Klaus Mann. Ein Schriftsteller in den Fluten der Zeit - Thomas O. H. Kaiser - E-Book

Klaus Mann. Ein Schriftsteller in den Fluten der Zeit E-Book

Thomas O. H. Kaiser

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Beschreibung

Der Schriftsteller Klaus Mann, ältester Sohn Thomas Manns, war einer der schärfsten literarischen Kritiker des Nationalsozialismus. Das Buch zeichnet die Entwicklung nach, die Klaus Mann in seinem Leben vollzogen hat, und beschreibt die unterschiedlichen Facetten seines Werkes. Dabei finden auch die Zeitumstände, in denen Klaus Mann gelebt hat, besondere Berücksichtigung. Das Buch richtet sich an alle, die sich für die Literatur der Weimarer Republik, die Zeit des Nationalsozialismus und des Exils sowie für die Familie Mann interessieren. Ein `Who is Who´ bei Klaus Mann gestattet es, einzelne Personen einordnen zu können, die in Klaus Manns Leben und seiner Zeit eine Rolle gespielt haben.

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Meiner Schwester Heidrun Koch zum 60. Geburtstag gewidmet

„Ich habe nie einer politischen Partei angehört, noch habe ich mich je um die spitzfindigen Argumente und zwielichtigen Intrigen von Berufspolitikern gekümmert. Meine Sicht der entscheidenden Themen der modernen Gesellschaft ist eher emotional als intellektuell – nicht dogmatisch, sondern menschlich. (...) Meine politischen Ansichten und Handlungen sind stets mehr von meinen persönlichen Erfahrungen und Impulsen als von abstrakten Prinzipien bestimmt worden. Das einzige `Prinzip´, an das ich mich halte, ist mein hartnäckiger Glaube an einige grundlegende moralische Ideale – Wahrheit, Ehre, Anstand, Freiheit, Toleranz.“

Erika Mann

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1. Kindheit und Jugend

2. In der Weimarer Republik

3. Die Goldenen Zwanziger Jahre

4. Der Nationalsozialismus kommt

5. Die Machtübernahme der Nazis

6. Der Weg ins Exil

7. Im Exil

8. Auswanderung nach Amerika

9. Der Wendepunkt

10. Zurück in Deutschland

11. Das Leben nach dem Krieg

12. Das Ende

Anstelle eines Nachworts

`Who is Who´ bei Klaus Mann

Literaturverzeichnis

Zum Autor

Zur Künstlerin und zum Bild

Vorwort

Klaus Mann ist mir in literarischer Form zum ersten Mal in einer unscheinbaren Buchhandlung in der unscheinbaren Kleinstadt Holzminden im Jahre 1981 begegnet. Ich war Schüler an einem der dortigen unscheinbaren Gymnasien. Der Rowohlt-Verlag hatte sein auf dem Index der verbotenen Schriften befindliches Buch `Mephisto´ herausgebracht, das ich kaufte und innerhalb kürzester Zeit las.1 Zusammen mit anderen Jugendlichen interessierte ich mich für `Deutschland im Nationalsozialismus´. Ich fragte mich vor allem, wie es zum Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden und zu weiteren Verbrechen gegen die Menschlichkeit kommen konnte, wie das terroristische Unrechtssystem funktionierte, wie sich das Deutschland der blühenden Weimarer Republik ins Deutschland der braunen Diktatur hatte verwandeln können. Wieso konnten beispielsweise Kranke als sog. `lebensunwertes Leben´ umgebracht werden? Wie sah der Alltag im sog. `Dritten Reich´ aus? Wie war der Einzelne in den NS-Staat verwoben? Mir wurde klar, dass es keine einfachen und monokausalen Antworten auf die Frage gab, wie das nationalsozialistische Terrorregime mit seinem `Rassen´-Wahn im Land der Dichter und Denker möglich geworden war.2

In meiner Schulzeit ist der Nationalsozialismus eher am Rande behandelt worden. Die Zeit von 1933 bis 1945 wurde von meinen Geschichtslehrerinnen und -lehrern Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre gerne – wie zufällig? – ausgeklammert. Keiner von ihnen, so hatte ich den Eindruck, wollte sich damals so recht an das Thema herantrauen. Insgesamt gesehen hatte sich gesellschaftlich ein bleierner Teppich des Schweigens über die NS-Zeit gelegt.3 Die große Geschäftigkeit, die der wirtschaftliche Aufbruch nach dem Krieg und die Wirtschaftswunderzeit mit sich gebracht hatten, korrespondierte im Laufe der Jahre mit einer allgemeinen geistigen Behäbigkeit. Zur deutschen Geschichte nach 1945 gehört auch, dass diejenigen, die den Nationalsozialismus aktiv unterstützt hatten, ungebremst in einer anderen Staats- und Gesellschaftsordnung weiter machten: der Bundesrepublik Deutschland, denn diese hatte die Rechtsnachfolge des sog. `Dritten Reiches´ angetreten. Bald gingen besonders viele Juristen, die schon im sog. `Dritten Reich´ gewirkt hatten, vom Staatsdienst in der Diktatur naht- und bruchlos in den Staatsdienst in der Demokratie über.4 Kritische Fragen nach der Vergangenheit schienen zu stören. Erst viele Jahre später sollte sich dieser unsägliche Zustand des Schweigens ändern.5

Unter uns Schülern hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass in der Nähe unseres Heimatortes Eschershausen, im `Stollen Gustav´ im Hils, einem nahe gelegenen Mittelgebirgszug, die legendäre `Wunderwaffe V 2´ gebaut worden war. Unsere Nachforschungen erbrachten damals keine Resultate. Vorwiegend ausweichend waren die Antworten der Erwachsenen auf unsere kritischen Nachfragen. Gefühlsmäßig war uns jedoch klar: Irgendetwas war hier `faul im Staate Dänemark´ – man wusste anscheinend etwas, verschwieg es uns aber offensichtlich6 , wollte auf keinen Fall mit uns darüber reden. Erst Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre machte sich, initiiert von einem Lehrer eines Holzmindener Gymnasiums, ein kleiner Arbeitskreis aus historisch interessierten Ehrenamtlichen aus dem Landkreis Holzminden an die Erforschung der jüngsten Vergangenheit im südlichen Niedersachsen. Ein Stückweit konnte jetzt Licht ins Dunkel der Nazizeit gebracht werden. Insbesondere wurde die Geschichte aufgehellt, was die KZs in unserer Nähe und die Zwangsarbeit anbetraf.7 Auch die Vertreibung und die Vernichtung der in Stadtoldendorf beheimateten Juden8, das langjährige nachbarschaftliche Verhältnis von Christen und Juden und die Vernichtung der jüdischen Gemeinde in der Kreisstadt Holzminden9 wurden in dieser Zeit erstmals kritisch aufgearbeitet. Die Mitglieder des Arbeitskreises fanden heraus, dass das „KZ Eschershausen“10 vom 14. September 1944 bis zum 3. April 1945 zu einem Außenlager des KZ Buchenwald, einem der größten Konzentrationslager im sog. `Dritten Reich´, gehört hatte, und legten offen, dass hier und in einem weiteren Außenlager im benachbarten Dorf Holzen Tausende von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern im Zusammenhang der VW-Rüstungsproduktion eingesetzt worden waren.11 Das Gerücht hatte sich also bewahrheitet! Häftlingstransporte gingen von hier aus über das Celle in das Vernichtungslager Bergen-Belsen und in andere KZs12 – unwahrscheinlich, dass aus den Kreisen der Bevölkerung niemand davon etwas mitbekommen haben sollte.13 Die Stadt Eschershausen, in der ich aufgewachsen bin – am 1. Januar 2011 mit Stadtoldendorf im Samtgemeindeverband fusioniert –, ist bis heute nicht willens oder fähig, dieses dunkle Stück ihrer Vergangenheit kritisch aufzuarbeiten:14 Vom Rat der Stadt beauftragte Historiker legten ihre Forschungsergebnisse über Eschershausen für das Jahr 1900, die Jahre 1918 bis 1933 und die 1950er- und 1960er-Jahre vor; den Zeitraum 1933 bis 1945 sparten sie bisher aus.15 Zu alledem erfuhr ich viel später, dass die Bürgerinnen und Bürger meines Geburtsortes Stadtoldendorf im Weserbergland schon früh Adolf Hitler16 hinterhergelaufen waren und die Stadtoberen den hysterisch-fanatischen Massenmörder und „Terrorist(en) des Jahrhunderts“17 zu ihrem Bürgermeister hatten machen wollen – um ihm damit zu der für seine Kandidatur bei den Reichspräsidentschaftswahlen erforderlichen deutschen Staatsbürgerschaft zu verhelfen.18 Nur durch die zuvorkommende Aktion der Stadt Braunschweig, die den Österreicher zum Regierungsrat ernannte und ihn dadurch einbürgerte, wurde Hitler nicht Bürgermeister von Stadtoldendorf!19

Ich vermute, im Umgang und in der Verarbeitung der Schrecken des nationalsozialistischen Terrorregimes und in der Kultur des Schweigens in der bundesrepublikanischen Gesellschaft noch Anfang der achtziger Jahre 20 liegen die Ursachen für mein persönliches Interesse an der Zeit des Nationalsozialismus und für meine Abneigung gegen jegliche Form totalitärer Strukturen: Mich interessierte herauszubekommen, wie das Leben in der nationalsozialistischen Diktatur funktionierte, welche Mechanismen zum Zuge kamen, wer wie und warum die Zeichen der Zeit erkannte und wer nicht, wer das System unterstützte und in ihm Karriere machte, wer wie das Land verlassen konnte und wer sich zum Widerstand gegen die Diktatur entschlossen hatte.

Klaus Mann war einer der ersten, der mir als Jugendlichem auf der Suche nach Antworten auf meine Fragen authentisch begegnete. Was ich von ihm las, war etwas vollkommen anderes als das, was ich in der Schule über den Nationalsozialismus erfuhr. Schon bald war ich von dieser exzeptionellen Persönlichkeit in einem Umfeld bedeutender Persönlichkeiten fasziniert. Ich lernte über die Literatur jemanden kennen, der die Gefahr für Leib und Leben erkannt, das Land rechtzeitig verlassen und dann dem Nationalsozialismus nach seinen Möglichkeiten Widerstand geleistet hatte. Als beeindruckend empfand ich die Weitsicht Klaus Manns, auch seiner Schwester Erika Mann-Auden, und den Individualismus, den er vertrat – das in einer Zeit, in der in Deutschland `Gemeinschaft´ um jeden Preis gefordert und im Gleichschritt nicht nur marschiert, sondern mehrheitlich auch gedacht wurde. Warum hatten nicht andere ähnlich wie Klaus Mann gehandelt? Seine Sprache, der literarische Stil, den er pflegte, die Beschreibungen des Alltags im Hause Mann und die Erzählungen von bedeutenden Personen der modernen Geistesgeschichte, die den literarischen Außenseiter umgaben, samt seiner Schärfe der Systemanalyse gefielen mir und waren eine Antwort auf meine kritischen Fragen in jungen Jahren.

Indem ich mich weiter mit dem Leben und Werk Klaus Manns beschäftigte, erfuhr ich auch viel vom historischen Kontext der Zeit, in der er lebte. Von seiner selbstzerstörerischen Drogensucht und seinen schlimmen Depressionen ahnte ich damals noch nichts – auch nicht, wie viel Raum das Thema Homosexualität in seinem Werk einnahm. Mich interessierte dieses Thema, das genau genommen Klaus Manns Lebensthema war, nicht; mir hatte es vielmehr der Schriftsteller angetan – der hellsichtige Kämpfer gegen den Faschismus, der unangepasste Freigeist, der freiheitlich denkende Individualist. Leben und Werk seines Vaters Thomas Manns, des Meisters der Ironie und des literarischen Manierismus, sowie dessen gebrochene Bürgerlichkeit, verbunden mit dem Morbid-Dekadenten seiner Familie21, fand ich damals genauso wenig spannend wie heute – da waren Leben und Werk des unbürgerlichen Bertolt Brecht in meiner Sturm-und-Drang-Zeit schon faszinierender als die des bürgerlichen Thomas Mann.

Nach Klaus und Thomas Mann lernte ich noch die anderen Mitglieder der Familie Mann aus der Literatur kennen.22 Insbesondere Heinrich Mann las ich gerne und veröffentlichte schließlich Jahre später als Frucht literarischer Auseinandersetzung einen Essay zu dessen Leben und Werk23 – weit vor der Renaissance der Familie Mann im Fernsehen und im Kino. Bereichernd war es für mich, Frido Mann, den sog. Lieblingsenkel Thomas Manns24, im Jahr 2009 persönlich kennenzulernen. Er hatte Klaus Mann als seinen geistesverwandten Lieblingsonkel bezeichnet.25 Geduldig und freundlich beantwortete er anlässlich einer Lesung aus seinem Roman `Achterbahn´26 in der Kadelburger Bergkirche in einer offenen Gesprächsatmosphäre vor einem interessierten Publikum Fragen zu seinem Leben und zu dem seiner Familie.27 Mich überraschte, wie schnell Frido Mann, ganz ähnlich Klaus Mann, dachte und sprach und auch satzmelodisch der Stimme seines Onkels sehr nahekam.28

Mit der Zeit musste ich feststellen, dass die Ausführungen zu Klaus Mann viel länger wurden, als ich zu Beginn meiner Beschäftigung mit dem Thema eigentlich beabsichtigt hatte. Ich hatte unterschätzt, dass ich mich mit einem literarischen Tycoon des 20. Jahrhunderts auseinandersetzte, dessen Werk heute ca. 9000 Druckseiten umfasst – von 1924 bis 1949 veröffentlichte Klaus Mann durchschnittlich jedes Jahr ein Buch und alle zwei Wochen einen Artikel – und das in Gänze bis jetzt noch immer nicht ganz erfasst ist: Bis 2010 waren beispielsweise seine Tagebücher, eine Art „Röntgenaufnahme seines Außen- und Innenlebens“29 für die Öffentlichkeit gesperrt30 und noch immer scheint es unveröffentlichte Korrespondenz zu geben. Immer wieder tauchen beispielsweise unversehens Briefe aus dem Kreise der Familie Mann auf.31

So entstand dieses Buch, an dem ich in unregelmäßigen Abständen von 2005 bis 2015 gearbeitet habe. Eine große Hilfe zum Verständnis von Klaus Manns Leben und Werk waren mir in dieser Zeit die einschlägigen Publikationen von Uwe Naumann32 und Fredric Kroll33. Sie haben die Schriften Klaus Manns sowohl in den 1990er-Jahren als auch anlässlich der Wiederkehr seines 100. Geburtstages im Jahr 2006 sehr gut aufbereitet. Auch die Arbeiten von Nicole Schaenzler34 und Armin Strohmeyr35 waren für mich weiterführend. Dank Internet kam ich schnell an Informationen über Zeitgenossinnen und Zeitgenossen Klaus Manns, an die zu gelangen vor knapp dreißig Jahren in Eschershausen, wo es nur eine spärlich ausgestattete kirchliche Bibliothek und eine kleine Buchhandlung gab, mir als einem literarisch interessierten Jugendlichen unmöglich gewesen wäre.36

Da ich manchmal einfach, oft aber mühsam die politischen, zeitgeschichtlichen und biografischen Zusammenhänge recherchieren musste, habe ich einen ausführlichen Anmerkungsapparat beigefügt, durch den Leserin und Leser bei der Lektüre das Verstehen der komplexen Zusammenhänge erleichtert werden soll. Im Literaturverzeichnis sind die Bücher, auf die in den Fußnoten verwiesen wird, leicht auffindbar. Weitere Bücher, die Eingang ins Buch gefunden haben, sind dort ebenfalls erwähnt.37

Ich hoffe, dass der vorliegende Beitrag zu Klaus Mann über Auskunft gibt: jenen unbequemen Individualisten, dem Freiheit lieber war als Sicherheit, der nicht mitmachte, als viele mitmachten, und der wie viele seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen an den Umständen seiner Zeit gescheitert ist. Ich wünsche mir, dass meine Darstellung von Leben und Werk Klaus Manns ein Stück weit dazu beiträgt, für die Nachgeborenen die Zeit der Nazi-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs, die für viele in Deutschland so einschneidend war und die bis heute in den Familien nachwirkt, verständlicher zu machen und das Bewusstsein dafür wach zu halten, dass so etwas nie wieder geschehen darf – weder in Deutschland noch irgendwo sonst auf der Welt!

Klaus Mann – das ist seine Geschichte!

1 Vgl. dazu den Hintergrundbericht in: DER SPIEGEL 40/1981, 228-238: „Mephisto. Die Gründgens-Legende“. Von dem Buch wurden damals über eine Million Exemplare verkauft. Es ist bis heute offiziell in der Bundesrepublik Deutschland verboten. Das silberfarbene Taschenbuch aus dem Rowohlt-Verlag, das ich am 16. Januar 1981 in der `Müllerschen Buchhandlung´ in Holzminden gekauft habe, befindet sich bis heute in meinem Eigentum. Ich zitiere im Folgenden nach dieser Ausgabe, vgl. Klaus Mann, Mephisto. Roman einer Karriere, Reinbek 1980, 21981.

2 Diese Frage scheint noch heute viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zu beschäftigen, wie der Besuch der Ausstellung `Hitler und die Deutschen – Volksgemeinschaft und Verbrechen´ im Berliner Deutschen Historischen Museum vom 15.10.2010 – 6.2.2011 gezeigt hat, vgl. DIE ZEIT v. 14.10.2010, 21.

3 Carl-Hans Hauptmeyer, u. a. Professor für Regionalgeschichte an der Leibniz-Universität Hannover, schreibt treffend: „Viele wollten nicht eingestehen, dass sie moralisch in einem Teil ihres Lebens versagt hatten. Viele waren als junge Menschen wie selbstverständlich in das NS-System hineingewachsen und von ihm geprägt“ (Carl-Hans Hauptmeyer, Geschichte Niedersachsens, München 2009, 113). Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich, geb. Nielsen (1917-2012) und ihr Ehemann, der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich (1908-1982), untersuchten den Massenwahn des Nationalsozialismus sowie die Verstrickung in Schuld und veröffentlichten 1967 ihr Buch `Die Unfähigkeit zu trauern´ über die kollektive Reaktion, sich nicht persönlich mit der Vergangenheit im sog. `Dritten Reich´ auseinandersetzen zu wollen.

4 Es ist kein einziger Fall bekannt, dass ein Richter oder Staatsanwalt in der NS-Zeit für seine verbrecherischen Urteile später in der Bundesrepublik Deutschland belangt wurde. Fast allen Amtsträgern wurde es gestattet, ihre Robe nach 1945 wieder anzuziehen. Wie kein anderer Berufsstand überdauerte die deutsche Justiz das Ende des NS-Staates, der sich als Unrechts- und Mordmaschinerie entpuppt hatte.

5 Dies geschah u. a. durch aufklärerische oder die Zuschauer emotional berührende Sendungen im Fernsehen und im Kino wie `Holocaust´, Steven Spielbergs `Schindler´s List´ oder dann, noch später, durch das Buch des 1959 geborenen US-amerikanischen Soziologen Daniel Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, München 2000. Der britische Historiker Ian Kershaw (geb. 1943) spricht in diesem Zusammenhang von einem Trauma und einer `seelischen Wunde im nationalen Bewusstsein der Deutschen´, vgl. Ian Kershaw, Der NS-Staat, Hamburg 1985, 42009, 386. 2013 wurde das Thema des Schweigens über die Nazi-Zeit in der 14 Millionen teuren ZDF-Produktion `Unsere Mütter, unsere Väter´ wieder aufgegriffen, vgl. DIE ZEIT v. 14.3.2013, 55.

6 Der tödlich verunglückte Hans-Jürgen Krahl (1943-1970), einst Mitglied der CDU (1961) und Begründer der `Jungen Union´ in Alfeld/Leine, dann Mitglied im SDS, neben Rudi Dutschke einer der führenden Theoretiker der 68er-Studentenbewegung und Doktorand bei Theodor W. Adorno (1903-1969), beschrieb einst seine – und damit meine – ländliche südniedersächsische Heimat als `unterentwickelt´ und `finster´ und sprach von dem Vorhandensein einer Blut- und Boden-Ideologie: „In Niedersachsen, jedenfalls in den Teilen, aus denen ich komme, herrscht noch zum starken Teil das, was man als Ideologie der Erde bezeichnen kann...“ (http://www.krahl-seiten.de/, Lebenslauf, aufgerufen am 12.3.2015) und FR v. 3.2.2005, 28f.

7 Vgl. Detlef Creydt/August Meyer, Zwangsarbeit für die Wunderwaffen in Südniedersachsen 1943-1945, Bd. 1, Braunschweig 1993, hier besonders Kapitel III: „Das Leben und Sterben in den Lagern um Eschershausen“ (115ff.) sowie TAH v. 24.1.2001, 10 und 29.1.2001, 11.

8 Vgl. Christoph Ernesti, Sie waren unsere Nachbarn. Die Geschichte der Juden in Stadtoldendorf. Ein Gedenkbuch mit Beiträgen von Günther Lilge, hg. von der Stadt Stadtoldendorf, Holzminden 21996; vgl. dazu auch TAH v. 4.6.1996, 11. Seit Dezember 2007 erinnern Stolpersteine in Stadtoldendorf an die Schicksale jüdischer Bürger.

9 Vgl. Klaus Kieckbusch, Von Juden und Christen in Holzminden 1557-1945. Ein Geschichts- und Gedenkbuch, Holzminden 1998, bes. 507ff. Deportierte Jüdinnen und Juden aus Holzminden wurden in Auschwitz, Sobibor, Treblinka, Majdanek und anderen KZs ermordet. Seit 1999 wurde von der Stadt Holzminden, die nach 1945 zur britischen Besatzungszone gehörte hatte, in unmittelbarer Nähe des städtischen Torhauses eine zentrale Erinnerungstafel an die deportierten und ermordeten jüdischen Bürger Holzmindens angebracht.

10 Als ich mit Konfirmandinnen und Konfirmanden im Jahr 2002 die Gedenkstätte nationalsozialistischen Unrechts in Dachau besucht habe, habe ich erstmals erfahren, dass es in Eschershausen ein KZ gegeben hat: Das KZ Eschershausen war namentlich auf einer Tafel im Eingangsbereich der Gedenkstätte aufgeführt, vgl. dazu auch Comité International de Dachau (Hg.), `Konzentrationslager Dachau 1933-1945´, München 101978, Einband, 2.

11 R. Jacobs schreibt in seiner kenntnisreichen Untersuchung: „In der Nähe von Alfeld, in Holzen im benachbarten Kreis Holzminden, befindet sich der südlichste KZ-Friedhof Niedersachsens. Die hier bestatteten Toten waren Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge der Lager in Holzen, Eschershausen, Vorwohle, Lenne und Wickensen. 1961 wurden weitere Zwangsarbeiter, die 1945 auf den Todesmärschen im Harz umgekommen waren, nach hier in zwei neu angelegten Massengräbern umgebettet. Im Kreis Holzminden gab es während des Zweiten Weltkrieges mehr als 100 Zwangsarbeiterlager mit über 14.000 Häftlingen. 1944 begannen um Holzen Bauarbeiten für die so genannte Untertageverlagerung von Rüstungsproduktion in stillgelegten Schächten der Deutschen Asphalt AG im Hils. Im Rahmen des sog. `Jägerprogramms´ wollten Firmen wie Volkswagen, Siemens und Lorenz hier die ersten Düsenjäger bauen. Geplant war auch, hier die sog. `Wunderwaffe´ V1 herzustellen. Bis Kriegsende lief aber nur die unterirdische Produktion von Flugzeugteilen an. In Holzen errichtete im September 1944 ein Häftlings-Kommando aus dem KZ Buchenwald ein Außenlager. Hier lebten über 2.000 KZ-Häftlinge, die hauptsächlich in den Asphaltstollen arbeiteten, aber auch in kleineren Arbeitskommandos für andere Arbeiten eingesetzt wurden. Ihre Arbeits- und Lebensbedingungen waren miserabel. (...) In der Öffentlichkeit gerieten der Ehrenfriedhof und das KZ-Außenlager nach und nach in Vergessenheit. Erstmals 1979 führte die IG-Metall-Jugend der Verwaltungsstelle Alfeld hier am Gedenkstein eine Veranstaltung zum Antikriegstag durch. Damals von Teilen der Öffentlichkeit noch argwöhnisch beäugt, war die IG Metall die erste Organisation, die in Holzen wieder einen Kranz zum Gedenken an die Opfer des Konzentrationslagers niederlegte“ (Reinhard Jacobs M. A., Terror unterm Hakenkreuz – Orte des Erinnerns in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, Studie im Auftrag der Otto Brenner Stiftung, Berlin, März 2001, 53f.; Lit: 131-144). Vgl. weiterführend Detlef Creydt/August Meyer, Zwangsarbeit für die Rüstung im südniedersächsischen Bergland 1939-1945: Solling – Hils – Ith – Vogler, Bd. 2, Braunschweig 1994, 51ff. 1995 waren anlässlich des 50. Jahrestages der Befreiung des Holzener Lagers auch ehemalige Zwangsarbeiter bei einer zentralen öffentlichen Gedenkveranstaltung vor Ort, vgl. TAH v. 10.4.1995. 2012 tauchten überraschend sensationelle, weil bis dato unbekannte und verloren geglaubte Skizzen (Häftlingsporträts), Berichte und Tagebuchnotizen von Camille Delétang (1886-1969) und dem Résistance-Kämpfer und Lagerarzt Armand Roux (1886-1960) auf, die das ganze Elend im KZ Holzen dokumentierten, vgl. TAH v. 8.9.2012, 17 und online unter http://www.zeit.de/2013/18/nordhausen-kzzeichnungen-camille-deletang (aufgerufen am 12.3.2015).

12 Vgl. Mijndert Bertram, Bombenhagel und `Hasenjagd´ – Die Häftlingstransporte von Holzen nach Bergen-Belsen, in: D. Creydt/A. Meyer, Zwangsarbeit, a. a. O., 226-230.

13 „Niedersachsen war durchsetzt von einer Vielzahl von Arbeitslagern und KZ-Außenlagern, die im seltensten Fall abgeschieden lagen, sondern der Bevölkerung bekannt waren. Bis zu 10000 russische Kriegsgefangene starben in Niedersachsen. Die Mehrzahl verhungerte in unwürdigsten Gefangenenlagern unter freiem Himmel“ (Carl-Hans Hauptmeyer, Geschichte, a. a. O., 111f.). 40 Kilometer von Eschershausen entfernt lag das KZ Moringen, in dem u. a. oppositionelle Jugendliche, Kommunisten und Sozialdemokraten gefangen waren. Unter anderem befand sich dort der kommunistische Swing-Experte Günther Discher (1925-2012) in Haft.

14 Selbst der SPD-Ortsverein von Eschershausen, der Verluste seiner Mitglieder im sog. `Dritten Reich´ zu beklagen hatte, ging auf diese Zeit nicht ein, sondern widmete den Jahren 1933 bis 1945 in seiner Jubiläumsschrift zum 100jährigen Bestehen der SPD lediglich sechsundzwanzig Zeilen, vgl. Ortsverein Eschershausen der Sozialdemokratischen Partei (Hg.), Jubiläumsschrift im Druck und auf CD zum 100jährigen Bestehen der SPD-Ortsvereine Eschershausen und Holzen, Eschershausen 2001, 10f.

15 Vgl. Eschershausen um 1900, erarbeitet und zusammengestellt von Jutta Henze und Andreas Reuschel, Horb am Neckar 2002, und Eschershausen 1918-1933, erarbeitet und zusammengestellt von Jutta Henze und Andreas Reuschel, Horb am Neckar 2006. Eine Kuriosität: In dem Band `Eschershausen in den 60er Jahren´, erarbeitet und zusammengestellt von Dr. Andreas Reuschel, Horb am Neckar 2013, 50, befindet sich ein Foto, das mich als Kind mit meinen Eltern in der örtlichen Badeanstalt zeigt. Es war viele Jahre als Postkarte erhältlich!

16 Zur Vita siehe `Who is Who´ bei Klaus Mann.

17 So Rudolf Augstein, in: DER SPIEGEL 15/1989, Mantel. Vgl. dazu auch seinen Artikel `Der Terror als Staatsdoktrin´, im selben SPIEGEL, 124-148, sowie im darauffolgenden Heft, in dem sich der SPIEGEL-Herausgeber dem Mann widmet, „der die zivilisierte Welt geschädigt hat wie kein anderer vor ihm und, bislang, nach ihm“ (125).

18 Der Österreicher Hitler war 1932 im Alter von 43 Jahren deutscher Staatsbürger geworden, um bei den Reichspräsidentschaftswahlen kandidieren zu können. Deshalb empfahl Werner Küchenthal (1882-1976), Ministerpräsident des Freistaats Braunschweig, in dem die NSDAP schon 1930 an die Macht gelangt war, dass Hitler ein Amt als kommissarischer Bürgermeister von Stadtoldendorf erhalten sollte, wobei er dann aber eine Planstelle als Regierungsrat an der Braunschweigischen Gesandtschaft in Berlin erhielt und auf diesem Wege eingebürgert wurde, vgl. weiterführend den Artikel Stadtoldendorf, in: http://de.wikipedia.org/wiki/Stadtoldendorf und im TAH v. 24.7.2010: http://www.tah.de/adolfhitlerbeinahebrgermei.html (aufgerufen am 14.3.2015).

19 Vgl. Carl-Hans Hauptmeyer, Geschichte, a. a. O., 107. Hauptmeyer geht auf die Geschichte, die Stadtoldendorf mit Hitler hatte, nicht ausführlich ein. Er berichtet aber von der großen Resonanz, die der Nationalsozialismus in der protestantisch geprägten, ländlich-kleinstädtischen niedersächsischen Provinz vor allem bei weiten Teilen der Landbevölkerung und bäuerlichen Organisationen fand und schreibt, „dass die NSDAP in vielen Dörfern des Braunschweiger Landes Fuß fassen konnte“ (ebda.). Vgl. dazu auch die informative Broschüre von Bernhard Gelderblom, Die Reichserntedankfeste auf dem Bückeberg 1933-1937, Hameln 1998, 4-63: Hitler, pseudoreligiös überhöht und grenzenlos umjubelt, sprach zwischen 1933 und 1937 regelmäßig auf dem Bückeberg bei Hameln, diesem Wallfahrtsort des Nationalsozialismus, auf einer propagandistisch inszenierten Massenkundgebung mit bis zu 1,3 Millionen (!) Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Das Bückebergfest gehörte neben den Reichsparteitagen in Nürnberg und dem Tag der Deutschen Arbeit in Berlin zu den Orten, die im Jahreskreislauf der Nazi-Diktatur herausragten und die Festdramaturgie bestimmten (vgl. dazu auch Bernhard Gelderbloms Vortrag über die `Reichserntedankfeste´ in: TAH v. 20.11.2001). Meine Mutter Lilli Müller erzählte mir, dass ihre Mutter Hermine Lohmann (1896-1969) wie viele andere Mitte der 1930er-Jahre zum Bückeberg gepilgert war und von der dortigen nationalsozialistischen Masseninszenierung beeindruckt zurückkam: http://www.youtube.com/watch?v=vpLOPn_pxuk (aufgerufen am 14.3.2015).

20 Heute sind viele Infos über diese Zeit in Südniedersachsen (das sind die Landkreise Göttingen, Holzminden, Northeim und Osterode) leicht zugänglich unter: http://www.erinnernsuedniedersachsen.de/index.html (aufgerufen am 15.3.2015)

21 DER SPIEGEL bezeichnete anlässlich der Ausstrahlung des TV-Films `Die Manns´ die Familie von Hitlers berühmten Gegenspielern als „Die Windsors der Deutschen“, in: DER SPIEGEL 51/2001, 174-196, Zitat auf 174.

22 Vgl. dazu online: https://buddenbrookhaus.de/file/stb_fam_mann.pdf (aufgerufen am 15.3.2015).

23 Vgl. Thomas O. H. Kaiser, Heinrich Mann. Auf den Spuren eines vergessenen Schriftstellers, in: Horst Lickert (Hg.), Grenzgänge. Festgabe für Hans Geißer, Zürich 2003, 267-284.

24 Thomas Mann setzte dem Kind seines jüngsten Sohnes Michael in Gestalt des Nepomuk Schneidewind (`Echo´) in seinem Roman `Dr. Faustus´ ein literarisches Denkmal. Allerdings ließ er ihn sterben...

25 Ähnliches hatte er schon früher gesagt, als er von der Seelenverwandtschaft – von gewissen Ähnlichkeiten im Denken und Fühlen – mit seinem verstorbenen Onkel ausging und die Bedeutung erkannte, die dieser für ihn gehabt hatte, vgl. Frido Mann, Professor Parsifal. Autobiographischer Roman, München 1985, bes. 185.

26 Vgl. Frido Mann, Achterbahn. Ein Lebensweg, Reinbek 2008. In seinem Buch beschreibt Frido Mann die Schattenseiten der Familie Mann (in der es Depression, Migräne, Magenleiden, Selbstzweifel, Todessehnsucht und Suizid gab), auf die sich auch Andrea Wüstner in ihrem Buch mit dem Titel „Ich war immer verärgert, wenn ich ein Mädchen bekam“. Die Eltern Katia und Thomas Mann, München-Zürich 2010, konzentriert (vgl. dazu die Rezension von Susanne Mayer, Sonntags empfing Mama, in: DIE ZEIT v. 29.4.2010).

27 Vgl. SÜDKURIER v. 11.3.2009. Dabei ging es auch um die Bedeutung der Religion im Hause Mann. Der promovierte katholische Theologe und emeritierte Professor für Psychologie, Dr. Frido Mann, der aus Protest gegen die Politik von Papst Benedikt XVI. gegenüber dem Holocaust-Leugner Richard Williamson 2009 aus der katholischen Kirche ausgetreten war, rief bei seiner Bergkirchen-Lesung den Anwesenden in Erinnerung, dass Thomas Mann mitsamt seiner Familie in den USA dem Unitarismus und der unitarischen Kirche Amerikas zugeneigt war – also jener undogmatischen Form des Protestantismus, die besonders Vernunft und Ethik als konstitutiv für den Glauben und das Handeln der Kirche betont. In seinem Tagebuch hatte sich Thomas Mann zum religionsübergreifenden Gott bekannt: „Es ist einerlei. Christentum, Buddhismus, Islam, Hinduismus, Shintoismus und wie die Bekenntnisse heißen, sie werden eins werden in der Andacht vor dem Geheimnis der menschlichen Existenz, in der religiösen Aufgabe, nach Menschenvermögen die Kluft aufzuheben zwischen Wahrheit und Wirklichkeit, in der universalen Verpflichtung zu einem anständigen Benehmen vor Gott“ (Thomas Mann, Tagebücher 1949-1950, hg. v. Inge Jens, FfM 1991, 2003, 707f.). Zur Bedeutung der Religion bei Thomas Mann vgl. weiter Niklaus Peter/Thomas Sprecher, Der ungläubige Thomas. Zur Religion in Thomas Manns Romanen, FfM 2012 (mit einem umfassenden Literaturverzeichnis zum Thema auf 195-228); Ada Kadelbach/Christoph Schwöbel, Thomas Mann und seine Kirche. Zwei Vorträge, herausgegeben vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD, Texte Nr. 70), Hannover 2002, und Heinrich Detering, Thomas Manns amerikanische Religion. Theologie, Politik und Literatur im kalifornischen Exil. Mit einem Essay von Frido Mann, FfM 2012. Frido Mann äußerte sich später noch einmal ausführlich zur Religion, indem er der Frage nachging, welchen Beitrag Religion, Naturwissenschaft und Kultur zur Beantwortung von Sinnfragen leisten konnten, und die These aufstellte, dass die Religion weit hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt, vgl. Frido Mann, Das Versagen der Religion. Betrachtungen eines Gläubigen, München 2013.

28 Es gibt von vielen Mitgliedern der Familie Mann einige Bild- und Tonaufnahmen, beispielsweise die, in der Klaus Mann von seinen Erlebnissen in der Army und in München berichtet: https://www.youtube.com/watch?v=MsvO9l4uoh0&spfreload=10 (aufgerufen am 14.3.2015).

29 Rong Yang, Ich kann das Leben einfach nicht mehr ertragen. Studien zu den Tagebüchern von Klaus Mann 1931-1949 (diss. phil.), Marburg 1996, 50.

30 Vgl. Klaus Mann, Tagebücher, 6 Bände, hg. v. Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle und Wilfried F. Schoeller, München 1989, 21989-1991. Ich zitiere im Folgenden nach dieser Ausgabe unter Verwendung des Kürzels `KMT´. Die Tatsache, dass Klaus Mann Tagebuch geführt hatte, war geheim und gelangte erst 1989 ans Licht der Öffentlichkeit (vgl. DER SPIEGEL 17/1989, 200). Insgesamt gibt es einundzwanzig Hefte aus dem Nachlass – größtenteils ca. 200seitige Schulhefte mit Wachstucheinband, ab 1945 auch kleinformatige Kalenderbücher mit insgesamt 3200 Seiten schwer zu entziffernden handschriftlichen Notaten. In seinen Tagebüchern hielt Klaus Mann vom 9. Oktober 1931 bis zu seinem Tod 1949 – fast lückenlos – spontan, direkt, aufrichtig und ungefiltert fest, was ihn bewegte und wie sein Alltag aussah: Friseur- und Restaurantbesuche, Empfindungen über Sexualität und Drogen, über die aktuelle Politik, die Beziehung zu seinem Vater, Geldnot, Todessehnsucht (KMT, 1931-1933, 38, Eintrag v. 8.2.1932), Kinobesuche, Lektürenotizen, Peinliches (KMT 1931-1933, 58, Eintrag v. 21.4.1932) und vieles mehr. Im Schreiben sah Klaus Mann eine „natürliche Beschäftigung“ (KMT 1938-1939, 56, Eintrag v. 3.8.1938), es bot „Erleichterung“ (KMT 1931-1933, 133, Eintrag v. 4.5.1933) und den „einzigen Trost“ (KMT 1938-1939, 117, Eintrag v. 5.7.1939). Die Tagebücher dienten ihm als Erinnerungsstütze und waren wichtig für die Gestaltung seiner Romanfiguren. Sie waren ihm hilfreich bei der Bewältigung persönlicher Probleme und bei der Überwindung seiner Einsamkeit (vgl. KMT 1934-1935, 59, Eintrag v. 31.8.1934). Ab 1942 schrieb er sein Tagebuch ausschließlich auf Englisch; bei emotionalen und intimen Stellen wechselte er ins Französische. Auf Fritz Landshoff, Klaus Manns brüderlichen Freund, ging die Anregung zurück, die Tagebücher zu veröffentlichen; es kam aber nicht zur Realisation der Idee, weil Martin Gregor-Dellin, der damit betraut werden sollte, und Landshoff selbst 1988 kurz hintereinander verstarben. Die Bücher wurden schließlich von dem Verleger Eberhard Spangenberg 1988ff. in Auswahl publiziert. Golo Mann gab sie nach einigem Zögern zur Veröffentlichung frei, verlangte aber zuvor, dass Kürzungen vorgenommen werden mussten. Eine Gesamtausgabe in der Form, von der Klaus Mann geträumt hat (vgl. KMT 1936-1937, 118, Eintrag v. 23.3.1937) – acht Bände, pro Band ca. 600 Seiten –, ist bis heute nicht realisiert worden. Seine Zusammenstellung findet man bei F. Kroll (Hg.), KMS 4/2, Hamburg 2006, 848. Die Gattung des Tagebuchs ist bei Schriftstellern eine pseudointime Form, da die Einträge – wie auch in Klaus Manns Fall – in der Regel veröffentlicht werden. Inzwischen sind alle Tagebücher Klaus Manns online einsehbar: http://monacensia-dev.visuallibrary.de/content/titleinfo/13073 (aufgerufen am 15.3.2015).

31 Ich denke an den Fund von Postkarten Thomas Manns an seinen Bruder Heinrich in Lübeck aus den Jahren 1902-1928, die sich im Nachlass von dessen Tochter Leonie fanden (vgl. FAZ v. 23.11.2012) oder an die dreizehn Kisten mit ca. dreitausend Briefen aus Familienbesitz, vor allem mit Korrespondenz Katia Manns, die plötzlich im Zürcher Thomas-Mann-Archiv an der ETH auftauchten (vgl. FAZ v. 30.8.2013).

32 Uwe Naumann (geb. 1951), Lektor des Rowohlt-Verlags, hat anlässlich der Wiederkehr des 100. Geburtsags und des 50. Todestages von Klaus Mann mehrere Bildbände und Biografien vorgelegt, vgl. Uwe Naumann, Klaus Mann. Monographie (rororo 332), Reinbek bei Hamburg 2006 (in der 10. Auflage von Uwe Naumanns Klaus-Mann-Biografie wurde lediglich ein Foto von André Gide auf S. 115 ausgetauscht und das Literaturverzeichnis aktualisiert, ansonsten ist sie im Wesentlichen mit der Auflage von 1991 identisch); Uwe Naumann (Hg.), `Ruhe gibt es nicht, bis zum Schluss´. Klaus Mann (1906-1949). Bilder und Dokumente, Reinbek 1999, 22001, und Uwe Naumann, Ruhe gibt es nicht. Zum 100. Geburtstag von Klaus Mann, in: DIE ZEIT v. 16.11.2006, 52.

33 Vgl. F. Kroll (Hg.), Klaus Mann-Schriftenreihe, je nach Zählweise – Band 4 ist zweigeteilt – sechs oder sieben Bände, begonnen in der Edition Blahak, jetzt vollständig im Männerschwarm Verlag, Hamburg 2006. Ich kürze die Edition in diesem Buch mit `KMS´ ab. Der US-amerikanische Komponist und Germanist Fredric Kroll (geb. 1945), der seit 1969 in der Bundesrepublik Deutschland lebt und 1973 über Klaus Mann promoviert hat, wohnt in Freiburg und zeitweise in Brasilien. Er gilt als einer der führenden Klaus-Mann-Experten. Mit seiner umfangreichen Arbeit begann er 1976 und konnte sie dreißig Jahre später pünktlich zum 100. Geburtstag Klaus Manns 2006 abschließen. Auf ca. 3000 Seiten rekonstruiert er detailliert Klaus Manns Leben und Werk. Man hat allerdings bei der Lektüre hin und wieder den Eindruck, dass Kroll es manchmal an der nötigen kritischen Distanz zu Klaus Mann fehlen lässt. Vgl. weiterführend Detlef Grumbach (Hg.), Treffpunkt im Unendlichen. Fredric Kroll – Ein Leben für Klaus Mann, Hamburg 2015.

34 Vgl. dazu Nicole Schaenzler, Klaus Mann. Eine Biographie, FfM-New York 1999 (umfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis auf 442-457), und Nicole Schaenzler, Klaus Mann. Die Biographie, Berlin 22006 (Quellen- und Literaturverzeichnis auf 578-600). Bei Nicole Schaenzlers Buch, das gebunden und als Taschenbuch vorliegt und dabei unterschiedliche Titel trägt, handelt es sich um „die bislang umfangreichste biographische Studie“ zu Klaus Mann [so der Tagesspiegel, Einbandtext des Taschenbuches, Berlin 22006, nach dem im Folgenden zitiert wird]).

35 Vgl. vor allem Armin Strohmeyr, Klaus Mann, München 2000; ders., Klaus und Erika Mann. Les enfants terribles, Reinbek 2000; ders., Klaus und Erika Mann. Eine Biografie, Leipzig 2004; ders., Traum und Trauma. Der androgyne Geschwisterkomplex im Werk Klaus Manns, Augsburg 1997.

36 Vgl. z. B. anlässlich des 100. Geburtstages exemplarisch Heribert Hoven, Lebenskünstler mit Hang zum Tod – Klaus Mann zum hundertsten Geburtstag, online zugänglich über: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10117&ausgabe=200611 (aufgerufen am 15.3.2015). Eine Zusammenstellung von SPIEGEL-Artikeln über die Manns findet man unter: http://www.spiegel.de/thema/klaus_mann/. Eine Internetlink-Sammlung zu Klaus Mann findet man in der FU Berlin, online zugänglich unter: http://www.ub.fuberlin.de/service_neu/internetquellen/fachinformation/germanistik/autoren/autorm/kmann.html. Besonders informativ sind folgende Links: http://www.br-online.de/bayern2/die-kinder-der-manns-DID1188596732/kinder-der-manns-klaus-mann-tragisch-ID661188596704.xml;www.thomasmann.de/thomasmann/leben/seine_kinder/klaus/231191;www.rowohlt.de/autor/3016 (aufgerufen am 19.3.2015).

37 Natürlich war für mich vorab ein Blick ins Internetlexikon Wikipedia unverzichtbar, da es meist auf dem aktuellen Stand ist: http://de.wikipedia.org/wiki/Klaus_Mann. Lohnend war auch ein Blick auf LEMO: https://www.dhm.de/lemo/biografie/klaus-mann.html (beide Links aufgerufen am 19.3.2015).

Einleitung

„Er war homosexuell. Er war süchtig. Er war der Sohn Thomas Manns. Also war er dreifach geschlagen.“38 So beginnt der berühmte Essay von `Literaturpapst´ Marcel Reich-Ranicki über den Schriftsteller Klaus Mann. Der Romancier Thomas Mann, für viele `der Goethe des Zwanzigsten Jahrhunderts´, ließ nach dem Tod seines ältesten Sohnes 1949 verlautbaren, dass er ihn, den erfolgreich zweisprachig fleißig Publizierenden, „zu den Begabtesten seiner Generation“39 rechnete. Das ist nun über sechzig Jahre her. Eine erstaunliche Rezeption setzte in den fünfziger und sechziger Jahren ein, gefolgt von einer Renaissance seiner Werke in den achtziger und neunziger Jahren. 2015 jedoch scheint Klaus Mann in Vergessenheit geraten zu sein. Die Wiederkehr seines sechzigsten Todestages vor ein paar Jahren ist angesichts der Größe des Werkes40 und der Würdigung anderer berühmter Antifaschisten oder von Mitgliedern der Familie Mann41 verhältnismäßig unbeachtet geblieben 42 – trotz einer im Literaturbetrieb gebetsmühlenartig postulierten Konjunktur dieser aus Schriftstellerinnen und Dichtern bestehenden Familie 43 sowie einer unverkennbaren Renaissance Mann´scher Verfilmungen im Kino44.

Wer also war eigentlich der älteste Sohn des berühmten Literaturnobelpreisträgers und „personifizierten Leistungsethos“45 und seiner Frau, das enfant terrible46 und dreifach geschlagene Kind seiner Zeit? Was macht sein Werk aus? Was sind die Umstände seiner Entstehung? Und: Was hat der Dichter und Schriftsteller Klaus Mann – der mit vielen bedeutenden Literaten des 20. Jahrhunderts korrespondierte und aus der deutschen Literaturgeschichte nicht wegzudenken ist – uns heute noch zu sagen?

Beginnen wir mit dem Schluss47, mit dem Tod: Klaus Mann, da sind sich die Gelehrten einig, setzte – vermutlich unfreiwillig – mit einer Überdosis Schlaftabletten am 21. Mai 1949 im südfranzösischen Cannes seinem Leben selbst ein Ende.48

Sein Vater Thomas Mann erfuhr vom Tod seines Sohnes auf telegrafischem Wege. Er befand sich zu diesem Zeitpunkt in Begleitung seiner Frau Katia und seiner 43jährigen Tochter Erika – zum zweiten Mal nach dem Krieg war er aus dem amerikanischen Exil nach Europa gereist, diesmal um den Goethepreis entgegenzunehmen – auf einer Vortragsreise in Stockholm. Sofort interpretierte er den Tod Klaus Manns als Suizid: „Bei der Ankunft im Hotel schwerster Chock. Telegramm, daß Klaus in der Klinik von Cannes in verzweifeltem Zustand liege. Bald darauf Telephonat von seiner u. Erikas Freundin dort: Mitteilung seines Todes. Langes Beisammensein in bitterem Leid. Mein Mitleid innerlich mit dem Mutterherzen und mit E[rika]. Er hätte es ihnen nicht antun dürfen. Die Handlung offenbar von ihm selbst unerwartet geschehen, mit Schlafkapseln, die er aus einer New Yorker Drogerie bezog. Sein Aufenthalt in Paris verhängnisvoll (Morphium). Viel über ihn und den von langer Hand unwiderstehlich wirkenden Todeszwang. Das Kränkende, Unschöne, Grausame, Rücksichts- und Verantwortungslose. Beratung auch über unsere Reisezukunft, ob alles abzubrechen und direkte Heimkehr geboten. In völliger Erschöpfung gegen 2 zu Bette.“49 Mutter, Vater und Schwester entschlossen sich dazu, ihre Reise nicht zu unterbrechen, um an der Beerdigung des ältesten Sohnes bzw. des ältesten Bruders teilzunehmen. Mutter und Schwester fuhren nicht nach Cannes, sondern begleiteten Thomas Mann weiter auf seiner Vortragsreise durch Skandinavien.50 Auf diese Weise kam es, dass von der Familie einzig und allein der Jüngste der Mann-Geschwister, Michael Mann, der eher zufällig in der Nähe war, es gerade rechtzeitig zur Beerdigung auf dem Cimetiére du Grand Jas, dem Friedhof von Cannes, schaffte und seinem verstorbenen Bruder am offenen Grab ein Largo51 auf seiner Viola spielte – ein großer emotionaler Kraftakt und ein letzter Liebesdienst an dem verstorbenen älteren Bruder.52

So war also eine der zentralen Gestalten der antifaschistischen Publizistik gestorben: In 25 Jahren hatte Klaus Mann, dem das Schreiben anscheinend mühelos gelungen war, durchschnittlich jedes Jahr ein Buch53 und alle zwei Wochen einen Artikel veröffentlicht. Er hatte zahlreiche Vorträge gehalten, zwei Zeitschriften herausgegeben, eine weit reichende Korrespondenz und jahrzehntelang akribisch Tagebuch geführt. Daneben war er viel und weit gereist. Mit den Jahren war aus einem juvenilen versnobten Dandy und „Bürgerschreck“54 einer der ernsthaftesten und kompromisslosesten Gegner der nationalsozialistischen Barbarei in Deutschland geworden.55

Wie kam es dazu?

Klaus Mann hat zu seinem Leben selbst zweimal direkt Auskunft gegeben: in seiner Autobiografie `Kind dieser Zeit´56 und in `Der Wendepunkt´57, wo die Literatur- und Kunstszene der Weimarer Republik58 und das Leben der Intellektuellen im Exil während des Zweiten Weltkriegs beschrieben wird und die inzwischen als eine der schönsten Autobiografien eines ursprünglich deutschsprachigen Literaten gilt. Aber man erfährt auch viel über Klaus Mann durch seine anderen Werke. Denn Werk und Biografie werden von Mann eng miteinander verquickt, so dass der Eindruck entsteht, dass Klaus Mann „in seinen Romanen mehr von sich enthüllt (hat) als in seinen Autobiographien.“59 Von daher ergibt sich heute ein relativ geschlossenes Bild von seinem Leben und von seinem Werk.

38 Marcel Reich-Ranicki, Thomas Mann und die Seinen, FfM 1990, 12. Auflage 2002, 192-221, bes. 202. Dieser Teil des Essays von 1976 erschien in der FAZ unter dem Titel `Schwermut und Schminke´.

39 Thomas Mann, Vorwort, in: Klaus Mann zum Gedächtnis, Hamburg 2003, 7-11, Zitat auf 10. Die Originalausgabe, eine Sammlung von Nachrufen, erschien im Querido-Verlag in Amsterdam im Jahr 1950. Ich zitiere nach der Neuausgabe von 2003. Bemerkenswerterweise gab Erika Mann damals das Gedenkbuch für ihren Bruder mit Beiträgen von 33 prominenten Zeitgenossen anlässlich seines Todes heraus, trat aber nicht als Herausgeberin in Erscheinung. Der Tod von Klaus Mann erschütterte damals die literarische Welt, die vom Krieg übrig gelassen worden war. Vgl. dazu auch das Interview von Marcel Reich-Ranicki (1920-2013) mit Peter Voß (geb. 1941) auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=XyzalJybfk4 (aufgerufen am 13.3.2015).

40 1963 kamen die Werke Klaus Manns bei der Nymphenburger Verlagshandlung in München heraus und wurden von Martin Gregor-Dellin (1926-1988) herausgegeben; seit 1974 erschienen sie in der `edition spangenberg´ im Münchner Ellermann-Verlag. Deren Inhaber Eberhard Spangenberg verwaltet die Rechte an den Nachlässen von Klaus und Erika Mann. Klaus Manns Nachlass befindet sich in der Handschriftenabteilung der Münchner Staatsbibliothek, die zusammen mit der Monacensia-Abteilung in der Maria-Theresia-Str. 23, 81675 München, dem Hildebrandhaus, lokalisiert ist (Tel: 089-41947217). Klaus Manns Texte und Dokumente sind auch über die nationale Nachlass-Datenbank zugänglich: http://www.kalliope-portal.de/ (aufgerufen am 17.3.2015). Ein umfangreiches Werkverzeichnis veröffentlichter und unveröffentlichter Schriften Klaus Manns befindet sich in: F. Kroll (Hg.), KMS (Edition Klaus Blahak), 6 Bände, Wiesbaden 1976-2006, Bd. 1, 23-185). Zum Werkverzeichnis vgl. auch die Bibliografien von Michael Grunewald, Klaus Mann 1906-1949, München 1984, und Nicolai Riedel, Klaus Mann, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Klaus Mann (Text+Kritik 93/94), München 21996, 132-139.

41 Vgl. Uwe Naumann (Hg.), Die Kinder der Manns. Ein Familienalbum, in Zusammenarbeit mit Astrid Roffmann, Reinbek 2005, 22006. Uwe Naumann geht davon aus, dass „die Familie Mann inzwischen der wohl meistbeschriebene und bestdokumentierte Clan der deutschen Kulturgeschichte“ ist (U. Naumann [Hg.], Die Kinder der Manns, a. a. O., Einleitung, 13). Er „unternimmt den Versuch, alle sechs Kinder von Katia und Thomas Mann zu porträtieren. Eine solche kollektive Biographie der Mann-Kinder hat es bisher nicht gegeben“ (ebda., 14). Das Familienalbum fängt an mit der Geburt Erika Manns und endet mit dem Tod Elisabeth Mann Borgeses; es umspannt die Zeit der Weimarer Republik, der Emigration und der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart.

42 Das hatte angesichts des einhundertsten Geburtstagsjubiläums oder der fünfzigsten Wiederkehr seines Todestages 1999 noch anders ausgesehen. Damals erschienen mehrere Publikationen zu Leben und Werk Klaus Manns.

43 Vgl. Inge Jens, Nachwort zu: Monika Mann, Vergangenes und Gegenwärtiges. Erinnerungen. Ergänzte Ausgabe (zuerst München 1956), Reinbek bei Hamburg 22002, 125-140, bes. 125. Auf dem Buchmarkt sind einige Bücher von Mitgliedern der Familie Mann erhältlich. Eine repräsentative Auswahl von Texten Julia, Viktor, Heinrich, Thomas, Katia, Erika, Klaus Golo, Monika, Elisabeth, Michael und Frido Manns ist versammelt in: Barbara Hoffmeister (Hg.), Familie Mann. Ein Lesebuch, Reinbek 1999, 2003. Dort findet man auch den Stammbaum der Manns (458f.). Ich habe am Schluss des vorliegenden Buches zum besseren Verständnis der Zusammenhänge Biografien von Mitgliedern der Familie Mann und weiterer Personen, die im Leben Klaus Manns eine Rolle gespielt haben, in Form eines `Who is Who´ erstellt.

44 Den Anfang dazu machte Heinrich Breloer mit seiner Verfilmung der Familie Mann, vgl. dazu das zum Film erschienene bilderreiche Buch von Heinrich Breloer/Horst Königstein, Die Manns. Ein Jahrhundertroman, Frankfurt am Main 2001, 22003. Weihnachten 2008 kam als jüngste Neuverfilmung, ebenfalls unter der Regie von Heinrich Breloer, `Die Buddenbrooks´ in die Kinos, vgl. dazu Thomas Manns `Buddenbrooks´. Ein Filmbuch von Heinrich Breloer, FfM 2008, und Hans Wißkirchen (Hg.), Die Welt der Buddenbrooks, FfM 2008; sowie www.buddenbrooksderfilm.de (aufgerufen am 17.3.2015). Frido Mann hat an Heinrich Breloers `Die Manns´ kritisiert, dass es dem Filmemacher anscheinend weniger um die Darstellung der Schriftsteller- als vielmehr um die der Skandalfamilie gegangen zu sein scheint.

45 Vgl. F. Kroll (Hg.), KMS 6, a. a. O., 418.

46 So lautet der Untertitel des Buches über die Mann-Geschwister, vgl. Armin Strohmeyr, Klaus und Erika Mann. Les enfants terribles, Berlin 2000.

47 So beginnt auch die Biografie von Marianne Krüll, Im Netz der Zauberer. Eine andere Geschichte der Familie Mann, Zürich 1991, durchgesehene und ergänzte Neuausgabe FfM 2005, bes. 15-23.

48 Marianne Krüll klagt in ihrem Buch die Eltern Klaus Manns im Nachhinein an, die Appelle ihres Sohnes überhört und ihn dem Verlassensein ausgesetzt zu haben. Sie sucht nach „Mustern im Familiennetz“, die mit Klaus´ Tod zusammenhängen (Suizide vergangener Generationen – von denen es bekanntlich auffallend viele gab: Carla [1881-1910] und Julia [1877-1927], Schwestern Thomas Manns; Michael [1919-1977] und Klaus Mann [1906-1949], Söhne Thomas Manns; Nelly Mann, geb. Kröger [1898-1945], Schwägerin Thomas Manns; Erik Pringsheim (1879-1909], Schwager Thomas Manns –, Schuld, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Hass und Tod), vgl. Marianne Krüll, Im Netz der Zauberer, a. a. O., 11. Dabei geht sie von der Mitverantwortung des Vaters beim Tod des Sohnes aus, da deren Verhältnis sehr gespannt war (18). Auch Marcel Reich-Ranicki erwähnt diese Mitverantwortung am Tod seiner zwei suizidalen Söhne Klaus und Michael, da beide unter der „extremen Lieblosigkeit des Vaters gelitten“ (Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben, Stuttgart 21999, 512) hätten. Diese Position wird von der jüngsten Mann-Tochter, Elisabeth Mann Borgese, als absurde Annahme bestritten (vgl. Kerstin Holzer, Elisabeth Mann Borgese. Ein Lebensporträt, FfM 2003, 42004, 134 und 218). Ihr schließt sich Hans Wißkirchen an und wehrt die Kritik ab, dass Thomas Mann für den Suizid seines Sohnes verantwortlich gewesen sein soll (vgl. Hans Wißkirchen, Die Familie Mann, a. a. O., 123). Golo Mann, der mit seinem Bruder Klaus in den vierziger Jahren über dessen Todessehnsucht gesprochen hatte, schrieb: „Eine Reihe heterogener Ursachen, Kummer über Politik und Gesellschaft, Geldnot, Mangel an Echo, Drogenmissbrauch, addieren sich, aber summieren sich nicht zu dem Ganzen, welches hier der Tod war. Die Neigung zum Tod war in ihm gewesen von Anfang an, er hatte nie alt werden können oder wollen, er war am Ende; günstigere Bedingungen im Moment hätten sein Leben verlängert. Jedoch nur um ein geringes Stück. Damit wird nichts erklärt; nur etwas festgestellt. Auch die These, er sei am Vater gescheitert, erklärt nichts. Gescheitert, nach einem kurzen, selten glücklichen, aber intensiven, auch schöpferischen Leben, ist diese Identität; welche bei einem anderen Vater allerdings eine andere gewesen wäre“ (Golo Mann, Erinnerungen an meinen Bruder Klaus, in: Neue Rundschau 86, 1975, 399). Marianne Krüll äußert sich in einem lesenswerten Interview zu ihrem Bestseller und der Familie Mann, in: DER SPIEGEL 51/2001, 197.

49 Marianne Krüll, Im Netz der Zauberer, a. a. O., 15. Bemerkenswerterweise schrieb Thomas Mann wenig über seine eigene persönliche Gemütsverfassung und existentielle Betroffenheit. Seit der Vermutung Thomas Manns gehen Klaus-Mann-Forscher von einem Suizid Klaus Manns aus. Dabei fällt auf, dass in der Sekundärliteratur zu Klaus Mann häufig von `Selbstmord´ und `Freitod´ Klaus Manns die Rede ist – verharmlosend, inflationär und unreflektiert: Den Anfang machte Erika Mann, die von „Selbstmord“ und „Freitod“ sprach (Erika Mann, Briefe und Antworten, Bd I: 1922-1950, hg. v. Anna Zanco Prestel, 259). Golo Mann äußerte sich ähnlich, kritisierte dabei aber seinen Vater: „So darf man gegenüber erwachsenen Selbstmördern nicht reden. Wenn sie es dann tun, dann tun sie es, weil sie es tun müssen, und dann tun sie es, weil sie es unter verzweifelten Umständen tun müssen“ (Golo Mann, zit. nach H. Breloer/H. Königstein, Die Manns, a. a. O., 395). Marianne Krüll stellte ihr ganzes Kapitel unter die Überschrift „Klaus Manns Selbstmord“ (Marianne Krüll, Im Netz der Zauberer, a. a. O., 15) und sprach auch im Folgenden von „Selbstmord“ (Marianne Krüll, Im Netz der Zauberer, a. a. O., 15. 22 u. ö.). Rong Yang vermischte „Freitod“ (Rong Yang, Ich kann einfach, a. a. O., 7+10+11+27+187) und „Selbstmord“ (Rong Yang, Ich kann einfach, a. a. O., 189+190) und sah Klaus Manns Lebensweg als „unabwendbaren Selbstzerstörungsprozeß“ (Rong Yang, Ich kann einfach, a. a. O., 9). Hans Wißkirchen führte Klaus Manns jahrelange Sehnsucht nach dem Tod und die vorangegangenen Suizid-Versuche an. Er benutzte die Worte „Selbstmord“, „Freitod“ und „Suizid“ (vgl. Hans Wißkirchen, Die Familie Mann, a. a. O., 123). Auch Frederic Kroll ging von `Selbstmord´ aus, als er schrieb. „Und es war und ist der Selbstmörder Klaus Mann, der mich am meisten interessiert“ (F. Kroll [Hg.], KMS 1, a. a. O., 12). Bei Thomas Mann, der sein Leben lang selbst Schübe von Depressionen und Todessehnsüchten erlitten hat und von „völlig ernst gemeinten Selbstabschaffungsplänen“ (Thomas Mann an Heinrich Mann, Brief v. 13.2.1901, in: Thomas Mann/Heinrich Mann, Briefwechsel, a. a. O., 19) sprach, hieß es später über Klaus Mann: „Er starb gewiß auf eigene Hand und nicht um als Opfer der Zeit zu posieren. Aber er war es in hohem Grade“ (Thomas Mann, Vorwort, Klaus Mann zum Gedächtnis, a. a. O., 11). Einen sog. „Freitod“, wie ihn Fredric Kroll annimmt (F. Kroll [Hg.], KMS 1, a. a. O., 19; die These vom `Freitod´ Klaus Manns taucht auch in aktueller Sekundärliteratur zu Thomas Mann, wie z. B. bei Albert von Schirnding, Die 101 wichtigsten Fragen: Thomas Mann, München 2008, 51, oder zu Erika Mann, wie z. B. im Wikipedia-Artikel zu Erika Mann, auf), also einen Tod aus freien Stücken, hat Klaus Mann meines Erachtens defintiv nicht verübt. Eher ist von einem Unfall auszugehen.

50 Zwei Tage später hielt Thomas Mann in seinem Tagebuch fest: „Verschleierte Tage. Eri sehr traurig und leidend. K. gefasst. (...) Golo empfiehlt vernünftig Fortsetzung der Reise“ (Thomas Mann, Tagebücher 1949-1950, hg. v. Inge Jens, 1949-1950, Eintrag v. 24.5.1949, 58). Weitere Tagebuchzitate Thomas Manns befinden sich bei Klaus und Erika Mann, Bilder und Dokumente, München 21991, 68.

51 Das Largo stammte von Benedetto Marcello (1686-1739): Der italienische Barock-Komponist Benedetto Marcello – neben seinem Beruf als Jurist und Gouverneur der Republik Venedig in Pula/Kroatien sowie als Schatzmeister von Brescia tätig – komponierte, beeinflusst von Antonio Vivaldi (1678-1741) und Georg Philipp Telemann (1681-1767), zahlreiche Messen, Motetten, Oratorien, Kantaten, Psalmenvertonungen und Konzerte.

52 Michael Mann hatte als Mitglied des San Francisco Orchestra Europa bereist. Heinrich Mann berichtete darüber in einem Brief: „Mit dem Trauergeleit erschien unerwartet sein jüngster Bruder, Michael. ... Über dem schon versenkten Sarg des Bruders spielte er ein Largo; dann ging man still auseinander“ (Heinrich Mann, zit. nach Klaus Mann, Briefe und Antworten 1922-1949, hg. v. Martin Gregor-Dellin, Reinbek 1991, 799, Anm. 624). Vgl. dazu auch Nicole Schaenzler, Klaus Mann, a. a. O., 401 und 520. Klaus Mann hatte sich in seinem Tagebuch einst über seine Beerdigung geäußert: „Falls mir etwas zustoßen sollte, möchte ich ohne jede Zeremonie verbrannt werden – keine Reden, bitte! keine Musik! keine Blumen! keine Lügen! Ich habe keine Angst vor dem Leichenschauhaus, aber ich kann die Vorstellung kaum ertragen, in einem dieser behaglichen Beerdigungssalons ausgestellt zu sein. Ich bin sehr müde und traurig, aber ohne Bitterkeit. Ich bin sicher, dass die, die ich liebe, ihr Bestes getan haben, um mir zu helfen. Jeder Mensch bekommt genau so viel Trost und Zuneigung, wie er verdient und möchte. Ich glaube nicht, dass ich schlecht behandelt wurde. Ich kann einfach das Leben nicht mehr ertragen. Gott möge mir meine sündige Schwäche vergeben“ (KMT 1940-1943, 120, Eintrag v. 24.10.1942).

53 Klaus Manns erstes Buch trug den Titel `Vor dem Leben´ und bestand aus acht Prosastücken, vgl. dazu weiterführend F. Kroll (Hg.), KMS 2, a. a. a. O., 112ff.

54 F. Kroll (Hg.), KMS 5, a. a. O., 260.

55 Klaus Mann verwandelte sich vom „kapriziösen Wunderkind zu dem verantwortungsbewussten Schriftsteller, dem sich den öffentlichen Fragen stellenden écrivain, dem Stellung beziehenden Moralisten, als der er in die Geschichte der deutschen und der übernationalen Literatur eingehen wird“ (Herbert Schlüter, Der Freund, in: Klaus Mann zum Gedächtnis, a. a. O., 135-142, Zitat auf 137).

56 Im Alter von 26 Jahren (!) veröffentlichte Klaus Mann seine erste Autobiografie. In ihr schilderte er u. a. anekdotenreich das Familienleben der Manns, vgl. Klaus Mann, Kind dieser Zeit. Autobiographie, Berlin 1932, München 1965. Diese und andere Werke von Klaus Mann trugen ihren Teil dazu bei, dass das Leben der Familie Mann in München idealisiert wurde. Ich zitiere im Folgenden nach der mir vorliegenden Ausgabe der Nymphenburger Verlagshandlung aus dem Jahr 1965. Das Buch wurde in einer erweiterten Neuausgabe im Mai 1967 erneut aufgelegt. Die zweite Auflage erschien, mit einem Nachwort von Uwe Naumann versehen, im Rowohlt-Taschenbuchverlag im Oktober 2005.

57 1942, als er 36 Jahre alt war, erschien seine auf Englisch im amerikanischen Exil verfasste Autobiografie `The Turning Point. Thirty-Five Years in this Century´ in New York. Der Titel bezog sich auf Klaus Manns Meinung, jeder Mensch könne sich an bestimmten Lebenspunkten entscheiden, seinem Leben eine bestimmte Wendung zu geben. Bei ihm selbst bezog sich dieser Wendepunkt auf seine Verwandlung von einem ästhetisch-versnobten Dichterkind zu einem politisch-literarischen Intellektuellen. Auf Deutsch konnte er die erweiterte Version des Manuskripts im März 1949 noch abschließen; seine Veröffentlichung erlebte er jedoch nicht mehr. Denn unter dem Titel `Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht´, kam es erst 1952 (also drei Jahre nach seinem Tod!) durch Intervention Thomas Manns bei dessen Verleger Gottfried Bermann Fischer heraus. Seither ist das Buch unzählige Male gedruckt worden. 1984 kam `Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Mit einem Nachwort von Frido Mann´, bei Rowohlt in Reinbek heraus und erlebte mehrere Auflagen (1993, 172001 und 192007). 2006 gab F. Kroll anlässlich des 100. Geburtstages Klaus Manns eine letzte kommentierte Neuausgabe mit Textvarianten und Entwürfen (895 Seiten) heraus, die all jene Ausgaben korrigierte, die um der political correctness Willen der Korrektur und Zensur Erika Manns und eines Lektors zum Opfer gefallen waren, vgl. Klaus Mann, Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Erweiterte Neuausgabe, mit Textvarianten und Entwürfen im Anhang herausgegeben und mit einem Nachwort von F. Kroll (rororo 24409), Reinbek 2006. Zwischenzeitlich liegt auch eine von Ulrich Nöthen gelesene Hörbuchfassung des `Wendepunkts´ mit Originalaufnahmen von Klaus Mann vor (13 CDs, Der Hörverlag 2004). Ich zitiere im Folgenden nach der zum 75. Geburtstag erschienenen Sonderedition: Klaus Mann, Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht (Sonderausgabe zum 75. Geburtstag von Klaus Mann, mit einem Vorwort von Frido Mann), München 1981.

58 Die Weimarer Republik, die erste nationalstaatliche Demokratie auf deutschem Boden, trägt ihren Namen nach dem ersten Tagungsort der verfassunggebenden Nationalversammlung (vgl. DER SPIEGEL GESCHICHTE 5/2014, 20). Bemerkenswert ist, dass nur wenige Jahre später in der Goethestadt, von 1920 bis 1940 thüringische Landeshauptstadt und Stützpunkt der NS-Bewegung, die 1926 ihren Parteitag dort abgehalten hatte, doppelt so viele Wählerinnen und Wähler wie der thüringische Landesschnitt für die NSDAP votierten. Zur Geschichte der Weimarer Republik gibt es eine Menge an Fachliteratur, die an dieser Stelle nicht berücksichtigt werden kann. Um sich einen schnellen Überblick zu verschaffen, verweise ich gerne auf das kleine, aber feine Bändchen des Professors für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte, Gunther Mai, Die Weimarer Republik, München 2009 (mit aktuellen Literaturhinweisen auf 131).

59 Hermann Kesten, Klaus Mann, in: ders., Meine Freunde, die Poeten, München 1959, 411-422, Zitat auf 420.

1. Kindheit und Jugend

Geboren wird Klaus Heinrich Thomas Mann als zweites Kind des Schriftstellers Thomas Mann60 am 18. November 1906 in der Franz-Joseph-Straße 2 in München-Schwabing in großbürgerlichen Verhältnissen.61 Während sein Vater aus einer alteingesessenen Lübecker Senatorenund Kaufmannsfamilie stammt, wächst Klaus Manns Mutter Katia, von Zeitgenossen als intelligente Schönheit beschrieben, als Tochter des Münchner Multimillionärs und Königlichen Universitätsprofessors für Mathematik, Alfred Pringsheim62 , gemeinsam mit vier Brüdern63 in einem herrschaftlichen Stadtpalais in München, einem der Mittelpunkte des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens der Stadt, auf. Die Isarstadt ist zu dieser Zeit bekannt durch ihre liberale Atmosphäre; leben und leben lassen ist die Münchner Devise. Das Bild der Stadt ist geprägt durch Kutschen, die über das Kopfsteinpflaster klappern; nur wenige Autos fahren auf den Straßen.64 Die Familie, in die Thomas Mann einheiratet, gehört zum aufgeklärten, öffentlich präsenten Großbürgertum Münchens. Die Frauen tragen lange, wallende, bodenlange Kleider, die Knöchel verdeckt, züchtig mit Korsetts geschnürt und die Haartracht üppig, bis zur Taille reichend; riesige Hüte lenken die Augen des Betrachters auf das Gesicht. Die Herren sind unterwegs mit Zylindern und Spazierstöcken; der modische Mann trägt Bart. Klaus Mann hat später über die Familie seines Großvaters geschrieben: „Die Pringsheims waren eine ungewöhnliche Familie, auffallend sogar in dem bunt gemischten Milieu der Münchener Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg. Der Professor und seine Gattin stammten beide aus Berlin: Er, jüdischer Herkunft, Erbe eines großen Vermögens, das während der sogenannten `Gründerjahre´ von seinem Vater im Schlesischen erworben worden war. Sie aus unbemitteltem, aber gesellschaftlich prominentem Hause. (...) Die Pringsheims waren unter den ersten, die sich in München ein Telephon und elektrisches Licht zulegten. Ihr Haus wurde bald zu einem Zentrum der intellektuellen und mondänen Welt.“65

Katia Pringsheim, die nie eine öffentliche Schule von innen gesehen, sondern immer Privatunterricht erhalten hat, legt 1901 im Alter von 17 Jahren in München ihr Abitur ab. Damals ist sie die erste Abiturientin der bajuwarischen Metropole und eine der ersten Frauen überhaupt, die im Deutschen Reich studieren dürfen66, und wählt dafür Naturwissenschaften, Mathematik und Philosophie.67 Die frühe Heirat mit dem sieben Jahre älteren Thomas Mann am 11. Februar 1905 bedeutet für sie das Ende einer vielversprechenden akademischen Karriere und zugleich den Beginn eines Lebens an der Seite des größten Prosaerzählers deutscher Sprache im 20. Jahrhunderts – historisch betrachtet ein Schritt in die literarische Unsterblichkeit. Im selben Jahr, in dem die standesamtliche Heirat geschlossen wird,68 kommt das erste Kind der beiden, Erika, zur Welt; im Jahr darauf wird an einem Sonntag Klaus Mann geboren – zur Freude des Vaters ein Sohn.69 Seine Vornamen erhält dieser nach dem Zwillingsbruder Katia Manns, Klaus; Heinrich nach dem Bruder Thomas Manns; Thomas nach seinem Vater. Die kleine Schwester Erika kann anfangs den Namen ihres Bruders Klaus nicht aussprechen und nennt ihn deshalb `Eissi´ (oder `Aissi´) – ein Spitzname, der Klaus Mann sein Leben lang begleiten und auch von seinem Vater später so gebraucht werden wird.70 Die Familie wohnt, finanziell unterstützt von Katias Eltern, in einer von Katia Manns Vater gekauften, eingerichteten und dem Paar geschenkten Siebenzimmerwohnung mit Bad in der Nähe des elterlichen `Palais Pringsheim´. Die Kleinfamilie zieht dann 1910 zunächst in zwei miteinander verbundene Vierzimmerwohnungen in der Mauerkircher Straße 13 in Bogenhausen um, vier Jahre später in die von Thomas Mann erbaute herrschaftliche Villa in der Poschingerstr. 1 am Herzogpark, inmitten der unbebauten Wildnis des Isarufers. 71 München übt besonders eine große Anziehungskraft auf Künstler aus, denn die Kunst genießt ein hohes Ansehen in der Stadt. Um 1900 etwa waren dort ca. 1200 Künstler polizeilich gemeldet – dreizehn Prozent derer, die im gesamten Deutschen Reich registriert waren. Das politische Klima in München gilt als liberal und tolerant, was sich auf die Entstehung einer bunten Kunstund Literaturszene förderlich auswirkt. In der `Poschi´ – so der innerfamiliäre Kosename für das Haus – erleben die Mann-Kinder, umgeben von einigem Dienstpersonal (Köchin, Stubenmädchen, Kinderfräulein und Chauffeur!) eine privilegierte Kindheit.72 Schon früh ist sich Klaus Mann, „frühreif und begabt“ 73, denn er kann erste Veröffentlichungen schon mit 17 Jahren vorweisen, bewusst, in einer interessanten und vielschichtigen Familie zu leben: „Was für eine sonderbare FAMILIE sind wir! Man wird später Bücher über UNS – nicht nur über einzelne von uns – schreiben.“74 Bis 1933 ist das nahe der Isar gelegene repräsentative Anwesen das Zentrum der Familie Mann. In den Sommermonaten zieht die Familie in die Sommerfrische nach Bad Tölz am Fuße der Alpen, wo Thomas Mann sich und seiner Familie 1909 eine kleine Villa, ein Ferienhaus, das so genannte `Tölzhaus´, gebaut hatte. Seine Kindheit beschreibt Klaus Mann, bezogen auf einen Sommer in Bad Tölz, verklärend so: „Wir sieben – zwei Eltern, vier Kinder und ein tanzender wirbelnder [Hund] Motz – auf dem Wiesenweg, langsamen Schrittes marschierend, dem Klammerweiher entgegen. (…) Die Luft riecht nach Sommer, schmeckt nach Sommer, klingt nach Sommer. Die Grillen singen ihr monoton-hypnotisierendes Sommerlied. Zu unserer Rechten liegt das Sommerstädtchen Tölz mit seinen bemalten Häusern, seinem holprigen Pflaster, seinen Biergärten und Madonnenbildern. Um uns breitet sich die Sommerwiese; vor uns ragt das Gebirge, gewaltig getürmt, dabei zart, verklärt im Dunst der sommerlichen Mittagsstunde.“ 75 Die Kindheit der Mann-Kinder trüben mehrmonatige Absenzen der Mutter.76 Katia Mann muss sich aufgrund von Lungenbeschwerden ab Herbst 1911 mehrfach einer Therapie in Lungensanatorien in Deutschland und in der Schweiz unterziehen und geht in Kur.77 Klaus Mann und seine fünf Geschwister Erika, Golo, Monika, Michael und Elisabeth sind deshalb mehrfach und über einen längeren Zeitraum hinweg wechselnden, launisch herrschenden Kindermädchen, sog.

`Kinderfräuleins´, die die Betreuung der Kinder übernehmen, unkontrolliert ausgesetzt. 78 Der Vater ist in dieser Zeit zwar zu Hause, aber doch abwesend, da er mit Schreiben beschäftigt ist. Es wird zwischenzeitlich in der Klaus-Mann-Forschung79 davon ausgegangen, dass die frühe Erfahrung des temporären, fast neunmonatigen Verlusts der Mutter bei gleichzeitiger geistiger Abwesenheit des Vaters in Verbindung mit der Herrschaft der Kindermädchen bleibende psychische Defizite und Ängste80 bei dem – heute würde man sagen – hoch begabten, aber psychisch labilen Kind Klaus und seinen Geschwistern ausgelöst hat. Einige Mann-Experten sprechen sogar von traumatischen Erfahrungen. 81 Die Situation der Verlassenheit und das mehr oder weniger Aufsichselbstgestellt-Sein bindet die Kinder eng aneinander. Natürlich kommt es auch zu Konflikten in dieser Geschwisterkonstellation. Eine besonders enge Beziehung entwickelt Klaus – verträumt, „sensibel und verwundbar“82 – zu seiner älteren Schwester Erika, die für ihn fast eine Mutterrolle einnimmt83 und sowohl in seinem weiteren Leben als auch in seinem Werk von zentraler Bedeutung sein wird.84Auch mit seinem jüngeren Bruder Golo versteht er sich sehr gut, entwickelt zu ihm eine besondere Nähe: „Er war es, dem ich all meine Phantasien, Sorgen und Pläne anvertraute, denn er konnte gut zuhören, eine seltene Gabe, selbst bei reifen Männern und Frauen.“ 85 Ansonsten verläuft der Alltag im Leben der Familie so, wie man ihn aus den Beschreibungen und Erzählungen großbürgerlicher Elternhäuser des deutschen Kaiserreichs kennt.86 Die Rollenverteilung zwischen den Eheleuten ist klar geregelt, die Erziehung entsprechend dem Geist der Zeit und dem Grundmuster der konservativen großbürgerlichen Familie autoritär – der Vater als Oberhaupt der Familie arbeitet, er darf in seiner Arbeit nicht gestört werden und ist für die Kinder unerreichbar 87 ; die Mutter hält deshalb ihrem Ehemann den Rücken frei, führt den Haushalt und leitet das Dienstpersonal an. Für das Tagesgeschehen – sprich: die Versorgung der Kinder – sind die Gouvernanten da, die fast einhellig als verbiestert, humorlos und das Regiment führend beschrieben werden. Klaus Mann hat sich selbst auch dazu geäußert: „Von neun Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags muß man sich still verhalten, weil der Vater arbeitet, und von vier bis fünf Uhr nachmittags hat es im Hause auch wieder leise zu sein: Es ist die Stunde der Siesta. (…) Es ist quälend, bei ihm in Ungnade zu sein, obwohl oder gerade weil sein Mißmut sich nicht in lauten Worten zu äußern pflegt. Sein Schweigen ist eindrucksvoller als eine Strafpredigt. Übrigens ist nicht immer leicht vorauszusehen, was er bemerken und wie er reagieren wird. (…) Die väterliche Autorität ist unberechenbar.“88 Thomas Mann gilt als strenger, seine Kinder auch körperlich züchtigender Vater89 – gleichzeitig für seine Kinder präsent und abwesend. Er wird aber auch als Vater beschrieben, der seinen Kindern vorliest, für seine Ironie bekannt ist und von den Kindern `Zauberer´90 genannt wird. Nähe und Liebkosungen gegenüber ihnen verbietet er sich jedoch in aller Regel.91 Klaus Mann beschreibt die Erziehungsgrundsätze seines Vaters so: „Es war eine Haltung von ironischem Wohlwollen und abwartender Reserviertheit, halb skeptisch, halb belustigt. Ich glaube nicht, dass er sich jemals ernste Sorgen um mich gemacht hat. Davor bewahrte ihn nicht nur seine natürliche Indifferenz und Detachiertheit, sondern wohl auch sein Vertrauen in meine Intelligenz und meine gesunden Instinkte; aber meine Extravaganzen mögen ihm zuweilen mehr auf die Nerven gegangen sein, als er zeigen oder als ich bemerken wollte. Indessen blieb er stets bei seinem alten pädagogischen Prinzip, welches darin bestand, sich nicht einzumischen, sondern nur durch das Beispiel der eigenen Würde und Diszipliniertheit indirekt Einfluß zu üben. Wie fragwürdig und gewagt wir es auch treiben mochten, er schaute zu. Manchmal mit einem amüsierten Lächeln, manchmal mit einem Stirnrunzeln, aber ohne jemals zu intervenieren oder auch nur ein gar zu lebhaftes Interesse an unserem Tun zu bekunden.“92

Im Unterschied zu Thomas Mann, der als kalt und intellektuell selbstbezogen beschrieben wird, gilt seine Frau als praktisch veranlagt und vital, als willensstark, intelligent und gleichzeitig mit Gefühl ausgestattet.93