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"Meister des Eigensinns". Über Hermann Hesse (1877-1962): In diesem Buch geht es um das Leben und Werk des meistgelesenen und meistverkauften deutschsprachigen Schriftstellers der Welt. Viele Leser:innen lesen Hermann Hesse in ihrer Jugend und dann erst wieder im Alter. Dabei könnte Hesse in jedem Lebensalter interessant sein: Hat doch der Dichter aus Schwaben, der sich in der Schweiz niederließ, die schweizerische Staatsbürgerschaft annahm und im Tessin begraben liegt, zeitlebens mit Krisen und Zweifeln zu kämpfen gehabt. Der Freidenker, dessen Werk facettenreich ist, schrieb dabei meistens autobiografisch; immer machte er sich fürs Individuum stark: Wie kann der Einzelne den Widerständen einer ihm feindlich gesonnenen Welt begegnen? Im Eigensinn fand er eine Kategorie, die ihm in seinem Kampf ums Überleben half. Schon die Hippies begeisterten sich für Hesse; für sie wurde er zum Kultautor. Das Buch ist ein Buch für alle, die sich für die schillernde Biografie Hermann Hesses interessieren und neugierig auf sein umfangreiches Werk sind.
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Seitenzahl: 784
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„Eine Tugend gibt es, die liebe ich sehr, eine einzige. Sie heißt Eigensinn. (…) Wer eigensinnig ist, gehorcht einem andern Gesetz, einem einzigen, unbedingt heiligem, dem Gesetz in sich selbst, dem `Sinn´ des `Eigenen´.“1
1 Hermann Hesse, Eigensinn, zitiert nach: Materialien zu Hermann Hesses `Demian´. Erster Band: Die Entstehungsgeschichte in Selbstzeugnissen und Dokumenten, hg. v. Volker Michels (st 1947), FfM 1993, 315-320, Zitat auf 315f.
Es ist aufs Jahr genau zehn Jahre her, dass sich eine kleine, muntere Schar Literaturinteressierter aus den evangelischen Kirchengemeinden Kadelburg und Klettgau traf, um sich mit dem Leben und Werk Hermann Hesses zu beschäftigen und anlässlich der Wiederkehr seines 135. Geburtstages und seines 50. Todestages seiner zu gedenken. Die in regelmäßigen Abständen stattfindende Veranstaltungsreihe damals trug den Titel „`Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…´. Hermann Hesse (1877-1962). Leben und Werk“ und nahm damit ein Zitat aus Hesses vermutlich bekanntestem Gedicht auf: `Stufen´.
Die Teilnehmer:innen des Literaturzirkels widmeten sich Hesses literarischem Werk und damit unwillkürlich auch seinem Leben, weil Hesses Werk starke autobiografische Züge trägt. Für fast alle damals, genau wie für mich, war Hermann Hesse ein „Lebensabschnittsbegleiter“2, einer, mit dem sie sich in ihrer Jugend, meist in der Schule, beschäftigt hatten und den sie dann im Alter wiederentdeckten. Jetzt lasen sie Hesse erneut, kursorisch, stellten bei jeder Sitzung einander ein- oder mehrere Bücher des schwäbisch-schweizerischen Dichters vor und tauschten sich darüber gedanklich aus. Immer wieder ging es dabei auch um religiöse Aspekte im Werk Hesses. Die Treffen fanden in der Mitarbeiter:innenbibliothek im Gemeindehaus der Evangelischen Kirchengemeinde Kadelburg, dem Dietrich-Bonhoeffer-Haus, in Küssaberg-Kadelburg statt, und zwar jeweils von 19.30 – 21.00 Uhr. Folgende Themen standen damals auf der Agenda:
20. September 2012
Hermann Hesse – Leben und Werk
27. September 2012
`Unterm Rad´
11. Oktober 2012
`Narziß und Goldmund´
18. Oktober 2012
`Peter Camenzind´`Demian´`Kurgast´
07. November 2012
`Der Steppenwolf´
14. November 2012
`Das Glasperlenspiel´
Am Freitag, den 19. Oktober 2012 um 20.00 Uhr gab das Musiker-Duo Anselm König und Beat Riggenbach3 in der Kadelburger Bergkirche ein Konzert zu Hermann Hesse: „Stufen – Gedichtvertonungen“. Am Donnerstag, den 25. Oktober 2012 um 19.30 Uhr gewährte der in Zürich lebende Enkel, Erbe und Verwalter der Rechte Hermann Hesses, Silver Hesse, Einblicke ins Leben seines Großvaters. Er eröffnete biografische Zugänge zu seiner Familie und trat mit den Anwesenden in ein spannendes, abendfüllendes Gespräch.4 Für den 17. November 2012 wurde allen Hesse-Interessierten eine Exkursion zum Internationalen Hermann-Hesse-Zentrum und -Museum nach Calw angeboten. Alle Veranstaltungen waren öffentlich, der Eintritt war stets frei. Organisiert wurde die Veranstaltung vom Ökumenischen Bildungswerk Kadelburg und der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Bildung Klettgau. Ich freue mich, dass einige der Erkenntnisse, zu denen ich im Gedankenaustausch mit Hesse- Interessierten und auch mit Silver Hesse damals gelangt bin, in dieses Buch mit einfließen konnten.
Ein Wort vorab zur Zitierweise: Zitate werden so wiedergegeben, wie sie in der jeweiligen Quelle angegeben sind. Befindet sich der Schlusspunkt des Satzes vor dem Anführungszeichen, so heißt das, dass der Satz vollständig zitiert wurde; wird nur ein Teil des Satzes zitiert, steht der Punkt nach dem Anführungszeichen. Zitate erscheinen in doppelten Anführungszeichen; wörtliche Rede innerhalb eines Zitates wird mit einfachen Anführungszeichen gekennzeichnet. Fußnoten verweisen auf verwendete Zitate, nehmen weiterführende Literatur auf oder gehen auf die Fachdiskussion ein. Der Haupttext ist jedoch auch ohne ihre Berücksichtigung verständlich.
Mein Dank geht an Barbara Dammenhayn-Scott, seit Jahren ehrenamtlich engagiertes Mitglied im Kirchengemeinderat der Evangelischen Kirchengemeinde Kadelburg. Barbara ist dankenswerterweise auch für mich ehrenamtlich tätig: Sie ist die erste Leserin meiner Bücher, weil sie sehr genau ist. Sie hat auch diesmal dafür gesorgt, dass die Druckfehlerquote in diesem Manuskript gegen Null geht. Liebe Barbara, ganz herzlichen Dank!
Seit vielen Jahren bin ich mit Ruth Rüttinger, Künstlerin aus Dogern, freundschaftlich verbunden. Ich schätze ihre Malerei und ihre Kunst. Für dieses Buch hat sie extra ein Bild gemalt, das auf dem Frontispiz zu sehen ist. Es ist nicht das erste Buchcover, das sie für mich angefertigt hat, und es wird bestimmt auch nicht das letzte sein. Herzlichen Dank, liebe Ruth!
Kadelburg, am 4. Advent 2022 Thomas O. H. Kaiser
2 So Fridtjof Küchemann, Der Lebensabschnittsbegleiter – Zum 125. Geburtstag von Hermann Hesse, in: FAZ v. 2.7.2002, online zugänglich über https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/literatur-der-lebensabschnittsbegleiter-zum-125-geburtstag-von-hermannhesse-173062.html (aufgerufen am 17.6.2022).
3 Das Duo hatte schon am 27.1.2002 ein Hermann-Hesse-Konzert in der Kadelburger Bergkirche gegeben, veranstaltet von der Evangelischen Kirchengemeinde Kadelburg als Auftakt zum Hermann-Hesse-Jahr 2002. In diesem Jahr kam auch das Album mit vertonten Hesse-Texten heraus, vgl. Anselm König Band, Hermann Hesse. Stufen und andere Vertonungen von Hermann-Hesse-Gedichten, Anselm König und Beat Riggenbach, Random House 2002. Anselm König (geb. 1957) ist ein deutscher Komponist. Beat Riggenbach (geb. 1961) ist ein Schweizer Saxofonist und Bluesharp-Spieler. Zum Programm der beiden gehört auch die Vertonung der Gedichte von Erich Kästner, Else Lasker-Schüler und Kurt Tucholsky: https://www.anselm-koenig.de (aufgerufen am 14.6.2022). Zur Kritik des gut besuchten Hesse-Abends in der Bergkirche vgl. SÜDKU-RIER v. 22.10.2012.
4 Vgl. SÜDKURIER v. 14.11.2012.
Vorwort
Einleitung
1. Kindheit und Jugend
2. Auf dem Weg zum Schriftsteller
3. Krisenjahre
4. Am Bodensee
5. Die Lebensreformbewegung
6. Die `Indienreise´
7. Umzug nach Bern
8. Neubeginn im Tessin
9. Tod in Montagnola
10. Wirkungsgeschichte
Nachwort
Zeittafel allgemein
Zeittafel zu Leben und Werk Hermann Hesses
Die Werkgeschichte auf einen Blick
Literaturverzeichnis
Über den Autor
Über die Künstlerin und ihr Bild
Anhang
„Im August 2022 jährt sich zum 60. Mal Hermann Hesses Todestag. Im deutschen Sprachraum steht er in seiner Bekanntheit Goethe und Thomas Mann nicht nach. Weltweit wurden bislang 150 Millionen Bücher von ihm verkauft, rund 400000 Exemplare kommen jedes Jahr hinzu. Hesse ist nach wie vor gesetzt im bürgerlichen Bücherregal.“5 Mit diesen Worten beginnt eine der neueren Biografien über den berühmten deutschschweizerischen Schriftsteller, Dichter und Literaturnobelpreisträger, der Generationen von Leser:innen mit seinen Romanen, Erzählungen und Gedichten in seinen Bann gezogen hat und immer noch zieht. 6 Hesses Werk erreichte bis heute (2022) eine Millionenauflage.7 Es ist schier nicht zu glauben: Kaum ein deutschsprachiger Autor des zwanzigsten Jahrhunderts wurde mehr gelesen als Hermann Hesse. Seine Werke8 wurden in über siebzig Sprachen übersetzt, die Sekundärliteratur über ihn ist inzwischen ins Unermessliche angewachsen, Versuche, sein Werk zu interpretieren, sind Legion.9 Hesse liest man meistens in jungen Jahren oder im Alter.10 Auch ich bin in meiner Jugend seinem Bann erlegen. Hesse war ein Suchender, der für Suchende wie mich, die in ihrer Jugend tief über das Leben nachdachten, schrieb und in dessen Geschichten und Figuren ich mich wiederfinden konnte. Nicht zuletzt war Hesse für mich interessant, weil er sich in seiner Jugend wie seinerzeit ich mich gegen einengende Normen und Konventionen aufgelehnt und die Individualität und die Freiheit des Geistes hochgehalten hatte.11 Um so mehr freute es mich, im vergangenen Jahr genügend Zeit zu finden, um mich Hesses Leben und Werk noch einmal jetzt im Alter, gegen Ende meines fünften Lebensjahrzehnts, ausführlich widmen zu können.12 Nach den ersten literarischen Begegnungen mit Hesse in meiner Jugend waren nämlich einige Fragen offen geblieben, beispielsweise die nach Hesses Verhältnis zu Frauen: Hermann Hesse war dreimal verheiratet gewesen, insgesamt 53 Jahre. Frauen nahmen in seinem Werk eine besondere Rolle ein – was steckte dahinter? Eine andere offen gebliebene Frage betraf Hesses Rezeption im Nationalsozialismus. Denn obwohl die Bücher des erklärten Pazifisten, Antimilitaristen und Antinationalisten im nationalsozialistischen Deutschland nicht erwünscht waren, waren sie doch nicht verboten. Sie waren bei der Bücherverbrennung nicht öffentlich verbrannt13 worden und durften im Unterschied zu vielen anderen Autor:innen lange im `Dritten Reich´ gelesen werden.14 War Hesse ein Opportunist, der vom NS-System profitierte?
Beide Fragen konnte ich nach der erneuten Beschäftigung mit Hermann Hesse für mich beantworten. So hatte ich die Gelegenheit, auch die übrigen Werke und die Briefe15, die ich in jungen Jahren nicht kennen konnte, weil sie noch nicht ediert waren, zu studieren. Ich fand dadurch nach über vierzig Jahren einen neuen, anderen Zugang zu dem Autor der Individualist:innen. Zudem konnte ich mir persönlich ein Bild von den zentralen Orten machen, an denen Hermann Hesse gelebt hat, auch von den Häusern bzw. den Hotels: Arosa, Baden, Basel, Calw, Maulbronn, Montagnola, Sils Maria, Zürich. Hesse war, ist und bleibt faszinierend – auch, weil er sensibel wichtige Entwicklungen der neuesten Zeit früh aufnahm. Nicht umsonst befindet sich `Der Steppenwolf´16, „dieses unbarmherzige und seelenaufwühlende Bekenntnisbuch“17, als Pflichtlektüre im Bildungskanon der weiterführenden Schulen und ist Bestandteil des Curriculums im Deutsch-Abitur in Baden-Württemberg.
Angesichts der 145. Wiederkehr von Hesses Geburtstag am 2. Juli 2022 und der Wiederkehr seines 60. Todestages am 9. August 2022 gilt es im Folgenden, ein Bild vom Leben und vom Werk dieses Dichters zu zeichnen
5 André Uzulis, Hermann Hesse. Biografie, Friedland-Berlin-Usedom 2021, 7. Hermann Hesses Werke sind zugänglich in den zahlreichen Hesse-Einzelausgaben, die vor allem im Suhrkamp Verlag erschienen sind, ferner in Sammelausgaben wie Hermann Hesse, Gesammelte Schriften in sieben Bänden, FfM 1957 (Neuausgabe FfM 1978); ders., Gesammelte Werke (GW) in 12 Bänden, werkausgabe edition suhrkamp, hg. von Volker Michels, FfM 1970, 1987 und 2000, sowie ders., Sämtliche Werke (SW), 20 Bände und 1 Register-Band, hg. v. Volker Michels, FfM 2001-2007.
6 Zu Hermann Hesses Leben und Werk gibt es zahlreiche Veröffentlichungen, von denen einige an dieser Stelle genannt seien: Zunächst sei die erste Hesse-Biografie aus dem Jahr 1927 von Hugo Ball, Hermann Hesse. Sein Leben und sein Werk (st 385), FfM 1977, 21978, erwähnt; sodann Bernhard Zeller, Hermann Hesse in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (rm 50085), Reinbek 1963, 342000; Joseph Mileck, Hermann Hesse. Biography and Bibliography, vol. 1+2, Berkeley-Los Angeles-London 1977; Joseph Mileck, Hermann Hesse. Dichter, Sucher, Bekenner. Eine Biographie (st 1357), München 1978, FfM 1987; Christian Immo Schneider, Hermann Hesse, München 1991; Ralph Freedman, Hermann Hesse. Autor der Krisis, FfM 1982, 1999; Volker Michels (Hg.), Hermann Hesse. Sein Leben in Bildern und Texten, FfM 1979, 1987; Uli Rothfuss, Hermann Hesse privat. In Texten, Bildern und Dokumenten, Berlin 1992, 21997; Alois Prinz, „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“. Die Lebensgeschichte des Hermann Hesse, Weilheim-Basel 2000; Birgit Lahann, Hermann Hesse. Dichter für die Jugend der Welt. Ein Lebensbild, mit farbigen Fotografien von Ute Mahler (st 3478), FfM 2002; Klaus Walther, Hermann Hesse (= dtv portrait 31062), hg. v. Martin Sulzer-Reichel, München 2002; Gunnar Decker, Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten. Biographie, München 2012; Hans-Jürgen Schmelzer, Auf der Fährte des Steppenwolfs. Hermann Hesses Herkunft, Leben und Werk, Stuttgart-Leipzig 2002, 2012; Heimo Schwilk, Das Leben des Glasperlenspielers, München-Zürich 2012; André Uzulis, Hermann Hesse. Biografie, Berlin 2021, und schließlich Andreas Solbach, Hermann Hesse. Ein Schriftsteller auf der Suche nach sich selbst, Darmstadt 2022. Die Darstellung meines Lebensbildes von Hermann Hesse basiert vorwiegend auf diesen Veröffentlichungen, ferner auf Literatur- und Internet-Recherchen.
7 Seit ihrer ersten Veröffentlichung erzielten Hesses vierzig Bücher in den ca. sechzig Jahren bis 1962 eine Gesamtauflage von ca. vier Millionen Exemplaren. Nach seinem Tod stiegen seine Auflagenzahlen um ein Vielfaches: Etwa 150 Millionen seiner Bücher wurden verkauft, Tendenz steigend. Online sind Leben und Werk Hesses zugänglich über: Hermann-Hesse.de, über hhesse.de und über die Hesse-Sonderseite des Suhrkamp Verlages: https://www.suhrkamp.de/person/hermann-hesse-p-1947 (aufgerufen am 27.1.2022).
8 Einige von Hesses frühen Veröffentlichungen liegen in digitalisierter Form in jenen Medien vor, in denen sie zuerst erschienen sind, etwa die Novelle `Robert Aghion´ aus dem Jahr 1913: https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=dis-001:1913:17#11 (aufgerufen am 28.1.2022).
9 Vgl. dazu Jürgen Below, Hermann-Hesse-Bibliographie. Sekundär-Literatur 1899-2007, 5 Bde., Berlin 2007. Jürgen Below (1935-2019) war Mitglied der `Internationalen Hermann Hesse Gesellschaft´ (IHHG) und erwarb sich bleibende Verdienste bei der Erforschung von Leben und Werk Hermann Hesses. Nach seiner Pensionierung 1999 erstellte er innerhalb von acht Jahren eine umfangreiche Hermann-Hesse-Bibliografie. So entstand ein über 4000 Seiten umfassendes Werk, das sämtliche Hesse-Sekundärliteratur von 1899 bis 2007 verzeichnet. Vgl. dazu ders., Hermann-Hesse-Handbuch. Quellentexte zu Leben, Werk und Wirkung, FfM 2012; Michael Limberg, Hermann-Hesse-Bibliographie, in: Hermann-Hesse-Jahrbuch 1-5ff., hg. von Mauro Ponzi, Internationale Hermann Hesse Gesellschaft, Tübingen 2003-2012. Im weltweiten Netz ist Hermann Hesse gut greifbar unter: https://hesse.projects.gss.ucsb.edu (aufgerufen am 7.2.2022). Dort werden nicht nur Hesses Werke und Veranstaltungen zu Hermann Hesse aufgeführt, sondern es wird auch die Hesse-Sekundärliteratur umfassend bibliografisch genannt: https://hesse.projects.gss.ucsb.edu/publications/limberg.html (aufgerufen am 7.2.2022). Ein Blick in den Katalog der Deutschen Nationalbibliothek zeigt unter dem Namen des Autors 8343 Veröffentlichungen an. Zur Interpretation von Hesses Werk vgl. (bisher unübertroffen) Martin Pfeifer, Hesse-Kommentar zu sämtlichen Werken (st 1740). Überarbeitete und erweiterte Ausgabe des 1980 im Winkler Verlag (München) erschienenen Werkes, FfM 1990; ferner Jürgen Below, Hermann-Hesse-Handbuch. Quellentexte zu Leben, Werk und Wirkung, FfM 2012. In diesem Handbuch geht es u. a. um die Publikationsgeschichte des Hesse-Werkes und Hesses Lebensstationen (Rezensionen, Selbstzeugnisse, Briefzitate) sowie um Sekundärliteratur zu Forschung, Komparatistik, Beziehungsstrukturen, Medien und Institutionen samt bibliographischer Annotationen.
10 So wie mir damals scheint es einigen gegangen zu sein, vgl. dazu Manfred Züfle, Noch einmal Steppenwolf? Bericht von einer fragmentierten persönlichen Rezeption Hermann Hesses, in: „Höllenreise durch mich selbst.“ Hermann Hesse: Siddhartha – Steppenwolf, hg. v. Regina Bucher, Andres Furger und Felix Graf. Eine Publikation des Schweizerischen Landesmuseums Zürich in Zusammenarbeit mit dem Museo Hermann Hesse Montagnola, Zürich 2002, 177-188, bes. 177, oder Marc Reichwein, Hermann Hesse: Mein Lieblingshippie, in: Die Welt v. 05.08.2012, online zugänglich unter: https://www.welt.de/print/wams/kultur/article108481765/Mein-Lieblingshippie.html (aufgerufen am 9.6.2022).
11 Meine Beschäftigung mit Hermann Hesse reicht in meine Jugend im Weserbergland zurück. Ich erinnere mich, dass ich seine indische Heiligenlegende `Siddhartha´ in einer Nacht durchlas. In zwei Büchern vermerkte ich handschriftlich im Einband als Kaufdatum den 9.6.1980. Hesses `Steppenwolf´ erhielt ich im selben Jahr als Geschenk zu Weihnachten: Meine Freundin aus Schulzeiten, A. G. aus L., teilte mein Interesse für Hermann Hesse. Die grünen, braunen und blauen Suhrkamp-Taschenbücher, die die damals Siebzehnjährige mir, dem damals Sechzehnjährigen, schenkte, stehen, etwas aus der Zeit gefallen, noch heute in meinem Bücherregal. Auch anderen ging es so wir mir, dass sie Hesse-Bücher geschenkt bekamen, wodurch ihnen ein erster Zugang zu Hesses Werk eröffnet wurde, vgl. Barbara Traber, Eine weiße Wolke, in: Uli Rothfuss (Hg.), Mein Hermann Hesse. Eine Hommage, Berlin 2002, 188-192, bes. 188.
12 Hilfreich im Blick auf eine erste Orientierung ist der Artikel über Hermann Hesse im Internet-Lexikon `Wikipedia´: https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Hesse (aufgerufen am 26.9.2021). Dort findet man nicht nur Informationen zu seinem Leben, sondern auch zahlreiche Links zu seinem Werk, wie z. B. hier an der FU Berlin: https://web.archive.org/web/20160427230552/http://ub.fu-berlin.de/internetquellen/fachinformation/germanistik/autoren/multi_fgh/hesse.html (aufgerufen am 27.9.2021). Empfehlenswert für eine erste Annäherung an Hesse sind auch diverse Lexikonartikel, vgl. beispielsweise Thomas Feitknecht, Hermann Hesse, in: Historisches Lexikon der Schweiz, online zugänglich unter: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011946/2007-12-13/, oder Ernst Rose, Hesse, Hermann, in: Neue Deutsche Biographie (NDB), Bd. 9, Berlin 1972, online zugänglich unter: https://www.deutsche-biographie.de/gnd11855042X.html#ndbcontent (beide Links aufgerufen am 28.9.2021).
13 „Hesses Bücher wurden im Deutschland des Dritten Reiches weder verboten noch verbrannt“ (Bernhard Zeller, Hermann Hesse, a. a. O., 118). Hermann Hesse gehörte also nicht zu den `verbrannten Dichtern´, vgl. dazu Jürgen Serke, Die verbrannten Dichter. Lebensgeschichten und Dokumente. Mit einem Nachwort des Autors, Weinheim und Basel 1992. Die Sammlung des Journalisten Jürgen Serke (geb. 1938), der 1977 mit seinem genannten Werk eine Renaissance der 1933 von den Nazis verbrannten Literatur einleitete, wurde 2007 von der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft erworben und ist inzwischen in einer Dauerausstellung im Kunstmuseum Solingen öffentlich zu sehen, vgl. dazu: Himmel und Hölle zwischen 1918 und 1989. Die verbrannten Dichter, Sammlung Jürgen Serke, Berlin 2008, bes. 6-13 und 449-545, 456-468, sowie online: http://www.kaumkoetter.de/himmel-und-holle.html (aufgerufen am 15.6.2022).
14 Der französische Schriftsteller, Musikkritiker, Pazifist, Tierschützer und Literaturnobelpreisträger Romain Rolland (1866-1944) hält in seinem Tagebuch fest, dass Hermann Hesse im Jahr der Machtübernahme der Nazis „persönlich nicht zu leiden [hatte]. Gegen ihn sind noch keinerlei Maßnahmen ergriffen worden: er veröffentlicht weiterhin in Deutschland…“ (Aus dem Tagebuch Romain Rollands vom 17. September 1933, in: Volker Michels [Hg.], Hermann Hesse in Augenzeugenberichten, FfM 1987, 1991, 167-169, Zitat auf 167).
15 Hesses Briefe sind von Volker Michels herausgegeben worden unter dem Titel: Volker Michels (Hg.), „Ich gehorche nicht und werde nicht gehorchen!“ Hermann Hesse: Die Briefe, 1881-1904, Berlin 2012; ders. (Hg.), „Aus dem Traurigen etwas Schönes machen.“ Hermann Hesse: Die Briefe 1905-1915, Berlin 2013; ders. (Hg.), „Eine Bresche ins Dunkel der Zeit!“ Hermann Hesse: Die Briefe 1916-1923, Berlin 2015; ders. (Hg.), „In den Niederungen des Aktuellen.“ Hermann Hesse: Die Briefe 1933-1939, Berlin 2018, und ders., (Hg.), „`Große Zeiten´ hinterlassen große Schutthaufen“. Die Briefe 1940-1946, Berlin 2020. Andreas Solbach (geb. 1954) ist zuzustimmen, wenn er in seiner Hesse-Biografie über den Dichter schreibt: „Der genius loci seiner Kunst ist für alle in seinen Werken und Briefen offen sichtbar“ (Andreas Solbach, Hermann Hesse. Ein Schriftsteller auf der Suche, a. a. O., 205).
16 Vgl. Hermann Hesse, Der Steppenwolf (st 175), FfM 141980.
17 Florian Illies, Liebe in Zeiten des Hasses. Chronik eines Gefühls 1929-1939, FfM 2021, 32021, 107.
Fangen wir mit dem Anfang an, mit Hermann Hesses Geburt: Das Licht der Welt erblickte Hermann Karl Hesse in der schwäbischen Kleinstadt Calw18, und zwar am 2. Juli 1877 am Marktplatz 6 in einer im zweiten Stock gelegenen Mietwohnung um halb sieben Uhr abends.19 Er war der Sohn des baltendeutschen Missionars Johannes Hesse 20 und seiner fünf Jahre älteren Frau Marie Hesse, geb. Gundert, verw. Isenberg21 . Johannes Hesse, fünftes Kind des Kreisarztes und Staatsrates Carl Hermann Hesse22 , dessen Vorfahren als Kaufleute nach Estland ausgewandert waren, war in Weissenstein (heute: Paide), damals zum russischen Kaiserreich gehörend, geboren worden und besaß daher von Geburt an die russische Staatsbürgerschaft.23 Vom Pietismus24 geprägt, war der hochgebildete, sensible, stille und feingliedrige Mann von 1869 bis 1873 im Auftrag der Basler Mission in der Indienmission tätig gewesen. Es waren harte, entbehrungsreiche Jahre: Die Basler Mission hatte zum Ziel, das Evangelium in aller Welt auszubreiten – insbesondere unter denen, die es nicht kannten, unter den sog. `Heiden´. 25 Sie zu bekehren, war ihr primäres Ziel. 26 Johannes Hesse hatte als Sprachlehrer am Predigerseminar im indischen Mangalore gearbeitet. 27 Für ihn galt, wie es der pietistische Glaube verlangte, Gott zu dienen, den Kampf mit dem Satan aufzunehmen und die Sinnlichkeit und Lebensfreude mit starkem Willen und eiserner Disziplin zu bezwingen. Gesundheitliche Gründe – er erkrankte an der Ruhr – zwangen ihn jedoch, nach Europa zurückzukehren. In Calw wurde er im Dezember 1873 Assistent im `Calwer Verlagsverein´28, dessen Vorstand sein späterer Schwiegervater war; genau zwanzig Jahre später sollte er diesem in der Verlagsleitung folgen.
Hermann Gundert29, der insgesamt dreiundzwanzig Jahre lang in Südindien gelebt hatte, war nicht nur Verleger, sondern auch Historiker, Theologe, Lehrer, Sprachwissenschaftler und Schriftsteller. Noch heute wird er in Indien verehrt: In Thalassery, wo er die längste Zeit seines Indienaufenthaltes verbrachte, wurde ihm zu Ehren im Jahr 2000 ein ca. zehn Meter hohes Denkmal errichtet.30 1859 verließ er ebenfalls aus gesundheitlichen Gründen den Subkontinent und zog zusammen mit seiner Ehefrau31 nach Calw, wo er die folgenden dreißig Jahre den Calwer Verlagsverein32 leitete und damit zuständig für die Herstellung und weltweite Verbreitung christlicher Erweckungs- und Erbauungsliteratur (Missionsblätter, Traktate und Jugendschriften) war. Schon drei Jahre später wurde Gundert Chef des Verlagshauses. 1873 lernte seine Tochter, die verwitwete Marie Isenberg, in Calw Johannes Hesse kennen. Am 22. November 1874 heiratete die 31jährige den fünf Jahre Jün geren, den sie `Johnny´ nannte, und brachte zwei Söhne, nämlich Theodor Isenberg33 und Karl Isenberg34, aus ihrer ersten Ehe in ihre neue Verbindung mit. Gemeinsam bekam das Ehepaar Hesse dann noch vier weitere Kinder, zwei Töchter und zwei Söhne: Adele35, Marulla36, Hermann, gen. „Hermännle“37, und Hans Hermann.38
Ihr zweites gemeinsames Kind, ihr erster Sohn Hermann, kam in jenem bereits erwähnten Fachwerkhaus in Calw zur Welt, in das die Familie zweieinhalb Jahre zuvor eingezogen war.39 Hesses Mutter, „eine Gefangene der Routine und der Ängste ihrer Religiosität, nie wirklich fröhlich, nie wirklich frei in ihrem Tun“40, hielt in ihrem Tagebuch das besondere Ereignis fest: „… nach schwerem Tag schenkt Gott in seiner Gnade abends halb 7 Uhr das heißersehnte Kind, unsern Hermann, ein sehr großes, schweres, schönes Kind, das gleich Hunger hat, die hellen blauen Augen nach der Helle dreht und den Kopf selbständig dem Licht zu wendet, ein Prachtexemplar von einem gesunden, kräftigen Burschen.“41 Qua Geburt war das Kind über seinen deutsch-baltischen Vater Staatsbürger des russischen Zarenreichs.42 Von seinem Großvater Hermann Gundert wurde er in die evangelische Kirchengemeinde Calw hinein getauft.43
So wuchs Hermann Hesse mit fünf Geschwistern im wilhelminischen Zeitalter 44 zwar in einer bürgerlich-gebildeten, aber doch recht engen Familienatmosphäre mit rigiden christlichen Moralvorstellungen und einer klaren Einteilung der Welt in Gut und Böse, in fromm und ungläubig, beherrscht von vielen Ängsten und dem Glauben an den Teufel, heran.45 Bis 1881 verbrachte er seine Kindheit in dem Schwarzwaldstädtchen mit seinen Handwerkern, Kaufleuten, Handwerkern, Gerbern, und Flößern in einem ländlichen Ambiente.46 Ein im Fotografenstudio aufgenommenes gestelltes Foto zeigt den Vierjährigen mit seiner Botanisier-Trommel.47 Das fantasie- und temperamentvolle Kind liebte besonders die Geschichten vom Herrn Jesus, die seine Mutter ihm weitergab.48 Die Eltern erkannten mit der Zeit, dass sie mit der Erziehung dieses Kindes heillos überfordert waren.49 Als Johannes Hesse im Frühjahr einen Lehrauftrag für die Geschichte der Mission in der `Basler Mission´50 erhielt und zum Herausgeber des Missionsmagazins berufen wurde, zog die Familie in die Schweiz. Am 6. April 1881 fand der Umzug nach Basel statt, und zwar in ein großes Haus im Müllerweg 126, dem heutigen Spalenring. Es befand sich ganz in der Nähe der Schützenmatte.51 Dadurch, dass sein Vater 1882 das Basler Bürgerrecht erwarb, wurde die gesamte Familie automatisch zu Schweizer Staatsbürger:innen.52 1885 besuchte Hermann Hesse, inzwischen Baseldeutsch redend, die Internatsschule der Basler Mission, das sog. `Knabenhaus´, das in unmittelbarer Nähe zu seinem Elternhaus lag. Dort wurden all diejenigen Kinder beschult, deren Eltern im Ausland als Missionare eingesetzt waren. Es herrschten strenge pietistische Anstandsregeln. Hermann Hesse musste die ganze Woche über bleiben; nur am Sonntag war es ihm gestattet, seine Familie zu besuchen. Seine Eltern hatten in Sachen Erziehung des „abnormen Buben wie unseren Hermann“53 kapituliert und hatten sie deshalb in andere Hände abgegeben.54 Für Hermann Hesse war diese Zeit in Basel von 1881 bis 1886, das heißt, vom vierten bis zum neunten Lebensjahr, zum einen vom Spielen mit Schulfreunden und Schmetterlingsjagden55, zum anderen von Kindheitsängsten und Zwangsvorstellungen geprägt.56 Im Internat stieg in ihm erstmals das Gefühl von Isolation und Anderssein hoch. Er fühlte sich von seinen Eltern abgeschoben. Aus dem Abstand vieler Jahre heraus interpretierte er jedoch rückblickend sein Leben in Basel als „glückliche Kinderjahre“57. Seinen Teil dazu bei trug vermutlich der Leiter des Internats, Pfarrer Jakob Pfisterer58, bei dem der junge Hesse menschliche Wärme und Angenommensein erfuhr; auch über seine Schulzeit hinaus hielt er mit Pfisterer Kontakt.
Im Juli 1886 zog die Familie auf Wunsch Hermann Gunderts, dessen Frau im Jahr zuvor gestorben war und der mit 70 Jahren spürte, dass seine Kräfte langsam schwanden, wieder zurück nach Calw, zunächst ins Haus des Großvaters in der Bischofstraße 4.59 Das Komitee des Missionshauses hatte die Versetzung angeordnet und Johannes Hesse hatte sich gefügt, obwohl er sich in Basel sehr wohl gefühlt hatte.60 Hermann Gundert, von Hermann Hesse gleichermaßen geliebt wie respektiert, hatte einen prägenden Einfluss auf den kleinen Jungen.61 Vermutlich brachte der Großvater noch am meisten Verständnis für seinen problematischen Enkel auf.62 In der riesigen Bibliothek des hünenhaften, gebildeten, polyglotten Patriarchen mit dem weißen langen Bart fand Hesse neben alten verstaubten Folianten auch Literatur, die Jugendliche ansprach.63 In gläsernen Vitrinen lagen exotische, aus Indien stammende Exponate, gesammelte Erinnerungsstücke an die Zeit, in der Hermann Gundert im Einsatz der Mission unterwegs war: metallene indische Götter, Schildkröten aus Speckstein, gestickte Decken, Messingbecher und Schalen aus Holz. Sein Reich war sein Studierzimmer: Dort, inmitten von Kaffeegeruch und Pfeifenrauch, saß Hermann Gundert auf einem Kanapee an einem mit Büchern und Zeitschriften bedeckten Tisch und arbeitete an seinen Manuskripten. Die Welt in diesem Haus war geprägt von schwäbischer Heimatverbundenheit und enger Frömmigkeit sowie von der missionarisch-internationalen Weite. Zur strengen protestantischen Erziehung gehörten selbstverständlich Morgen- und Abendandachten, sonntäglicher Kirchgang, Bibelstunden und Missionsfeste. Bildung wurde großgeschrieben: Die Kinder sangen zusammen, jedes Kind lernte ein Instrument und man musizierte miteinander. Zum traditionellen Programm am Sonntag konnten ausgedehnte Spaziergänge nicht weggedacht werden, etwa auf dem Wiesenweg an der Nagold nach Hirsau. Alles ruhte auf den Pfeilern der pietistischen Frömmigkeitstradition.64 Der neunjährige Hesse kam in die zweite Klasse der Calwer Lateinschule, das sog. `Real-Lyceum´.65 Ihr Besuch „geriet für Hesse zum Schrecken. Die Lehrer waren gefürchtet, das Regiment war streng. Der Sadismus drückte sich beispielsweise in sogenannten `Tatzen´ aus – gemeint sind damit Ohrfeigen –, im `Hosenspannen´ und in Schlägen auf den Kopf.“66 Hesse erlebte die Schule als feindlichen Ort, an dem es ums Überleben ging. Seine Noten bewegten sich im Rahmen von `befriedigend´ und `genügend´; `gut´ blieb eine Ausnahme.67 Depressive Phasen wechselten sich ab mit Selbstzweifeln. Der Junge galt als eigenwillig, hochsensibel, energiegeladen, impulsiv, unaufmerksam und `schwer erziehbar´; er testete Grenzen aus, er gab Widerworte, der Umgang mit ihm war anstrengend. Nach heutigen Maßstäben erfüllte er alle Kriterien für ein Kind, das an einem „Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom mit Hyperaktivität“ 68 litt. Medikamente wie Ritalin, Methylphenidat oder Lisdexamfetamin, mit denen der Leidensdruck von Kindern heute gelindert werden kann, gab es damals noch nicht. In Calw war der Sohn des Missionars bekannt wie ein bunter Hund.69 Er hatte dafür auch alles getan: „Einmal hatte er eine Waldwiese abgefackelt und seine Familie wegen der drohenden Strafe in größte Nöte gebracht. (…) Er setzte das Bett seines Vaters mit einer Petroleumlampe in Brand und brachte bei einem Bootsausflug den Kahn zum Kentern.“70 Ein andermal hatte er sich Salpeter für ein Feuerwerk gekauft und mit Schwarzpulver gemischt.71 Nachdem es nicht gleich losgegangen war, wollte er nachschauen und beugte sich darüber. Die Folge waren großflächige Verbrennungen im Gesicht, so dass es verbunden werden und eine Woche lang das Bett hüten musste. Strafen waren an der Tagesordnung, die Tränen des Kindes ebenso. Es schien so, als würde sich der schulische Druck ein Ventil suchen.72
Im Alter von dreizehn Jahren wusste der `Tagträumer´, dass er seine Zukunft selbst gestalten musste und „Dichter oder gar nichts werden“73 wollte. Die Eltern wollten für ihren Sohn hin gegen, dass er wie viele Mitglieder der Familie einmal das geistliche Amt ausüben sollte, und dazu gehörte eine entsprechende Vorbereitung.74 Diese erhielten die Kandidaten durch das sog.
`württembergische Landexamen´75. Wer zum Landexamen den Einlass geschafft hatte, für den übernahm der Staat nicht nur sämtliche Kosten für die schulische Internatsausbildung, sondern auch für das darauf folgende Theologiestudium am `Tübinger Stift´76, und dessen Lebensweg stand fest: entweder Katheder oder Kanzel.77 Deshalb schickten die Eltern Hermann Hesse 1890/91 auf die Lateinschule nach Göppingen.78 An der Pädagogik hatte sich mit der Versetzung wenig geändert.79 Es herrschte Drill, sechs Tage die Woche, von acht bis zwölf und von vierzehn bis neunzehn Uhr. Sonntags fanden zwei Stunden zusätzlicher Unterricht statt. Zu den Unterrichtsfächern zählten Latein, Griechisch, Französisch, Deutsch, Religion, Mathematik, Geometrie, Geografie und Geschichte. Hesse beschrieb in einem Brief an seine Mutter bzw. an seine Eltern die Atmosphäre, die in der Lateinschule herrschte und von der harten körperlichen Züchtigung der Schüler mit dem Rohrstock durch die Lehrer geprägt war. Gewalt gehörte zum herrschenden Konzept der `schwarzen Pädagogik´ in der wilhelminischen Ära.80 Zu dieser Zeit stellten sich bei Hermann Hesse körperliche Molesten ein, die ihn zeitlebens plagen sollten: Kopf- und Augenschmerzen sowie Atemnot – vielleicht auch ein Resultat jener Art von Schulstress, dem er ausgesetzt war.81
Im Juli 1891 bestand Hermann Hesse das `Landexamen´.82 Seine Mutter hatte ihn zu den Prüfungen, vor denen er so viel Angst gehabt hatte und die sich bei sengender Sommerhitze in Stuttgart über drei Tage erstreckten, begleitet. Sie bestanden aus einem schriftlichen und einen mündlichen Teil. Geprüft wurden die Fächer Latein, Griechisch, Deutsch, Mathematik und Religion. Die Zeit zwischen dem `Landexamen´ und dem Schulbeginn verbrachte Hesse in Calw und erholte sich. Er hatte gezeigt, was in ihm steckte, und seine Eltern schienen zum ersten Mal zufrieden mit ihm zu sein. Doch es wurde ihm jetzt auf einmal bewusst: Nun war seine Kindheit, „erfüllt von Jenseitsblumenduft und bitteren Todesengeln“83, endgültig vorbei. Am 15. September 1891 trat Hermann Hesse, wiederum in Begleitung seiner Mutter, ins Klosterseminar in Maulbronn ein.84
Zunächst gefiel dem Vierzehnjährigen das Seminar, die im Kraichgau zwischen Schwarzwald und Odenwald gelegene vollständig erhaltene mittelalterliche Klosteranlage – trotz der einundvierzig Stunden wöchentlichen Unterrichts, den er erhielt.85 Zu seinen Schulfächern gehörten Mathematik, Deutsch, Französisch, Geografie, Geschichte, Turnen, Gesang und – gemäß dem klassischen Bildungskanon dieser Zeit – Latein, Griechisch und Hebräisch.86 Hesse wurde außerdem in den schönen Künsten, in Klavier und Geige, unterrichtet.87 Wie alle Heranwachsenden seines Alters diskutierte er – mit einigen Mitschülern in der Schlafstube `Hellas´ untergebracht und deren gewählter Sprecher – gern und leidenschaftlich mit seinen Altersgenossen, u. a. über Freiheit, Freundschaft und Demokratie.88 Er erfreute sich am Seminaristenleben, lobte den guten Kaffee und die Mahlzeiten – dreimal pro Woche war Bier erlaubt, der Genuss von Wein und Tabak war jedoch verboten – und zeigte sich von der schönen Umgebung begeistert.89 Doch mit der Zeit machte es der pubertierende Jugendliche auch hier seinen Lehrern nicht leicht.90 Er galt zwar als begabt, aber auch als äußerst schwierig, war noch immer aufbrausend, jähzornig, aggressiv, impulsiv, verletzlich, verletzend, launisch, depressiv und stur.91 Diesem Verhalten begegnete man damals mit der größten pädagogischen Selbstverständlichkeit durch Strafen: Mehr als ein mal erhielt Hermann Hesse Arrest oder wurde von seinen Mitschülern längere Zeit isoliert.92 Die Zeit des deutschen Kaiserreichs, dessen pädagogische Ideale eher an Gleichschritt und Gehorsam orientiert waren als an dem der Freiheit des Einzelnen, machte es Jugendlichen wie Hesse schwer. Die Schulzeit wurde für den heranreifenden Einzelgänger und Individualisten zur Qual. Er sah sich auf eine Laufbahn zusteuern, die er auf keinen Fall wollte, weil sie seiner Neigung in keiner Weise entsprach und die er mit einer Einschränkung seiner persönlichen Freiheit verband. Sein Ziel war es, wie gesagt, Dichter zu werden und sonst nichts.93 In einer Schule aufgenommen worden zu sein, die auch der von ihm verehrte Friedrich Hölderlin94 schon besucht hatte, schien ihm dafür eine gute Ausgangsposition zu sein. Doch Hesse, immer schon zugleich renitent und genial, hatte nicht nur mit ungerechten, autoritären Lehrern, sondern auch mit ihn mobbenden Mitschülern zu tun, die ihm – neidisch auf die ihm zufallenden Leistungen – Häme und Spott entgegenbrachten. Suiziddrohungen95 und ein Nervenzusammenbruch waren die Folge, die in Morddrohungen gegenüber seinem Mitschüler Otto Hartmann96 eskalierten.
Nach sieben Monaten im Seminar, am 7. März 1892, verschwand der `rebellische´ Junge aus der Schule. Er lief einfach weg – vermutlich eine Impulshandlung, ohne erkennbare Warnzeichen vorab.97 Lehrer und Schüler bemerkten plötzlich, dass er am Nachmittag fehlte. Die Eltern wurden von der Schulleitung telegrafisch benachrichtigt, dass ihr Sohn plötzlich verschwunden war.98 Die umliegenden Wälder wurden in Gruppen abgesucht. Abends kam ein weiteres Telegramm, dass die bisherige Suche erfolglos gewesen war. Erst einen Tag später wurde der Ausreißer von der Polizei aufgegriffen.99 Er war ohne Geld unterwegs gewesen und hatte mit durchnässter Kleidung die kalte Nacht ohne Mantel in einem Heuschober verbracht.
Erschöpft und hungrig kehrte er, von einem Gendarmen, einem sog. `Landjäger´, begleitet, nach Maulbronn zurück. 100 Zu Hause in Calw fühlten sich seine Eltern in die schlimmsten Zeiten mit Sohn Hermann zurückversetzt. Die Angst, dass er gesündigt haben könnte, war besonders für Marie Hesse ein unerträglicher Gedanke.101 Sie hatte schon der Gedanke beschlichen, dass ihr Hermann vielleicht gestorben war. Groß war ihre Erleichterung, als sie erfuhr, dass er unversehrt wieder nach Maulbronn zurückgebracht worden war. Warum genau Hesse damals aus dem Seminar floh, ist bis heute ein Rätsel geblieben. Sicherlich waren schwere innere seelische Konflikte, eine innere Zerrissenheit, die auch für die kommenden Jahren prägend war, die schwerwiegenden Probleme des Jugendlichen mit einer autoritären Erziehung und eine völlige Überforderung die Ursache für seine Rebellion, zugleich „der Beginn der Loslösung vom pietistischen Milieu seines Elternhauses und rückblickend Hesses Selbstausrufung als eigenständige Persönlichkeit.“102
Der Lehrerkonvent befand Hesse als nicht mehr länger tragbar für das renommierte Internat; u. a. gefährdete er den Seelenfrieden seiner Mitschüler, so hieß es.103 Seine Schulerfahrungen und seine depressiven Seelenzustände in dieser Zeit sollte Hesse später literarisch erfolgreich verarbeiten.
Am 7. Mai 1892, genau zwei Monate nach seiner Flucht, nach Wochen der physischen und psychischen Schwäche, wurde Hermann Hesse endgültig aus dem Seminar in Maulbronn entlassen – ein Abschied für immer. Marie Hesse holte ihren Sohn, der inzwischen in der Schulgemeinschaft sozial isoliert und teils für geisteskrank gehalten worden war, in Maulbronn ab.104 Nun begann für den pubertierenden Jugendlichen eine Odyssee durch einige Institutionen. Sie wurde begleitet von heftigen Konflikten Hesses mit seinen Eltern. Die sich um ihren Sohn sorgende Marie Hesse reiste mit ihrem Sohn zunächst zu Pfarrer Christoph Blumhardt105, einem charismatischen Glaubensbruder und Freund der Familie, in das am Nordrand der Schwäbischen Alb gelegene Bad Boll.106 Diesem Geistlichen eilte damals, ähnlich wie seinem Vater, der Ruf als Exorzist, als Teufelsaustreiber, und magischer Gebetsheiler voraus, der psychische Störungen durch Gebete und Zucht, d. h. strenge Exerzitien, zu heilen in der Lage war.107 Christoph Blumhardt war bereit, den Jungen in seiner privaten Heilanstalt, seinem christlichen Erholungshaus, aufzunehmen und die Gründe für sein Verhalten genauer zu eruieren.108 Zu diesem Zeitpunkt hatte es den Anschein, als hätte Hesses Vorhaben, ein Dichter wie sein Vorbild Hölderlin zu werden, im Wahnsinn geendet und der Dichtertraum schien ausgeträumt. Er bekam ein eigenes Zimmer und durfte seine Zeit u. a. mit Lesen verbringen, aber natürlich gehörten auch das Gebet und ausgedehnte Spaziergänge zu seinem speziellen Rekonvaleszenz-Programm. Hesse verhielt sich zunächst konform; doch mit der Zeit regte sich auch hier sein Widerstandsgeist und er rebellierte gegen ähnlich religiöse Strukturen und Inhalte, gegen die er sich auch schon zu Hause aufgelehnt hatte. Am 20. Juni 1892 unternahm Hesse einen Suizidversuch: Kurz vor seinem fünfzehnten Geburtstag wollte er sich aus Liebeskummer – eine nicht erwiderte Liebe zu einer zwanzig Jahre älteren Bekannten seines älteren Stiefbruders Theo, die er bei einem Besuch in Cannstatt kennengelernt hatte, war die Ursache – mit einem gebrauchten Revolver, den er sich mit geborgtem Geld bei einem Altwarenhändler besorgt hatte, erschießen; der Suizid klappte nicht, weil die Pistole, eher ein Museumsstück als eine Waffe, eine Ladehemmung hatte. Daraufhin empfahl Blumhardt – völlig außer sich, weil Hermann Hesse sein Vertrauen missbraucht hatte und zudem ein Suizid eines seiner Patienten das Ende seines guten Rufes und ein Fi asko für sein gesamtes Unternehmen bedeutet hätte – der Familie nur vierzehn Tage später, ihn in eine `Irrenanstalt´, wie es damals hieß, in eine `Anstalt für Schwachsinnige und Epileptische´, einweisen zu lassen. Blumhardt war davon überzeugt, dass Hesse von `Bosheit und Teufelei´ besessen war.109
Und so geschah es. Der Hausarzt der Familie veranlasste die Einweisung des Jungen gegen dessen Willen. Erneut war es Hesses Mutter, die den inzwischen Fünfzehnjährigen Ende Juni 1892 in Begleitung ihres Bruders David Gundert110 aus Bad Boll abholte und ihn in die `Heil- & Pflegeanstalt´ des Pfarrers Gottlob A. Schall111 nach Stetten im Remstal bei Stuttgart brachte.112 Als Hesse sich seiner Situation bewusst wurde, schrie er: „In dieses Gefängnis wollt ihr mich sperren? Lieber springe ich in den Brunnen dort!“113 Von der Gesamtsituation völlig frustriert, reiste Hesses Mutter nach Calw zurück. Er arbeitete indes in Stetten u. a. im Garten der Anstalt – zeitlebens würde der Garten für ihn eine Art Gegenwelt bedeuten, „ein spiritueller Ort“114, und er würde in der Gartenarbeit Ablenkung, inneren seelischen Halt und einen Ausgleich zur geistigen Arbeit finden115 – und half beim Elementarunterricht geistig behinderter Kinder mit. Bis spät in die Nacht las er in seinem Zimmer. Seinen Eltern berichtete er minutiös seinen Tagesablauf und beschrieb auch sein gutes Verhältnis zum Anstaltsdirektor. Er schien sich vermutlich der großen Gefahr, in der er sich befand, bewusst zu sein: Denn in der damaligen Gesellschaft offiziell als `Irrer´ abgestempelt zu werden, konnte mitunter lebensbedrohlich sein. In einem Gedicht hielt Hermann Hesse seine Gefühle aus dieser Zeit fest: „Leb wohl, du altes Elternhaus,/Ihr werft mit Schande mich hinaus,…/Leb wohl, du Gott der ganzen Welt,/Dem man den Bügel dienend hält,/Vom Dienen bin ich dumpf und matt,/Das Dienen hab ich lange satt./ Zum Teufel geht die Freiheit auch,/Sie war ja immer höchstens Rauch,/Ich werd’ ins Irrenhaus geschickt,/Wer weiß – ich bin wohl gar verrückt.“116
Hesse blieb zunächst sechs Wochen: Seine Strategie zu kooperieren, keinesfalls aufzufallen und möglichst schnell wieder in die Freiheit zu gelangen, ging auf. Er verbrachte die Sommerferien in Calw. Zwar hatte Johannes Hesse inzwischen erkannt, dass es besser war, seinen Sohn, der offensichtlich seine Nervenschwäche von ihm geerbt hatte, in ärztliche Behandlung zu geben und ihm zu helfen, statt ihn in einer Anstalt weiterhin wegzusperren. Aber kaum war Hermann Hesse zu Hause angekommen, da verwandelte er sich wieder in den schwer erziehbaren Sohn. Da das Zusammenleben mit seinen Eltern nicht funktionierte und das Verhältnis nach wie vor konfliktbeladen war, ließen diese ihn zwei Wochen später erneut in Stetten einweisen. Im September 1892 schrieb der pubertierende Hermann Hesse seinem Vater von dort einen anklagenden Brief.117 Im Unterschied zu früheren Schreiben, die sehr offengehalten waren, redete Hesse darin seinen Vater mit `Sie´ und `Sehr geehrter Herr´ an.118 Er beschuldigte ihn, ihm die Freude am Leben genommen zu haben und hielt ihm gegenüber fest, dass aus ihm ein anderer, ein `Welthasser´, geworden war, der seinem Leben gerne ein Ende bereiten würde. Unterschrieben war der in aggressiv-ironisierendem Ton gehaltene Brief mit „H. Hesse, Gefangener im Zuchthaus zu Stetten…“119.
Sich von seinen Eltern und darüber hinaus von Gott und der Welt verlassen fühlend, brach er mit den starren pietistischen Traditionen seiner Familie, die er nur noch als scheinheilig empfand. Nach vier Monaten wurde Hermann Hesse am 5. Oktober 1892 aus der Nervenheilanstalt Stetten entlassen. Diagnostiziert worden waren bei ihm neben Größenwahn – er würde von großen dichterischen Erfolgen träumen –, `moralischer Schwachsinn´, `primäre Verrücktheit´ und `Melancholie´120. „Das Aufbegehren gegen jede Form der Nötigung, Fremdbestimmung und Domestizierung wird fortan eines der Leitmotive seines gesamten späteren Werkes werden.“121
Hermann Hesse – inzwischen hatte er sich bei seinen Eltern entschuldigt und Pfarrer Schall war nun der festen Überzeugung, dass sich der Verdacht auf `primäre Verrücktheit´ nicht bewahrheitete und dass sein junger Patient nicht geisteskrank war – begab sich vorübergehend zu Pfarrer Pfisterer nach Basel. Dieser war, wie bereits erwähnt, sein Lehrer an der Knabenschule der Basler Mission gewesen. Hesse tauchte wieder ein in das Fluidum seiner Kindheit in Basel und wohnte wieder, wie seinerzeit als Sechsjähriger, im Knabenhaus der Mission. Einen Monat lang blieb er in Basel: Er erkundete die Stadt mit Pfisterers gleichaltrigem Sohn und erholte sich. Seine Schlafstörungen ließen nach, sein Appetit kehrte zurück. Pfisterer kümmerte sich um Hesse und behandelte ihn nicht als Kranken. Er hielt den Fünfzehnjährigen vielmehr – ganz im Gegenteil – für sein Alter für geistig sehr entwickelt. Und er wirkte auf Johannes Hesse ein, seinem Sohn eine weiterführende Schule zu ermöglichen. Dieser zweifelte stark daran, dass eine neue Schule und ihr geregelter Betrieb mit dem unbändigen Freiheitsdrang seines Sohnes zu vereinbaren war. Aber er ließ sich auf das Experiment ein.
Anfang November 1892 verließ er die Schweiz wieder, um das städtische Gymnasium in Cannstatt zu besuchen.122 Dort kam er in einer bescheidenen Unterkunft unter.123 In den darauffolgenden Monaten trieb sich der Sechzehnjährige in Kneipen herum, fing an zu rauchen und machte nach dem ersten Bier in Maulbronn nun seine Erfahrungen mit härteren alkoholischen Getränken – was zur Folge hatte, dass er nicht einzuschätzen in der Lage war, wieviel er vertragen konnte, und des Öfteren betrunken nach Hause kam. Er machte Schulden in den Wirtshäusern, schwänzte tagelang die Schule und sah sich gezwungen, einen Teil seiner Bücher zu verkaufen, um seine Trinkschulden zu begleichen.124 Mit der Religiosität seines Elternhauses hatte er zu diesem Zeitpunkt ganz gebrochen. Großvater Hermann Gundert schrieb über ihn: „Entschieden sagt er sich von allem Glauben los, verachtet alle unsere Bücher und trachtet denen nach, die nach Heines Art spotten.“125 Er drohte wieder mit Suizid, so dass ihm sein Vater seinerseits drohte, ihn erneut in die
Psychiatrie einweisen zu lassen.126 Nach einem halben Jahr bestand er das `Einjährigen-Examen´127, brach dann jedoch im Oktober 1893 wegen `unaufhörlicher Kopfschmerzen´, Zahnschmerzen, Rheumatismus und Schlaflosigkeit – das beherrschende Thema seiner Briefe aus dieser Zeit – die Schule ab bzw. verließ sie mit der Obersekundarreife. Noch immer überlegten die Eltern, ob ihr Sohn nicht doch das Abitur machen und danach studieren sollte, gaben dann aber nach kurzer Zeit auf. Am 15. Oktober 1893 holten sie ihren Sohn nach Calw zurück. Hesses Onkel David Gundert verschaffte ihm zum 25. Oktober 1893 eine Lehrstelle in der Buchhandlung Mayer128 in Esslingen am Neckar. Die Lehre war auf drei Jahre angelegt; doch schon nach drei Tagen hielt es Hermann Hesse nicht mehr aus und lief davon. In Stuttgart wurde er aufgegriffen und nach Hause zurück gebracht. Johannes Hesse konsultierte daraufhin erneut einen Nervenarzt für seinen Sohn, um dessen Gemütszustand untersuchen zu lassen.129 Der Vater-Sohn-Konflikt war jetzt unübersehbar geworden. 130 Der Anstaltsarzt empfahl Johannes
Hesse am 3. November 1893, dass sich sein pubertierender, zartbesaiteter Sohn eine Zeit lang in Calw aufhalten sollte. Er riet ihm, äußerst behutsam mit dem jungen Mann umzugehen, damit nicht seine Seele langfristig Schaden nahm. Über ein halbes Jahr lang lebte Hesse nun wieder in der nervösen Enge bei seinen Eltern, ging tagsüber leichter Bürotätigkeit im Calwer Missionsverlag nach, erledigte Handlangerdienste und Botengänge und verbrachte die Abende in der reichlich bestückten Bibliothek seines inzwischen verstorbenen Großvaters.131 Er erholte sich bei ausgedehnten Spaziergängen und Wanderungen und ging im Winter Schlittschuhlaufen auf der zugefrorenen Nagold.
Im Juni 1894 dann begann Hesse auf seinen eigenen Wunsch hin eine 14-monatige Schlosserlehre in der Turmuhrenfabrik des Heinrich Perrot in Calw.132 Die Arbeit war monoton, aber der Tag bekam dadurch eine Struktur. Außerdem wurde Hesse in Ruhe gelassen, niemand wollte etwas von ihm, niemand erteilte ihm gut gemeinte Ratschläge.133 Bei dieser handwerklichen Tätigkeit fand er allmählich zu seiner inneren Ruhe und auch zu seiner Heiterkeit zurück. Erstmals kam der intellektuelle, wenig praktisch veranlagte Hesse in diesem Handwerksbetrieb mit der werktätigen Bevölkerung zusammen. Er war häufig mit seinen Kollegen zusammen, die sich an den Umgang mit dem ehemaligen Stipendiaten erst gewöhnen mussten, trank mit ihnen nach Feierabend ein Bier und rauchte. Abends fiel er erschöpft ins Bett. Im September 1895 hielt er dann ein Zeugnis von Heinrich Perrot in Händen, der ihm trotz vieler Fehlzeiten wohlwollend bescheinigte, die Lehre erfolgreich abgeschlossen zu haben.134 Pläne seines Cannstatter Deutschlehrers Dr. Ernst
Kapff135 für ihn, danach per Schiff nach Brasilien auszuwandern, scheiterten an der mangelnden Unterstützung durch seinen Vater.136 Nach all den Irrungen und Wirrungen der vergangenen drei Jahre hatte Hesse an seinem Plan festgehalten, ein Dichter zu werden, und sah sich im Buchhandel einen wichtigen Schritt auf diesem Weg gehen: Bis er selbst Bücher schreiben würde, wollte er das Geschäft mit Büchern kennenlernen. In einem Brief an Ernst Kapff klang diese Entscheidung so: „Jetzt erst habe ich allmählich wieder Ruhe und Heiterkeit gefunden, bin geistig gesund geworden – von jener bösen Zeit voll Zorn und Haß und Selbstmordgedanken will ich nimmer sprechen. (…) Jetzt ist diese Zeit vorbei. Immerhin hat sie mein dichterisches Ich ausgebildet; die tollste Sturm- und Drangzeit ist glücklich überstanden.“137
18 Ein Stadtplan mit Erläuterungen von Calw zur Zeit von Hesses Geburt, der auch Querverbindungen zum Werk Hesses zieht, befindet sich bei Ulrich Ott (Hg.), Hermann Hesse 1877-1962. Bearbeitet von Volker Michels, Paul Rathgeber, Eugen Würzbach (Sonderheft Marbacher Magazin 54/1990 für die Ausstellung im Hermann-Hesse-Museum der Stadt Calw), Marbach 21999, 90-95. Heute wirbt Calw, „die schönste Stadt von allen aber, die ich kenne“, wie Hesse 1918 in `Heimat´ über seine Geburtsstadt schrieb, mit dem berühmten Dichter, vgl. Edi Graf, Der Schwarzwald. Täler, Tannen, Traditionen, Messkirch 2011, 15,
19 Seine Geburt wurde im `Calwer Wochenblatt´ v. 10.7.1877 öffentlich angezeigt. Drei Häuser wird die Familie Hesse in Calw bewohnen: Zur Wohnung im Haus am Marktplatz 6 kommen die Wohnung im Gebäude des `Calwer Verlagsvereins´ in der Bischofstraße 4 (1886), die Wohnung in der Ledergasse (1889) und wieder die Wohnung im Gebäude des Verlages (1893). Vgl. dazu Joseph Mileck, Hermann Hesse. Dichter, Sucher, Bekenner, a. a. O., 15-22.
20 Johannes Hesse (1847-1916) hatte im Alter von vier Jahren seine Mutter verloren. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Reval (heute Tallinn) wurde er in Basel bei der Basler Mission zum Missionar ausgebildet und dann nach Indien entsandt. Über ihn ist bekannt, dass er als Kind jähzornig und depressiv war und als Erwachsener an heftigen Kopfschmerzen litt. Das Selbstverständnis des späteren Leiters des Calwer Missionsverlages war das eines Wissenschaftlers und Autors. Er wurde auch schriftstellerisch tätig; so verfasste er eine Biografie seines Schwiegervaters Hermann Gundert. Hermann Hesse zufolge sprach sein Vater, den er als zerbrechlich und zart beschrieb, ein reines Hochdeutsch und blieb daher in Süddeutschland und in der Schweiz zeitlebens ein Fremder, vgl. Hermann Hesse 1877-1977. Stationen seines Lebens, des Werkes und seiner Wirkung. Gedenkausstellung zum 100. Geburtstag im Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar 1977, 22ff. Das Grab von Johannes Hesse ist erhalten; es befindet sich in Korntal/Landkreis Ludwigsburg: https://de.findagrave.com/memorial/178769696/johannes-hesse (aufgerufen am 20.3.2022). In diesen Ort, damals mit der Basler Mission eng verbunden, war Johannes Hesse 1905 zusammen mit seiner Tochter Marulla gezogen. Nach dem Tod ihres Vaters blieb sie in Korntal und arbeitete dort als Erzieherin. Dank des Engagements von Korntaler Bürger:innen konnte der Grabstein von Johannes und Marulla Hesse auf dem Alten Korntaler Friedhof restauriert werden, vgl. Stuttgarter Zeitung v. 20.11.2020.
21 Marie Isenberg, geb. Gundert, verw. Isenberg (1842-1902) wurde in Thalassery, an der Westküste Indiens, geboren. Sie war die älteste Tochter des Indologen Hermann Gundert, der dort eine evangelische Missionsstation betrieb, und der Schweizerin Julie Dubois (1809-1885). Sie wuchs bei Pflegeeltern in Basel auf und reiste erst 1857 zu ihren Eltern nach Indien; dort arbeitete sie als Hilfslehrerin und Sekretärin, bis sie mit ihren Eltern 1862 nach Europa zurückkehrte. Nachdem sie den britischen Missionar Karl `Charles´ Wilhelm Heinrich Isenberg (1840-1870) kennengelernt und geheiratet hatte, zog sie nach Heiderabad. Weil ihr Ehemann schwer an Ruhr erkrankte, fuhr sie mit ihm und ihren beiden Söhnen nach Deutschland zurück. Dort starb Charles Isenberg im Alter von 29 Jahren. Die zu diesem Zeitpunkt 28jährige Witwe bekam nach ihrer zweiten Heirat mit Johannes Hesse weitere Kinder – insgesamt neun –, von denen drei jedoch das Erwachsenenalter nicht erreichten. Das zweite gemeinsame Kind war Hermann Hesse. Zeitgenössische Fotos zeigen die streng pietistische Frau, deren zuversichtlicher Glaube an Gott jeder Erschütterung standhielt und für die Selbstbeherrschung und Selbstaufopferung Programm waren, mit zusammengepressten Lippen und nach hinten gekämmten Haaren. 1871/72 unterrichtete sie als erste Lehrerin an einer württembergischen Realschule Englisch in der Oberstufe. Sie starb 1902 an einem qualvollen Nierenleiden. Ihr Grab befindet sich, zusammen mit dem anderer Familienmitglieder, in Calw.
22 Dr. med. Carl Hermann Hesse wurde am 16. Februar 1802 in Tartu, Estland, geboren. Er führte in Weissenstein ein christliches Waisenhaus. Erst 1876 reiste Johannes Hesse mit seiner neugegründeten Familie über Lübeck per Schiff zu seinem Vater. Im hohen Alter von 94 Jahren starb Carl Hesse am 8. November 1896 in Paide. Zu Hermann Hesses Vorfahren vgl. André Uzulis, Hermann Hesse, a. a. O., 11-26, und Volker Michels (Hg.), Hermann Hesse. Sein Leben in Bildern und Texten. Mit einem Vorwort von Hans Mayer (it 1111), FfM 1979, 1987, 26-30.
23 Zur Stammtafel der Familie Hesse-Gundert und der Familie Hesse vgl. Hermann Hesse 1877-1977, a. a. O., 16f. und 26f.
24 Der Pietismus war ursprünglich eine Reformbewegung innerhalb des deutschen Protestantismus: Das Priestertum aller Gläubigen stand im Vordergrund; die Kirche und ihre Sakramente waren sekundär, auch die Rolle des Pfarrers; Gruppen, die keinen Pfarrer benötigten, wurden favorisiert. Christus, so die Idee, greife direkt in das Leben der Gläubigen ein – durch die persönliche Bekehrung des Einzelnen, nicht durch die Lehre oder durchs Amt – und schaffe so einen neuen Menschen. Der Pietismus widmete sich besonders der Mission, der Bibelverbreitung und der Erziehung der Jugend. Weil Pietist:innen von der Sündhaftigkeit des Menschen ausgingen – der Mensch war von Natur aus böse, deshalb musste sein Wille gebrochen werden, um ihn für Christi Liebe empfänglich zu machen (vgl. Michael Limberg, Hermann Hesse und seine Mutter, in: Hermann Hesse Jahrbuch Bd. 4, hg. v. Mauro Ponzi, Berlin-New York 2009, 77-96, bes. 77), vertraten sie in der Pädagogik, dass Kinder – wie der Mensch allgemein – grundsätzlich schlecht, sündig und schuldig waren und ausschließlich auf dem Wege strenger Erziehung unter der Brechung ihrer Individualität und ihres Willens auf den rechten Pfad der Tugend geführt werden konnten. Oft wurde dazu das Evangelium als Zuchtrute missbraucht. Kindliche Vergehen zogen daher peinliche Verhöre von Erwachsenen nach sich und hatten die Reue des Missetäters zum Ziel. Verbunden damit war eine rigide, zwanghafte Sexualmoral. Das übliche kulturelle und gesellschaftliche Leben wurde für gewöhnlich als zügellose Begierde abgelehnt, desgleichen Theater, Oper, Tanz und schöngeistige Literatur. Pietist:innen waren ausschließlich danach bestrebt, dem Teufel zu widerstehen, oftmals unter der Negierung der eigenen Individualität ihr Leben Gott zu widmen, sich Gott unterzuordnen und ihm unbedingt zu dienen. Hermann Hesse erlebte diese religiöse Lebensweise und die aus ihr resultierende Erziehung als äußerst einengend; sein Freiheitsdrang wurde aus dieser Enge gespeist. Vgl. dazu Barry Stephenson, Veneration and Revolt. Hermann Hesse and Swabian Pietism, Waterloo/ON 2009, und Christoph Gellner, Zwischen Ehrfurcht und Revolte: Hesse und die Doppelgesichtigkeit der Religion, online zugänglich unter: https://www.hermannhesse.de/media/christoph_gellner_-_zwischen_ehrfurcht_und_revolte.pdf (aufgerufen am 20.10.2022).
25 Die europäischen, mit reichlich Standesdünkel ausgestatteten Missionare waren überwiegend der Meinung, „dass Nichtchristen Heiden, ihre Götter Götzen, ihre Geister Teufel und ihre Religionen Aberglauben“ (Volker Michels, Wege zu Hermann Hesse. Im Widerstand gegen den Zeitgeist. Essays & Reden, Band 1, FfM 2021, 47) waren.
26 Hermann Hesse schrieb 1955, seiner Zeit weit voraus, in einem Vorwort für das japanische Lesepublikum eines seiner Bücher: „Es geht heute nicht mehr darum, Andersgläubige zum Christentum… zu bekehren. Wir sollen und wollen nicht bekehren und bekehrt werden, sondern uns öffnen und weiten. Wir erkennen östliche und westliche Weisheit nicht mehr als feindlich sich bekämpfende Mächte, sondern als Pole, zwischen denen fruchtbares Leben schwingt“ (Volker Michels, Wege zu Hermann Hesse, a. a. O., 51).
27 Missionseinsätze waren in pietistischen Kreisen im 18. Jahrhundert und auch danach nichts Ungewöhnliches, vgl. dazu den Katalog: Durch die Welt im Auftrag des Herrn. Reisen von Pietisten im 18. Jahrhundert, hg. v. Anne Schröder-Kahnt und Claus Veltmann, Halle 2018, bes. 13-27 und 49-65.
28 Heute beherbergt das Gebäude des Calwer Verlagsvereins einen Einkaufsmarkt und Büros, vgl. Uli Rothfuss, Hermann Hesse privat, a. a. O., 19. Hesse-Biograf Rothfuss beleuchtet die entscheidenden Orte zu Zeiten Hesses und vergleicht sie mit der Gegenwart. Letztmalig hatte Hermann Hesse mit seinem Sohn Bruno 1931 Calw einen Besuch abgestattet, vgl. Uli Rothfuss, Hermann Hesse privat, a. a. O., 39f.
29 Hermann Gundert (1814-1893) wurde nach seinem Theologiestudium in Tübingen 1835 zum Dr. phil. promoviert. Er lernte Sanskrit und in England dann Bengali, Telugu, Marathi und Urdu. Im Auftrag der Basler Mission ging er 1838 nach Nettur, wo man Malayalam sprach, was er ebenfalls lernte. In Malabar im heutigen Kerala in Südindien gründete er eine Missionsstation und Schulen, entwickelte Lehrpläne, verfasste mehrere volkskundliche und historische Bücher, darunter das erste Malayalam-English-Dictionary (Malayalam war die von den Keralesen verwendete Sprache), und lebte den interkulturellen Dialog. Ferner übertrug er die Bibel und zahlreiche Kirchenlieder ins Malayalam. 1857 wurde er von der britischen Kolonialregierung zum Schulinspektor der Provinzen Malabar und Kanara eingesetzt. Zu Hermann Gundert in nuce vgl. Momente. Beiträge zur Landeskunde von Baden-Württemberg 2/02, 4-13, und ausführlich Hermann Gundert, Schriften und Berichte aus Malabar mit Meditationen und Studien. Und: Tagebuch aus Malabar 1837-1859, hg. v. Albrecht Frenz, Ulm-Stuttgart 1983. Der promovierte Herausgeber Albrecht Frenz (geb. 1937), evangelischer Pfarrer und Gundert-Spezialist, ist u. a. der Gründer der Hermann-Gundert-Gesellschaft.
30 Auch in Deutschland erfuhr Hermann Gundert Ehrungen: Die Stadt Calw erklärte anlässlich Gunderts 200. Geburtstages das Jahr 2014 zum Gundert-Jahr. Im Oktober 2015 wurde an der Universität Tübingen der `Gundert Chair´ eingerichtet, an dem Dozenten aus Indien lehren. Dort wurde auch der Nachlass Gunderts mit Hilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft digitalisiert und im November 2018 über das `Gundert Portal´ im Netz veröffentlicht: https://www.gundert-portal.de (aufgerufen am 25.2.2022). In Stuttgart gibt es seit 1993 die `Hermann-Gundert-Gesellschaft e. V.´, die im Mai 1993 anlässlich Gunderts 100jährigen Todestages in Stuttgart gegründet worden war: Ihr Ziel ist Völkerverständigung, insbesondere die Förderung des interkulturellen Dialogs, vor allem zwischen Indien und Deutschland. Zu diesem Zweck fanden und finden Tagungen, Seminare, Konferenzen, Ausstellungen und Austauschprogramme statt. Außerdem organisiert die Gesellschaft geführte Studienreisen nach Südindien. Zur Website geht es hier: https://www.gundert.org (aufgerufen am 25.2.2022).
31 Julie Dubois (1809-1885), eine aus der französischen Schweiz stammenden Lehrerin, und Hermann Gundert hatten am 23. Juli 1838 geheiratet. Sie war die erste Missionarsfrau der Basler Mission in Ostindien und gründete dort Mädchenschulen. Sie sprach kaum Deutsch, sondern Französisch und Englisch; Aufzeichnungen von ihr über den neugeborenen Hermann Hesse auf Englisch sind erhalten geblieben.
32 Den Verlag hatte Christian Gottlob Barth (1799-1862) 1836 in Möttlingen bei Calw gegründet, um mit seinen Publikationen rationalistische Tendenzen in der zeitgenössischen Theologie zu bekämpfen, vgl. Hermann Hesse 1877-1977, a. a. O., 39ff. Als Theologiestudent hatte Gundert ein Erweckungserlebnis gehabt, nachdem er anscheinend durch sein Gebet einen Kommilitonen vom Suizid abgehalten hatte – der Auslöser, 1835 in die Mission nach Indien zu gehen. Zurück in Calw, edierte er in seinem Verlagshaus indisch-englische Grammatiken, Wörterbücher, Lexika und Bibelübersetzungen. Von 1862 bis 1905 dienten Hesses Großvater und seine Eltern dem Verlag.
33 Theodor Isenberg (1866-1941) wurde in Haiderabad (im heutigen Pakistan) als erster Sohn des Missionars Karl Isenberg geboren. In Basel und Schopfheim absolvierte er eine Lehre zum Apothekergehilfen. Von 1885 bis 1887 besuchte er das Musik-Konservatorium in Stuttgart, von 1887 bis 1889 das Konservatorium in Sondershausen und wurde Opernsänger, zunächst in der Oper in Groningen. 1890, inzwischen zum Atheisten geworden, kehrte er in seinen alten Beruf zurück und übernahm nach dem dreisemestrigen Studium der Pharmazie, das er mit dem Apothekerexamen abschloss, die Verwaltung der Apotheke in Aidlingen. 1911 erhielt er eine Konzession für die Apotheke in Haiterbach. 1896 hatte er in Calw die Jüdin Martha Cohen (1870-1944) geheiratet, die zum Protestantismus konvertierte und mit der zusammen er sechs Kinder aufzog. Gunhilde Bühler, geb. Isenberg, gen. Gundel, Hesses Nichte, wanderte 1952 nach Australien aus. Hermann Hesse wurde durch Theodor Isenberg vermutlich zum Schreiben angeregt, weil sein Stiefbruder ihm gezeigt hatte, „dass Kunst etwas mit Aufbegehren, mit Freiheit und dem Ausleben des wahren Seins zu tun hatte“ (André Uzulis, Hermann Hesse, a. a. O., 32).
34 Karl Isenberg (1869-1937), der wie sein älterer Bruder in Haiderabad geboren wurde und dadurch bis zu seinem Eintritt ins Maulbronner Seminar 1883 britischer Staatsbürger war, war der Sohn von Hesses Mutter Marie aus erster Ehe. Er wurde nach dem Studium der Alt- und Neuphilologie und der Mathematik (1888-1893) Gymnasiallehrer in Ellwangen und Ludwigsburg. Mit dessen Sohn, seinem Neffen Karl Isenberg, jun. (gen. Carlo, 1901-1944) – er hatte nach der Schulzeit in Maulbronn und Blaubeuren Philologie in Tübingen und München und danach Musik in Stuttgart studiert, wurde Musiklehrer und dann Organist und gilt als im Zweiten Weltkrieg verschollen –, gab Hesse von 1925-1927 einige Bände in der Reihe `Merkwürdige Geschichten und Menschen´ im S. Fischer Verlag heraus (vgl. Hermann Hesse 1877-1977, a. a. O., 293), und setzte ihm im `Glasperlenspiel´ in der Figur des `Carlo Ferromonte´ ein literarisches Denkmal, denn Hesse verdankte seine Kenntnisse in Musiktheorie und -geschichte weitgehend dem Gedankenaustausch mit `Carlo´ Isenberg. Seine Schwester Marie beging im Februar 1945 Suizid, nachdem sie ihre drei Kinder getötet hatte: Ihr Ehemann war als Mitglied der SS im Umkreis von Heinrich Himmler (1900-1945) im Zuge der sog. `Endlösung´ an der technischen Massenvernichtung der europäischen Juden in Gaskammern persönlich beteiligt gewesen, vgl. Gunnar Decker, Hesse, a. a. O., 569f. Hermann Hesse hielt zu seinen beiden älteren Brüdern sein Leben lang Kontakt. Karl Isenberg starb am 29. März 1937 in Tübingen, wo er seinen Ruhestand verlebte; auf dem Lustnauer Friedhof fand er seine letzte Ruhestätte.
35 Adele Gundert (1875-1949) heiratete ihren Cousin, den Pfarrer Hermann Gundert (1876-1956), Mitglied der `Bekennenden Kirche´, und lebte mit ihm viele Jahre in Eckenweiler, einem heutigen Stadtteil von Rottenburg am Neckar im Landkreis Tübingen. Die älteste Schwester Hesses war oft in Montagnola bei ihrem Bruder zu Gast, wenn ihre Schwägerin auf Reisen war. Hermann Hesse hatte zeitlebens eine intensive emotionale Bindung zu seiner älteren Schwester. Über 1700 Briefe, die sich Bruder und Schwester im Laufe ihres Lebens schrieben, sind erhalten geblieben. Aus ihnen geht u. a. hervor, dass Adele Gundert ihren `kleinen Bruder´ mütterlich umsorgte und ihm in schweren Zeiten bedingungslos den Rücken stärkte. Nachdem Hesse sie zehn Jahre lang nicht gesehen hatte, gelang es ihm schließlich, im Juli 1946 eine Ausreisegenehmigung aus der französischen Besatzungszone für sie zu erwirken.
36 Marie `Marulla´ Hesse (1880-1953), die jüngere Schwester Hermann Hesses, wurde in der Wohnung am Marktplatz in Calw geboren. Sie war später Hauslehrerin bei einem baltischen Baron und assistierte nach dem Tod ihrer Mutter 1902 ihrem Vater. Nach dessen Tod 1916 wurde sie Lehrerin an einem evangelischen Töchterinstitut, gab Privatunterricht und wurde schließlich Erzieherin in Korntal/Landkreis Ludwigsburg. Auf dem dortigen Friedhof befindet sich ihr Grab: https://de.findagrave.com/memorial/178115673/marie-hesse (aufgerufen am 20.3.2022). Es gibt Fotos von ihr und ihrem Bruder, als sie diesen 1939, 1946 und 1950 jeweils einige Wochen im Tessin besuchte. Seine zwei Jahre ältere Schwester Adele stand Hesse näher als die jüngere Schwester Marulla.
37 Adele Gundert, Marie Hesse. Die Mutter von Hermann Hesse, FfM-Leipzig 2018, 172.
38 Zwei weitere Kinder, Paul (1878) und Gertrud (1879-1880), waren als Säuglinge gestorben. Die Geschwister, zu denen Hermann Hesse zeitlebens eine enge Beziehung hatte, sind abgebildet bei: http://www.martinhesse-fotoarchiv.ch/hermann-hesse-mitadele-und-marulla/ (aufgerufen am 18.2.2022). Ein Bild der Familie aus der Kindheit ist zu sehen in: Volker Michels (Hg.), Hermann Hesse. Sein Leben in Bildern und Texten, a. a. O., 34.
39 Zum Hintergrund der Kleinstadt im Schwarzwald vgl. ausführlich Herbert Schnierle-Lutz, Hermann Hesse. Schauplätze seines Lebens (it 1964), FfM und Leipzig 1997, 11-109. Inzwischen gibt es von diesem Buch eine überarbeitete und aktualisierte Neuauflage, vgl. Herbert Schnierle-Lutz, Auf den Spuren von Hermann Hesse. Calw, Maulbronn, Tübingen, Basel, Gaienhofen, Bern und Montagnola, Berlin 2017.
40 André Uzulis, Hermann Hesse, a. a. O., 28.
41 Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert. Hermann Hesse in Briefen und Lebenszeugnissen. Erster Band 1877-1895, hg. v. Ninon Hesse, FfM 1966, Zitat auf 8. Ninon Hesse hatte Briefe Hesses, oft ohne dessen Wissen, abgeschrieben und aufbewahrt. Kurz vor ihrem Tod hatte sie den ersten Band von Hesses Jugendbriefen fertigstellen können. Er enthielt 157 Briefe Hesses.
42 Hermann Hesse, der zwar über seine Großmutter mütterlicherseits schweizerische Wurzeln hatte, aber zeitlebens Deutschland als seine geistige Heimat begriff, war also nicht als Deutscher, sondern als Russe geboren worden. Von 1883 bis 1890 und ab 1924 war er Staatsbürger der Schweiz, dazwischen besaß er die württembergische Staatsbürgerschaft, vgl. dazu weiterführend Siegfried Unseld, Hermann Hesse und die Schweiz, in: Hermann Hesse, Beschreibung einer Landschaft. Schweizer Miniaturen. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Siegfried Unseld (st 1970), FfM 1992, 9-28. Hesse verstand sich als Teil des alemannischen Lebens- und Kulturkreises, der den nördlichen Schwarzwald, Zürich, Basel, den Bodensee und die Vogesen umschließt und bis nach Bern reicht. Er hat sich dazu einmal in seinem `Alemannenbuch´, einer 1919 veröffentlichten Anthologie, geäußert, vgl. dazu Volker Michels, Wege zu Hermann Hesse, a. a. O., 353-375, und Gunnar Decker, Hesse-ABC, Leipzig 2002, 18, sowie Hermann Hesse, Alemannisches Bekenntnis, in: Hermann Hesse, Beschreibung einer Landschaft, a. a. O., 29-33.
43 Hermann Hesse erhielt seinen Vornamen nach seinen beiden Großvätern. Das Calwer Taufbuch, in dem die Taufe am 3. August 1877 unter der Nr. 89 vermerkt wurde, ist zu sehen in: Volker Michels (Hg.), Hermann Hesse. Sein Leben in Bildern und Texten, a. a. O., 18. Nachdem Hermann Hesse selbst Vater geworden war und ein konfessionsübergreifendes Christentum vertrat, ließ er keinen seiner drei Söhne taufen; sie sollten, sobald sie mündig waren, selbst entscheiden, ob und welcher Kirche sie angehören wollten (wobei sich einer dagegen und zwei dafür entschieden).
44 Am 9. März 1888 war Kaiser Wilhelm I. (1797-1888) und 99 Tage später sein Sohn Friedrich III. (1831-1888) an Kehlkopfkrebs gestorben. Deshalb gelangte sein junger Enkel, Wilhelm II. (1859-1941), auf den Thron - körperbehindert zur Welt gekommen, wurde er später auch psychisch auffällig.
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