Stadtpredigten. Biblische Einsichten aus `Badisch-Sibirien´ - Thomas O. H. Kaiser - E-Book

Stadtpredigten. Biblische Einsichten aus `Badisch-Sibirien´ E-Book

Thomas O. H. Kaiser

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Beschreibung

Das Buch "Stadtpredigten. Biblische Einsichten aus `Badisch-Sibirien´ " beinhaltet ausgewählte Predigten, die Pfarrer Dr. Thomas O. H. Kaiser in den Jahren 1993 bis 1995 gehalten hat. Es richtet sich an alle, die Inspirationen für Predigten brauchen oder an der Lektüre von Predigten interessiert sind.

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Zum Andenken an meine Großeltern

Hermine Lohmann, geb. Förstemann (30.12.1896 – 29.12.1969) und Otto Lohmann (17.1.1895 – 16.12.1976)

und

Anna Müller, geb. Messerschmidt (13.1.1897 – 10.12.1984) und Hermann Müller (22.5.1898 – 4.12.1978)

Inhalt

Vorwort

1. „... alle Zungen bekennen...“ (Phil 2, 11) Universelles Leben

2. „Danach sah ich...“ (Off 7, 9-12+13-17) Vom Licht an Weihnachten

3. „Ein Weiser rühme sich nicht...“ (Jer 9, 22+23) Vom Weise-Sein

4. „Wie wir es gehört haben...“ (Ps 48, 9) Von der Stadt Gottes

5. „Und sie führten ihn hinaus...“ (Mk 15, 20b-34) Passionszeit

6. „Als… der Sabbat vorüber war...“ (Mt 28, 1-10) Osternacht

7. „… das ist ewig.“ (2. Kor 4, 16-18) Das Unsichtbare ist ewig

8. „… und lobten Gott...“ (Apg 16, 23-34) Im Gefängnis

9. „Gelobt sei Gott...“ (Eph 1, 3-14) Von der Schulzeit

10. „Leite mich...“ (Ps 25, 3) Von der Wahrheit

11. „… Gold habe ich nicht...“ (Apg 3, 1-10) Von den wahren Reichtümern im Leben

12. „Als er ihn… ergriffen hatte...“ (Apg 12, 1-11) Des einen Freud, des anderen Leid

13. „Und sie brachten Kinder...“ (Mk 10, 13-16) Kind, du bist uns anvertraut

14. „Leidet jemand…, der bete...“ (Jak 5, 13-16) „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“

15. „… wir müssen alle offenbar werden...“ (2. Kor 5, 10) Vom Jüngsten Gericht

16. „Stärket die müden Hände...“ (Jes 35, 3-10) In der Sahara

17. „Die Zeit ist kurz...“ (1. Kor 7, 29-31) Fußmatten

18. „Die Zeit ist erfüllt...“ (Mk 1, 14+15) Vom Reich Gottes

Über die Künstlerin

Über den Autor

Vorwort

Die vorliegenden Predigten sind Anfang der 1990er-Jahre des letzten Jahrhunderts entstanden. Damals habe ich, zu der Zeit nach theologischen und philosophischen Studien dreißig Jahre alt, meinen Dienst als sog. `Lehrvikar´ in der Evangelischen Landeskirche in Baden begonnen. Ich wurde in zwei Pfarrgemeinden eingesetzt: in Wertheim-Wartberg, einer Trabantenstadt, die ursprünglich einmal für kasernierte amerikanische Truppen errichtet worden war und nach dem Abzug der Amerikaner für viele russisch-deutsche Spätaussiedler zu einem neuen Zuhause wurde, sowie in Wertheim-Sachsenhausen, einer nur wenige Kilometer entfernten Ortschaft im direkten Einzugsbereich der Stadt; ferner in Vockenrot, einem der Stadt Wertheim eingemeindeten Ort. Meine Frau Andrea und ich hatten in Wertheim im Herbst 1993 kirchlich geheiratet. Wir wohnten zwar zusammen in Wertheim-Eichel/Hofgarten; aber ich hatte zusätzlich aus `dienstlichen Gründen´, so hieß es, eine Zweitwohnung in meinem Einsatzort am Wartberg zu nehmen. Vermieterin war die evangelische Kirchengemeinde, die ein Eigeninteresse daran hatte, dass ich die bescheidene Wohnung über dem kirchlichen Kindergarten in Laufnähe zum Kirchenzentrum bezog. Alle Orte, in denen ich eingesetzt war, wiesen die für die damalige Zeit typischen kleinstädtischen bzw. dörflichen bundesrepublikanischen Strukturen auf. Sie lagen inmitten einer ländlichen strukturschwachen Gegend: Main-Tauber-Franken.

Die Gegend dort heißt landläufig `Badisch-Sibirien´: Ursprünglich mit pejorativer Konnotation, wurde der Begriff im Laufe der Zeit von den Bewohnerinnen und Bewohnern selbst humorvoll als Eigenbezeichnung übernommen. Natürlich bezieht sich Sibirien nicht nur auf die herrschende winterliche Kälte in Nordbaden, sondern auch auf das Vorurteil, dass die Gegend – weil wenig dicht besiedelt – etwas zurückgeblieben ist. Beamte wurden in vergangenen Jahrhunderten gerne dorthin versetzt und empfanden diese Versetzung oft als `Verbannung´. In der badischen Pfarrerinnen- und Pfarrerschaft klingt dies bis heute immer noch nach...

Der Dienst während der anderthalbjährigen Dauer des Vikariats in Wertheim war für mich abwechslungsreich und interessant. Die Kirchen, in denen ich predigte, hätten unterschiedlicher nicht sein können: Zum einen fanden die Gottesdienste in einem eher traditionellen Kirchengebäude in Wertheim-Sachsenhausen und mitunter in einer eher bescheidenen Mehrzweckhalle in Vockenrot statt. Zum anderen wurde Gottesdienst in dem in den sechziger Jahren errichteten, im Geist der Zeit auf Kommunikation angelegten Ökumenischen Wartberg-Kirchenzentrum gefeiert.

Die meisten der Predigten habe ich in meiner Wohnung über dem Kindergarten geschrieben. Die Hörerinnen und Hörer, die sich unter meiner Kanzel damals versammelten, waren einerseits Tauberfranken – bewusst evangelisch, denn das Gebiet war wegen der Grenze zum benachbarten Bayern jahrhundertelang katholisch geprägt und von Würzburg aus regiert worden –, andererseits mindestens ebenso konfessionell bewusste Spätaussiedler, vorwiegend aus Kasachstan, die mit ihren Familien die Gelegenheit ergriffen hatten, nach gefühlten hunderten von Jahren in der Verbannung freiwillig in die Heimat, nach Deutschland, zurückzukehren und mit den typischen Problemen der Immigration zu kämpfen hatten. Ihre Kinder gehörten zu den Grundschülerinnen und Grundschülern und zu den Konfirmandinnen und Konfirmanden, die ich in diesem sozialen Brennpunkt zu unterrichten hatte. Sie verstanden häufig kein Deutsch, sondern sprachen untereinander Russisch, und so manches Mal wurde die Stunde durch das ein oder andere Wort in Russisch gerettet, das ich mir über die Monate angeeignet hatte.

Ich hatte nicht jeden Sonntag zu predigen, was u. a. daran lag, dass die Seminaristinnen und Seminaristen im Zuge ihrer Ausbildung ein paar Monate lang `in Klausur´ in Heidelberg im Predigerseminar `Petersstift´ zu verbringen hatten. Dort gehörte es damals u. a. zum praktisch-theologischen Pflichtprogramm, im Kreise der Kolleginnen und Kollegen Mittagsandachten zu halten. Vier dieser Andachten habe ich ihres experimentellen Charakters wegen mit in diesen Predigtband aufgenommen.

Alle Ansprachen und Predigten sind von mir gehalten worden. Dabei bin ich mir bewusst, dass ich durch vieles, was ich damals gelesen und gehört habe, beeinflusst worden bin. Vieles an Predigtlehren, homiletischen Entwürfen, Literatur und Fachliteratur und immer wieder Predigten selbst habe ich damals fleißig gelesen. Manches davon ist in meine Predigten eingeflossen – schließlich sind wir keine Monaden im Leibniz’schen Sinne, abgeschlossen und für sich selbst existierend. Was das genau gewesen ist, war für mich nach all den Jahren leider nicht mehr rekonstruierbar. Bei der Auslegung der Bibel habe ich versucht, den Alltag der Hörerinnen und Hörer mit all ihren Fragen aufzunehmen und die gesellschaftlichen Herausforderungen der Zeit zu berücksichtigen. Die Form der mündlichen Rede, die eher durch das Perfekt lebt als durch das Präteritum, ist für den Druck zu weiten Teilen beibehalten worden.

In meiner Jugend bin ich in einer evangelischen Kirchengemeinde im städtischen Milieu im niedersächsischen Weserbergland kirchlich sozialisiert worden und habe nach dem Abitur 1982 zum Wintersemester desselben Jahres das Studium der evangelischen Theologie in Heidelberg begonnen – als erster in meiner Herkunftsfamilie, in der es zwar Juristen, Pädagogen und Mediziner, aber keine Theologen gab bzw. gibt. Später hatte ich an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg ein Zweitstudium der Philosophie begonnen und zudem eine theologische Promotion in Sozialethik angefertigt.1

In die Zeit meines `Lehrvikariats´ fiel das Rigorosum, die mündliche Prüfung zur Promotion, was bewirkte, dass ich einen Spagat zwischen zwei Welten bewältigen musste: Hatte ich morgens in der Grundschule zu hospitieren, das heißt, den Unterricht meines Mentors in der hinteren Reihe im Klassenzimmer auf einem Grundschul-Stuhl sitzend zu verfolgen oder selbst Schülerinnen und Schüler der Klassen eins bis vier zu unterrichten, beschäftigte ich mich in der mir verbleibenden Zeit am zu Hause am Schreibtisch mit der Aufarbeitung theologischer Themen für meine letzte wichtige universitäre Prüfung.

Ich war einem deutlich älteren Kollegen, dessen Weltbild dem meinen diametral entgegengesetzt war, vom Ausbildungsbzw. Personalreferat des Evangelischen Oberkirchenrats in Karlsruhe wie ein `Lehrling´ zugeteilt worden. Der kleine, schmächtige, bärtige, bleiche, Kette rauchende Burschenschafter lebte und arbeitete schon seit Jahrzehnten als Gemeindepfarrer in der Kirchengemeinde. Er begriff mich wegen meines Alters und meiner Beliebtheit bei den Jugendlichen in seiner Gemeinde quasi instinktiv als Konkurrenz. Die in der Ausbildung zur badischen Pfarrerin bzw. zum badischen Pfarrer vorgesehenen obligatorischen Predigtvor- und -nachgespräche mit dem mir zugewiesenen `Lehrpfarrer´, die sich bei mir oft bis weit über Mitternacht hinzogen, fanden in dem kleinen Besprechungsraum des konservativen Lutheraners statt. In ihm zündete er sich eine Zigarette nach der nächsten an, bis man die Luft in dem Raum schneiden konnte – für mich als Nichtraucher über der Grenze der Erträglichkeit. Mein Postfach im Pfarrbüro trug das Etikett `Lehrvikar´, ohne Namensschild. Entsprechend hatte auch die Person des `Lehrvikars´ – es hatte schon einige Vorgänger gegeben – bei ihm keinen Namen. So sprach er über mich in meiner Anwesenheit etwa so: „Dafür ist der Lehrvikar zuständig“ oder, ebenfalls in der 3. Person Singular: „Am kommenden Sonntag predigt der Lehrvikar.“ Es ist mehr als einmal vorgekommen, dass er mir falsche Termine nannte oder auch falsche Orte an mich weitergab, mit der Absicht, mich unter Stress zu setzen bzw. mein Image in der Gemeinde zu beschädigen. Einmal passierte es, dass er mir bei einer Beerdigung einen falschen Friedhof genannt hatte. Nur durch glückliche Umstände erreichte ich rechtzeitig den richtigen Ort und war bei der Beerdigung gerade noch pünktlich. Als ich mir in den ewig langen Dienstgesprächen geistesgegenwärtig mit einer dicken Zigarre zu helfen wusste, wurde ihm der Qualm zu viel. Fortan einigten wir uns, während der Dienstgespräche nicht zu rauchen: Politik der gegenseitigen Abschreckung im Kleinen – zum Abgewöhnen.

Schon damals bin ich hin und wieder von Gemeindegliedern gefragt worden: „Könnten Sie mir Ihre Predigt nicht zukommen lassen?“ Vereinzelt bin ich damals diesem Wunsch nachgekommen, aber überwiegend habe ich es bei der mündlichen Rede belassen. Für mich gehörte damals zur Predigt auch ihr Rahmen, also der Gottesdienst, in dem sie gehalten wurde. Nachdem mir kürzlich einer der im Ruhestand befindlichen Kollegen berichtete, er habe im Zuge eines Umzuges in eine kleinere Wohnung alle seine Predigten ins Altpapier getan, finde ich den Gedanken tröstlich, einen Teil meiner gehaltenen Predigten von damals in einem Auswahlband versammelt zu wissen. Jede einzelne Predigt habe ich für diese Veröffentlichung noch einmal gelesen, sie nach all den Jahren meinem kritischen Blick unterzogen und sie an den wenigen Stellen, an denen ich nicht zufrieden war, sprachlich leicht überarbeitet. Bilder und Eindrücke von damals, von der Gegend und ihren Bewohnerinnen und Bewohnern, stiegen dabei vor meinem inneren Auge auf.

Gewidmet ist dieses Buch dem Andenken meiner Großeltern: Hermine und Otto Lohmann aus Wangelnstedt und Anna und Hermann Müller aus Lenne im Weserbergland. Ich erinnere mich gerne an sie zurück. Sie haben meine Kindheit mit geprägt und mich auf meinen ersten Schritten in den Glauben begleitet. Meine Großeltern mütterlicherseits waren rechtschaffende Leute, die ich als Kind mit meinen Eltern in ihrem Haus direkt neben der Dorfkirche regelmäßig mehrmals wöchentlich besucht habe. Meine Oma Hermine hatte mir bei meiner Taufe am 16. Juni 1963 mit ihrem Segen ein lutherisches Gesangbuch in meinem Kinderwagen unters Kopfkissen gelegt – vermutlich in der Hoffnung, dass aus mir ein frommer Zeitgenosse oder ein Musiker werden würde (beides ist eingetroffen). Mit meinen Großeltern väterlicherseits, noch im hohen Alter ein lebenslustiges Paar, bin ich in meinem Elternhaus in Eschershausen aufgewachsen. An die beiden erinnern mich nicht nur Gespräche über Gott und die Welt, sondern auch immer wieder ihr Geschenk zu meiner Konfirmation am 15. Mai 1977: eine kleine goldene Uhr mit Widmung. Die Erinnerung an die Vier rückt die gelebte Vergangenheit wieder in greifbare Nähe.

Kadelburg, am Reformationstag 31.10.2011 Thomas O. H. Kaiser

Kadelburg, 3. Auflage, 10.7.2024 Thomas O. H. Kaiser

1 Vgl. Thomas O. H. Kaiser, Versöhnung in Gerechtigkeit. Das Konzept und seine Kritik im Kontext Südafrika (diss. theol. 1993), Neukirchen-Vluyn 1996.

1. „... alle Zungen bekennen...“ (Phil 2, 11) Universelles Leben2

Die Losung für den heutigen Tag steht im Brief des Paulus an die Philipper, Kapitel 2, Vers 11:

„... und alle Zungen bekennen…, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.“ (Phil 2, 11)

Das sind mächtige Worte, Ihr lieben Anwesenden: Jesus Christus ist der Herr! Und alle Zungen sollen es bekennen. Zur Ehre Gottes. `Martyrein´ steht im Griechischen, also: das Martyrium erleiden. Alle Zungen sollen es bekennen: in Russisch, Suaheli, Japanisch oder Englisch. Dieser starke Satz: Jesus Christus ist der Herr.

Bei der Beschäftigung mit dem Text erinnere ich mich an Begebenheiten der letzten Zeit. Vier Szenen entstehen vor meinem geistigen Auge.

Erste Szene. Ein Freund, Immobilienmakler in Wuppertal und kritischer Zeitgenosse, der weiß, dass wir jetzt in Wertheim wohnen, ruft mich eines Tages an. „Du“, sagt er, „ich hab´ neulich im Fernsehen gesehen, dass in Eurer Gegend eine Sekte, `Universelles Leben´ heißt sie, mit Strohmännern alle Höfe in der Umgebung Wertheims aufkauft. Ein ganz übler Laden ist das.“ Interessiert höre ich zu. „Die kapseln sich völlig ab und unterziehen ihre Mitglieder einer Gehirnwäsche. Das ist wieder mal typisch. Religion und die Kirche denken mal wieder nur an das eine. Wie die katholische Kirche. Erst Gehirnwäsche und dann Abkassieren. Was meinst’n Du dazu?“ „Jesus Christus ist der Herr, und der befreit“, antworte ich ihm. Schweigen am anderen Ende. Dann: „Was ist denn mit dir los? Bist du auf deine alten Tage fromm geworden?“ Ich verbringe den Rest des mehrstündigen Telefonats damit, ihm zu erklären, was ich meine. Dass der Glaube an Jesus von Nazareth beispielsweise zur Kritik befähigt gegenüber allem sektiererischen Gedankengut innerhalb und außerhalb der Kirche und dass das Evangelium Jesu Christi die freimachende Botschaft von der freien Gnade Gottes ist.

Zweite Szene. Gemeindebesuche in Wertheim. Bei fünfzehn Ältesten habe ich mich auf Geheiß des `Lehrpfarrers´ zu Hause vorzustellen. Bei einem Besuch begegne ich einer 83jährigen. Sie erzählt von alten, besseren Zeiten. Als noch Schnee lag und der Wirbelsturm `Wiebke´ den Wald noch nicht dem Erdboden gleich gemacht hatte. Auf meine Frage, wie es denn hier im Dorf früher gewesen sei, als sie jung war, und wie das Leben denn im Nationalsozialismus gewesen sei und ob es denn hier Juden gegeben habe, antwortet sie: „Ja – früher gab es viele Jüden in Wertheim. Wir haben bei ihnen eingekauft. Früher, als es sie noch gab. Heute gibt es ja keine mehr.“ Ob sie etwas gemerkt habe, frage ich, was die Nazis mit den Juden gemacht haben. „Ja“, sagt sie, eines Tages sei ihr Mann zu ihr gekommen, der habe gesehen, wie die SS `Jüden klopfen´ gegangen sei. Das haben alle gewusst. Nein, richtig war das nicht, was man da gemacht habe, mit den Jüden.“ Und: „Die Jüden sind ja auch Menschen“! Sie spricht von Jüden, und ich kann mir lebhaft vorstellen, wie die Gegend antisemitisch verseucht gewesen ist damals. Unternommen dagegen hat keiner etwas. Auch die Kirche nicht. „Jesus Christus ist der Herr“, denke ich. „Der war Jude. Ohne `ü´!“

Dritte Szene. Predigerseminar `Petersstift´ in Heidelberg. Am Mittagstisch geht es um neue sprachliche Formen. `Herr´, so meinen einige, sei doch eine sehr maskuline Sprache, die Sprache der Herrschenden, die des Patriarchats. Wo von Herr die Rede ist, da ist auch Unterdrückung, und die Opfer dieser Unterdrückung seien bis heute vor allem Frauen. Deshalb sei die Rede von `Jesus Christus als dem Herrn´ obsolet und für heutige Christinnen und Christen nichtssagend. „Aber das ist doch mit Martin Luther dialektisch zu verstehen“, halte ich dagegen, „Jesus Christus ist doch Herr und Knecht. Der Knecht aller!“

Vierte Szene. Ich sitze vor einem leeren Blatt in meinem Doppelzimmer im `Petersstift´. Der Kopf raucht. Am Montagmittag werde ich auf dem heißen Stuhl sitzen und zum ersten Mal eine Andacht im Kreise der Kolleginnen und Kollegen leiten. Vorne, in der Kapelle des `Petersstifts´. Ich sehe mich im Geiste bereits hinter dem Lesepult stehen. Etwas nervös. Alle werden aufmerksam zuhören, was ich sage. Und ich habe so einen Text. „Alle Zungen sollen bekennen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters“, werde ich lesen.

Und dann werde ich sagen, wer Jesus Christus als der Herr heute für mich ist. Und wo er ist. Ich werde sagen, welche Bilder mir da einfallen:

das Kind, das in den Slums von Rio de Janeiro im Müll spielt; die alte Frau, die schon an geistiger Verwirrung leidet, und in den Trümmern von Sarajevo umherirrt und nicht mehr weiß, wo sie wohnt und wie sie heißt;

die Näherinnen, die in Seoul ihre Arbeitskraft für deutsche Betriebe verkaufen müssen;

die israelischen Frauen, die jeden Freitag in Jerusalem für den Frieden demonstrieren;

der Obdachlose, der in Paris bei Temperaturen unter Null nicht weiß, wo er die nächste Nacht zubringen wird;

die Prostituierten in Bangkok, die sich um ihrer Kinder willen an japanische und deutsche Touristen verdingen müssen;

der zum Tode Verurteilte, der seit Jahren in den USA auf seine Hinrichtung wartet und seine Unschuld beteuert;

der Industrielle, der aus seinem christlichem Glauben heraus, aber gegen seine eigenen wirtschaftlichen Interessen für die 4-Tage-Woche eintritt und sich dabei bei seinen rein kapitalistisch denkenden Freunden verhasst macht;

der Arbeiter, der im Kernforschungszentrum Karlsruhe letzte Woche radioaktiv verstrahlt wurde.

Mit ihnen ist und bei ihnen ist Jesus Christus, der Herr. Gegen die Herren dieser Erde. Amen.

2 Predigt zu Phil 2, 11, gehalten im Rahmen einer Mittagsandacht im Predigerseminar `Petersstift´ in Heidelberg am 29. November 1993, 12.00-12.15 Uhr.

2. „Danach sah ich…“ (Off 7, 9-12+13-17) Vom Licht an Weihnachten3

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater und dem Herrn Jesus Christus. Das biblische Wort für die Predigt steht in der Offenbarung des Johannes im 7. Kapitel, Verse 9-12 und 13-17, der sog. `Apokalypse´: