte der Klassenkämpfe. Die unterdrückten Klassen hätten sich durch die Jahrhunderte immer wieder gegen ihre Unterdrücker erhoben – angefangen vom Spartacusaufstand bis hin zur russischen Revolution und schließlich zum real existierenden sozialistischen `Arbeiter-und Bauernstaat´. Das 16. Jahrhundert sei insofern herausragend gewesen, als in ihm der Übergang von der `Feudalgesellschaft´ in die `frühbürgerliche Gesellschaft´ stattfand. In der DDR-Historiographie galt Luther, der für sie allerdings zu viele faule Kompromisse mit den Fürsten schloss, als Initiator dieser bürgerlich-gemäßigten Bewegung. Thomas Müntzer wurde weniger als Theologe, der die Gläubigentaufe vertrat, als vielmehr als Sozialrevolutionär gesehen. Er wurde zu der staatstragenden Persönlichkeit schlechthin (sein Konterfei befand sich auf einem Geldschein), zum DDR-Nationalhelden, der mit entsprechendem Kult gefeiert wurde: War Luther der `Fürstenknecht´, so zählte Müntzer zu den Vorläufern des Sozialismus. Er wurde als die erste revolutionäre Figur in der deutschen Geschichte gefeiert, der für die Belange der Armen und Entrechteten gekämpft hatte und dessen Ziel der Umsturz der politischen Verhältnisse gewesen war. Auf Burg Heldrungen, dem Ort seiner Folter, fanden regelmäßig wiederkehrende Gedenkveranstaltungen des DDR-Regimes statt, das Müntzer zu Ehren auch ein Denkmal dort errichtete. Der realsozialistische Staat hatte eine repräsentative Figur, so dass der 450. Jahrestag des Endes des Bauernkrieges 1974/75, der gleichzeitig der 30. Jahrestag der Bodenreform und der 25. Jahrestag der Gründung der DDR war, genutzt wurde, um zu zeigen, wie Müntzers verheißenes Erbe in der DDR zur Erfüllung gelangt war. In Westdeutschland wurde Müntzer im Zuge der 1968er-Bewegung zu einer Identifikationsfigur der westdeutschen Linken. Zu dem auf Friedrich Engels zurückgehenden, von DDR-Historikern einst vertretenen und heute im Wissenschaftsbetrieb weitgehend verschwundenen Konzept einer `frühbürgerlichen Revolution´ vgl. Sascha Möbius, Überlegungen zur Theorie der „frühbürgerlichen Revolution“, in: Jan Scheunemann (Hg.), Reformation und Bauernkrieg. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik im geteilten Deutschland (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Bd. II), Leipzig 2010, 49-62.

32 Darunter versteht man einen theologischen Dissens bei der Interpretation der Reformation, der bereits zwischen den evangelischen Kirchenhistorikern Gottfried Seebaß (1937-2008) aus Heidelberg und Bernd Moeller (1931-2020) aus Göttingen auszumachen ist und heute zwischen deren Schülern, Thomas Kaufmann aus Göttingen und Volker Leppin aus Tübingen, ausgetragen wird. Verdichtet gesprochen geht es darum: Volker Leppin versucht, das Denken und Handeln Luthers in die Tradition des Mittelalters zu stellen, indem er vor allem die `mystischen Wurzeln´ Luthers näher beleuchtet; die Geschwindigkeit, mit der sich die Reformation durchsetzte, wurde weniger durch Luther bewirkt, als vielmehr aus der `Spannungsenergie´ des Mittelalters gezogen (`Transformationsthese´). Thomas Kaufmann zufolge fand mit Luther ein Bruch mit dem Mittelalter statt: Die Reformation gilt als Schwelle des Mittelalters zur frühen Neuzeit und Luther selbst als großer Reformator (`Umbruchsthese´).

33 Zur Frage, ob man von `Reformation´ oder besser von `Reformationen´ sprechen sollte und was als Ursache (etwa die `Rechtfertigungslehre´) der Reformation anzusehen ist, vgl. weiterführend Thomas Kaufmann, Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung (Spätmittelalter, Humanismus und Reformation; 67), Tübingen 2012, 22018, 2ff.

34 Vgl. dazu den Beitrag von Frank Otto, Am Vorabend der Reformation, in: GEO Epoche Nr. 39, a. a. O., 22-25, und das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL Nr. 51 v. 15.12.2003: Martin Luther – Abschied vom Mittelalter, 76-89. Der kritische Artikel würdigt Luther als Erlöser der Christenheit vom Mittelalter, als Vater der deutschen Schriftsprache und als denjenigen, der die Gewissensfreiheit entdeckte. Er beleuchtet aber auch die dunklen Seiten des Reformators und die mit Luther einsetzende unselige Allianz von Thron und Altar. Unter Experten ist nach wie vor umstritten, wann die Epoche des Mittelalters aufhört und die Epoche der Reformation beginnt, vgl. Jacques Le Goff, Auf der Suche nach dem Mittelalter. Ein Gespräch, München 2004, 39ff., Zitat auf 41: „Das Wort und der Begriff `Mittelalter´ tauchen im 14. Jahrhundert bei Petrarca und den italienischen Humanisten auf. Sie sprechen vom medium tempus... oder, im Plural, von media tempora.“ Claudia Märtl schreibt: „Als Mittelalter wird meist das Jahrtausend zwischen 500 und 1500 bezeichnet. Selbstverständlich sind diese exakten Jahreszahlen nicht allzu genau zu nehmen…“ (Claudia Märtl, Die 101 wichtigsten Fragen: Mittelalter, München 2006, 32009, 11). Jacques Le Goff (1924-2014) war als französischer Historiker eine Koryphäe auf dem Gebiet der Mediävistik. Claudia Märtl (geb. 1954) ist eine deutsche Historikerin mit dem Schwerpunkt Spätmittelalter.

2. In Eisleben und Mansfeld

Über die Kindheit und Jugend Martin Luthers ist, verglichen mit den spärlichen biographischen Angaben vieler seiner Zeitgenoss*innen, einiges bekannt; anderes liegt im Dunkel.

Es beginnt mit Martin Luthers Geburtsdatum: Geboren wurde er als Martin Luder35 in Eisleben, vermutlich am 10. November 1483.36 Sein Vater Hans Luder war der wohlhabende Sohn eines vermögenden Großbauern im thüringischen Möhra. Er war im Kupferbergbau tätig und brachte es im Laufe der Jahre als erfolgreicher Geschäftsmann zu einigem Wohlstand. 37 Luthers Mutter war die Bürgerstochter Margarete Luder, geb. Lindemann.38 Der etwa 4000 Seelen große Ort Eisleben in der Grafschaft Mansfeld zählte schon damals zu den ältesten Städten zwischen Harz und Elbe. Eingebettet in eine hügelige Landschaft, liegt die im Jahre 994 erstmals urkundlich erwähnte Stadt im östlichen Harzvorland. Großen Einfluss auf die Entwicklung von Stadt und Region hatten die Grafen von Mansfeld, die Eisleben im 13. Jahrhundert belehnten und ihren Sitz dort nahmen; ferner der Abbau, die Lagerung und der Handel von Kupferschiefererz im 15. Jahrhundert.39 Die Grafschaft war seit 1485 reichsunmittelbar, das heißt, die Grafen unterstanden direkt dem Kaiser und waren dadurch in den Genuss einiger Privilegien gekommen. So hatten sie sich gegenüber den sächsischen Herzögen, deren Rechte eigentlich in der `Goldenen Bulle´ von 1356 festgehalten waren, die Verfügungsrechte über ungehobene Bodenschätze gesichert (`Bergregalrechte´) und waren dadurch im Zuge des enormen wirtschaftlichen Aufschwungs im Kupferschieferbergbau im wahrsten Sinne steinreich geworden. Die mineralischen Rohstoffe machten die Grafschaft Mansfeld zu einem der ressourcenreichsten Gebiete und zu einer der wichtigsten frühindustriellen Bergbauregionen Mitteleuropas, zu einer prosperierenden Region. Zugleich hatten die Grafen eine wichtige politische Bedeutung errungen.40 Durch Erbteilung – die fünf Grafen hatten die Grafschaft unter sich aufgeteilt – war das Geschlecht der Grafen von Mansfeld gespalten; ein Teil blieb katholisch, ein anderer Teil schloss sich der Reformation an. 1501 kam es so zur Entstehung von drei Familienlinien; sie wurden nach ihrem Eigentum auf Schloss Mansfeld bezeichnet. Die Grafen von Mansfeld-Vorderort blieben römisch-katholisch, die Mitglieder der Linien Mittelort und Hinterort wurden evangelisch. 41 Nicht nur dieser Umstand, sondern auch die Verteilung der Bergwerke und ihrer Ausbeute, die gemeinschaftlich verwaltet wurden, führte zu häufigen Streitereien unter den Grafen. Der Großteil der Einwohner*innen Mansfelds lebte von der Landwirtschaft, doch auch Tuchmacher und Weinbauern waren vertreten. Haupterwerbszweig war jedoch die Produktion und der Handel mit Kupfer und Silber, das `Gold des kleinen Mannes´.42 Um 1500 erlebte die Stadt deshalb einen wirtschaftlichen Aufschwung und dehnte sich aus; neue Stadtteile entstanden.

Dadurch waren auch Luthers Eltern 1483, beide Anfang zwanzig, in die Stadt gezogen und hatten eine Wohnung im Stadtteil `Petriviertel´ gemietet.43 Hans Luder wollte wie so viele junge Leute am wirtschaftlichen Boom des Mansfelder Landes44 teilhaben – ein ehrgeiziger Jungunternehmer, ein kapitalkräftiger, risikofreudiger Investor, ein Glücksritter. 45 Der Onkel seiner Frau war selbst Hüttenbesitzer und seit 1480 zudem der oberste Berg- und Hüttenverwalter der Grafen von Mansfeld. Er protegierte seinen Neffen und stellte die Kontakte her, die zur Gründung eines eigenen Unternehmens erforderlich waren.46 Bis in die jüngste Zeit hinein wurde in vielen Schulbüchern viele Jahre lang Martin Luthers Version kolportiert, dass er der Nachkomme armer Bauern bzw. der Sohn eines `armen Bergmanns´ war. Dahinter stand vermutlich die Absicht Luthers, seinen Aufstieg zum studierten Theologen und Reformator zu betonen – als jemand, der es durch eigene Kraft nach oben geschafft hatte.47 Da er in Wirklichkeit aber der Spross eines wohlhabenden Unternehmers war, waren Martin Luthers Startchancen ins Berufsleben in keiner Weise mit denen eines Kindes armer Bauern zu vergleichen. Für die Eltern Luthers war es für damalige Verhältnisse kein Problem, ihrem Sohn eine universitäre Ausbildung zu ermöglichen, mit deren Hilfe er in der fürstlichen Verwaltung, in der Universität oder der römisch-katholischen Kirche Karriere machen konnte.48

Was war es für eine Zeit, in der Martin Luther das Licht der Welt erblickte? Das 16. Jahrhundert, die Zeit Martin Luthers, war ein Zeitalter des Auf- und Umbruchs, ein Zeitalter der Entdeckungen.49 Bereits im Jahrhundert zuvor hatte es einiges an Bewegung und einige Neuerungen gegeben: Dazu gehörte beispielsweise die erste Äquatorüberquerung und die erstmalige Umsegelung des Kaps der Guten Hoffnung.50 Das berühmteste Beispiel war Christoph Kolumbus: Er entdeckte 1492 auf der Suche nach dem Seeweg nach Indien Amerika.51 Kolumbus war der irrigen Annahme, der neu entdeckte Kontinent mit den vielen im damaligen Europa noch nie gesehenen Tieren (Papagei, Truthahn u. a.) und unbekannten Pflanzen (Tomaten, Tabak, Kartoffeln u. a.) wäre Indien und nannte die Ureinwohner deshalb `Indianer´.52 Neben der damaligen Weltmacht Spanien53 griffen weitere Staaten wie Großbritannien oder die Niederlande auf entlegene Kontinente zu, gründeten europäische Kolonien und setzten eigene Herrscher, politische Stellvertreter, ein – oft gegen den Widerstand der indigenen Bevölkerung.54 Mit der Eroberung Lateinamerikas war die Mission durch römisch-katholische Missionare verbunden, die die Indios häufig unter Zwang zum Christentum bekehrten. 55 Die Sklaverei, hervorgerufen durch die Gier der Europäer nach billigen Arbeitskräften, Gold und Silber, erlebte eine erste Konjunktur. Erstmals gelang es, die Welt zu umsegeln.56Nikolaus Kopernikus leitete den später nach ihm benannten epochalen Wechsel, die `kopernikanische Wende´, ein, die das heliozentrische Weltbild des Vatikans erschütterte: Seinen bahnbrechenden Erkenntnissen zufolge kreiste der blaue Planet um die Sonne! 57 Diese Behauptung stellte das bisher bekannte Weltbild mit der Erde als Zentrum des Universums infrage und veränderte das Selbstverständnis des Menschen.58 Einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler jener Zeit, der Maler und Ingenieur Leonardo da Vinci, erforschte heimlich und trotz kirchlicher Verbote die menschliche Anatomie.59

Während die Wissenschaften langsam zur Blüte gelangten, waren die sozialen Verhältnisse für viele beelendend. Einige Wenige schwelgten in unermesslichem Wohlstand; die Mehrheit der Bevölkerung aber war arm. 60 Die Sterblichkeitsrate war hoch, die Lebenserwartung entsprechend gering. Die Pest, der `Schwarze Tod´, wie die Krankheit genannt wurde, ließ sich von Standesunterschieden nicht aufhalten – unterschiedslos wurden Reiche wie Arme in großer Zahl dahingerafft.61 1348 waren epidemisch ganze Landstriche entvölkert worden, etwa ein Drittel der europäischen Bevölkerung hatte die todbringende Krankheit das Leben gekostet.62 „Die statistische Lebenserwartung der Europäer lag bei ungefähr 30 Jahren, die der Frauen deutlich unter der der Männer… etwa die Hälfte der Kinder verstarb vor dem sechsten Lebensjahr.“63

In diese Welt wurde Martin Luther also hineingeboren – in eine Familie, in der sich römisch-katholische Glaubensinhalte mit abergläubischen Vorstellungen, die im Spätmittelalter für die Volksfrömmigkeit charakteristisch waren, vermengten. 64 Wie damals üblich, wurde das Kind nur einen Tag nach seiner Geburt am 11. November 1483 auf den Namen des Tagesheiligen getauft65, und zwar in der Kirche St. Peter66 in Eisleben.67

Nachdem der Kupferbergbau unrentabel geworden war und die silberhaltigen Kupferschiefervorkommen mehr Profit versprachen, zog die Kleinfamilie kurz nach der Geburt ihres Sohnes Martin 1484 ins nur wenige Kilometer entfernte Mansfeld um. Innerhalb kurzer Zeit baute sich Luthers Vater dort eine Existenz als Hüttenmeister, als selbstständiger Unternehmer, auf, indem er von den Mansfelder Grafen mehrere Schmelzhütten, sog. `Herrenfeuer´, pachtete und Erz förderte und schmolz, um Kupfer und Silber daraus zu gewinnen.68 Da diese Art Bergbau und die Verhüttung sehr kapitalintensiv war, betätigte sich Hans Luder auch als Investor. Schon 1491 engagierte er sich politisch: Er vertrat als angesehener `Vierherr´, als Bürgerschaftsvertreter, die Bürger*innen seines Viertels vor der Stadtversammlung.69 Ab 1508 zählte der selbständige Bergwerksbetreiber, Hüttenmeister genannt, als `Schauherr´, d. h. gräflich bestallter Bergbeamter, außerdem zu den fünf höchsten Bergbeamten der Grafschaft Mansfeld und gehörte zu den Honoratioren der Stadt. Zusätzlich zum Bergbau erzielte Hans Luder ein stattliches Einkommen aus der Landwirtschaft und aus Geldgeschäften70, das es ihm 1491, also nur sieben Jahre nach seiner Ankunft in Mansfeld, gestattete, ein am östlichen Stadttor Mansfelds gelegenes repräsentatives Anwesen zu erwerben.71 Er konnte sich nicht nur ein Haus, sondern gleich zwei Häuser leisten, die er allmählich durch An- und Umbauten und Unterkellerungen miteinander verband.72 Dieser Gebäudekomplex am Rabentor mit beachtlichen Wirtschafts- und Vorratsräumen, Stallungen, einer Scheune und einem Garten befand sich in Sichtweite zum Mansfelder Schloss.73

In Mansfeld also, das durch sein Montanwesen in wirtschaftlicher Blüte stand, wuchs Martin Luther in finanziell gesicherten Verhältnissen „in einer wohlhabenden Familie“74 auf. Zusammen mit vier Geschwistern, einem jüngeren Bruder und drei Schwestern, verbrachte er hier von 1484 bis 1497 seine Kindheit und Jugend.75 Beide Elternteile wurden als gläubig, streng und diszipliniert beschrieben, die ihre Kinder, wie viele Eltern damals, auch körperlich züchtigten.76 Luther erwähnte im Rückblick mehrmals, dass er schon wegen kleinster Verfehlungen von seinen Eltern mit der Rute geschlagen wurde und deshalb einmal sogar von zu Hause ausriss.77 Aber seine Kindheit war nicht allein von Härte und Entbehrung geprägt: Wie viele Kinder im Mittelalter war auch er zwar in den familiären Arbeitsalltag eingebunden; daneben schien ihm aber auch noch genügend Zeit und Gelegenheit zum Spielen geblieben zu sein.78 Der nach Erfolg strebende Vater, der es inzwischen zu Wohlstand gebracht hatte und Mitglied des Mansfelder Stadtrats geworden war, wollte seinem Ältesten eine sorgfältige Erziehung angedeihen lassen. In Mansfeld besuchte Martin Luther von 1488 bis 1497 zunächst die Pfarrschule in Mansfeld, die sog. `Trivialschule´ 79 , in der ihm grundlegende Kenntnisse im Lesen, Schreiben, Rechnen und in Latein vermittelt wurden, dann ein Jahr lang die Domschule zu Magdeburg 80 ; damals mit ca. 40000 Einwohner*innen zu den größten Städten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und wegen ihrer Lage an der Elbe zu den prosperierenden Handelsmetropolen zählend, wurde das Kind vom Lande hier plötzlich mit dem Leben in einer Großstadt konfrontiert.81 Schließlich – die Hintergründe sind unklar, vermutlich genügte den Eltern das Niveau dieser Schule nicht – wechselte Luther nur ein Jahr später 1498 auf die Pfarrschule der Georgenkirche in Eisenach, die er bis 1501 besuchte.82 Es waren für den 15jährigen Jungen prägende Jahre:

Er lernte ausgiebig Latein, das an den Universitäten Unterrichtssprache und daher die universale Sprache der Gelehrten war83, und erhielt den Unterricht, der ihm später den Weg in die akademische Welt ebnen sollte. Die schulische Erziehung war der Zeit entsprechend hart, willkürlich und brutal, auch Luther wurde von seinem Lehrer geschlagen, wenn er etwas nicht konnte.84 Rückblickend meinte er später, hätte er in der Schule nichts außer Angst und zittern gelernt. Die Prügelstrafe gehörte damals in den Schulen zu den üblichen Erziehungsmethoden; sie sollte trotz der schlechten Erfahrungen, die er selbst gemacht hatte, später tatsächlich auch von Luther befürwortet werden. Für ihn sollten sich Strafe und Belohnung die Waage halten: „Man muss so strafen, dass der Apfel bei der Rute liegt.“85 Um zu seinem Lebensunterhalt etwas dazu zu verdienen, sang Luther als Kurrendensänger86 gegen Geld; zudem wirkte er im `Chorus musicus´ der Georgenkirche mit.87 In Eisenach war die Umgebung Luthers freier und geistig anregender als in Mansfeld. Hier verbrachte Luther in behüteten Verhältnissen vermutlich seine unbeschwertesten Jahre.88 Auch später blieb Martin Luther dem `Mansfelder Land´ verbunden: Er bezeichnete die Gegend als seine `Heimat´89 und Eisenach als seine „liebe Stadt“90.

35 Obwohl Luther bis zum Wechsel seines Namens 1517 offiziell `Martin Luder´ hieß und auch so unterschrieb, wird in diesem Buch durchgängig, auch für die Zeit vor seiner Namensänderung, der Name `Martin Luther´ verwendet.

36 Darüber, wann genau Martin Luther geboren wurde, gibt es widersprüchliche Angaben. Die Jahreszahl 1483 ist unsicher, da amtliche Dokumente fehlen und Luther selbst 1539 in einer Predigt erwähnte, er wäre in dem Jahr geboren worden, als Papst Julius starb (vgl. WA 47, 581, 26f.). Dabei verwechselte Luther jedoch anscheinend Julius II. (1443-1513), der von 1503-1513 Papst war, mit Sixtus IV., der von 1471-1484 Papst war. Folglich wäre das Jahr von Luthers Geburt 1484. Zudem machte Luther in seinen `Tischreden´ widersprüchliche Angaben: Zum einen gab er 1483 (WA TR 2, Nr. 2250), zum anderen 1484 (WA TR 5, Nr. 5347) an. Philipp Melanchthon, im Unterschied zu Luther ein großer Anhänger der Astrologie, bestimmte anhand von Luthers Horoskop dessen Geburtsjahr. Unter Berufung auf Luthers Mutter setzte sich schließlich der 10. November, nachts nach zehn Uhr, in den Büchern durch. Vgl. dazu Jürgen G. H. Hoppmann (Hg.), Melanchthons Astrologie. Der Weg der Sternenwissenschaft zur Zeit von Humanismus und Reformation. Katalog zur Ausstellung vom 15. September bis 15. Dezember 1997 im Reformationsgeschichtlichen Museum Lutherhalle Wittenberg, Wittenberg 1997; Harald Weinacht (Hg.), Melanchthon und Luther: Martin Luthers Lebensbeschreibung durch Philipp Melanchthon, Zürich 2008; Ulrich Köpf, Martin Luther, a. a. O., 11f.; Volker Leppin, Martin Luther, a. a. O., 16, und Claudia Brosseder, Im Bann der Sterne: Caspar Peucer, Philipp Melanchthon und andere Wittenberger Astrologen, Berlin 2014.

37 Hans Luder investierte ererbtes Kapital ins Montanwesen. Zu diesem führenden Industriezweig, der Ende des 15. Jahrhunderts 80 bis 90 Prozent des europäischen Kupfers abdeckte, vgl. weiterführend Michael Fessner, Das Montanwesen in der Grafschaft Mansfeld zur Zeit Martin Luthers, in: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt et al. (Hg.), Martin Luther. Aufbruch in eine neue Welt, a. a. O., 48-55 (mit zeitgenössischen Abbildungen). Jüngste bauhistorische und archäologische Forschungen ergaben, dass die Familie Luder in relativem Wohlstand lebte. Im Jahre 2005 kamen bei Ausgrabungen 300 Silbermünzen zum Vorschein, die vermutlich versehentlich im Abfall gelandet waren, vgl. dazu Andreas Stahl/Björn Schlenker, Luther in Mansfeld. Ausgrabungen und begleitende Bauforschungen am Elternhaus Martin Luthers, in: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt et al. (Hg.), Martin Luther. Aufbruch in eine neue Welt, a. a. O., 57-71, bes. 68f. Auch in Luthers Wohnhaus in Wittenberg stieß man bei Grabungen auf 16 Münzen, die gehortet worden waren, vgl. Ulf Dräger, Die Fundmünzen aus dem Lutherhaus in Wittenberg, in: Luthers Lebenswelten, hg. v. Harald Meller, Stefan Rhein und Hans-Georg Stephan, Halle 2008, 113-117. Zu den neuesten Erkenntnissen der Lutherforschung, vgl. Volker Leppin, Martin Luther, a. a. O., 21, 41 u. ö. Der Kirchenhistoriker hob hervor, dass sowohl Luthers Eltern als auch Luther selbst für ihre Zeit typische Aufsteiger waren, und korrigierte damit das vorherrschende Bild, das Luther selbst von sich hatte und die historische und kirchenhistorische Forschung, ihm folgend, zeichnete: Luther hatte in seinen von Studenten aufgezeichneten `Tischreden´ erwähnt, dass er aus einem armen Elternhaus stammte: „Mein Vater in seiner Jugend war ein armer Häuer, meine Mutter hat all ihr Holz auf dem Rücken nach Hause getragen. Also haben sie uns erzogen“ (WA TR 3, Nr. 2888 a/b, 51). In diesen Tischreden findet man auch das Zitat: „Pater fuit rustici filius in Morn, pago non procul ab Eisenach. Inde cum uxore et filio profectus est Mansfeldiam et factus est metallicus, ein berckhauer“ (WA TR 5, Nr. 5362, 95). Schwer nachzuvollziehen ist aufgrund des wissenschaftlich-historischen Befunds, dass sich diese nachweislich falsche Sicht über Luthers Herkunft auch in neuerer Sekundärliteratur immer noch hält, vgl. beispielsweise Volker Reinhardt, Luther, der Ketzer, a. a. O., 17, wo es heißt: „Wer wie Martin Luther aus bescheidenen Verhältnissen stammte…“

38 Es gibt unterschiedliche Angaben zum Herkunftsort von Luthers Mutter. So taucht sie unter `Persönlichkeiten´ im Wikipedia-Artikel `Neustadt an der Saale´ auf, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Bad_Neustadt_an_der_Saale (aufgerufen am 15.4.2021); auch auf der Website von `luther erleben´ wird ihr Geburtsort mit `Neustadt´ angegeben (https://www.luther-erleben.de/persoenlichkeiten/margarethe-luder/, aufgerufen am 21.4.2021), ferner im Wikipedia-Artikel zu Hans Luder (https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Luder_%28Hüttenmeister%29, aufgerufen am 15.4.2021). Vgl. dagegen Thomas Kaufmann, Martin Luther, a. a. O., 27, dem zufolge Luthers Mutter aus Eisenach stammte. Auch Sylvia Weigelt, „Der Männer Lust und Freude sein“. Frauen um Luther, Weimar und Eisenach 2011, 13, lokalisiert den Geburtsort von Luthers Mutter in Eisenach; ebenso Volker Leppin, Martin Luther, a. a. O., 15; Lyndal Roper, Luther, a. a. O., 553, Anm. 9, und viele andere Luther- und Reformationsexpert*innen. Ein wenig Klarheit verschafft einem ein weiterer Blick ins Internet: https://www.myheritage.de/research/collection-10182/biographische-kurzfassungen-von-bekannten-personen?itemId=382004&action=showRecord (aufgerufen am 2.4.2021). Die Eltern Martin Luthers, nach Aussagen von Zeitgenossen wie dem reformierten Theologen, Reformator und Chronisten Johannes Kessler (~1502-1574) klein von Gestalt, wurden oft porträtiert, vor allem von Lucas Cranach d. Ä., der mit Luther befreundet war (von Luther gibt es nur einen einzigen erhaltenen Brief an Cranach, der auf den 28.4.1521 datiert ist und in Frankfurt geschrieben wurde [vgl. WA BR 2, Nr. 400, 305f.]). Lutherforscher gehen davon aus, dass Luthers Eltern 1527 bei einem Besuch in Wittenberg anlässlich der Taufe ihrer Enkelin Elisabeth bei Lucas Cranach Porträt saßen. Die Originale der berühmten Bilder – beides Unikate – befinden sich heute auf der Wartburg (Wartburg-Stiftung Eisenach), vgl. Jan Scheunemannn/Kerstin Bullerjahn, Luther war hier. Reisen mit Luther durch Sachsen-Anhalt, hg. von Harald Meller und Alfred Reichenberger, Halle/Saale 2017, 160-161.

39 Vgl. weiterführend Siegfried Bräuer/Armin Kohnle (Hg.), Von Grafen und Predigern. Zur Reformationsgeschichte des Mansfelder Landes (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Bd. 17), Leipzig 2014, bes. 5-8 und 13ff.; 69ff. und 95ff. Nach dem Niedergang des Bergbaus, der die Region 800 Jahre lang bestimmt hatte, und dem Zusammenbruch des DDR-Unrechtssystems 1989 gingen zahlreiche Arbeitsplätze verloren, so dass Eislebens Einwohner*innenschaft von ca. 30000 auf ca. 22600 sank.

40 Bereits Mitte des 15. Jahrhunderts hatte die Region eine Hochkonjunktur im Montanwesen erlebt und war zu einem der wichtigsten Wirtschaftsräume im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation geworden. Dadurch war die ökonomische und fiskalische Macht der Mansfelder Grafen gewachsen. 1466 übertrug der Kaiser die Lehnsherrlichkeit über die Bergwerke und Hüttenfeuer an die sächsischen Herzöge, womit es zu einem zwanzig Jahre dauernden Streit zwischen den Mansfelder Grafen und dem Kurfürsten über die Ausbeutungsrechte kam. Man einigte sich dahingehend, dass dem Herzog 1485 das Mansfelder Bergregal zugesprochen wurde und im gleichen Zuge den Mansfelder Grafen die Rechte zur Ausbeutung des Kupferschiefers überlassen wurden.

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