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Das vorliegende Buch behandelt das Leben und Werk des bedeutenden protestantischen deutschen Theologen Dietrich Bonhoeffer (2.2.1906 - 9.4.1945), der im Widerstand gegen Hitler sein Leben gelassen hat. Der Titel geht auf das im Gefängnis verfasste berühmte letzte Gedicht Bonhoeffers zurück. Im Zentrum der Ausführungen stehen Dietrich Bonhoeffers Lebensweg und die Umwelt, die sein Denken mit geprägt hat: Wie war der familiäre Hintergrund des evangelischen Pfarrers, der ohne binnenkirchlichen Hintergrund von außen in die Kirche kam und für das Evangelium Jesu Christi eingetreten ist wie kein anderer seiner Zunft in der Zeit des Nationalsozialismus? Sodann geht es um das Werk, das Dietrich Bonhoeffer der Nachwelt hinterlassen hat und das größtenteils erst nach seinem Tode zur Veröffentlichung gelangte: Was macht das Denken des Theologen aus, der im Alter von 21 Jahren seine theologische Doktorarbeit beendete, mit 24 Jahren alle Vorraussetzungen für eine akademische Karriere zum Professor erfüllt hatte und sich dennoch dafür entschied, mit seinen vielfältigen Begabungen der Kirche zu dienen? Und schließlich: An welchen Stellen ist die Wirkung des Mannes, der aus seinem Glauben heraus am militärischen Widerstand gegen den Diktator Hitler beteiligt war, heute noch spürbar - welcher Glaube, welche Überzeugungen und welche Motive stehen hinter Dietrich Bonhoeffers Handeln und sind für ihn leitend gewesen? Und was können wir heute daraus lernen? Das vorliegende Buch ist für alle, die auf Bonhoeffers Leben, Denken, Glauben und Handeln neugierig sind; für interessierte Christinnen und Christen aller Fachrichtungen; für alle, die an der kirchlichen Zeitgeschichte und an der Geschichte des deutschen Widerstandes gegen Hitler interessiert sind; für alle Frauen und alle Männer, die mit Bonhoeffers Welt einmal in Berührung gekommen sind und jetzt gerne tiefer in die Materie eintauchen möchten; für anspruchsvolle Jugendliche, die eine Orientierung im Glauben suchen; für Theologen und Nicht-Theologen und für philosophisch Interessierte, die gerne über sich selbst und über Gott und die Welt nachdenken. Das Buch will dazu beitragen, sich einem Christen anzunähern, der für seinen Glauben und für seine Mitmenschen in unmenschlicher Zeit eingetreten ist.
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Seitenzahl: 609
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Salome,
Balthasar,
Gloria
und
Gabriel
zum besseren Verständnis
von
Vergangenheit
Gegenwart
und
Zukunft
herzlich
zugeeignet
„Nicht das Beliebige,
sondern das Rechte tun und wagen,/
nicht im Möglichen schweben,
das Wirkliche tapfer ergreifen,
nicht in der Flucht der Gedanken,
allein in der Tat ist die Freiheit.“
Dietrich Bonhoeffer,
Stationen auf dem Weg zur Freiheit
(21.7.1944)
Vorwort
1. Kindheit und Jugend
2. Die Studienjahre
3. Vom Kirchenkampf zur Ökumene
4. Im Widerstand gegen Hitler
5. Im Gefängnis
6. Das Ende
7. Rezeption: Dietrich Bonhoeffer heute
8. Eckdaten der politischen Ereignisse
9. Lebensdaten Dietrich Bonhoeffers
10. `Who is who´
Zum Bild des Einbands
Nachwort
Glossar
Literaturverzeichnis
„Von guten Mächten treu und still umgeben/behütet und getröstet wunderbar,/so will ich diese Tage mit euch leben/und mit euch gehen in ein neues Jahr.“1
Diese Zeilen aus dem Gedicht „Von guten Mächten“ stammen von dem weltweit wohl bedeutendsten deutschen Protestanten des Zwanzigsten Jahrhunderts: Dietrich Bonhoeffer. Seine Worte über die guten Mächte, die einen im Leben begleiten mögen, sind Ende 1944 in dem gefürchteten Kellergefängnis der `Geheimen Staatspolizei´ (Gestapo) in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin entstanden. Sein Verfasser, am Widerstand gegen Adolf Hitler2 - Diktator, Massenmörder, Psychopath, Neurotiker und Verbrecher3 - beteiligt, sollte zwar in ein neues Jahr gehen. Aber Dietrich Bonhoeffer hat Silvester 1945 nicht mehr erlebt. Der evangelische Theologe, Pastor und Dichter starb im Konzentrationslager Flossenbürg einen grausamen Märtyrertod, von den Nationalsozialisten ermordet wie viele andere Gegner des Naziregimes und so ein der Opfer der Shoah4 – sechs Millionen europäischer Juden, hilflose Kranke und oppositionelle Gesunde, Sinti und Roma, Mitglieder aller christlichen Konfessionen, Katholiken, Protestanten, Zeugen Jehovas, Mitglieder aller Parteien, Sozialdemokraten, Sozialisten, Kommunisten und Liberale, Bürgerliche und Unbürgerliche, Homosexuelle und Heterosexuelle. Dietrich Bonhoeffer gilt heute wegen seines Einsatzes für die Menschlichkeit aus seinem Glauben heraus als einer der wenigen „Heiligen“5 , die wir evangelischen Christinnen und Christen kennen bzw. überhaupt akzeptieren. Wie kein anderer Theologe wurde Bonhoeffer nach dem Krieg gelesen und sein Handeln weltweit geachtet – bei Christen wie bei Nichtchristen, bei Agnostikern wie bei Nihilisten, bei Atheisten wie bei Angehörigen anderer Konfessionen.
Vor ein paar Jahren wurde vielerorts Dietrich Bonhoeffers öffentlich gedacht. Dabei erstreckte sich, um genau zu sein, der Zeitraum des Gedenkens vom Datum der Wiederkehr seines 60. Todestages am 9. April 2005 bis zu den Jubiläumsfeiern zu seinem Geburtstag, der sich am 4. Februar 2006 zum hundertsten Mal jährte. Zwischen diesen beiden Eckdaten ging es darum, sich an den großen Theologen, Schriftsteller und Widerstandskämpfer angemessen zu erinnern. Dies gilt auch heute: sich Dietrich Bonhoeffers angemessen zu erinnern. Und es geht, wie schon so häufig vor uns, darum, die Frage zu beantworten: Wer ist Dietrich Bonhoeffer für uns heute? Was ist für sein Werk charakteristisch? Und was ist die Wirkung, die er durch sein Werk nach seinem Tod hinterlassen hat?
Während die Täter, Gesinnungstäter und Mitläufer nach der Befreiung Deutschlands vom Faschismus später behaupteten, sie seien zu ihren Handlungen von den Nazis gezwungen worden und hätten von all dem Unrecht nichts gewusst, sind Dietrich Bonhoeffer, seine Familie und seine Freunde von Anfang an über die Verbrechen der Nazis informiert gewesen.6 Deshalb bewies Bonhoeffer, seinem Glauben und seinem Gewissen folgend, den Mut, den der Großteil seiner Kirche und auch der nicht vom Nazi-Bazillus infizierte Teil des deutschen Volkes nicht gehabt hatte: Er war an den Vorbereitungen des militärischen Widerstands gegen Hitler beteiligt, mit dem Ziel, den Diktator gewaltsam zu töten. Und er war auch selbst dazu bereit – sich dessen bewusst, dass, wer jemanden tötet, damit Schuld 7 auf sich lädt. Er wollte dadurch Schlimmeres verhindern.
Dietrich Bonhoeffer wusste, wie gesagt, sehr früh von den Verbrechen gegenüber den Juden und er wusste auch von den Morden an behinderten und kranken Kindern8 und Erwachsenen. Einem Staat, der das Leben seiner Bürger vernichtete, statt es zu schützen, einem Staat, der Wehrlose und Kranke tötete9, dem konnte aus Verantwortung gegenüber Gott und den Menschen nur die Gefolgschaft aufgekündigt werden – so Bonhoeffers Überzeugung.10 Nur das Militär war nach der brutalen Zerschlagung der bürgerlichen und der kommunistischen politischen Opposition noch in der Lage, diesen Schritt zu tun.11 Das Attentat des 20. Juli 1944 ist bekanntlich fehlgeschlagen.12 Das misslungene Attentat steigerte Hitlers Popularität noch einmal: Es wurde als Zeichen der Vorsehung interpretiert, dass der Diktator – wieder einmal – überlebt hatte! Mit unerbittlicher Härte ging das Regime nun gegen die Attentäter vor und die Repressalien, denen die gefangenen Hitler-Gegner und auch der sich zu diesem Zeitpunkt in Haft befindliche Bonhoeffer ausgesetzt waren, wurden nach dem Attentat erhöht. Der Deutschen Wehrmacht, zu dem der militärische Geheimdienst, genannt `Abwehr/Ausland im Oberkommando der Wehrmacht´ (OKW), in dem Bonhoeffer zum Schluss mitarbeitete, gehörte, wurden nach dem Attentat keinerlei Privilegien mehr eingeräumt.
Aus Respekt vor seinem Mut und der Wertschätzung für das, was Dietrich Bonhoeffer mit seinen Freunden im Widerstand an persönlichem Leid und persönlicher Opferbereitschaft auf sich genommen hat, ist dieses Buch nach langen Studien zu Bonhoeffer und seiner Zeit entstanden. Natürlich wäre es ohne die unermüdliche Arbeit von Dietrich Bonhoeffers Freund und Weggefährten Eberhard Bethge nicht zu denken, der akribisch das ihm vorliegende Material seines Freundes sicherte, sichtete, zusammentrug, publizierte, bis an sein Lebensende dessen Erbe bewahrte und auf das ich, wie viele andere vor mir, zurückgreifen konnte.13 Eberhard Bethge hat mit seiner Biographie über Dietrich Bonhoeffer Maßstäbe gesetzt, an der sich jede andere Annäherung an Bonhoeffers Leben und Werk messen lassen muss.14 Berge von Sekundärliteratur sind zwischenzeitlich dazugekommen.15 Bildbände, die erschienen sind, nehmen Leserinnen und Leser mit in eine untergegangene Welt.16 Auch im Internet ist zwischenzeitlich sehr viel über Dietrich Bonhoeffers Leben und Werk in Erfahrung zu bringen.17
Das ist sehr erfreulich. Erfreulich sind auch die vielen Formen der Erinnerung an Dietrich Bonhoeffer. Eine Form der Erinnerung ist, ein Haus nach dem zu Erinnernden zu benennen.
Der Kirchengemeinderat der evangelischen Kirchengemeinde Kadelburg, in der ich zusammen mit meiner Frau, Pfarrerin Andrea Kaiser, von 1998 bis 2008 im Jobsharing den Dienst als Gemeindepfarrer versah, beschloss auf unseren Antrag 2005 hin einstimmig, das bis dato namenlose Kadelburger `Evangelische Gemeindehaus´ Dietrich Bonhoeffer zu Ehren in `Dietrich-Bonhoeffer-Haus´ umzubenennen. Die kleine Diaspora-Gemeinde ganz im Süden Deutschlands, unmittelbar an der Grenze zur Schweiz gelegen, von deren heutigen Mitgliedern viele nach dem Krieg aus Deutschlands Osten zugezogen waren, würdigte damit das Leben und das Werk eines Theologen, der vielen Menschen durch sein Denken und seine Texte im Glauben weitergeholfen hat. Außerdem ehrte sie einen verantwortlich handelnden Christen, der in schwieriger Zeit in Deutschland gebetet und das Gerechte getan hat. Mit dieser Namensgebung sollte die Erinnerung an Dietrich Bonhoeffer für die Zukunft wachgehalten werden.
Kadelburg, 20. Juli 2014
Thomas O. H. Kaiser
1 Dietrich Bonhoeffer, Von guten Mächten (1944), in: ders., Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Eberhard Bethge, München 141990, 219. Das Gedicht privater Natur, in einem Brief Bonhoeffers vom 19.12.1944 an Maria von Wedemeyer überliefert, ist das letzte Gedicht, das der gefangene Bonhoeffer im Kellergefängnis der Prinz-Albrecht-Straße verfasst hat, vgl. Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW) 8, 607f.). In der Nachkriegszeit vielfach vertont, hat es so auch – außergewöhnlich für ein privates Gedicht – als Lied Eingang ins deutsche Evangelische Gesangbuch (EG 65) gefunden. In vielen Gemeinden in Deutschland wird es regelmäßig zum Jahreswechsel gesungen. Es gibt über 50 musikalische Fassungen, von denen sich zwei durchgesetzt haben: Zum einen die 1959 in Ost-Berlin entstandene Melodie von Otto Abel (1905-1977), zeitweise Landeskirchenmusikdirektor der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, die in der DDR populär war und Eingang in den Stammteil des EG gefunden hat; zum anderen die musikalische Fassung von Siegfried Fietz (geb. 1946), eine gefällige Melodie im Sechsachteltakt, eher dem Sacro-Pop zuzurechnen, die sich derzeit in den Gemeinden in der Bundesrepublik Deutschland durchzusetzen scheint. Zur Interpretation des Gedichts, vgl. Jürgen Henkys, Geheimnis der Freiheit. Die Gedichte Dietrich Bonhoeffers aus der Haft. Biographie, Poesie, Theologie, Gütersloh 2005, 262-287. Bonhoeffers Gedichte sind samt und sonders in DBW 8 (1998) veröffentlicht worden. Das Original liegt in Maria von Wedemeyers Nachlass in der Houghton Library in Harvard.
2 Auf die im Druck kursiv gesetzten Namen – mit Ausnahme von Hitler und der verbrecherischen Führungsriege der Nazis – wird im Personenverzeichnis im Anhang gesondert eingegangen. Das soll Leserinnen und Lesern ermöglichen, sich bei der Fülle der Personen schnell einen Überblick zu verschaffen. Informationen über die besondere Terminologie der Nazis und ihre Ideologie sowie über das von ihnen errichtete Terrorsystem sind aus den vielen Standardwerken zum Thema, die inzwischen erschienen sind, sowie im Internet leicht ersichtlich. Ich verzichte deshalb in diesem Buch bei der Erwähnung von Begriffen wie NSDAP, SA, SS, KZ usw. auf eine ausführliche Erklärung oder auf die nähere Entfaltung der historischen Hintergründe. Ich verweise stattdessen auf Wolfgang Benz/Hermann Graml/Hermann Weiß, Enzyklopädie des Holocaust, Stuttgart 1997; Ian Kershaw, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretation und Kontroversen im Überblick, Reinbek bei Hamburg 1999 und ders., Hitler. 1889-1936 (Bd. 1), München 2013 und 1936-1945 (Bd. 2), München 2013; Martin Broszat, Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München 2000; Daniel J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, München 2000; Anna Maria Sigmund, Die Frauen der Nazis, Bd. I+II, Wien 1998, München 112000. Im Internet gibt es unzählige Links zum Thema. Informative Homepages sind z.B. https://www.hagalil.com und https://www.topographie.de (beide Links aufgerufen am 11.10.2024).
3 Hitler ist dem deutschen Historiker und Publizisten Sebastian Haffner (1907-1999) zufolge ein Verbrecher, weil er „zahllose harmlose Menschen (hat) umbringen lassen, zu keinem militärischen oder politischen Zweck, sondern zu seiner persönlichen Befriedigung“ (Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, München 221978, 155).
4 In der Begrifflichkeit über die ungeheuren Verbrechen der Nazis gegen die Menschlichkeit schließe ich mich dem Heidelberger Historiker Prof. Dr. Götz Aly (geb. 1947) an: „Das Wort Holocaust verbirgt, was Deutsche anrichteten. Sie trieben die Juden Europas, derer sie habhaft werden konnten, in Judenhäuser, Lager und Ghettos. Hunderttausende verhungerten dort, erlagen Kälte und Krankheiten. Die anderen deportierten die Deutschen und ihre Helfer – zu Fuß, auf Lastwagen oder in Zügen. Am Zielort warteten Erschießungs- oder Gaskammerkommandos. Einige der Todgeweihten hatten die Massengräber auszuschachten, die Krematorien zu befeuern und zu füllen“ (Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933, Frankfurt am Main [im Folgenden: FfM] 2011, 2012, 16f.). Theodor W. Adorno hatte die Shoah treffend als „Mord an Millionen durch Verwaltung“ bezeichnet (Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, FfM 51988, 355). Günther Anders meinte, „daß Auschwitz unserer Epoche seinen Stempel aufgedrückt hat…“ (Günther Anders, Wir Eichmannsöhne. Offener Brief an Klaus Eichmann, München 1964, 21988, 60).
5 So Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Huber (geb. 1942), Mitherausgeber der Dietrich-Bonhoeffer-Werke (DBW) im Jahr 2005. Schon Payne Best, Bonhoeffers Mitgefangener, mit dem er seine Tabakrationen geteilt hatte, hatte Bonhoeffer als einen guten Menschen bezeichnet, der „etwas von einem Heiligen“ hatte (Payne Best, zit. nach Ferdinand Schlingensiepen, Dietrich Bonhoeffer 1906-1945. Eine Biographie, München 2005, 384). Zur Liste der Heiligen, darunter auch Dietrich Bonhoeffer, im Internet: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Seligen_und_Heiligen/B (aufgerufen am 11.10.2024).
6 Vgl. Marikje Smid, Hans von Dohnanyi/Christine Bonhoeffer. Eine Ehe im Widerstand gegen Hitler, Gütersloh 2002, 167 und 249f.
7 Sabine Dramm brachte es auf den Punkt: „Das Dilemma der Schuld bestand für Bonhoeffer darin, daß er sich schuldig machte, wenn er der Gewalt tatenlos zusah, und daß er sich schuldig machte, wenn er, getarnt als Agent der Abwehr, indirekt mit Umsturz und Gewalt und konkret: mit der Tötung von Menschenleben verflochten war“ (Sabine Dramm, Dietrich Bonhoeffer. Eine Einführung in sein Denken, Gütersloh 2001, a. a. O., 212). Es findet sich in Bonhoeffers Nachlass – der sich heute in der Staatsbibliothek zu Berlin-Stiftung Preußischer Kulturbesitz befindet, nachdem er von Eberhard Bethge und seiner Frau 1996 dorthin übergeben und 2009 dank der Hilfe vieler Unterstützer renoviert worden war – übrigens kein Buch, das sich mit der Schuld speziell beschäftigt; wohl aber gibt es verstreute Texte von Bonhoeffer, die Schuld zum Thema haben, z.B. in der `Ethik´ über `Schuld, Rechtfertigung und Erneuerung´, vgl. DBW 6, 125-136 und weiterführend Barbara Green, Die politische Dimension von Schuld und Versöhnung bei Dietrich Bonhoeffer, in: Wolfgang Huber (Hg.), Schuld und Versöhnung in politischer Perspektive. Dietrich-Bonhoeffer-Vorlesungen in Berlin (IBF Bd. 10), Gütersloh 1996, 11-20, und Christine Schließer, Schuld durch rechtes Tun? Verantwortliches Handeln nach Dietrich Bonhoeffer, Neukirchen-Vluyn 2006 (diss. theol.).
8 Als chronisch krankes Kind hatte ich unter `spastischer Bronchitis´ zu leiden, was mich im regelmäßigen Abständen über Tage ans Bett fesselte und 15 Jahre lang auf starke Medikamente angewiesen sein ließ. Einmal waren die Atemnot auslösenden Krämpfe so stark – Asthmasprays gab es damals noch nicht – und das Fieber so hoch, dass ich von den Ärzten aufgegeben und der Gnade Gottes anempfohlen wurde. Die Erfahrung des Krankseins hat mich schon früh sensibilisiert für die menschenverachtenden Implikationen des sozialdarwinistischen Weltbildes der Nazis, in dem Kranke als die `Volksgemeinschaft´ belastende `unnütze Esser´ angesehen wurden.
9 Mit dem Begriff `Aktion T4´ bezeichneten die Nazis ihre systematische und zentralisierte Ermordung Behinderter und psychisch Kranker. Im Prinzip geht das Verbrechen auf die Idee der `Rassenhygiene´, dem Glauben an die menschliche Ungleichheit der Nazis, zurück. Das aus dem Griechischen stammende Wort `Euthanasie´ (griech.: „leichter, guter Tod“) meinte ursprünglich die Vorbereitung auf den Tod und die Erleichterung des Sterbens. Erst mit dem sozialdarwinistischen, rassistischen und eugenischen Gedankengut des 19. und 20. Jahrhunderts zieht der Gedanke der Tötung Kranker oder Behinderter in die Geschichte ein. Im Wikipedia Artikel zur `Geschichte der Euthanasie´ wird diese Begriffswandlung im Zeitraum von 1902-1934 anhand einiger Lexika-Definitionen gut dargestellt (https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Euthanasie, aufgerufen am 11.10.2024). Grafeneck ist 1940 Ort des Beginns des `Euthanasie´-Programms der Nazis, das ihren Ausgangspunkt im „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14.7.1933 nimmt. Die in einer Villa untergebrachte Sonderverwaltung in der Berliner Tiergartenstraße 4 gab der Aktion nach 1945 ihren Namen. Die Nazi-Führung selbst sprach von der Tötung `lebensunwerten Lebens´ oder von der `Aktion Gnadentod´. Damit sollten die Verbrechen verschleiert werden. War mit `Euthanasie´ bisher die Erleichterung des Sterbens oder die Sterbehilfe auf Bitte unheilbar erkrankter, dem Tode naher Patienten gemeint, bezeichnete er Begriff nun die Tötung von Kranken, sozial Unerwünschten oder Behinderten. Heute hat sich in der Forschung die Bezeichnung `Krankenmord´ durchgesetzt, wobei auch diese Bezeichnung nicht ganz treffend ist, da sie nicht alle Opfer der Euthanasie-Verbrechen einschließt. Denn in den Heil- und Pflegeanstalten gab es auch Personen, die als „politisch unliebsam galten, sozial unangepasst oder auf Betreiben der Familie entmündigt waren“ (Thomas Stöckle, Grafeneck 1940. Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland, Tübingen 2002, 10). Der T4-Aktion fielen beispielsweise auch Alkoholiker zum Opfer: Die biologistische Sichtweise auf Suchtkranke ließ sie als unheilbar, da so geboren und veranlagt, gelten. In einem Jahr wurden in Grafeneck 10654 Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen auf Geheiß der Nazis ermordet, vgl. weiterführend die Untersuchungen des Heidelberger Historikers Götz Aly (Hg.), Aktion T4.1939-1945. Die `Euthanasie´-Zentrale in der Tiergartenstraße 4, Berlin 21989. Über 400000 Menschen wurden in der Folge dieses Programms sterilisiert, vgl. Gabriel Richter u.a., Sie holten sie mit grauen Bussen. Die Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen 1933-1945, Emmendingen 1993, 57f. Ziel war es, vor allem, „unheilbar Geisteskranke zu töten. Das sei aufgrund der Kriegssituation erforderlich, da die Kranken für das deutsche Volk nur eine Last darstellten“ (Ernst Klee, `Euthanasie´ im Dritten Reich, überarbeitete Neuausgabe Frankfurt a. M. 2010, 220f.). Dr. h.c. Ulrich Bach (1931-2009), nach seiner Polioerkrankung an den Rollstuhl gefesselt, reflektierte den behinderten Menschen als Gegenstand der Theologie, vgl. Ulrich Bach, Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar, Neukirchen-Vluyn 2006.
10 Vgl. weiterführend Christine-Ruth Müller, Dietrich Bonhoeffers Kampf gegen die nationalsozialistische Verfolgung und Vernichtung der Juden. Bonhoeffers Haltung zur Judenfrage im Vergleich mit Stellungnahmen aus der evangelischen Kirche und Kreisen des deutschen Widerstandes (diss. theol.), München 1990, 290-303. Die Verfasserin macht darauf aufmerksam, dass Bonhoeffer das Recht auf das menschliche Leben in seiner `Ethik´ diskutiert und zu dem Schluss gelangt: „Kommen wir also zu dem Ergebnis, dass auch die Rücksicht auf die Gesunden kein Recht zur vorsätzlichen Tötung unschuldig kranken Lebens gibt, so ist damit die Frage der Euthanasie negativ entschieden. Die heilige Schrift fasst dieses Urteil in dem Satz zusammen: `Den Unschuldigen … sollst du nicht erwürgen´ (Ex 23,7)“ (DBW 6, 179-191, Zitat auf 191). Bonhoeffer hatte schon im August 1933 im Brief an seine Großmutter Julie Bonhoeffer auf dem Hintergrund des `Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses´ das Vorhaben, das Kranke durch Gesetze aus der Gesellschaft auszutilgen, als „Wahnsinn“ bezeichnet (Dietrich Bonhoeffer, Ethik, a. a. O., 191, Anm. 83).
11 Helmut Gollwitzer erinnerte sich an ein Gespräch mit Dietrich Bonhoeffer: Beide begleitete „der Attentatsgedanke ständig, und sicher haben wir über die Haltung der Generale gesprochen. Wir waren ja beide mit oppositionellen Generalen verbunden. Das waren die einzigen, die das hätten machen können“ (Helmut Gollwitzer, Skizzen eines Lebens, Gütersloh 1998, 174. In Anmerkung 54 finden sich auch Verweise auf Parallelstellen bei Dietrich Bonhoeffer, in: DBW 16, a. a. O., 46+538).
12 Ich verzichte darauf, den Tagesablauf des 20. Juli 1944 zu rekonstruieren. Die historischen Fakten sind erforscht, bekannt und dokumentiert. Ich verweise gerne auf einen informativen Film der Deutschen Bundeswehr auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=68KyO6OB23I (aufgerufen am 11.10.2024). Empfehlenswert ist auch der Dokumentarfilm: https://www.youtube.com/watch?v=BjiT1NSgIZo (aufgerufen am 11.10.2024). Das Attentat vom 20. Juli ist der „letzte(n), zu späte(n) und vergebliche(n) Widerstand Preußens gegen eine Diktatur, die das Deutsche Reich auf Dauer zerstört hat“ (Bodo Scheurig, Preußischer Ungehorsam – Tradition und Verfall, in: DIE ZEIT Nr. 29 v. 16.7.1993, 28). Besonders in den vergangenen zehn Jahren ist zum 20. Juli 1944 eine Fülle empfehlenswerter Literatur erschienen. Gerne verweise ich zum Einstieg ins Thema auf die informativen Bücher von Gerd R. Ueberschär, Stauffenberg. Der 20. Juli 1944, FfM 2004, bes. 14-26 (Chronik der Ereignisse) sowie ders., Für ein anderes Deutschland. Der Widerstand gegen den NS-Staat, FfM 22006 und (trotz aller berechtigter methodischer Kritik an dem historischen Ansatz des Professors der restaurativen Gustav-Siewerth-Akademie Alma von Stockhausens [geb. 1927] in Bierbronnen), Guido Knopp, Sie wollten Hitler töten, München 2004 (ausgewählte Literatur zum Thema auf: 333-336). Durch folgende Links kann man sich ebenfalls einen guten Überblick verschaffen: https://de.wikipedia.org/wiki/Claus_Schenk_Graf_von_Stauffenberg,https://de.wikipedia.org/wiki/Attentat_vom_20._Juli_1944 und https://de.wikipedia.org/wiki/Personen_des_20._Juli_1944 (alle Links aufgerufen am 11.10.2024). Weitere Literaturangaben befinden sich im Literaturverzeichnis.
13 Eberhard Bethge (1909-2000), Bonhoeffers Freund und späterer Ehemann von dessen Nichte Renate Bethge, geb. Schleicher (1925-2019), ist es zu verdanken, dass Dietrich Bonhoeffer nicht in Vergessenheit geraten ist. Schon an Bonhoeffers erstem Todestag gab er unter dem Titel `Auf dem Wege zur Freiheit´ erstmals dessen Gedichte aus der Tegeler Haft heraus. Bethge war der erste, der eine Biografie über Bonhoeffer verfasst hat: die unübertroffene 1129 Seiten starke Bonhoeffer-Biografie, die inzwischen zahlreiche Auflagen erlebt hat und in mehrere Sprachen übersetzt worden ist. Bethge gliedert Bonhoeffers Leben in drei Teile: die des wissenschaftlichen Theologen (bis 1931), die des konsequenten Christen (bis 1940) und die des kritischen Zeitgenossen (bis 1945). Sie hat deshalb als Untertitel: „Theologe – Christ – Zeitgenosse“. Auf diese Biografie, die u.a. wegen ihrer Detailfülle und ihrem theologischen Schwerpunkt für heutige Leserinnen und Leser relativ schwer zugänglich ist, habe ich in den folgenden Ausführungen zurückgreifen können; sie liegt auch als Taschenbuch vor, vgl. Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie, München 61986, 1989 (= DB). Bethge bleibt bis heute der wichtigste Biograph Bonhoeffers, vgl. F.A.Z v. 12.10.2005. Aus Eberhard Bethges Feder stammt auch die kurze Bildmonografie: Dietrich Bonhoeffer in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt (rororo-bildmonographien; 236), Reinbek 1976, 21983. Das freundschaftliche Verhältnis zwischen den beiden wurde inzwischen untersucht, vgl. Christian Gremmels/Wolfgang Huber (Hg.), Theologie und Freundschaft. Wechselwirkungen Eberhard Bethge und Dietrich Bonhoeffer, Gütersloh 1994. Das Buch versammelt sieben Beiträge unterschiedlicher Autoren, die sich mit verschiedenen Aspekten dieser Freundschaft beschäftigen und diese u.a. in Relation zu Bonhoeffers Glauben und Theologie setzen. John W. de Gruchy (geb. 1939) aus Südafrika hat eine Biografie über Bonhoeffers Biografen geschrieben, vgl. John W. de Gruchy, Eberhard Bethge. Freund Dietrich Bonhoeffers, Gütersloh 2007.
14 Über Dietrich Bonhoeffer sind zahlreiche Publikationen erschienen, darunter auch einige Biografien, vgl. Edwin H. Robertson, Dietrich Bonhoeffer. Leben und Verkündigung, Göttingen 1989; Christian Feldmann, „Wir hätten schreien müssen“. Das Leben des Dietrich Bonhoeffer, Freiburg-Basel-Wien 1998; Renate Wind, Dem Rad in die Speichen fallen. Die Lebensgeschichte des Dietrich Bonhoeffer, Weinheim und Basel 1990, 21994; Ferdinand Schlingensiepen, Dietrich Bonhoeffer 1906-1945, München 2005; Josef Ackermann, Dietrich Bonhoeffer – Freiheit hat offene Augen. Eine Biographie, Gütersloh 2005 und Eric Metaxas, Bonhoeffer. Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet, Holzgerlingen 42012. Hatte noch 2005 bei Amazon eine Anfrage nach Büchern von und über Dietrich Bonhoeffer 377 Treffer erbracht, so liefert die Internet-Suchmaschine `Google´ im Juni 2014 genau 1897 Ergebnisse! Eine sehr gute Zusammenstellung älterer und neuerer Sekundärliteratur zu Dietrich Bonhoeffer findet man im Lesesaal der kanadischen Tyndale University College & Seminary, bei der University of New York und unter https://www.columbia.edu/cu/lweb/img/assets/5435/PrimarySources.pdf (aufgerufen am 11.10.2024).
15 Die internationale Bibliografie zu Dietrich Bonhoeffer zählt ca. 4000 Titel, vgl. Ernst Feil (Hg.), Internationale Bibliographie zu Dietrich Bonhoeffer (unter Mitarbeit von Barbara E. Fink), Gütersloh 1998. Publikationen, die nach Abschluss von Ernst Feils internationaler Bibliografie herauskamen, finden sich zunächst in: Dietrich Bonhoeffer Jahrbuch 2003, hg. v. Victoria Barnett u.a., Gütersloh 2003, 153-180 und dann in den folgenden Jahrbüchern. Zu empfehlen ist der RGG-Artikel des Kasseler Bonhoeffer-Experten und langjährigen Vorsitzenden der deutschen Sektion der Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft (1986-2008), dem emeritierten Professor für Systematische Theologie (der nach eigenen Angaben seit 2008 Gärtner ist!), Dr. Christian Gremmels (geb. 1941), vgl. Christian Gremmels, Art. Dietrich Bonhoeffer, in: RGG4, Band 1, Tübingen 41998, 1683f.
16 Vgl. Eberhard Bethge/Renate Bethge/Christian Gremmels (Hg.), Dietrich Bonhoeffer. Sein Leben in Bildern und Texten, München 1986, 21989. In dem Bildband befinden sich über 500 Fotos (darunter Familienfotos, Bildpostkarten, Flugblätter, Zeitungsausschnitte, Dokumente), „wobei sich der persönlich-familiäre Bereich immer wieder zu den Umfeldern etwa des Kirchenkampfes oder des politischen Widerstands ausweitet“ (Einband-Klappentext).
17 So etwa auf den Seiten der EKD (https://www.ekd.de/dietrich-bonhoeffer-54680.htm), der Internationalen Bonhoeffer Gesellschaft (https://www.dietrich-bonhoeffer.net/ibg/), im Dietrich Bonhoeffer-Portal (https://www.dietrich-bonhoeffer.net), im United States Holocaust Memorial Museum (https://www.ushmm.org/de), in der Internet Encyclopedia of Philosophy (https://iep.utm.edu/dietrich-bonhoeffer/) oder auf der deutschen (https://de.wikipedia.org/wiki/Dietrich_Bonhoeffer) und englischsprachigen Seite von Wikipedia (https://en.wikipedia.org/wiki/Dietrich_Bonhoeffer) (alle Links (aufgerufen am 11.10.2024).
Dietrich Bonhoeffer wird am 4. Februar 1906 in Breslau – dem heutigen polnischen Wroclaw – zusammen mit seiner Zwillingsschwester Sabine als jüngster Sohn des Professors für Neurologie und Psychiatrie, Dr. Karl Bonhoeffer und dessen Frau Paula, geb. von Hase, geboren.18 Die Familie – insgesamt sind es acht Kinder19 – entstammt dem alten deutschen Adel und dem aufstrebenden Bürgertum und gehört zur „Bildungselite des Deutschen Reiches“20. Unter den Vorfahren des Vaters befinden sich kaisertreue Monarchisten und liberale Republikaner, Goldschmiede, Bürgermeister, Pfarrer und Ärzte. Seit 1513 sind die Bonhoeffers in Schwäbisch-Hall beheimatet, an einigen Häusern befindet sich noch heute ihr Familienwappen von 1590. 21 Unter den preußischadligen Vorfahren der Mutter gibt es Gutsbesitzer, Militärs, Maler und Musiker – auch einen Demokraten, der in der Festung Hohenasperg22 gesessen hat, weil er 1848 für die Republik gekämpft hat.23 Die Familie ist sich ihrer Herkunft und Tradition bewusst; dennoch gelten Adelsprivilegien wenig, im Unterschied zu Persönlichkeit und Leistung. Doch bewahrt man sich seinen Standort in der `guten alten Zeit´ und ist tief davon überzeugt, dass das neue Jahrhundert vor allem Frieden, Wohlstand und Fortschritt bringen wird.
Die Fotos aus der Kinderzeit zeigen Dietrich Bonhoeffer als einen aktiven, blond gelockten Jungen mit auffallend weichen Gesichtszügen24 , er wird beschrieben als ein fantasievolles Kind voller Energie und Temperament. Als er sechs Jahre alt ist, zieht die Familie aus der schlesischen Landeshauptstadt nach Berlin25 um, weil der Vater einem Ruf als Professor an das Institut für Neurologie und Psychiatrie gefolgt war und die Leitung der Universitätsnervenklinik der renommierten Berliner Charité übernommen hatte. Von 1912, dem Jahr des Untergangs der Titanic 26 , bis 1948, dem Jahr der Währungsreform in Deutschland, wird Karl Bonhoeffer als eine Koryphäe auf seinem Fachgebiet gehandelt – der Berliner Psychiater und Neurologe schlechthin.27 Die Familie findet ihr Zuhause im Nobel-Stadtteil Grunewald in der Wangenheimstraße 14, einem bürgerlich-herrschaftlichen Haus mit einem großen Garten. Bis zur Pensionierung des Klinikdirektors im Jahre 1935 wird dieses Haus der Mittelpunkt der Familie sein.28 Es ist ein Professorenviertel, in dem die Kinder des `Herrn Geheimrats´, der über die Universität Zugang zu höchsten Regierungskreisen hat, in unmittelbarer Nachbarschaft des Physiknobelpreisträgers Max Planck, des Theologieprofessors Adolf von Harnack und des Historikers Hans Delbrück aufwachsen.29 Die Eltern führen einen standesgemäßen Haushalt; man hat Dienstpersonal – Köchin, Kindermädchen und Chauffeur30 –, wie es in Kreisen des Bürgertums, des Adels und der Akademikerschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts üblich ist.31 Die Erziehung der Kinder verläuft mehr oder weniger nach den autoritären Vorgaben der damaligen Zeit: Gehorsam, Fleiß, Sparsamkeit, Pflichterfüllung und Treue gehören zu den Erziehungsidealen, aber auch Hilfsbereitschaft, Fürsorglichkeit, Barmherzigkeit und Verantwortungsübernahme.32 Eine Nachlässigkeit in der Sprache ist nicht gestattet. Die Kinder werden dazu angehalten, sich selbst zu disziplinieren und sich nicht gehen zu lassen. Im Hause Bonhoeffer gibt es eine klare Rollenverteilung: Der Mann ist für die materielle Existenzsicherung der Familie verantwortlich. Die Frau ist für das Managen des Haushalts und für die Erziehung der Kinder da.33 So ist Karl Bonhoeffer der Patriarch der Familie, der `pater familias´ – der leise und überlegt spricht, sich unter Kontrolle hat, sachlich und rational gesteuert ist und seine Gefühle nach außen im Griff hat. Er verhält sich zu den Kindern zwar gütig; aber körperliche Nähe und Zärtlichkeiten mit ihnen lässt er kaum zu. Sein Arbeitszimmer ist für die Kinder tabu und darf nur in Ausnahmefällen betreten werden. 34 Die Kinder sehen ihn regelmäßig nur beim Mittagessen - pünktlich um zwei Uhr, wenn die Mahlzeit, von den Angestellten gekocht und aufgetischt, von der Familie gemeinsam eingenommen wird; reden dürfen sie bei Tische nur dann, wenn sie gefragt werden. Stärker ist deshalb die Bindung der Kinder an die Mutter, deren Rolle klar definiert ist: Sie ist für das Gefühl zuständig und verkörpert die emotionale Seite. Sie eröffnet den Kindern Freiräume; daneben hat sie dafür zu sorgen, dass die Sorgen des Alltags möglichst von ihrem an der Universität forschenden Gatten ferngehalten werden. All das ist nichts Ungewöhnliches für die Stellung der Frau in der damaligen Zeit in den Kreisen des gehobenen Bürgertums. Ungewöhnlich ist jedoch, dass Paula Bonhoeffer das `Lehrerinnenexamen für mittlere und höhere Mädchenschulen´ (Diplom 1894) abgelegt hat und damit von der Möglichkeit Gebrauch machen kann, ihre Kinder zusammen mit Kindern aus der Nachbarschaft in den ersten Schuljahren selber zu unterrichten. Dem wilhelminischen Schulsystem mit seinen preußischen Erziehungsidealen Ordnung, Sauberkeit und Pflichtbewusstsein steht sie kritisch gegenüber. Überliefert ist ein geflügeltes Wort von ihr: Dem Deutschen werde in der Regel zweimal das Rückgrat gebrochen – einmal in der Schule und einmal beim Militär.35 Sie legt Wert auf eine umfassende Bildung; dazu gehört auch, dass die musikalischen Begabungen der Kinder gefördert werden. 36 Dietrich Bonhoeffer wird deshalb später einmal sehr gut Klavier spielen können, so dass sogar ernsthaft erwogen wird, ob er nicht Musik studieren sollte. Im Blick auf die religiöse Erziehung der Kinder sind Paula Bonhoeffer und ihr Mann wenig kirchlich ausgerichtet, sind nicht praktizierende Protestanten: Die Familie ist nicht in einer Ortsgemeinde aktiv, besucht so gut wie nie den sonntäglichen Gottesdienst, Amtshandlungen wie Taufen übernehmen die nächsten Verwandten. Die Kinder werden nicht in den Kindergottesdienst geschickt; stattdessen übernimmt ihre Mutter ihre religiöse Erziehung selbst.37 Üblich sind im Hause Bonhoeffer Vorlesestunden, regelmäßig liest Paula Bonhoeffer den Kindern aus der Kinderbibel vor, es werden Kirchenlieder gelernt, auch wird vor dem gemeinsamen Essen bei Tisch gebetet; Weihnachten wird entsprechend im familiären Kreis gefeiert.38 Insgesamt gesehen ist man in dieser Zeit vaterländisch und kaisertreu – wie der Protestantismus um die Jahrhundertwende insgesamt. Der Vater trägt in sein Tagebuch, das er regelmäßig an Silvester führt, ein: „Trotz der Kinderzahl 8, die in jetzigen Zeiten vielen erstaunlich erscheint, haben wir den Eindruck, dass es nicht zuviel sind. Das Haus ist geräumig, die Kinder normal entwickelt, wir Eltern noch nicht zu alt und darum bemüht, sie nicht zu verwöhnen und ihnen die Jugend freundlich zu gestalten.“39 Die Familie, zu der selbstverständlich auch Onkel und Tanten gehören, die sich immer wieder einmal mehr oder weniger länger bei den Bonhoeffers aufhalten, ist gastfreundlich und offen, der Familienzusammenhalt – anders als heute40 – sehr groß. Persönlichkeiten des kulturellen und universitären Lebens gehören zum täglichen Umgang, Freunde und Kollegen des Vaters gehen aus und ein. So genießen die Großstadtkinder ein in materieller Hinsicht sorgenfreies Leben, mit Spielzeug, Büchern und einem großen Haus, in das sie ihre Freunde einladen und Kinderfeste feiern. Ihren späteren Erinnerungen zufolge fühlen sie sich geborgen im Schoß der großen Familie und verleben eine unbeschwerte, glückliche Kindheit – das Jahr über in Berlin und in den Ferien im eigenen Ferienhaus im Harz in der Sommerfrische.41 Vergleicht man Dietrich Bonhoeffers Kindheit und Jugend mit der eines gleichaltrigen Kindes, beispielsweise aus Berlins Arbeiterviertel Wedding, so wird der krasse Gegensatz offenbar. In den Arbeiterbezirken leben viele am Rande des Existenzminimums. Kinderarbeit ist – obwohl für Kinder unter zwölf Jahren gesetzlich untersagt – durchaus noch üblich. Dietrich Bonhoeffer wächst im Unterschied zur Mehrheit dieser Kinder privilegiert in der Sicherheit eines Elternhauses inmitten eines großen Geschwisterkreises behütet auf, wird von seinen Eltern gefördert und erhält von vielen Seiten vielfältige Anregungen. Das kann in der damaligen Zeit in Deutschland nicht jeder von sich behaupten…
Vielseitig begabt und interessiert – bereits in seiner Schulzeit von 1913 bis 1919 auf dem humanistisch ausgerichteten Friedrichswerderschen Gymnasium und ab 1919 auf dem ebenfalls den humanistischen Bildungs- und Erziehungsidealen folgenden Grunewald-Gymnasium42 hat sich Dietrich Bonhoeffer neben den Schriftstellern und Philosophen der Antike im altsprachlichen Unterricht und den Klassikern im Deutschunterricht mit den Werken von Friedrich Schleiermacher, Friedrich Naumann und Max Weber auseinandergesetzt –, fasst Bonhoeffer seinen Entschluss, Theologie zu studieren, schon früh. Über die Hintergründe kann nur spekuliert werden: Vielleicht ist es sein Streben nach Selbstverwirklichung und Eigenständigkeit, vielleicht wird die Entscheidung, Theologie zu studieren und Pfarrer zu werden, ausgelöst durch die Erlebnisse des Ersten Weltkrieges43, in dem sein älterer Bruder Walter44 gefallen war. Vielleicht möchte er sich auch in der Wahl seiner Studienrichtung, in der naturwissenschaftlich ausgerichteten Familie Bonhoeffer ein mit Skepsis betrachtetes Unterfangen, vom Kreis der Geschwister absetzen45 und als jüngster Sohn insbesondere seinen Vater herausfordern?46 Für den jungen Dietrich Bonhoeffer jedenfalls beginnt der Weg zur Theologie und zur Kirche persönlich ganz von außen.47 Nicht wie so viele seiner Kommilitonen von einem binnenkirchlichen Kontext – viele Pfarrerskinder studieren noch heute auf den Spuren ihrer Eltern Evangelische Theologie –, sondern von einem weltlichen Lebenshintergrund her kommend, steht zunächst die intellektuelle Auseinandersetzung mit wissenschaftlichtheologischen Problemen im Vordergrund seiner Interessen; die Kirche tritt erst sehr viel später in sein Blickfeld.
Wie für alle Zeitgenossinnen und Zeitgenossen bedeutet der Erste Weltkrieg auch für Dietrich Bonhoeffer, der zu Beginn des Krieges acht und bei dessen Ende zwölf Jahre alt ist, eine große Zäsur. Hatten einige Leute noch bei der Generalmobilmachung am 1. August 1914 auf den Straßen getanzt und gejubelt, so wird bald die ganze erschreckende Wirklichkeit des Krieges offenbar. 48 Zwei Brüder hatten sich 1917 freiwillig gemeldet; sein Bruder Walter war, wie erwähnt, gestorben – einer Kriegsverletzung erlegen. Giftgaseinsätze, der Einsatz von Tanks, ein unendlich großes Massensterben auf den Schlachtfeldern in den „Stahlgewittern“49, für das der Name `Verdun´ steht, sowie erste Ansätze eines industriellen Vernichtungsfeldzuges verändern langsam das Bewusstsein des Einzelnen – auch die bis dahin übliche Symbiose zwischen Staat und Kirche. Es ist nichts Ungewöhnliches für die evangelische Kirche im kaiserlichen Deutschland gewesen, dass sie den Krieg bis dato stets befürwortet hatte. Seit dem Bestehen des christlichen Glaubens ist die Kirche mit Kriegen konfrontiert gewesen. Im kaiserlichen Deutschland wird der Krieg nach vorherrschender Meinung wie ein Handwerk betrachtet, als „bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“50; der Beruf des Soldaten ist gesellschaftlich hoch geachtet. Zum allgemeinen Wertekodex gehört es, sein Leben im Einsatz für das deutsche Vaterland auf dem `Feld der Ehre´ zu lassen.51 Man verspricht sich vom Krieg den Durchbruch elementarer Kräfte, die in einer als kraftlos empfundenen Zeit den Anstoß für religiöse und moralische Neubesinnung liefern können. Der `Lehre vom gerechten Krieg´ zufolge sind die Christen darüber hinaus sogar verpflichtet, an einem gerechten Krieg teilzunehmen, weil es sein Ziel ist, die Freiheit zu gewinnen, sie zu erhalten oder sie zurückzuerobern. Zu dieser Lehre gehören im Wesentlichen drei Kriterien: Der Grund, warum Krieg geführt wird, muss gerecht sein, die Mittel zur Kriegsführung müssen gerecht sein und der Krieg soll sein Ziel erreichen.52 Der Kriegsausbruch wird deshalb im wilhelminischen Deutschland wie ein Volksfest begangen, anlässlich dessen die Straßen festlich geschmückt sind und allerorten Partystimmung herrscht – Teil der Propaganda–Aktionen Kaiser Wilhelms II!53 Geistliche segnen Kanonen und beten für den Sieg. Auf den Koppelschlössern der Soldaten steht `Gott mit uns´ – für Kaiser und Vaterland mit Gottes Geleit und seinem Segen. Das ist wie in Jahrhunderten zuvor die evangelische Devise.54 Feldgeistliche begleiten die Soldaten auf die Schlachtfelder, geben ihnen moralische Unterstützung, kümmern sich um sie nach der Schlacht, spenden den Angehörigen im Todesfall Trost.55 Dieser Krieg wird der bis dato größte in der Geschichte der Menschheit werden! In Europa begonnen, setzt er die Welt binnen kurzem in Brand! Etwa vierzig Staaten sind beteiligt, fast siebzig Millionen Menschen stehen unter Waffen, rund siebzehn Millionen werden sterben. Umgerechnet belaufen sich die Kosten des Krieges auf 950 Milliarden Goldmark – dem entsprechen heute ca. vier Billionen Euro! In Deutschland hatten Vertreter fast aller Parteien den Krieg begrüßt: Liberale wie Max Weber genauso wie Sozialdemokraten wie Friedrich Ebert, der sich für die Bewilligung von Kriegskrediten ausgesprochen hatte. Allein Kommunisten wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sind mit wenigen anderen von Anfang an Kriegsgegner!56
Kaiser und Kirche jedenfalls sind sich in diesem Punkt einig: Die Theologen haben das biblische Diktum „Jedermann sei Untertan der Obrigkeit“ (Römer 13,1) jahrhundertelang eins zu eins auf die jeweilige Gegenwart, das heißt im Fall des Deutschen Reiches auf den monarchistischen Staat übertragen.57 Die Pfarrerschaft hat zwar selbst für sich den Anspruch, unpolitisch und überparteilich zu sein, weist aber de facto eine sehr große Affinität zur Monarchie auf, gegenüber der man – da Obrigkeit – unbedingten Gehorsam aufzubringen habe. Dem Staat gegenüber verhält sich die Kirche loyal. Auch wenn der Staat für die Nöte und Sorgen der aufkommenden Arbeiterbewegung keinerlei Antworten parat hat, ist dies im Kaiserreich nicht Gegenstand kirchlicher Kritik.58 Vereinzelt versuchen Pfarrer wie Adolf Stoecker oder Friedrich von Bodelschwingh, sen. sich für soziale Reformen einzusetzen und das Elend der Massen zu lindern. Die Mehrheit der Pfarrer jedoch denkt monarchistisch und nationalistisch. Die wenigen Pfarrer, die sich der aufstrebenden Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) anschließen, werden mit dem Argument politischer Einseitigkeit von ihren reaktionären Kirchenleitungen vom Dienst suspendiert59 – als ob die Monarchisten nicht einseitig gewesen wären!60
Nach vier Jahren ist der Krieg für das kaiserliche Deutschland verloren. Vier Jahre Weltkrieg, in dem die Kriegsführung grausam und die Verluste beträchtlich waren, sind zu ihrem Ende gekommen. 1918 tritt der Waffenstillstand in Kraft. In Deutschland müssen der Kaiser und damit die Monarchie außenpolitisch unter dem Druck der amerikanischen Regierung und innenpolitisch unter dem Druck der Arbeiter- und Soldatenrevolten abdanken.61 In München sammeln sich Arbeiter, Soldaten und Intellektuelle in `Räten´, Spartakisten und Anarchisten kämpfen um die Macht, der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner wird ermordet. Reichskanzler Prinz Max von Baden verkündet am 9. November 1918 eigenmächtig, das heißt ohne Absprache mit dem Kaiser, den Verzicht von Wilhelm II. auf den Thron und ernennt Friedrich Ebert von der SPD, dem Vorsitzenden der stärksten Reichstagsfraktion, zum neuen Reichskanzler. Am 9. November 1918 ruft Philipp Scheidemann im Berliner Reichstag die Republik aus.62 Bis ins Jahr 1919 gehen die Auseinandersetzungen darüber, welche Staatsform für Deutschland gewählt werden soll – bürgerliche Republik oder Räterepublik?63 Die extreme Rechte wie die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und die Monarchisten setzen auch weiterhin der jungen Republik zu: Die Niederlage des unbesiegbaren deutschen Heeres, so die Ansicht vieler im rechten Spektrum, sei nicht durch den Feind von außen, sondern durch die ihr `Vaterland´ verratende Arbeiterklasse verursacht worden, die das Heer feige von hinten `erdolcht´ hätte.64 Insbesondere die Sozialdemokraten – zusammen mit den Kommunisten das Feindbild des kommenden Jahrzehnts schlechthin – hätten Deutschland durch die Unterzeichnung des Friedensvertrages zerstört und seien damit für die völlige Entwaffnung Deutschlands, für die als belastend empfundenen Reparationen und für die Preisgabe der Kolonien verantwortlich.65 Obwohl historisch gesehen für die Niederlage der Deutschen eindeutig nicht die innenpolitische Situation, sondern die militärische Überlegenheit der Gegner verantwortlich gewesen war, wird sich die `Dolchstoßlegende´ der deutschnationalen Antidemokraten durch die ganze Weimarer Republik hindurch bis hin zur Machtübernahme der Nationalsozialisten halten.
So kann man sagen, dass der Erste Weltkrieg einen tiefen Einschnitt bedeutet – in das Verhältnis von Kirche und Staat und auch in das Leben von Dietrich Bonhoeffer. Die alte Welt war untergegangen.66 Die Werte der älteren Generation hatten ihre Gültigkeit verloren. Die Jüngeren suchen jetzt neue Orientierung – zu ihnen gehört auch Dietrich Bonhoeffer.
18 Vgl. weiterführend Gerhard Krause, Art. Dietrich Bonhoeffer, in: TRE VII (1981), 55-66. Bonhoeffers Geburtshaus in Breslau, eine mächtige Villa, wurde durch sowjetische Bomber im Krieg stark getroffen, die Stadt sehr zerstört. Die Fassade konnte teilweise restauriert werden; der linke Teil des Hauses ist ein typischer funktionaler Nachkriegsbau. Am Haus ist heute eine zweisprachige Gedenktafel angebracht, die Dietrich Bonhoeffer als Mitglied des deutschen Widerstands gegen Hitler ehrt.
19 Dietrich Bonhoeffer hatte sieben Geschwister: Karl-Friedrich (1899-1957), Walter (1899-1918), Klaus (1901-1945), Ursula (1902-1983), Christine (1903-1965), Susanne (1909-1991) und Sabine (1906-1999), die Zwillingsschwester Dietrich Bonhoeffers, die kurz nach ihm geboren wurde. Alle Kinder machten Abitur. Später heirateten die Geschwister: Sabine Bonhoeffer und Gerhard Leibholz (1901-1982), Klaus Bonhoeffer und Emmi Delbrück (1905-1991), Christine Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi (1925-1945), Karl-Friedrich Bonhoeffer und Margarete, gen. Grete von Dohnanyi (19031993), Susanne Bonhoeffer und Walter Dreß (1904-1979). Vgl. dazu Sabine Leibholz-Bonhoeffer, vergangen, erlebt, überwunden. Schicksale der Familie Bonhoeffer, Gütersloh 1976, 71993, bes. 13-68. Eine tabellarische „Familienübersicht“ befindet sich in: Dietrich Bonhoeffer Auswahl (DBA), hg. v. Christian Gremmels/Wolfgang Huber, Bd. 6, Gütersloh 2006, 230 und eine „Ahnentafel“ bei Eric Metaxas, Bonhoeffer, a. a. O., 732f.
20 So Renate Wind, Dem Rad in die Speichen fallen, a. a. O., 9.
21 Dietrich Bonhoeffer trug einen Siegelring mit dem Familienwappen – einem Löwen, der eine Bohnenranke in der Tatze hält. Die Grabmale der Vorfahren des Vaters befinden sich in der Michaelskirche in Schwäbisch-Hall.
22 Die in Württemberg gelegene Festung Hohenasperg, ursprünglich zur Landesverteidigung gedacht, wurde bald nach ihrer Erbauung zum Hochsicherheitstrakt umfunktioniert und damit zum Kerker für viele Freidenker und Demokraten – eine Art deutsche Bastille, Symbol der Unterdrückung. Im Volk wurde das Gefängnis `Demokratenbuckel´, `großes Freiheitsgrab´ und `Tränenberg´ genannt. Erster politischer Gefangener war der Journalist, Dichter und Musiker Christian Friedrich Daniel Schubart (1739–1791), der am 23. Januar 1777 dort aufgrund kritischer Artikel inhaftiert worden war, jedoch aus dem Gefängnis heraus veröffentlichen durfte. 1848 saßen ca. 400 politische Häftlinge in den engen und überfüllten Zellen des Hohenasperg. 1933 wurde dort der württembergische Staatspräsident und Zentrumspolitiker Eugen A. Bolz (1881-1945) inhaftiert, der Hitler einst eine Kundgebung in Stuttgart verboten hatte und am 23. Januar 1945 in Plötzensee im Zusammenhang des Attentats vom 20. Juli 1944 hingerichtet wurde.
23 Die Großmutter mütterlicherseits, Clara von Kalkreuth, war einst Klavierschülerin von Franz Liszt (1811-1886) und Clara Schumann (1819-1896) gewesen. Der Vater der Mutter, Karl-Alfred von Hase (1842-1914), wurde 1889 von Kaiser Wilhelm II. zum Hofprediger in Potsdam ernannt und war später Konsistorialrat und Professor für Praktische Theologie in Breslau. Dietrich Bonhoeffers Urgroßvater war der bedeutende Jenaer Kirchen- und Dogmengeschichtler und Wirkliche Geheimrat Prof. Karl August von Hase (1800-1890). Die Traurede von D. Karl von Hase anlässlich der Hochzeit seiner Tochter Paula von Hase mit Dr. Carl Bonhoeffer am 5. März 1898 in der Kirche St. Maria-Magdalena zu Breslau erschien im selben Jahr gedruckt bei Breitkopf&Härtel in Leipzig. Karl August von Hase hatte 1831 Pauline Härtel, die Tochter des bekannten Leipziger Verlegers, geheiratet.
24 Vgl. Eberhard Bethge/Renate Bethge/Christian Gremmels (Hg.), Dietrich Bonhoeffer, a. a. O., 27-41.
25 Einen guten Eindruck, wie sich damals das Leben in der Reichshauptstadt abgespielt hat, vermittelt der SPIEGEL-TV-Film Nr. 4: „100 Jahre Berlin. Vom Kaiser bis zur Kanzlerin“ (2007).
26 Zur bekannten Geschichte des bis dato modernsten Kreuzfahrtschiffs aller Zeiten, der Titanic, das auf seiner Jungfernfahrt gegen einen Eisberg fuhr und sank, vgl. SPIEGEL-TV Nr. 33 (2012).
27 Karl Bonhoeffer, über sechsundzwanzig Jahre Chef der Psychiatrie, so lange wie kein Fachkollege vor ihm Ordinarius für Neurologie und Psychiatrie, war im Volk bekannt. Der Volksmund sprach von der Nervenklinik – die 1957 nach ihm benannt wurde – als `Bonnies Ranch´. Heute (2014) ist in Berlin ein S- und ein U-Bahnhof nach `Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik´ benannt. Taucht Karl Bonhoeffer noch in der freien Internet-Enzyklopädie Wikipedia als jemand auf, der „aktiven Widerstand gegen das `Euthanasie´-Programm, die Tötung psychiatrisch Kranker im Rahmen der Aktion T4“ leistete (http://de.wikipedia.org/wiki/Bonhoeffer, aufgerufen am 30.8.2004) und darin seinen Sohn Dietrich unterstützte – 1976 hatte Heinz Eduard Tödt in einem Aufsatz nachzuweisen versucht, dass Karl Bonhoeffer die Euthanasie nicht bejaht hatte –, so ist in den letzten Jahren wegen seiner positiven Gutachten im Blick auf Eugenik und Zwangssterilisation sowie im Blick auf seine aktive Beteiligung an der Umsetzung des `Gesetztes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses´ seine lange Zeit makellose Fassade ins Bröckeln geraten. 1998 wurde eine Karl-Bonhoeffer-Bronzebüste von Unbekannten aus dem Park der Berliner Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik und der Charité gestohlen. Zwei Jahre später tauchten zwei Bronzebüsten des israelischen Künstlers Igael Tumarkin (1933-2021) auf, die dieser dem Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Berlin Brandenburg 1999 gespendet hatte und mit denen auf das verbrecherische Handeln Karl Bonhoeffers hingewiesen werden sollte. Ein nach Karl Bonhoeffer benannter Konferenzraum im Gebäude der Nervenklinik der Charité-Universitätsmedizin Berlin wurde inzwischen entwidmet, die dortige Büste entfernt. 1998 benannten Aktivisten die Klinik in `Lady-Diana-Clinic´ um. Karl Bonhoeffer gilt heute als „ein Mittäter und Wegbereiter“ des Nationalsozialismus, vgl. weiterführend Dag Moskopp/Dorothea Jäkel (Hg.), Karl Bonhoeffer – ein Nervenarzt. Vorträge zum 60. Todestag, Berlin 2009, Zitat auf 61 sowie Bernhard Meyer, 26 Jahre auf dem Psychiatrie-Lehrstuhl. Der Arzt Karl Bonhoeffer (1868–1948), in: Berlinische Monatsschrift beim Luisenstädtischen Bildungsverein, Berlin 9/2000, 124-132. Zum Verhältnis von Karl und Dietrich Bonhoeffer im Blick auf die Euthanasie, vgl. die Dissertation von Uwe Gerrens, Medizinisches Ethos und theologische Ethik. Die Position von Karl Bonhoeffer und Dietrich Bonhoeffer in den Auseinandersetzungen um Zwangssterilisation und Euthanasie im Nationalsozialismus, Heidelberg 1994 (diss.), online leicht abrufbar unter: https://books.google.de/books?id=nOfp9wn3Qb0C&printsec=copyright#v=onepage&q&f=false (aufgerufen am 11.10.2024).
28 Karl Bonhoeffer sollte zum 1. April 1936 emeritiert werden; deshalb zog die Familie aus der Wangenheimstraße in ihr neuerbautes Haus in der Marienburger Allee 43. Direkt daneben (Marienburger Allee 42) bauten Tochter Ursula und Schwiegersohn Rüdiger Schleicher. Am 1. Oktober 1935 zogen sie ein (1945 wurde das Haus von einer Granate getroffen und das Ehepaar Bonhoeffer mit weiteren im Keller lebenden Familienmitgliedern verschüttet). Karl Bonhoeffer blieb aber noch im Amt und konnte so nach 25 Jahren als Direktor der psychiatrischen Klinik 1937 sein Jubiläum begehen. Erst im Sommer 1938 hielt er seine Abschiedsvorlesung. Am 31. März 1943 feierte er im Kreise seiner Familie und Gästen seinen 75. Geburtstag (und bekam am selben Tag die von Hitler unterzeichnete Goethe-Medaille verliehen!). Das Haus, in dem später in den 50er Jahren Eberhard Bethge als Studentenpfarrer wohnte, wechselte in den folgenden Jahren mehrfach seinen Besitzer. Heute befindet sich im ehemaligen Haus der Familie Bonhoeffer im Untergeschoss eine Dietrich-Bonhoeffer-Gedenkstätte, im Dachgeschoss wurde Bonhoeffers Studierzimmer mit Bibliothek originalgetreu nachgebildet, vgl. Gert von Bassewitz/Christian Bunners, Auf den Spuren von Dietrich Bonhoeffer, Hamburg 2004, 20f. An beiden Häusern befinden sich Gedenktafeln: Am Haus in der Wangenheimstraße 14 seit dem 1.9.1988 für Karl und Dietrich Bonhoeffer; am Haus in der Marienburger Allee 43 (`Bonhoefferhaus´) für Klaus und Dietrich Bonhoeffer, Rüdiger Schleicher und Hans von Dohnanyi. Seit 1987 ist das Haus Die Gedenk- und Begegnungsstätte in Charlottenburg-Wilmersdorf wird von der Evangelischen Landeskirche Brandenburg-schlesische Oberlausitz getragen. Sie steht Besucherinnen und Besuchern, die auch von der gut bestückten Präsenzbibliothek zu Bonhoeffer Gebrauch machen dürfen, nach vorheriger Absprache offen. Ich selbst bin dort 1989 gewesen und konnte mich von der Wirkungsstätte Dietrich Bonhoeffers, die noch immer seinen Geist atmet und von seiner Aura erfüllt ist, überzeugen, vgl. dazu Kuratorium Bonhoeffer Haus (Hg.), Begleitheft zur Ausstellung, Berlin 21996, bes. 124-127, und die Internet-Präsenz: https://www.bonhoeffer-haus-berlin.de (aufgerufen am 11.10.2024).
29 Jeden Mittwoch versammelte sich im Hause von Delbrück (1848-1929) ein illustrer `Mittwochskreis´, dem u.a. Adolf von Harnack (1851-1930) und Ernst Troeltsch (1865-1923) angehörten. Wie damals dort diskutiert wurde, kann man sich heute lebhaft vorstellen! Das Verhältnis von Adolf von Harnack und seinem Schüler untersuchte in seiner theologischen Dissertation Carl-Jürgen Kaltenborn, Adolf von Harnack als Lehrer Dietrich Bonhoeffers, Berlin 1973.
30 Vgl. E. Bethge, DB, 38. Man beachte, dass damals viele Haushalte über Bedienstete verfügten, da sich deren Kosten wegen der nicht vorhandenen Sozialversicherungspflicht auf freie Kost und Logis und ein geringes Taschengeld beliefen. Zwar war die Waschmaschine damals schon erfunden; die erste vollautomatische Waschmaschine kam in Deutschland aber erst 1951 auf den Markt und fand dort in Privathaushalten erst in den 60er und 70er Jahren Verbreitung. Haushaltsgeräte wie Staubsauger oder elektrische Bügeleisen waren verhältnismäßig teuer; Hausangestellte, die putzten, wuschen und bügelten, waren zu Bonhoeffers Zeiten günstiger!
31 Vgl. dazu etwa den berühmten Roman Thomas Manns, `Buddenbrooks. Verfall einer Familie´ (1901), den Abgesang auf das bürgerliche Zeitalter, der seinem Autor den Nobelpreis für Literatur (1929) und materiellen Wohlstand brachte. Thomas Mann und seine Familie lebte ähnlich wie die Bonhoeffers, vgl. die Beschreibung bei Armin Strohmeyr, Klaus Mann (dtv portrait, hg. von Martin Sulzer-Reichel), München 2000, 15.
32 Heinrich Mann (1871-1950) hat dem Geist dieser Zeit mit seinem 1914 beendeten Roman `Der Untertan´, der `Bibel des Wilhelminischen Zeitalters´, der erst 1918 erschien, ein bleibendes literarisches Denkmal gesetzt: Der Protagonist, der obrigkeitshörige Diederich Heßling, ein feiger Mitläufer und Opportunist, ist ein nationalistisch gesinnter Aufsteiger, der die Erziehungsstationen des Wilhelminismus durchlaufen hat: Schule, Universität und Korporation. In seiner Fabrik gebärdet er sich wie ein Despot und unterjocht die Arbeiter. Der Film `Der blaue Engel´ mit Marlene Dietrich (1901-1992) und Emil Jannings (1884-1950), der das Buch zur Vorlage hatte, erzählt die Geschichte eines tyrannischen, auf Abwege geratenen Lehrers, der sich in eine Tingeltangeltänzerin verliebt. Das Buch persifliert die wilhelminische Epoche, vgl. weiterführend Thomas O. H. Kaiser, Heinrich Mann. Auf den Spuren eines vergessenen Schriftstellers, in: Horst Lickert (Hg.), Grenzgänge. Festschrift für Hans Geißer, Zürich 2003, 267-284.
33 Renate Bethge, die Nichte Dietrich Bonhoeffers, betont, dass die Kinder auch viel Freiheit hatten: „Die Eltern verlangten zwar Rücksichtnahme von ihren Kindern, gleichzeitig gaben sie ihnen jedoch viel Freiheit. Sie bemühten sich, jedes Kind nach seinen eigenen Interessen und Fähigkeiten zu fördern“ (Renate Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Eine Skizze seines Lebens, Gütersloh 2004, 7).
34 Die Ähnlichkeiten des Hauses Bonhoeffer im Vergleich zu dem Thomas Manns, die Klaus Mann in seiner Autobiographie beschreibt, sind erstaunlich, vgl. Klaus Mann, Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, 29: „Von neun Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags muß man sich still verhalten, weil der Vater arbeitet, und von vier bis fünf Uhr nachmittags hat es im Hause auch wieder leise zu sein: Es ist die Stunde der Siesta. Sein Arbeitszimmer zu betreten, während er dort mysteriös beschäftigt ist, wäre die grässlichste Blasphemie. Keines von uns Kindern hätte sich dergleichen je in den Sinn kommen lassen.“
35 Vgl. DB, 38f.
36 Hausmusik war eine Selbstverständlichkeit im Hause Bonhoeffer. Jedes Kind erlernte ein Instrument, es wurde Kammermusik gemacht. Wie aus Quellen und Augenzeugenberichten hervorgeht, ist Dietrich Bonhoeffer ein sehr guter Pianist gewesen, der seine musikalischen Fähigkeiten noch als Erwachsener, z.B. in der Gemeindearbeit, einsetzte, vgl. dazu den Eberhard Bethge zum 85. Geburtstag gewidmeten Beitrag von Andreas Pangritz, Polyphonie des Lebens. Zu Dietrich Bonhoeffers `Theologie der Musik´ (Dahlemer Heft Nr. 13), Berlin 1994, bes. 8-13. Bonhoeffer konnte auch Gitarre spielen, vgl. seinen Brief aus Rom vom 16.4.1924, in dem er seine Schwester um Geld für den Kauf einer Gitarre bat und vom 22.5.1924, in: Dietrich Bonhoeffer, Italienreise 1924, Gütersloh 2012, 54 und 99.
37 Neben ihr hat ein aus der Herrnhuter Brüdergemeine stammendes Kindermädchen, Maria Horn, auf die religiöse Erziehung der Kinder Einfluss gehabt.
38 Vgl. dazu Sabine Leibholz-Bonhoeffer, Weihnachten im Hause Bonhoeffer, Gütersloh 1991, 132005, bes. 28-39. 1943 wird sich der inhaftierte Dietrich Bonhoeffer an diese Weihnachtsfeste im Kreise der Familie erinnern und seinen Eltern in einem Brief dafür danken. Diese Erinnerung an Weihnachten wurde ihm u.a. zur inneren Kraftreserve.
39 So Karl Bonhoeffer in seinem Silvestertagebuch im Jahr 1909, zitiert nach DB, 37.
40 Dies betont auch Wolf-Dieter Zimmermann (1911-2001): „Unser Leben war damals viel stärker an die eigene Familie und den engeren Bekanntenkreis gebunden, als man sich das heute vorstellen kann“ (Wolf-Dieter Zimmermann, Wir nannten ihn Bruder Bonhoeffer, a. a. O., 20).
41 Dietrich Bonhoeffer hat es rückblickend einmal so geschrieben: „Ich habe es als einen der stärksten geistigen Erziehungsfaktoren in unserer Familie empfunden, dass man uns so viele Hemmungen zu überwinden gegeben hat (in Bezug auf Sachlichkeit, Klarheit, Nüchternheit, Takt, Einfachheit etc.), bevor wir zu eigenen Äußerungen gelangen konnten“ (Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, München 1951, 141990, 209).
42 Das 1903 gegründete Grunewald-Gymnasium ist (seit 1946) die heutige Walther-Rathenau-Schule (WRS) in der Herbertstr. 2-6 in 14193 Berlin (Charlottenburg-Wilmersdorf).
43 Zum Ersten Weltkrieg vgl. die Einschätzung von Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora, München 2014. Jörn Leonhard macht in seinem Buch den Krieg selbst zum Hauptthema – zu einem globalen Ereignis, der für die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen mit all seiner Gewalt nicht zu begreifen war. Vgl. dazu auch die Rezension von Adam Tooze, Hellwach in den Krieg, in: DIE ZEIT Nr. 15 v. 3.4.2014, 51, und FR Plus in der Frankfurter Rundschau v. 28.7.2004, 23-28.
44 Walter Bonhoeffer, der zweitälteste der Geschwister, starb am 28.4.1918 an einer Schrapnell-Wunde in Flandern. Paula Bonhoeffer fiel nach seinem Tod in eine tiefe Depression, die ungefähr ein Jahr lang andauerte. Der Tod seines älteren Bruders gilt als Wendepunkt im Leben Dietrich Bonhoeffers, vgl. Eric Metaxas, Bonhoeffer. Eine Biografie in Bildern, Holzgerlingen 2013, 27f. und DBW 9, 16+19.
45 Zum Spott der Geschwister im Blick auf den außergewöhnlichen Berufswunsch Dietrich Bonhoeffers vgl. Christian Gremmels/Hans Pfeifer, Theologie und Biographie. Zum Beispiel Dietrich Bonhoeffer, München 1983, 22.
46 So schrieb Karl Bonhoeffer später: „Als Du Dich seinerzeit für Theologie entschlossen hast, dachte ich manchmal im Stillen, dass ein stilles, unbewegtes Pastorendasein … eigentlich zu schade für Dich wäre“ (Karl Bonhoeffer, Brief vom 2. Februar 1934 an seinen Sohn Dietrich, zitiert nach DB, 61f.). Der Text befindet sich auch in DBW 13, 90.
47 Sicherlich hatte es unter Dietrich Bonhoeffers Vorfahren einige Pfarrer und Theologen gegeben; doch war demgegenüber die naturwissenschaftlichempirische Strömung in der Familie dominant.
48 Vgl. weiterführend GEO EPOCHE. 1914: Das Schicksalsjahr des 20. Jahrhunderts, Hamburg 2014, bes. 92-115.
49 So der Titel des kriegsverharmlosenden Bestsellers von Ernst Jünger, der 1920 erstmals erschien und 1994 die 35. Auflage erreichte, vgl. Ernst Jünger, In Stahlgewittern, Stuttgart 2014.
50 Carl von Clausewitz, zitiert nach Werner Hahlweg (Hg.), Carl von Clausewitz, Vom Kriege (1832), Bonn 191980, 210.
51 Der Dichter Bertolt Brecht wird fast der Schule verwiesen, weil er in einem Aufsatz im Jahre 1916 den Ausspruch, dass es „süß und ehrenvoll sei, für das Vaterland zu sterben“, als Zweckpropaganda gewertet hatte, vgl. Werner Hecht (Hg.), Brecht, FfM 1988, 21, und Klaus Völker, Bertolt Brecht, FfM 1978, 16.
52 Zur Lehre vom gerechten Krieg vgl. genauer Wolfgang Lienemann, Frieden – vom `gerechten Krieg´ zum `gerechten Frieden´ (Bensheimer Hefte; 92), Göttingen 2000, bes. 31-44.
53 Vgl. dazu SPIEGEL-TV: „Wilhelm II. Der letzte Kaiser“ (2009) sowie ZEIT Geschichte 1/2014, 30-37 und Brigitte Hamann, Der Erste Weltkrieg in Wahrheit und Lüge in Bildern und Texten, München 2004.
54 Vgl. Heinrich Missalla, „Gott mit uns“?, in: Publik Forum Nr. 14/2004, 2426. 90 Jahre nach Kriegsbeginn erinnert der Autor an die gotteslästerliche Lobpreisung des Ersten Weltkriegs.
55 Vgl. dazu weiterführend Hendrik Stössel, Die Evangelische Kirche im Ersten Weltkrieg, in: Pfarrvereinsblatt 3-4/2014, 87-110. Dr. Stössel ist theologischer Referent der Evangelischen Landeskirche in Baden an der Europäischen Melanchthon-Akademie in Bretten. Er untersucht in seinem Beitrag die Entstehungsbedingungen und die Rolle, die Theologie und Kirche im Ersten Weltkrieg gespielt haben.
56 Während sich die meisten Kirchenleute dem nationalistischen Rausch ergaben, blieb eine pazifistische Minderheit zu Kriegsbeginn nüchtern und versuchte, den Krieg zu verhindern. Vgl. hierzu Jürgen Wandel, Das vergessene Konzil von Konstanz. Vor neunzig Jahren versammelten sich Pazifisten am Bodensee und versuchten, den Ersten Weltkrieg aufzuhalten, in: zeitzeichen 8/2004, 12-15.
57 Vgl. dazu grundlegend Wolfgang Huber, Kirche und Öffentlichkeit, München 1991, bes. 135-160.
58 Vgl. dazu weiterführend Christian Nottmeier, Religion, Krieg und Demokratie. Berliner Theologieprofessoren im Ersten Weltkrieg, in: DtPfrBl 8/2005, 413-415.
59 „Die Kirche hatte in ihrer Mehrheit den Vätern der Weimarer Demokratie nicht verziehen, die Trennung von Staat und Kirche in der Verfassung festgeschrieben zu haben. Sie war nicht bereit, die sittliche Erziehung des Volkes, die sie seit Jahrhunderten verantwortet hatte, widerstandslos einer Behörde zu überlassen, hinter deren erklärter weltanschaulicher Neutralität sie in Wahrheit die von ihr verhasste sozialdemokratische Gesinnung argwöhnte. (…) Der in der Monarchie verhaftete Protestantismus der Weimarer Republik nahm nicht wahr, dass der demokratische Staat ein Partner im Kampf gegen Armut und Elend war“ (Matthias Schreiber, Martin Niemöller, Reinbek 1997, 42f.).
60 Pastor Heinrich Albertz gab viele Jahre später die Stimmung der Pfarrerschaft um das Jahr 1930 wider: „`Die braunen Horden kommen´, sagte man wohl in den Pfarrhäusern. Aber weniger, weil man ihre nationalistischen, auch ihre antisemitischen Ziele verwarf, sondern einfach, weil sie zu ordinär waren und das verfemte Wort `sozialistisch´ im Namen führten“ (Heinrich Albertz, Miserere nobis. Eine politische Messe, München 1987, 49).
61 Als am 11. November 1918 das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet wurde, floh Kaiser Wilhelm II. ins niederländische Exil, am 28. November erklärte er offiziell seinen Verzicht auf die Kaiserwürde und auf die preußische Krone. Er entband die Angehörigen des Heeres und der Beamten von ihrem Treueeid und forderte sie auf, die neuen Machthaber bei der Sicherung der öffentlichen Ordnung und der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln zu unterstützen.
62 Sie ging in die Geschichte ein unter dem Namen `Weimarer Republik´, vgl. weiterführend Gunther Mai, Die Weimarer Republik, München 2009, bes. 612+51-83.
63 Dabei ging es um die Bildung einer ausschließlich sozialistischen Reichsregierung, an der bürgerliche Fachminister beteiligt werden sollten oder um die sofortige Errichtung einer `Diktatur des Proletariats´. Mitglieder der SPD und der links von ihr stehenden Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) einigten sich am 10. November 1918 auf die Bildung eines `Rats der Volksbeauftragten´, zu dessen Hauptaufgaben nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands die Demobilmachung gehörte. Nach den Wahlen zur Nationalversammlung vom 19. Januar 1919 wurde der `Rat der Volksbeauftragten´ aufgelöst, vgl. Gunther Mai, Die Weimarer Republik, a. a. O., 26ff.
64 Paul von Hindenburg hatte am 18. November 1919 vor dem Untersuchungsausschuss der Nationalversammlung über die Ursachen der Niederlage von einer heimlichen und planmäßigen Zersetzung von Flotte und Heer gesprochen und zu Protokoll gegeben, dass das Heer `von hinten erdolcht´ worden sei – womit er die Verantwortung für die militärische Niederlage ins Politische zog und damit die Friedensresolution von 1917 oder den Munitionsarbeiterstreik von 1918 verantwortlich machte.
65 Die Nationalversammlung, die aus den Wahlen vom 19. Januar 1919 hervorgegangen war, trat am 6. Februar 1919 zu ihrer konstituierenden Sitzung in Weimar zusammen, da in Berlin Revolutionskämpfe geführt wurden. Friedrich Ebert wurde zum Reichspräsidenten gewählt, Philipp Scheidemann mit der Regierungsbildung betraut. Am 11. Februar 1919 nahm die `Weimarer Koalition´, bestehend aus SPD, Zentrum und DDP, ihre Arbeit auf und stimmte unter dem Druck der Mächte der Entente am 23. Juni 1919 dem Versailler Vertrag zu. Am 14. August 1919 trat die Weimarer Reichsverfassung in Kraft. Die Nationalversammlung wurde nach den Reichstagswahlen vom 6. Juni 1920 vom Reichstag abgelöst.
66 Vgl. GEO EPOCHE. Der Erste Weltkrieg. Von Sarajewo bis Versailles: die Zeitenwende 1914-1918, Hamburg 2004, bes. 22f.
In Dietrich Bonhoeffers Schul- und Studienzeit fällt die als `Goldenen Zwanziger Jahre´ später romantisierend bezeichnete Zeit wirtschaftlicher und kultureller Blüte der Weimarer Republik67, aber auch der Niedergang der Demokratie und das Heraufziehen des Nationalsozialismus mit seiner wesenseigenen Ausprägung des Antisemitismus68. Alles ist in Bewegung, die Welt der zwanziger und frühen dreißiger Jahre ist schillernd und politisch aufgepeitscht! Mit der erstmaligen Ausrufung der Republik auf deutschem Boden durch Philipp Scheidemann bricht für die monarchistisch ausgerichtete Gesellschaft eine völlig neue Zeit an. Damit steht besonders auch die evangelische Kirche vor einer politisch und geistig wahrgenommenen Umbruchsituation: Die Monarchie, die seit Jahrhunderten in Deutschland geherrscht hat, ist von der demokratischen Staatsform abgelöst worden.69 Die Kirche empfindet diese Zeit des Umbruchs hauptsächlich als Krise. Denn das landesherrliche Kirchenregiment, das seit den Konfessionskriegen bestand, kommt mit dem Jahr 1919 zu seinem Ende. Der Kaiser ist nicht mehr länger der preußische Landesherr, der `summus episcopus´, der zugleich der altpreußischen Kirche70 vorsteht. Er hat sich ins Ausland abgesetzt, so dass die evangelische Kirche kopflos da steht. Der Weimarer Staat sichert nun seinen Bürgerinnen und Bürgern volle Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie eine ungestörte Religionsausübung zu.71 Kirche und Staat werden fortan in der neuen Republik getrennt sein.72 Die Kirchen werden zu Körperschaften des öffentlichen Rechts und dürfen damit Kirchensteuern erheben. Religionsunterricht wird zum ordentlichen Lehrfach in den Schulen. An den staatlichen Universitäten entstehen theologische Fakultäten. All diese Neuerungen werden von den mehrheitlich nationalkonservativ denkenden evangelischen Kirchenmitgliedern und der Pfarrerschaft73 als eine Katastrophe empfunden, weil der Wegfall des landesherrlichen Kirchenregiments zunächst den Zusammenbruch der äußeren Organisation der Kirche zur Folge hatte. Weil sie, wie gesagt, sehr monarchistisch gesinnt sind, können sich nur wenige Pfarrer und Theologen damals überhaupt eine Kirche in der Demokratie vorstellen. Verwirrung macht sich breit. Bald jedoch konsolidiert sich die Lage: Zunächst behält man die 28 selbstständigen Landeskirchen bei, die sich 1922 zum `Deutschen Evangelischen Kirchenbund´ zusammenschließen. Ziel dieses Bundes, der die Selbstständigkeit der einzelnen Landeskirchen wahrt, ist es, nach außen ein einheitliches Erscheinungsbild des Protestantismus zu signalisieren und auch gemeinsame Interessen durchzusetzen. Die Organe des Bundes sind Kirchentag, Kirchenbundesrat (das sind die Vertreter der Leitungen der 28 Landeskirchen) und Kirchenausschuss (das sind 18 Delegierte des Kirchentages und 18 Delegierte des Kirchenbundesrats). Die Ordnungen der Landeskirchen erfolgen nach einem synodal-presbyterialen System. So gibt es eine Synode (Vertretung der Kirchenmitglieder), eine Verwaltungsbehörde (Ober- oder Landeskirchenrat) und häufiger einen aus Mitgliedern der anderen beiden Gremien zusammengesetzten Kirchensenat. Alle weiteren kirchlichen Entscheidungsorgane sind von Landeskirche zu Landeskirche unterschiedlich. Die Synode setzt sich nach einem Mehrheitswahlsystem zusammen und ist wie in der Politik nach Parteien organisiert. Ewiger Streitpunkt in den Landeskirchen ist es, ob es einen Bischof geben soll oder nicht, und so fällt die Entscheidung je nach konfessioneller Ausprägung unterschiedlich aus. Insgesamt gibt es fünfzehn lutherische, zwölf unierte und eine reformierte Landeskirche. Dem Kirchenbund angeschlossen sind außerdem die `Evangelische Brüder-Unität´ und der `Bund freier evangelisch-reformierter Gemeinden´. Kirchenverträge regeln die Angelegenheiten zwischen den Landeskirchen und den einzelnen Ländern im Detail.74
In der Theologie stellt sich die Situation ähnlich dar. Erst allmählich entwickelt sich ein Selbstbewusstsein, das mit der neuen Situation konstruktiv umzugehen versucht. Zur Zeit des Ersten Weltkrieges waren die theologischen Entwürfe von Albrecht Ritschl und Wilhelm Herrmann führend, auch Rudolf Otto und Reinhold Seeberg waren bei den Studenten populär. Ihre zentralen theologischen Begrifflichkeiten waren `Sittlichkeit´ und `Kultur´. Das erklärte Ziel ihres theologischen Ansatzes war es, dass der Einzelne und die Gemeinschaft sittlich gefördert werden sollten. Diese theologische Denkrichtung wird heute als `liberaler Kulturprotestantismus´ bezeichnet. Karl Holl und Otto Dibelius versuchten, aus lutherischer Perspektive die theologisch und kirchlich neuen Verhältnisse, die mehr Selbstständigkeit ermöglichten, aufzuarbeiten.75 Die nationalkonservativen Lutheraner von der Erlanger Fakultät, Werner Elert und Paul Althaus sowie Emanuel Hirsch aus Göttingen werden auf diesem Hintergrund ihre völkische `Politische Theologie´76 entwickeln. Antijudaistische und antikommunistische Denkmuster waren dem völkisch-christlichen Gedankenwust auch der evangelischen Kirche in dieser Zeit inhärent.77
Mit Karl Barth kommt nun neuer Schwung in die theologische Diskussion. Barth kam zwar auch von der protestantischen liberalen Theologie der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg her, reflektierte aber durch den Krieg seine theologischen Grundüberzeugungen neu und versuchte, in der Bibel Antworten für die Gegenwart zu finden. 1919 erscheint sein Römerbriefkommentar78 , in dem er das Anderssein Gottes unterstreicht und Christus in den Mittelpunkt des Geschehens rückt.79