Hilfen zur Erziehung - Mone Welsche - E-Book

Hilfen zur Erziehung E-Book

Mone Welsche

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Beschreibung

Theoretisch fundiert und praxisnah führt dieses Buch in das Handlungsfeld der vollstationären Hilfen ein. Eingebettet in die Rahmenbedingungen des SGB VIII stellt es die psychischen Belastungen der Kinder und Jugendlichen dar und leitet hiervon die notwendige pädagogische Begleitung ab. Die Hilfeplanung und die sozialpädagogische Alltagsgestaltung sind dabei ebenso zentral wie die Auseinandersetzung mit den Kinderrechten und die sozialpädagogische Familienarbeit. Dabei werden grundlegende Aspekte der sozialpädagogischen Arbeit im stationären Bereich aufgegriffen - von der Beziehungsgestaltung über gruppenpädagogische Prozesse bis hin zum Einsatz von Medien -, und ein Überblick zu den wichtigsten Methoden gegeben. Abschließend werden aktuelle Spannungsfelder wie die Arbeit mit jungen Geflüchteten und Inklusion als Auftrag in den stationären Maßnahmen vorgestellt.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort der Reihenherausgeber*innen

1 Einleitung

2 Geschichtliche Entwicklung des Handlungsfeldes im Überblick

3 Hilfen zur Erziehung im Überblick

3.1 Erziehungsberatung (§ 28 SGB VIII)

3.2 Soziale Gruppenarbeit (§ 29 SGB VIII)

3.3 Erziehungsbeistand, Betreuungshelfer (§ 30 SGB VIII)

3.4 Sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 SGB VIII)

3.5 Erziehung in einer Tagesgruppe (§ 32 SGB VIII)

3.6 Vollzeitpflege (§ 33 SGB VIII)

3.7 Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform (§ 34 SGB VIII)

3.7.1 Erziehungsstellen/Lebensgemeinschaften

3.7.2 Stationäre Regelgruppen

3.7.3 Intensivgruppen

3.7.4 Geschlossene Unterbringung/Freiheitsentziehende Maßnahmen

3.7.5 Betreute Wohngruppen/Betreutes Einzelwohnen

3.8 Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (§ 35 SGB VIII)

3.9 Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche (§ 35a SGB VIII)

3.10 Hilfe für junge Volljährige (§ 41 SGB VIII)

4 Ausgewählte Konzepte als Leitlinien für die vollstationären Maßnahmen

4.1 Lebensweltorientierung

4.2 Sozialraumorientierung

4.3 Empowerment/Ressourcenorientiertes Arbeiten

5 Psychische Belastungen der Kinder und Jugendlichen in vollstationären Maßnahmen

5.1 Begriffsbestimmung: Zwischen Verhaltensauffälligkeiten und seelischer Behinderung

5.2 Ätiologische Modelle und deren pädagogische Relevanz

5.2.1 Biophysisches Modell

5.2.2 Tiefenpsychologisches Modell

5.2.3 Verhaltens- und lerntheoretisches Modell

5.2.4 Ökologisch-systemisches Modell

5.2.5 Soziologisches Modell

5.2.6 Zusammenfassung

5.3 Grundlagen zur klinischen Diagnostik

5.4 Ausgewählte Störungsbilder und Aufgaben in der Alltagsbegleitung

5.4.1 Hyperkinetische Störung

5.4.2 Störung des Sozialverhaltens

5.4.3 Angststörungen

5.4.4 Depression

5.4.5 Autismus-Spektrum-Störungen

5.4.6 Posttraumatische Belastungsstörungen und Traumafolgestörungen

5.5 Stolpersteine in der Entwicklung

5.5.1 Entwicklungsaufgaben

5.5.2 Bindung

5.5.3 Selbstkonzept

5.5.4 Pädagogische Relevanz

6 Hilfeplanung

6.1 Elternrecht

6.2 Der Prozess der Hilfeplanung

6.3 Qualitätskriterien der Hilfeplanung

6.4 Sozialpädagogische Diagnostik

6.5 Zielentwicklung

6.6 Stationäre Maßnahmen im Rahmen einer Inobhutnahme (§ 42 SGB VIII)

7 Alltagspädagogik

7.1 Alltagsstrukturierung und Alltagsbewältigung

7.2 Beziehungsgestaltung

7.3 Bewegung als Grundkategorie sozialpädagogischen Handelns im Alltag

7.4 Gruppenpädagogische Prozesse in der Heimerziehung

7.5 Soziales Lernen und Förderung der sozialen Kompetenzen im Alltag

7.6 Traumapädagogische Aspekte in der Alltagsgestaltung

7.7 Mediengestützte Angebote im Gruppenalltag

8 Methoden in den stationären Maßnahmen

8.1 Ein Überblick

8.2 Mediengestützte Methoden und Verfahren

8.2.1 Psychomotorische Ansätze

8.2.2 Erlebnispädagogik

8.2.3 Zirkuspädagogik

8.2.4 Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd

8.2.5 Sportpädagogik

9 Kinderrechte und Beteiligung

9.1 Kinderrechte

9.2 Beteiligung von Kindern und Jugendlichen

9.3 Ombudschaft in der Kinder- und Jugendhilfe

10 Arbeit mit Familien

10.1 Systemisches Grundverständnis

10.2 Standards der sozialpädagogischen Familienarbeit

10.3 Zielsetzung der sozialpädagogischen Familienarbeit

10.4 Formen der sozialpädagogischen Familienarbeit

10.5 Phasen der sozialpädagogischen Familienarbeit

10.6 Familienarbeit bei Kindeswohlgefährdung

10.7 Innovative Formen der sozialpädagogischen Familienarbeit

11 Kinder- und Jugendhilfe in kommunaler Verantwortung

11.1 Finanzierung von Jugendhilfeleistungen

11.2 Vereinbarungstrias im SGB VIII (§ 78a ff): Leistungsvereinbarung, Entgeltvereinbarung, Qualitätsvereinbarung

11.3 Die Rolle der Spitzenverbände

12 Aktuelle Entwicklungs- und Spannungsfelder

12.1 Junge Geflüchtete im System der Kinder- und Jugendhilfe

12.2 Inklusion als Auftrag in den stationären Maßnahmen

12.3 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Jugendhilfe

13 Ein Blick in die Zukunft

Literaturverzeichnis

Handlungsfelder Sozialer Arbeit

Herausgegeben von Martin Becker, Cornelia Kricheldorff und Jürgen E. Schwab

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/handlungsfelder-sozialer-arbeit.html

Die Autorinnen

Dr. Mone Welsche ist Professorin für Entwicklungsförderung im Kindes- und Jugendalter an der Katholischen Hochschule Freiburg. Ihre Schwerpunkte in Lehre und Forschung liegen im Bereich der Hilfen zur Erziehung, Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter sowie bewegungs- und sportorientierten Ansätzen in der Sozialen Arbeit und Heilpädagogik.

Sabine Triska, Dipl. Sozialarbeiterin, leitet das Referat Familien- und Erziehungshilfen im Caritasverband für die Erzdiözese Freiburg e. V. und ist Lehrbeauftragte an der Katholischen Hochschule Freiburg. Sie ist systemische Familienberaterin und Kriseninterventionstrainerin und hat langjährige Praxiserfahrung in den Arbeitsfeldern der Hilfen zur Erziehung.

Mone WelscheSabine Triska

Hilfen zur Erziehung

Theorie und Praxis der vollstationären Maßnahmen

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-023368-3

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-042038-0epub: ISBN 978-3-17-042039-7

Vorwort der Reihenherausgeber*innen

Der Band »Handlungsfeldorientierung in der Sozialen Arbeit«, in erster Auflage erschienen im September 2012 und aktualisiert und erweitert 2020, bildet die Einführung für eine Reihe von Einzelveröffentlichungen zu verschiedenen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit. In der einführenden Publikation ist das »Freiburger Modell der Handlungsfeldorientierung« genauer beschrieben, das den folgenden Bänden zu einzelnen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit auch zugrunde liegt. Dieses curriculare Modell für das Bachelorstudium der Sozialen Arbeit nimmt aktuelle Bedingungen und Entwicklungen in verschiedenen Feldern der Sozialen Arbeit in den Blick und leitet Aktionen und Interventionen fachlich begründet dazu ab. Dargestellt werden mögliche und notwendige Handlungskonzepte und Methoden, die zu Charakteristika von Aufgabenstellungen, Rechtsgrundlagen, staatlichen Programmen, Trägerlandschaften, Situationen und Personen in Handlungsfeldern diskursiv in Bezug gesetzt werden. Daraus ergeben sich Gestaltungs- und Kontexterfordernisse, die einer eher technokratischen Ver- und Anwendung entgegenwirken, die »reiner« Methodenlehre latent innewohnen. Nach Möglichkeit fließen dazu Hinweise auf Evaluation und zu Projekten der Praxisforschung mit ein. Die in der Reihe vorgelegte Systematik eignet sich für die Gestaltung von Studiengängen Sozialer Arbeit und wird an der Katholischen Hochschule Freiburg seit einigen Jahren bereits in der Lehre praktiziert. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer stärker ausgeprägten Kompetenzorientierung, die im Zuge des Bologna-Prozesses didaktisch erforderlich ist.

Bei der Breite und hohen Differenzierung, die sich in den einzelnen Handlungsfeldern mit ihren unterschiedlichen Rahmenbedingungen, Aufgaben und Zuständigkeiten ergibt, liegt allen Einzelbänden doch eine gemeinsame Struktur in der Darstellung Sozialer Arbeit zugrunde. Zunächst wird der Gegenstandsbereich des jeweiligen Handlungsfeldes beschrieben und dessen spezifischer Bezug zur Wissenschaft Sozialer Arbeit hergestellt. Die Wissensgrundlagen des Handlungsfeldes werden unter Berücksichtigung gesellschaftspolitischer wie auch disziplinärer fachlicher Entwicklungen und theoretischer Rahmung aufgezeigt und in einen fachlichen Diskurs eingebunden. Interventionsformen des Handlungsfeldes werden auf der Basis professionsspezifischer Handlungskonzepte und Methoden erläutert. Für die Soziale Arbeit wichtig und geradezu konstituierend sind multidisziplinäre Perspektiven auf Handlungsfelder und soziale Probleme, die in den Beiträgen nicht fehlen dürfen. An praxisnahen Fragestellungen und ausgewählten Situations- oder Falldarstellungen werden soziale Probleme und Ansätze der Bearbeitung modellhaft erschlossen, ohne in die Falle enger, einfacher und scheinbar eindeutiger Lösungsmuster und Rezepte zu tappen. Am Ende jedes Kapitels stehen eine kurze Zusammenfassung oder auch Aufgabenstellung sowie weiterführende Literaturempfehlungen.

Ein wesentlicher Anspruch dieser Publikationsreihe ist es, einen Überblick zu aktuellen Entwicklungen in unterschiedlichen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit zu geben und damit einerseits den Gemeinsamkeiten – etwa in grundlegenden Modellen, Orientierungen und Fragen der professionellen Entwicklung – und andererseits den Unterschieden – etwa in den historischen und aktuellen Prozessen – im Sinne eines besseren Verständnisses nachzugehen. Damit kann jeder Band dieser Reihe zu einer Orientierungshilfe im Studium wie im Berufsfeld der Sozialen Arbeit werden, einer Art von Karte oder Wegweiser für die individuellen Richtungsentscheidungen. Je nach dem Vorwissen, der Wahl und dem Zugang der interessierten Leser*innen kann an einem Handlungsfeld eine vertiefende exemplarische Auseinandersetzung erfolgen. Für Berufsein- oder Umsteiger*innen bietet jeder Band eine fundierte und nützliche Einführung in ein neues Handlungsfeld und kann dort zur Orientierung beitragen. Für alle Praktiker*innen dürfte sich diese Reihe als eine hilfreiche Anleitung zur Reflexion der eigenen Alltagsroutinen und damit zur Weiterentwicklung ihrer Praxis und den Vor-Ort-Konzepten eignen. Die Vergewisserung über und die Entwicklung bzw. Umsetzung von Konzepten und Methoden unter dem aktuellen beruflichen Handlungs- und Veränderungsdruck stellt sicher keine leichte Herausforderung für die Organisationen, die Träger, ihre Mitarbeiter*innen und Teams dar. Eine fachliche Unterstützung, auch in dieser Form der Reihe und auf unterschiedlichen Ebenen, hat sie in jedem Fall verdient.

Freiburg im April 2021Martin Becker, Cornelia Kricheldorff und Jürgen E. Schwab

1 Einleitung

In diesem Lehrbuch befassen wir uns mit dem Handlungsfeld der stationären Hilfen, eingebettet in den größeren Kontext der Hilfen zur Erziehung und der historischen wie aktuellen Entwicklung, theoretisch fundiert und praxisnah.

Das Buch richtet sich an Studierende, Fachschüler*innen und Fachkräfte, die im Rahmen der stationären Hilfen oder an deren Schnittstellen, z. B. den Offenen und ambulanten Hilfen, Kindertageseinrichtungen, Schulen, Jugendämtern oder Kinder- und Jugendpsychiatrien, tätig sind und sowohl eine grundlegende Orientierung zu den stationären Maßnahmen als auch eine vertiefte Auseinandersetzung mit der (sozial-)‌pädagogischen Arbeit im Feld suchen.

Um einen möglichst umfassenden Überblick zu relevanten Wissensbeständen und Kompetenzen zu geben und darauf aufbauend eine selbständige Vertiefung zu ermöglichen, stellen wir dar, was es unseres Erachtens zu diesem Handlungsfeld zu wissen und zu berücksichtigen gilt. Mit einzelnen Teilaspekten, die in der Literatur zu den stationären Hilfen bislang kaum oder wenig systematisch aufgegriffen wurden, wie z. B. die differenzierte Betrachtung der Störungsbilder aus sozialpädagogischer Sicht, der Medieneinsatz in der Alltagsgestaltung, Bewegung als Grundkategorie sozialpädagogischen Handelns oder die sozialpädagogische systemisch orientierte Familienarbeit im Feld, haben wir uns detaillierter auseinandergesetzt und hier auch unsere persönlichen Expertisen und Arbeitsschwerpunkte eingebracht.

Insbesondere in der Auseinandersetzung mit relevanten theoretischen Bezügen ist uns der Praxistransfer ein zentrales Anliegen, denn: Was ist die Praxis ohne einen theoretischen Unterbau? Und wie hilfreich kann eine Theorie sein, wenn der Praxisbezug fehlt?

Wir wollen mit diesem Lehrbuch nicht nur Erkenntnisse, Theorien und Konzepte, aus der Sozialen Arbeit wie aus Bezugswissenschaften, die für die Arbeit in diesem Handlungsfeld relevant sind, erklären; wir wollen überdies verdeutlichen, warum und inwiefern diese für die Praxis bedeutsam sind.

Dieses Lehrbuch widmen wir Gerhard Veith. Als Professor an der Katholischen Hochschule Freiburg hat er mit Entstehung der Hochschule das Handlungsfeld etabliert und sehr viel für die Weiterentwicklung der sozialpädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in den teil- und vollstationären Hilfen getan!

2 Geschichtliche Entwicklung des Handlungsfeldes im Überblick

Die Geschichte der Hilfen zur Erziehung begann bereits im Mittelalter zwischen dem 11. und 12. Jahrhundert, in welchem arme und verwaiste junge Menschen in kirchlichen Einrichtungen versorgt und religiös erzogen wurden. Die Verwahrung von Waisen oder verwahrlosten Kindern, deren Familien sich nicht ausreichend kümmern konnten, war über viele Jahrhunderte hinweg Aufgabe christlicher Stiftungen (vgl. Knab 2014). Nach Schips (1917, 702) wurden die ersten Waisenhäuser zwischen 1546 und 1572 in Lübeck, Hamburg und Augsburg eröffnet.

Mit dem Dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648) stieg die Zahl der Waisenhäuser deutlich an. Neben der religiösen Erziehung gewann zunehmend der Erziehungs- und Bildungsgedanke an Bedeutung. In den Einrichtungen wurden die Kinder in lebenspraktischen Tätigkeiten und auch in Kulturtechniken unterwiesen. Diese Entwicklung war allerdings gefährdet durch die um die Zeit der Aufklärung zunehmende Ausbeutung der Waisenkinder als billige Arbeitskraft. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts wurden viele dieser Einrichtungen im Zuge des sogenannten »Waisenhausstreits« kritisiert und in der Folge geschlossen. Viele Kinder wurden nun in Pflegefamilien, in welchen sie allerdings auch Gefahr liefen, als billige Arbeitskräfte ausgebeutet zu werden, statt in Heimen untergebracht. In diesem Streit wurde Kritik an dem oftmals hoch problematischen Umgang der Betreuungskräfte mit den Kindern geübt. Die Kinder sollten zu Disziplin, Zucht und Ordnung erzogen werden. Erziehungsmittel waren zum Teil drakonische Strafen, psychisch wie auch körperlich. Diese Praktiken trugen der damals weit verbreiteten Überzeugung Rechnung, dass Kinder nur durch eine harte Führung und keineswegs durch Zuwendung zu erziehen seien. Auch wurden die problematischen Unterbringungsbedingungen, wie z. B. mangelnde Hygiene, Enge der Räume, Massenunterbringung und qualitativ minderwertige Essensversorgung, kritisiert. Neben der inhaltlichen Kritik an der Behandlung und Unterbringung der Kinder, spielten in der Diskussion allerdings auch finanzielle Gesichtspunkte eine gewichtige Rolle, da die Betreuung in Waisenhäusern für den Staat sehr viel teurer war als die Betreuung der Kinder in Pflegefamilien (vgl. u. a. Günder & Nowacki 2020).

Bis heute spielt sich die Diskussion um die Wirkung der Maßnahmen der Hilfen zur Erziehung im Spannungsfeld zwischen ökonomischen Gegebenheiten und Zwängen und pädagogischem Anspruch ab.

Mit der Aufklärung, zwischen 1720 und 1800, veränderte sich die pädagogische Haltung im Kinder- und Jugendhilfesystem langsam, weg von Strenge und Maßregelung als maßgebliche Handlungsprinzipien hin zu einer kindorientierten Sicht und einer Erziehung, die auf einer positiven Beziehung zum Kind und Zuwendung beruht, die maßgeblich durch die Lehren von Pestalozzi und Rousseau beeinflusst war. Pestalozzi gründete 1798 ein Erziehungshaus in Stanz und gilt als Begründer des Familienprinzips in der Heimerziehung (vgl. Günder & Nowacki 2020). Seine pädagogische Überzeugung hat die Entwicklung der Heimerziehung des 18./19. Jahrhunderts und auch die »Rettungshausbewegung«, die ihre Aufgabe eher darin sah, die Waisen durch religiöse Unterweisungen zu Gott zu führen, als durch das Erlernen lebenspraktischer Tätigkeiten auf ein selbständiges Leben in der Gesellschaft vorzubereiten, maßgeblich geprägt. Der wichtigste Vertreter der Rettungshausbewegung war der Theologe Johann Hinrich Wichern, der 1833 in Hamburg das heute noch bestehende »Rauhe Haus« gründete, in welchem Kinder und Jugendliche in kleinen Gemeinschaften, im Sinne des Familienprinzips, statt Massenunterbringung betreut wurden und in dem die Liebe im Sinne der christlichen Nächstenliebe zu den Kindern als oberstes Erziehungsziel galt (vgl. Günder & Nowacki 2020).

Trotz dieser drei herausragenden Vertreter einer menschen- und kindeswürdigen Erziehung in der Jugendfürsorge blieb es in der großen Mehrzahl der Anstalten und Einrichtungen bis zum Dritten Reich bei dem weit verbreiteten menschenverachtenden Umgang. Das zentrale Ziel stellte eine Erziehung zu Zucht und Ordnung dar, was durch Strenge, Forderung nach Disziplin und unbedingtem Gehorsam der Kinder und Strafen als sanktionierende Maßnahmen erreicht werden sollte. Wie Günder und Nowacki (2020, 25) mit Verweis auf Schrapper und Heckens hervorheben, wurde der Begriff »Heim« damals noch nicht verwendet. Üblicherweise wurde von Anstalten gesprochen.

Diese Auffassung von Erziehung hatte allerdings schon zum damaligen Zeitpunkt durchaus eine Gegenposition. So entwickelten reformpädagogische Einrichtungen, die im frühen 20. Jahrhundert in Deutschland wie auch europaweit und in den USA gegründet wurden, Konzepte, die sich an einem demokratischen Grundgedanken orientierten (vgl. Kamp 1995). Ein Bespiel findet sich in den sogenannten Kinderrepubliken, deren Kernmerkmal die Selbstverwaltung als demokratische Struktur bildete. Bernfelds Kinderheim in Wien-Baumgarten in Deutschland oder die Kinderrepublik Jungenstadt Buchhof (1947 bis Mitte der 50er Jahre) stellen deutsche Beispiele dar. Diese Strömung hat sich nicht durchsetzen können. Während die meisten Einrichtungen sich nicht lange halten konnten und aus politischen, finanziellen und/oder organisatorischen Gründen geschlossen wurden – Kamp (1995, 78) betont, dass pädagogische Probleme in der Regel nicht zu den Gründen zählten – besteht mit der Summerhill School allerdings eines der möglicherweise bekanntesten Beispiele bis heute.

Mit dem Dritten Reich, in welchem der Einfluss der Politik und der damit einhergehenden Gesinnung auf die Erziehung selbst innerhalb intakter Familien massiv wurde, war auch die Jugendfürsorge durch die politische Gesinnung geprägt. Kinder und Jugendliche, die nicht bei ihren Familien leben konnten, wurden nach ihrem Wert für die nationalsozialistische Gesellschaft klassifiziert und untergebracht. In Jugendheimstätten der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt wurden jene Kinder und Jugendliche untergebracht, die »als ›erbgesund‹, normal begabt und eingliederungsfähig galten« (Lampert zitiert nach Günder & Nowacki 2020, 22). Alle anderen wurden entweder in Einrichtungen nach dem Reichjugendwohlfahrtsgesetz aufgenommen, in denen primär der Gedanke der Verwahrung und weniger der Erziehung im Vordergrund der Einrichtungen stand, dementsprechend wurde auf pädagogische Fachkräfte verzichtet, oder sogar in Jugendschutzlagern, aus welchen Jugendliche in Arbeitshäuser oder Konzentrationslager überführt wurden (vertiefend dazu s. Knab 2014)

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Vielzahl der Waisen vor allem in großen Einrichtungen, oder nach Thiersch (1981) in »totalen Institutionen«, untergebracht, die in ihren inhaltlichen Ausrichtungen weiterhin den Handlungsprinzipien von Zucht, Ordnung, Disziplin und Arbeit folgten, die gerade für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten von den Hilfesystemen nach wie vor als die geeignete Behandlung angesehen wurden. Diese Einrichtungen der Nachkriegszeit waren neben dem vorherrschenden autoritären Erziehungsprinzip durch fehlende Finanzierung und Personalmangel geprägt. Eine kindgerechte Betreuung war durch den pädagogisch als nach wie vor oft menschenverachtenden Umgang mit den zu betreuenden Kindern in den meisten Fällen nicht gegeben (Kuhlmann 2014). Die Erkenntnisse der vorhergegangenen Reformbewegungen, die Beziehungsorientierung, Liebe und Zuwendung als oberstes Prinzip, sowie familienähnliche Strukturen als geeignetere Lebensstrukturen ansahen, wurden nur sehr vereinzelt aufgegriffen.

Erst um die 1970er Jahre fanden Bestrebungen, die Heimerziehung als »totale Institutionen« durch familienähnliche Betreuungs- und Unterbringungsformen zu ersetzen oder zumindest zu ergänzen, auf breiter Ebene statt. Initiator*innen dieses Wandels in der Jugendfürsorge sind in den »Heimkampagnen« zu sehen, die von der 68er-Bewegung initiiert wurden (Arbeitsgruppe Heimreform 2000). In diesen Initiativen wurden die Bedingungen der Heimunterbringung öffentlich massiv kritisiert. Im Fokus der Kritik standen Missstände, die auch in früheren Debatten über die Qualität der Heimerziehung, wie z. B. im Waisenhausstreit, thematisiert wurden. Zu diesen Missständen gehörten die nach wie vor weitverbreiteten körperlichen Strafen, menschenunwürdige Sanktionen anderer Art, wie z. B. Isolation oder Arbeitszwang, sowie fehlende Bildungsmöglichkeiten und die allgemein schlechte Qualität der Versorgung.

Im Zuge der Heimkampagne blieb es allerdings nicht nur bei der Äußerung von Kritik. Mit der »Randgruppenstrategie« wurden von politisch linken Studierenden, den sogenannten 68ern, die das kapitalistische und repressive Gesellschaftssystem anfochten, Kinder und Jugendliche als Opfer dieses Systems aus Heimeinrichtungen befreit und in studentischen Wohngemeinschaften untergebracht (Kuhlmann 2014, 115).

Damit kam es zu einer weiteren »demokratischen Welle« in der Heimerziehung, denn in den neugegründeten Jugendwohngruppen oder -kollektiven wurde nun in Abgrenzung zu den großen Einrichtungen der Heimerziehung, in welchen häufig eine »Kultur der Repression« vorherrschte (Steinacker 2017, 249), pädagogisches Handeln nach demokratischen Prinzipien umgesetzt (vgl. Stork & Aghamiri 2016, Steinacker 2017).

Diese Bewegung, die auch auf dem Hintergrund der damaligen gesellschaftlichen Entwicklungen zu sehen ist, in dessen Mittelpunkt das demokratische Denken und die Selbstverantwortung den Gehorsam als Erziehungsziel ablösten, führte nun zu einer grundlegenden Veränderung des Hilfesystems, sowohl inhaltlich als auch organisatorisch. Mit der Absicht, die negativ besetzte Heimunterbringung soweit wie möglich zu vermeiden, entstanden ambulante Hilfeformen, mit welchen in Abgrenzung zu Besuchen von Fürsorgerinnen, die bereits früher schon stattgefunden hatten, nun statt Kontrolle und Beratung aktiv Unterstützung in der Alltagsbewältigung und in der Erziehung ermöglichen sollten. Auch der Gedanke der Prävention, die durch frühzeitige und niedrigschwellige Hilfe möglich wäre, gewann an Bedeutung (vgl. Kuhlmann 2014).

Die Verbreitung des Konzeptes der Lebensweltorientierung trug zudem dazu bei, die nach wie vor bestehenden großen Heimeinrichtungen zunehmend zugunsten zentraler Wohngruppen aufzulösen oder um Außenwohngruppen zu ergänzen. Kinder und Jugendliche sollten so die Möglichkeit bekommen, in die örtlichen Schulen zu gehen und an den Freizeitmöglichkeiten des direkten Umfeldes teilzunehmen.

Die im Zuge dieser Reformbewegungen entstandenen Hilfemaßnahmen wurden erst mit dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes 1990/91 rechtlich abgesichert. Auch wurden dann mit dem § 8 SGB VIII ausdrücklich die Beteiligungsrechte der jungen Menschen und ihrer Erziehungsberechtigten gestärkt. Im Kontext der Umsetzung dieser Beteiligungsrechte, welche im theoretischen Diskurs wie in der praktischen Umsetzung häufig dem Leitthema der Partizipation zugeordnet wurden, ist heute an verschiedenen Stellen das Bemühen um Demokratie lernen als übergeordnetes Motiv zu erkennen und z. T. auch konkret benannt. Ein Beispiel ist die Demokratiekampagne des Ministeriums für Soziales, Gesundheit, Familie, Jugend und Senioren in Schleswig-Holstein. Im Zuge dieser Kampagne werden Projekte zu einer Beteiligungsorientierten Praxis der stationären Jugendhilfe umgesetzt.

Neben der Stärkung der Kinderrechte und der Beteiligung im Feld der Jugendhilfe kann diese Entwicklung sicherlich auch im Zuge der aktuellen Debatte um Demokratie und Extremismusprävention als Reaktion auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen gesehen werden, wie sie mit dem Bundesprogramm »Demokratie leben« (Bundesministerium für Familie, Frauen und Jugend o. J.) aufgegriffen wird.

Mit den neuen Formen der Hilfen, die geschaffen wurden, um die Betreuung der Kinder und Jugendlichen zu verbessern, wurde auch mehr Wert auf die Ausbildung der Mitarbeiter*innen sowie auf Festlegung eines geeigneten Betreuungsschlüssels gelegt. Während in den Masseneinrichtungen früher oft mehr als 30 Kinder auf eine Betreuungsperson kamen, veränderte sich das Verhältnis entsprechend dem Familienprinzip. Mit diesen Veränderungen stiegen die Personalkosten in den stationären Hilfen drastisch an. Günder und Nowacki (2020, 33) sprechen davon, dass 70 bis 80 % der Kosten für ein Heim Personalkosten sind. So kann angenommen werden, dass nicht nur inhaltliche-pädagogische Gründe für die Ausweitung alternativen Hilfeformen zur Heimunterbringung führten. Auch finanzielle Gründe werden eine tragende Rolle gespielt haben. Eine Mischung beider Aspekte wird zudem dazu geführt haben, dass insbesondere junge Kinder nicht mehr in Heimen, sondern zunehmend in Pflegefamilien untergebracht wurden. Entgegen der Hoffnung, dass die alternativen und kostengünstigeren Angebote die teure Heimunterbringung ablösen würde, blieb die Notwendigkeit der Heime bzw. vollstationären Unterbringungen über die Jahre bestehen.

Die Qualität der Hilfeformen, auch der stationären Hilfen, entwickelte sich hinsichtlich Personal, Unterbringung und der Umsetzung pädagogischer kind- und gruppenzentrierter Konzepte zunehmend positiv. Diese Entwicklung wurde angetrieben durch die Intention und Selbstverpflichtung der Träger, pädagogisch gute Arbeit zu leisten, als auch durch den zunehmenden Druck der Kostenträger (Jugendamt) fachliche Standards zu entwickeln und den Erfolg der Maßnahmen nachweisen zu können.

Auch die Berichterstattung ab 2000 über aktuelle wie zurückliegende tragische Ereignisse in Deutschland, wie z. B. der Tod von Kleinkindern durch Misshandlung und Vernachlässigung im elterlichen Umfeld oder die Berichte ehemaliger Heimkinder in den 1950er und 60er Jahren, sowohl in der BRD als auch in der DDR, nimmt Einfluss auf die Hilfeformen. Dieser zeigt sich sowohl in der Nachfrage und Auslastung der verschiedenen Formen als auch in konzeptionellen Entwicklungen der Hilfen zur Erziehung.

Die durch Misshandlung herbeigeführten Todesfälle von Kleinkindern führten dazu, dass das Thema »Kinderschutz« gesellschaftlich wie auch politisch verstärkt aufgegriffen wurde. Trotz der allgemeinen Tendenz der Leistungsgewährer*innen, stationäre Unterbringungen so weit wie möglich zu vermeiden und auf die Wirkung ambulanter Angebote zu setzen, wurden gefährdete Kleinkinder in der Zeit dieser auch öffentlichen Diskussion vermehrt direkt aus der Familie genommen und zu ihrem Schutz in stationärer Hilfeform untergebracht. Der Ruf nach stationärer Unterbringung, trotz hoher Kosten, und damit die Anerkennung der Notwendigkeit stationärer Hilfen, war laut und stand dem oft nach wie vor noch schlechten Image, insbesondere von Heim-Einrichtungen, gegenüber.

Über die zum Teil menschenverachtenden und traumatisierenden Erfahrungen, die Kinder und Jugendliche in den Nachkriegsheimen gemacht haben, wurde um 2000 zum ersten Mal in den Medien berichtet. Mit zunehmender Berichterstattung begannen sich mehr und mehr Betroffene zu Wort zu melden, auf die nach und nach die verschiedenen Träger von Heimen reagierten. Nicht nur Anerkennungen des Unrechts und Entschuldigungen, sondern auch Leugnung und Verdrängung der schwerwiegenden Beschreibungen physischer und psychischer Gewaltausübung, wurde den Opfern entgegengebracht. Auf Betreiben des Vereins ehemaliger Heimkinder, der 2004 gegründet wurde, empfahl der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages die Gründung eines Runden Tisches, welcher 2009 konstituiert wurde. Ziel war es, die Heimerziehung, deren Bedingungen und Folgen aufzuarbeiten sowie Lösungen für getanes Unrecht zu entwickeln (Deutscher Bundestag – Petitionsausschuss 2008). So setzen sich heute die meisten Institutionen für eine systematische Aufklärung der Geschehnisse in ihren Einrichtungen ein.

Auch wurden die Kinderrechte, die seit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtekonvention 1992 in Deutschland mit Vorbehalten und seit 2010 uneingeschränkt gelten, konzeptionell verankert. Partizipation der Kinder und Jugendlichen stellt heute einen Grundpfeiler in den Konzeptionen der Einrichtungen dar. Darüber hinaus wurden unabhängige Beschwerdestellen, sogenannte Ombudsstellen, eingerichtet, die Leistungsberechtigte bei Konflikten im Leistungsbezug des SGB VIII begleiten und unterstützen, wie z. B. der Berliner Rechtshilfefonds Jugendhilfe seit 2002 oder die Initiative Habakuk in Baden-Württemberg, die von 2006 bis 2020 bestand.

Die fachlich gebotenen Forderungen nach einer Anerkennung der Subjektstellung der Kinder, Jugendlichen und ihre Familien und eine Stärkung des Kinderschutzes und der Beteiligungs- und Beschwerderechte in der Jugendhilfe haben in den Jahren 2016 – 2021 zu einer Weiterentwicklung des SGB VIII geführt.

Novellierung des SGB VIII – das neue KJSG

Am 07. 05. 2021 hat der Bundesrat der vom Bundestag verabschiedeten Reform der Kinder- und Jugendhilfe zugestimmt. Mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) wurden nun bedeutende Änderungen im SGB VIII und angrenzenden Rechtsbereichen beschlossen. Der Weg dorthin war vom Beginn bis zum Ende nicht einfach. Bereits 2016 wurden erste Arbeitspapiere bekannt, die eine Welle der Empörung auslösten, weil sie die Grundsystematik des SGB VIII, z. B. hinsichtlich der Anspruchsberechtigung und des Rechtsanspruches, grundlegend verändert hätten. Dies führte letztlich dazu, dass sich Verbände, Interessenvertretungen und Fachleute unterschiedlichster Professionen dagegen auflehnten und sich zusammenschlossen, so dass das Vorhaben letztlich vertagt werden musste. 2018 wurde das Gesetzesvorhaben wieder aufgenommen und es begann ein umfangreicher Beteiligungsprozess unter der Leitlinie »Mitreden – Mitgestalten«, der von manchen Akteur*innen bereits als historischer Prozess eingeordnet wird. Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis der Kinder- und Jugendhilfe, der Behindertenhilfe, der Gesundheitshilfe sowie Vertreter*innen aus Bund, Ländern und Kommunen diskutierten die Reformbedarfe und über Beteiligungsformate konnten zusätzlich betroffene Kinder, Jugendliche und Eltern bzw. Pflegeeltern und Mitarbeitende aus Einrichtungen und Diensten ihre Anliegen mit einbringen und kommentieren. Dabei wurden folgende Themenschwerpunkte gesetzt:

·

Besserer Kinder- und Jugendschutz

·

Stärkung von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien und Einrichtungen der Erziehungshilfe

·

Hilfen aus einer Hand für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung

·

Mehr Prävention vor Ort

·

Mehr Beteiligung von jungen Menschen und ihren Eltern.

Nach einem Jahr wurde der Prozess beendet und die Gesetzesentwürfe vorbereitet, die nach mehreren Kommentierungs- und Anpassungsschleifen zu dem abschließenden Entwurf und damit zur Gesetzesänderung geführt haben. Damit steht die Kinder- und Jugendhilfe jedoch erst am Anfang eines neuen Prozesses: Der Umsetzung in die Praxis und damit in das neue Grundverständnis und den Handlungsalltag einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe.

Anhand der genannten Themenschwerpunkte greifen wir ausgewählte Veränderungen auf und schätzen ihre Relevanz für die Praxis ein. Eine umfassende Bewertung dieser Veränderungen wird erst nach den Gesetzesauslegungen und nach den ersten Umsetzungsschritten, die in den nächsten Jahren entstehen werden, erfolgen können.

Besserer Kinder- und Jugendschutz

Der Schutz von Kindern und Jugendlichen und die Sicherung des Kindeswohls sind ein verfassungsmäßiger Auftrag des Staates und eine zentrale Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe. Das SGB VIII sieht dazu vor, die Eltern und Personensorgeberechtigten in der Erziehung zu unterstützen und zu intervenieren, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist und durch die Strukturen und Angebotsformen der Kinder- und Jugendhilfe nicht ausreichend gesichert werden kann. Die öffentlich diskutierten Fälle von Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch haben dabei gezeigt, dass an einigen Stellen im SGB VIII nachgebessert werden muss, um die Gefährdungslücke zu verkleinern, wohlwissend, dass sie vermutlich nie ganz geschlossen werden kann. Im Gesetzgebungsverfahren wurde zunächst geprüft, ob eine Legaldefinition von Kindeswohlgefährdung festgeschrieben werden kann, um insbesondere unbestimmte Rechtsbegriffe verbindlicher fassen zu können. Die Idee wurde letztlich verworfen, da für den Bedarf im Einzelfall inzwischen eine Reihe von validen Beurteilungskriterien für die Praxis zur Verfügung stehen, die Orientierung geben und vor Ort weiterentwickelt werden können.

Ein Veränderungsbedarf wurde jedoch in den Kooperationen sowohl zwischen Jugendhilfe und Gesundheitswesen als auch zwischen Jugendhilfe und Justiz gesehen. Der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung (§ 8a SGB VIII) sieht neu vor, dass Berufsgeheimnisträger*innen (definiert in § 4 Absatz 3 des Gesetzes zur Kooperation und Information), die dem Jugendamt Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung gemeldet haben, in geeigneter Weise bei der Gefährdungseinschätzung zu beteiligen sind und über das weitere Vorgehen informiert werden sollen. Der Schwerpunkt dieser Neuregelung liegt dabei auf der Betonung einer Kooperation auf Augenhöhe und der Notwendigkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit. Die Verantwortung und Letztentscheidung über eine mögliche Kindeswohlgefährdung verbleibt beim Jugendamt. In der Praxis wird es dabei von entscheidender Bedeutung sein, dass die Handlungsschritte, die der »Meldeparagraph« im Vorfeld vorsieht, wie die Einschätzung, Gespräche, Einbezug einer insoweit erfahrenen Fachkraft, Zusammenarbeit mit den Betroffenen und Unterstützungsangebote, vertrauensvoll und verantwortungsbewusst durchgeführt werden. Im Prozess bestand bei allen Akteur*innen große Einigkeit darüber, dass sich das Verfahren grundsätzlich bewährt hat. Eine Kooperation gibt es bereits in vielen Regionen und sie wäre auch ohne Gesetzesänderung möglich gewesen. Der neue § 8a betont diese jedoch zusätzlich und wird vielleicht dazu beitragen, dass diese nochmal regional gestärkt wird.

Ein weiterer wichtiger Schritt ist die Erweiterung der Vereinbarungen nach § 8a auf Kindertagespflegepersonen entsprechend der Vereinbarungen mit Trägern. Die erweiterte Kooperation ergibt sich auch im Jugendgerichtsverfahren. § 52 sieht ausdrücklich eine Zusammenarbeit des Jugendamtes mit anderen öffentlichen Einrichtungen und sonstigen Stellen, die in der Lebenssituation des*der Jugendlichen oder jungen Erwachsenen von Bedeutung sind, vor und erweitert damit den ganzheitlichen Blick auf die Betroffenen. Sehr umstritten ist dagegen die Mitwirkung des Jugendamtes in Verfahren vor den Familiengerichten (§ 50 (2)), die bei eingegrenzten Verfahren, z. B. bei freiheitsentziehenden Maßnahmen, Verbleibensanordnung bei Familienpflege oder zugunsten von Bezugspersonen oder Kindeswohlgefährdung, zukünftig die Vorlage des Hilfeplans vorsieht. Das Hilfeplanverfahren kann seine Wirkung allerdings nur entfalten, wenn der Prozess der Erstellung von Vertrauen und Offenheit geprägt ist, um im Laufe des Verfahrens partizipativ Ziele erstellen und überprüfen sowie Entwicklungsbedarfe und Stärken offen ansprechen zu können. Eine mögliche Offenlegung könnte diesen Prozess und damit das vertrauensvolle Miteinander erschweren. Grundsätzlich ist eine engere Zusammenarbeit zwischen der Jugend- und Familiengerichtsbarkeit und dem Jugendamt zu befürworten, aber es ist zu bezweifeln, ob für eine solche die Vorlage des Hilfeplanes zwingend notwendig ist.

Ein weiterer Aspekt im präventiven Kinderschutz ist die Konkretisierung des Tätigkeitsausschlusses bei einschlägig vorbestraften Personen (§ 72a), zum einen, indem datenschutzrechtliche Regelungen zur Dokumentation und Einsichtnahme des erweiterten Führungszeugnisses vereinfacht werden, und zum zweiten, indem der*die Arbeitgeber*in zukünftig bei allen Einträgen prüfen kann, ob er*sie der Eignung des*der Bewerber*in für die Stelle widersprechen. Das erweiterte Führungszeugnis wird dadurch für die Praxis aussagekräftiger.

Stärkung von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien und Einrichtungen der Erziehungshilfe

In den Einrichtungen der Erziehungshilfe wurde in einem neuen § 45a zunächst ein Einrichtungsbegriff festgelegt, der auch familienähnliche Betreuungsformen der Unterbringungen beinhaltet, sofern sie fachlich und organisatorisch in eine betriebserlaubnispflichtige Einrichtung eingebunden sind. Diese Aussage ist insofern von Bedeutung, weil sich daran Jugendhilfestandards fest machen, die nicht unterschritten werden dürfen. Die Definition ist jedoch nicht abschließend, da Regelungen auf Landesebene möglich sind. Insofern wird es dazu noch Nachverhandlungen auf Länderebene geben.

Schutzrelevant sind auch Konkretisierungen in der Betriebserlaubnis und bei Prüfungen vor Ort. Bei der Erteilung einer Betriebserlaubnis wurde insbesondere der neue Begriff der »Zuverlässigkeit des Träger« eingeführt. Die Zuverlässigkeit ist dann nicht gegeben, wenn z. B. in der Vergangenheit gegen Mitwirkungs- und Meldepflichten verstoßen wurde oder wenn Personen ohne entsprechende Eignung beschäftigt wurden. Aber auch die Bedeutung von Schutzkonzepten und die Anwendung von Partizipations- und Selbstvertretungsverfahren wurden noch einmal hervorgehoben. Auch Auslandsmaßnahmen werden konkretisiert und die Zusammenarbeit mit den Behörden im jeweiligen Land festgeschrieben.

Wichtige Veränderungen schreibt das Gesetz bei den Hilfen für junge Volljährige (§ 41) fest. Zum einen wird der Übergang bei Volljährigkeit verbindlich geregelt. Bereits 1 Jahr vor der Volljährigkeit muss geprüft werden, ob ein Zuständigkeitsübergang auf andere Sozialleistungsträger in Betracht kommt, damit diese Leistungen unmittelbar anschließen können. Darüber hinaus wurde eine Rückkehroption eingeräumt und eine verbindliche Regelung der Nachbetreuung getroffen. Damit wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass junge Menschen nicht mit dem 18. Geburtstag selbständig werden, sondern dass der individuelle Reifeprozess über weitere Maßnahmen entscheiden sollte. Die Kostenbeteiligung der jungen Menschen konnte auf 25 % gesenkt werden, so dass eine Ausbildung innerhalb einer Jugendhilfe-Maßnahme wieder attraktiver wird.

Sehr intensive Diskussionen gab es im Gesetzgebungsverfahren in Bezug auf Änderungsbedarfe bei Pflegeverhältnissen. Die Ergebnisse werden zum aktuellen Zeitpunkt unterschiedlich bewertet. Den Schutz der Kinder und Jugendlichen zu stärken und gleichzeitig die Rechte der Eltern und Pflegeeltern zu beachten, war schon immer eine schwierige Aufgabe. Der Gesetzesentwurf macht dazu einige wichtige Schritte und erweitert den ursprünglichen § 37 Zusammenarbeit bei Hilfen außerhalb der eigenen Familie gleich um weitere §§ 37a–c. Dabei wird insbesondere das Recht auf Beratung sowohl für die leiblichen Eltern als auch für die Pflegeeltern erheblich ausgeweitet, und zwar unabhängig von der Perspektive des Kindes oder der*des Jugendlichen. Durch die Beratung soll gewährleistet werden, dass eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung durch eine entlastende und unterstützende Umfeldarbeit möglich ist und die Familien Konflikte besser bearbeiten und verarbeiten können. Ausdrücklich benannt ist auch eine prozesshafte Hilfeplanung als wichtiger Baustein einer transparenten Jugendhilfeleistung. Darüber hinaus müssen jetzt auch in Pflegefamilien Schutzkonzepte erstellt und geeignete Beschwerdeverfahren implementiert werden. Ein weiterer wichtiger Schritt ist die Verpflichtung des öffentlichen Trägers, Zusammenschlüsse von Pflegefamilien zu beraten, zu unterstützen und zu fördern. Diese Festschreibung kann als deutliche Aufwertung der Selbsthilfepotentiale gesehen werden.

Hilfen aus einer Hand für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung

»Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich« formuliert Artikel 3 (1) Grundgesetz. Insbesondere Benachteiligungen und Bevorzugungen aufgrund des Geschlechts, der Abstammung, der Rasse, der Sprache, der Heimat und Herkunft, des Glaubens, der religiösen und politischen Anschauungen und aufgrund einer Behinderung sind unzulässig und widersprechen dem Gleichheitsgebot. Sowohl die Gesellschaft als auch der Staat werden dazu aufgefordert, Teilhabebarrieren unabhängig von dem Hintergrund, der zur Exklusion geführt hat, abzubauen (vgl. Schönecker et al. 2021). Dieses Anliegen wird zusätzlich gestützt durch die Anerkennung der UN-Kinderrechtekonvention (1989) und der UN-Behindertenrechtskonvention (2008) durch die Bundesregierung. Die Belange von jungen Menschen sollen somit bei allem staatlichen Handeln berücksichtigt werden und ihnen soll eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht werden. Inklusion ist ohne jede Einschränkung ein Menschenrecht.

In den letzten 40 Jahren gab es immer wieder Versuche, die Kinder- und Jugendhilfe inklusiv auszurichten und diesen Anspruch gesetzlich zu verankern. Insbesondere bei der Neujustierung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) war eine sogenannte »große Lösung« angedacht. Alle Kinder und Jugendlichen mit einem erzieherischen Bedarf, unabhängig von möglichen zusätzliche körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigung, sollten unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe versorgt werden können. Mit der Festschreibung des § 35a SGB VIII, der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, konnten sich die Akteur*innen damals lediglich auf eine »kleine Lösung« verständigen. Für Kinder und Jugendliche mit einer sogenannten seelischen Behinderung wurde mit diesem Brückenparagraphen eine Verbindung zwischen dem System der Kinder- und Jugendhilfe und der Wiedereingliederungshilfe geschaffen. Junge Menschen mit kognitiven oder körperlichen Beeinträchtigungen wurden allerdings weiterhin nicht berücksichtigt und eine Gleichstellung aller behinderten und nicht-behinderten jungen Menschen im System der Kinder- und Jugendhilfe bisher nicht erreicht.

Ein inklusives SGB VIII muss den Anforderungen der UN-Kinderrechtekonvention und der UN-Behindertenrechtskonvention entsprechen und die Angebote und Leistungen der Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung zugänglich machen. Es geht dabei nicht nur um eine reine Zuständigkeitsverlagerung, sondern um die Umsetzung von Teilhabeleistungen, die sich an den Bedarfen der Kinder und Jugendlichen orientieren, unabhängig davon, ob sie behindert sind oder nicht, und welche Formen von Behinderung vorliegen. Das KJSG hat diesen Weg vorbereitet, aber die Umsetzung wird sich noch einige Jahre hinziehen. Die Umsetzung erfolgt in drei Schritten bis 2028.

In einem ersten Schritt wurde im gesamten Gesetzestext sprachlich nachgebessert und an vielen Stellen werden die Begriffe »Behinderung«, »Teilhabe« und »Selbstbestimmung« eingeführt. In § 7 SGB VIII wurde ein Behinderungsbegriff festgeschrieben, der an das SGB IX anknüpft:

»Kinder, Jugendliche, junge Volljährige und junge Menschen mit Behinderungen im Sinne dieses Buches sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Kinder, Jugendliche, junge Volljährige und junge Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist«

Eine Anpassung in § 35a wurde allerdings nicht vorgenommen. Dieser erste Schritt ist jedoch deutlich mehr als nur eine Begriffsbereinigung. Beispielsweise wurde in § 11 SGB VIII zur Jugendarbeit ein Satz ergänzt, der sich ab Veröffentlichung des neuen Gesetzes auswirken wird:

»(1) Jungen Menschen sind die zur Förderung ihrer Entwicklung erforderlichen Angebote der Jugendarbeit zur Verfügung zu stellen. Dabei sollen die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der Angebote für junge Menschen mit Behinderung sichergestellt werden.«

Somit besteht ab Verkündigung ein Anspruch auf eine inklusive Jugendarbeit, d. h., alle Kinder und Jugendlichen sollen diese Angebote nutzen können, unabhängig von ihren individuellen Beeinträchtigungen oder Behinderungen. Die Jugendarbeit ist schon lange auf dem Weg, sich inklusiv auszurichten, durch die Formulierung hat die Umstellung nun allerdings unmittelbar zu erfolgen.

In einem zweiten Schritt werden ab 2024 Verfahrenslotsen (§ 10b) eingesetzt, die sowohl die jungen Menschen als auch die Eltern und Sorgeberechtigten bei der Antragstellung und Wahrnehmung der Leistungen beraten und darüber hinaus auch den örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe bei der Zusammenführung der Leistungen der Eingliederungshilfe für junge Menschen unterstützen. Diese Unterstützungsleistung der Verfahrenslotsen ist von großer Bedeutung, da die Systeme der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe sehr unterschiedlich aufgestellt sind und die Verfahrenslotsen diese miteinander verknüpfen können und sollen. Damit dann die dritte Stufe der Umstellung zum 01. 01. 2028 erfolgen kann, soll ein Bundesgesetz bis zum 01. 01. 2027 weitere Voraussetzungen regeln.

Die Umsetzung innerhalb von sieben Jahren wird von vielen Akteur*innen kritisiert, da noch einmal sehr viel Zeit bis zur eigentlichen Umsetzung der inklusiven Lösung vergehen wird. Ein größeres Risiko ist allerdings die Verpflichtung eines Bundesgesetzes, denn kommt dieses nicht zustande, dann kann auch die dritte Stufe nicht erfolgen. Die sieben Jahre geben auf der anderen Seite der Praxis und der öffentlichen Jugendhilfe noch einmal die Zeit, sich realistisch damit auseinander zu setzen, wie Inklusion zum Wohle der jungen Menschen in der Praxis gelingen kann. Dafür wird es wichtig sein, Projekte oder Modellstandorte zu fördern und zu erproben.

Mehr Prävention vor Ort

Die Stärkung der präventiven Angebote und Leistungen in sozialräumlichen Kontexten war von Anfang an ein gesetztes Ziel der SGB VIII-Reform. Im ganzen Gesetzestext wurden zunächst sprachliche Anpassungen durchgeführt. An vielen Stellen wurden die Begriffe »Sozialraum«, »Lebenswelt«, »Netzwerkstrukturen« und »Beteiligung« eingefügt und somit der Lebensraum der jungen Menschen und der Personensorgeberechtigten aufgewertet.

Im Aufgabenkatalog wurde neu die Schulsozialarbeit aufgenommen und dann in einem neuen § 13a ausgeführt. Die Schulsozialarbeit hat sich in den letzten Jahren zu einem wichtigen präventiven Angebot entwickelt, bei dem Kinder und Jugendliche niederschwellig Zugang erhalten. Dennoch ist die Nennung im Gesetzesentwurf nicht unumstritten, da sich durch die Verortung im SGB VIII eine neue Zuständigkeitsdebatte ergeben könnte.

Von großer Bedeutung könnten die neuen Beratungsangebote sein, die beide niederschwellig und vor Ort zugänglich gemacht werden müssen. In § 8 neu wurde eine notlagenunabhängige Beratung für Kinder und Jugendliche eingeführt. In der Praxis hat diese schon immer stattgefunden, da in den Beratungsstellen kein Kind oder Jugendlicher, der um Beratung bittet, abgelehnt wurde. Die neue Regelung schafft nun eine Rechtssicherheit und erleichtert den Zugang zur Beratung. In einem neuen § 10a Beratung erhalten junge Menschen, Mütter, Väter, Personensorge- und Erziehungsberechtigte Beratung über ihre Rechte nach dem SGB VIII in einer für sie verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form. Die neue Beratungsverpflichtung, die sich zunächst an den öffentlichen Träger richtet, ist sehr nah an dem zu Beratenden ausgerichtet und stärkt durch die sozialräumliche Information deren Selbstbestimmung. Welche Bedeutung die Beratung in der Praxis spielen wird und ob sie tatsächlich nach den fachlichen Prinzipien einer lebensweltorientierten Arbeit ausgerichtet ist, wird sich zeigen.

Eine weitere Konkretisierung wurde in der Familienbildung vorgenommen, indem in § 16 Schwerpunktthemen für eine allgemeine Förderung der Erziehung gesetzt wurden, z. B. Erziehung, Beziehung, Konfliktbewältigung, Gesundheit, Bildung, Medienkompetenz, Hauswirtschaft, Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die Unterstützung in der Fähigkeit zur aktiven Teilhabe und Partizipation. Auch an dieser Stelle wurde ein Schwerpunkt auf vernetzte, kooperative, niederschwellige, partizipative und sozialräumliche Strukturen gelegt, was zumindest vermuten lässt, dass insbesondere Familienzentren, sozialräumliche Zentren und Quartiere eine wichtige Rolle in der Familienbildung einnehmen werden.

Die Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsituationen (§ 20) wurde durch die starke Unterstützung der Arbeitsgemeinschaft Kinder psychisch kranker Eltern ausgeführt und ermöglicht jetzt auch den Einsatz von ehrenamtlichen Helfer*innen unter der professionellen Anleitung und Begleitung insbesondere von Erziehungsberatungsstellen. Dadurch soll unter der Schwelle der Hilfeplanung und auf Grundlage einer Vereinbarung ein schneller Unterstützungseinsatz als sogenannte schwingende Hilfe – immer dann, wenn Bedarf besteht – eingerichtet werden. Die Regelung wird fachlich sehr befürwortet, strukturell gab es unterschiedliche Meinungen, ob die Verortung im Vorfeld der Hilfen zur Erziehung angesiedelt werden sollte oder in direkter Nähe zu den Erziehungsberatungsstellen.

Mehr Beteiligung von jungen Menschen und ihren Eltern

Das neue SGB VIII lässt an vielen Stellen deutlich erkennen, dass Beteiligung in der Kinder- und Jugendhilfe zukünftig einen deutlich höheren Stellenwert hat. Eine große Errungenschaft ist der neue § 4a »Selbstorganisierte Zusammenschlüsse zur Selbstvertretung«. Leistungsberechtigte, Ehrenamtliche und Selbsthilfegruppen, die längerfristig mit einem klaren Bezug zur Kinder- und Jugendhilfe zusammenkommen, sollen stärker wahrgenommen, unterstützt und gefördert werden. Sie können als beratendes Mitglied im Jugendhilfeausschuss gehört und sollen an den regionalen Arbeitsgemeinschaften nach § 78 beteiligt werden. Die guten Erfahrungen der Zusammenarbeit mit den Careleavern hat sicherlich wesentlich dazu beigetragen, dass Selbstorganisationen diese Stärkung erfahren und es ist eine wertvolle Chance auch für ehrenamtlich Tätige, ihre Rolle im System der Jugendhilfe zu stärken.

Von großer Bedeutung ist auch die Einführung der Ombudsstellen (§ 9) in der Kinder- und Jugendhilfe. Seit Jahren fordert die Praxis die Einführung von unabhängigen Beratungsstellen, die bei Konflikten im Leistungsbezug beraten und vermitteln. Die Umsetzung wird durch die Vorgabe zur Regelung im Landesrecht in Deutschland unterschiedlich sein. Baden-Württemberg ist diesen Weg schon weit gegangen und hat sich sehr dafür eingesetzt, die Ombudsstellen im SGB VIII zu verankern.

An vielen Stellen im Gesetzestext wird darauf hingewiesen, dass bei Beratungen oder bei der Hilfeplanung nicht nur Beteiligung formal stattfinden soll, sondern dass die Kinder und Jugendlichen und die Personensorgeberechtigten in einer verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form beteiligt werden sollen. Die Praxis ist jetzt gefordert, dieses Bekenntnis zu einer »echten« Beteiligung methodisch umzusetzen.

Wir fassen zusammen, dass der umfassende Gesetzgebungsprozess mit dem KJSG ein Gesetz vorgelegt hat, mit dem die Praxis arbeiten kann. An vielen Stellen fehlt die Verbindlichkeit, nicht alles konnte geregelt werden, nicht alle Interessen wurden berücksichtigt und manche Regelungen werden sich in der Praxis vielleicht nicht durchsetzen. Dennoch gibt es eine breite Zustimmung und es ist erkennbar, dass das Gesamtkonzept durch die inklusive, präventive, sozialräumliche und beteiligungsorientierte Ausgestaltung in die richtige Richtung weist. Der öffentliche Träger hat viele zusätzliche Aufgaben übertragen bekommen und die Umsetzung wird wesentlich davon abhängen, ob die Finanzierung dafür geschaffen wird und ob Raum für Qualifizierung der jetzt schon knappen Fachkräfte sein wird. Letztlich bleibt offen, ob das SGB VIII wirklich inklusiv aufstellen wird, denn eine Umsetzung in sieben Jahre und die Abhängigkeit von einem neuen Bundesgesetz lassen noch viele Fragen offen und setzen voraus, dass die politischen Grundhaltungen sich nicht wesentlich verändern.

Dieser kurze geschichtliche Überblick zu den Hilfen der Erziehung in Deutschland zeigt die rasante Entwicklung dieses Handlungsfelds gerade in den letzten Jahrzehnten: weg von Verwahrungsanstalten mit menschenunwürdigen Bedingungen und einem Umgang mit den zu betreuenden Kindern und Jugendlichen, der sich heute kaum mehr vorstellen lässt, hin zu

·

einem breiten Spektrum von Hilfeformen, die es ermöglichen sollen, den Familien, Kindern und Jugendlichen individuelle Unterstützung zu bieten, und

·

pädagogischen Konzepten, die die jungen Menschen und ihre Eltern mit ihren Bedürfnissen, ihren Stärken, ihrem Unterstützungsbedarf, besonders aber auch mit ihren Rechten, sehen und entsprechend versuchen zu unterstützen.

Die Hilfen zur Erziehung und insbesondere die stationären Hilfen werden in Folge von knappen finanziellen und personellen Ressourcen auch zukünftig einen Kampf um Qualität und Kostendeckung führen müssen. Die Forderungen nach Wirkungsnachweisen und Kostensenkungen stehen dabei in einem ständigen Spannungsfeld zu einer notwendigen Weiterentwicklung der Hilfeformen in der Jugend- und Eingliederungshilfe.

3 Hilfen zur Erziehung im Überblick

Kinder- und Jugendhilfe hat zum Ziel, auf konkrete individuelle, soziale und gesellschaftliche Situationen, die die Lebenslagen von jungen Menschen bestimmen, zu reagieren. Im SGB VIII werden unter der Überschrift »Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Jugendhilfe« Leitorientierungen und Zielsetzungen der Jugendhilfe definiert (§ 1 SGB VIII). Darin heißt es:

»Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere

1.

junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen,

2.

jungen Menschen ermöglichen oder erleichtern, entsprechend ihrem Alter und ihrer individuellen Fähigkeiten in allen sie betreffenden Lebensbereichen selbstbestimmt zu interagieren und damit gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können.

3.

Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung zu beraten und zu unterstützen,

4.

Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen,

5.

dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen«.

Kann ein*e Personensorgeberechtigte*r aufgrund schwieriger Lebenssituationen eine dem Wohl des jungen Menschen entsprechende Erziehung nicht gewährleisten, hat er*sie Anspruch auf »Hilfe zur Erziehung« (§ 27 SGB VIII). Hierzu können fachlich qualifizierte und differenzierte Leistungsangebote insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 – 35 SGB VIII gewährt werden, wenn diese für die Entwicklung des jungen Menschen geeignet und notwendig sind. Durch das Wort »insbesondere« in § 27 (2) kommt zum Ausdruck, dass die im Gesetz aufgeführten Leistungsangebote nicht ausschließlich formuliert sind; die öffentliche Jugendhilfe kann darüber hinaus weitere Leistungsangebote anbieten, wenn sie diese für erforderlich hält und mit den Leistungserbringern entsprechende Leistungsvereinbarungen abschließt. Die Hilfen sollen bevorzugt im Inland erbracht werden.

Der Kinder- und Jugendhilfereport (Autorengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik 2021, 22) benennt auf Grund der Datenlage von 2019 drei Hauptgründe für die Gewährung von Hilfen zur Erziehung:

·

Belastungen der jungen Menschen durch familiäre Konflikte (37,3 %)

·

Eingeschränkte Erziehungskompetenz der Eltern (27,8 %)

·

Entwicklungsauffälligkeiten des jungen Menschen (25,9 %).

Grundlegende Kenntnis über die verschiedenen Hilfeformen, ihre Zugangswege und ihre inhaltliche Ausgestaltung sind für pädagogische Fachkräfte, die in teil- und vollstationären Hilfen tätig sind, wichtig, gerade weil viele Familien schon andere Hilfeformen durchlaufen haben und die dort gemachten Erfahrungen bis in die aktuelle Maßnahme hineinwirken. Deshalb werden die verschiedenen Maßnahmen in den folgenden Abschnitten kurz skizziert. Die Zahlen zum Anteil der jeweiligen Maßnahmen und zur durchschnittlichen Dauer sind der aktuellen Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJ 2020) entnommen.

3.1 Erziehungsberatung (§ 28 SGB VIII)

Die institutionalisierte Erziehungsberatung gehört zu den ambulanten Hilfen zur Erziehung. Die Erziehungsberatungsstellen unterstützen die Familien sowie erweiterte Familiensysteme, z. B. Großeltern, und Pflegefamilien, Adoptionsfamilien oder einzelne Familienmitglieder bei der Klärung von Problemen, die z. B. in Erziehungsfragen oder bei Fragen zur Entwicklung der Kinder und Jugendlichen liegen können, als auch bei der Bewältigung von schwierigen Situationen, wie z. B. Trennungen und Scheidungen und den damit verbundenen Umgangsregelungen. Der Anteil der Alleinerziehendenfamilien ist mit über 30 % besonders hoch.

Die Beratungsstellen können auch von Kindern, Jugendlichen und jungen Volljährigen ohne Erziehungsberechtigte in Anspruch genommen werden, wenn sie Unterstützung in der Klärung familiärer Situationen benötigen oder sich in einer Notlage befinden. Dabei kann es notwendig sein, die Personenberechtigten im Laufe der Beratung hinzuzuziehen und am Prozess teilhaben zu lassen. Die Beratung erfordert Vertraulichkeit und unterliegt strengen Vorgaben des Datenschutzes. In Erziehungsberatungsstellen arbeiten sowohl pädagogische als auch psychologische Fachkräfte in einem interdisziplinären Team zusammen. Im Hilfeangebot finden sich neben Einzel-‍, Eltern- oder Paargesprächen auch Einzel- oder Gruppenangebote für Kinder und Jugendliche mit verschiedenen methodischen Ansätzen und Schwerpunkten statt. Die Beratungsstellen führen bei Bedarf auch entwicklungsdiagnostische Verfahren bei Kindern und Jugendlichen durch, dem genaueren Verständnis eines Problems im Rahmen einer systemischen und ganzheitlichen Sichtweise des Kindes und der Familienmitglieder dienen (Scheuerer-Englisch 2018, 70).

Das Leistungsspektrum der Erziehungsberatungsstellen kann von den Familien direkt und ohne Kostenbeteiligung in Anspruch genommen werden und erfordert keinen Auftrag des öffentlichen Jugendhilfeträgers und damit auch keine Hilfeplanung. Bei einer längerfristigen Hilfegewährung kann es allerdings fachlich geboten sein, im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte eine fachlich interne Hilfeplanung durchzuführen (Nitsch 2014, 93). Der niederschwellige Zugang ist ein wesentliches Merkmal der Hilfe und kann in einem zweiten Schritt ein wichtiger Wegbereiter für weitere Unterstützungsangebote im Rahmen der Hilfen zur Erziehung sein. Der Zugang kann darüber hinaus auch auf Anraten der Jugendämter oder der Familiengerichte erfolgen und von beiden verbindlich eingefordert werden. Die Beratung in einem sogenannten Zwangskontext, z. B. wenn das Jugendamt Konsequenzen für die Familie androht, sofern sie sich nicht beraten lässt, erfordert eine transparente Auftragsabsprache und die Offenlegung der Daten und Berichte, die an die vermittelnden Stellen weitergegeben werden.

Die Inanspruchnahme ist unabhängig vom Alter der Kinder und Jugendlichen und grundsätzlich bis zum 27. Lebensjahr möglich. Schwerpunkte der Inanspruchnahme sind statistisch in der Altersgruppe 6 – 9 Jahre und 10 – 14 Jahre zu erkennen. Erziehungsberatung arbeitet nach dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe und richtet sich in der Intensität und Dauer nach dem Bedarf der zu Beratenden. Die Beratungsstellen nehmen dabei das ganze Familiensystem in den Blick und beachten neben entwicklungspsychologischen Bedingungsfaktoren auch familiendynamische Zusammenhänge. Die durchschnittliche Beratungsdauer liegt derzeit bei fünf Monaten. Eine Wiederaufnahme der Beratung ist jederzeit möglich.

Das Aufgabenspektrum reicht von Angeboten zur Prävention in sozialräumlichen Kontexten bis hin zu Beratungen zur Gefährdungseinschätzung bei möglicher Kindeswohlgefährdung gemäß § 8a und § 8b SGB VIII im Rahmen einer Qualifizierung als insoweit erfahrene Fachkräfte (IEF). Die Arbeit der Erziehungsberatungsstellen ist sowohl vom Zuständigkeitsbereich als auch vom Arbeitsprinzip sozialräumlich und lebensweltorientiert ausgerichtet. Basis der sozialräumlichen Arbeit sind Kooperationen und Vernetzungen zwischen den Einrichtungen und Diensten der freien Wohlfahrtspflege, der kommunalen Verwaltung, den regionalen Bildungseinrichtungen und zivilgesellschaftlichen Initiativen. In Absprache mit dem öffentlichen Jugendhilfeträger werden mit den einzelnen Erziehungsberatungsstellen inhaltliche Schwerpunkte vereinbart und ein Finanzierungsrahmen festgelegt. Die sozialräumliche Arbeit umfasst dabei auch Beratungen oder Fortbildungen von Mitarbeitenden in Kindertagesstätten, Schulen und pädagogischen Diensten und Einrichtungen. Darüber hinaus sollten Sprechzeiten und Angebote für Kinder, Jugendliche und Eltern/Personensorgeberechtigte in öffentlichen Räumen stattfinden. Die Beratungsstellen berichten der Kommune und dem Jugendhilfeausschuss regelmäßig über aktuelle Zahlen und Entwicklungen im Arbeitsfeld.

Mit einem Anteil von ca. 40 % ist die Erziehungsberatung das größte ambulante Angebot im Bereich der Hilfen zur Erziehung. Die Inanspruchnahme hat sich in den Jahren 2005 – 2010 verdoppelt und bleibt in den letzten fünf Jahren auf einem gleichbleibenden Niveau. Das Aufgabenportfolio passt sich immer wieder den regionalen Gegebenheiten an. An vielen Beratungsstellen werden zusätzliche Aufgaben, z. B. im Rahmen der Frühen Hilfen, der niederschwelligen Familienhilfe oder der aufsuchenden Familienberatung, übernommen. Kollegiale Beratung und Supervision sind in der Arbeit wichtige Qualitätsstandards.

Der Erziehungsberatung wird eine hohe Zufriedenheit und Effizienz zugeschrieben. In einer Studie »Zur Wirksamkeit der Erziehungsberatungsstellen aus Klienten- und Beratersicht« im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft für erzieherische Hilfen (AGE) des Caritasverbandes für die Erzdiözese Freiburg e. V. (Roesler 2012) gaben 92,6 % der Klient*innen an, dass die Beratung zur Klärung ihrer Fragen beigetragen habe und 93,7 % gaben an, dass sie darin unterstützt wurden, eigene Lösungen für die Probleme zu finden.

3.2 Soziale Gruppenarbeit (§ 29 SGB VIII)

Soziale Gruppenarbeit wird in unterschiedlichen Arbeitsfeldern und mit unterschiedlichen Zielgruppen angewandt. Im Rahmen der Hilfen zur Erziehung ist die Soziale Gruppenarbeit ein wöchentlich stattfindendes ambulantes Angebot im Gruppensetting und mit einem Umfang von 1 – 2 Stunden. Es gibt zwei unterschiedliche Zugangswege zu dieser Maßnahme. Sie kann einerseits für delinquente Jugendliche durch Weisung angeordnet werden (§ 10 JGG) oder sie kann als erzieherische Hilfe zur Sicherung des Kindeswohls als eigenständiges Leistungsangebot und bei unterschiedlichen Problemlagen nach § 29 SGB VIII beantragt werden. Obwohl über beide Zugänge pädagogische Ziele verfolgt werden, sind die Hilfen zur Erziehung leistungsrechtlich von der Weisung abzugrenzen, da bei letzterem weder Freiwilligkeit noch Wunsch- und Wahlrecht gegeben sind (vgl. Pluto & van Santen 2014).

Die Beantragung der Leistung erfolgt über den öffentlichen Jugendhilfeträger im Rahmen einer einzelfallbezogenen Hilfeplanung durch die*den Personensorgeberechtigte*n. Bei einer vorgesehenen Dauer von weniger als sechs Monaten (vgl. dazu auch NomosKommentar § 29 RdNr. 8) kann in der Praxis auch ein vereinfachtes Verfahren angewandt werden, das mit dem öffentlichen Jugendhilfeträger verhandelt und abgestimmt wird.

Zielgruppe der Sozialen Gruppenarbeit als ambulante Hilfeform sind entsprechend dem Leistungsparagraphen im SGB VIII ältere Kinder und Jugendliche. Der aktuelle Altersdurchschnitt liegt jedoch inzwischen bei 11,7 Jahren, so dass auch jüngere Kinder Unterstützung bei der Überwindung von Verhaltens- und Entwicklungsproblemen benötigen bzw. in diesem Setting bekommen. Die Soziale Gruppenarbeit soll auf der Grundlage eines pädagogischen Konzepts die Entwicklung älterer Kinder und Jugendlicher durch soziales Lernen in der Gruppe fördern (§ 29 SGB VIII). Sie ist mit einem Anteil von ca. 1,5 % der Hilfen zur Erziehung im Jahresverlauf ein kleineres Leistungsangebot. Je nach Zielgruppe und Zielsetzung kann die Soziale Gruppenarbeit inhaltlich unterschiedlich ausgerichtet sein, z. B. handwerklich, bewegungs-‍, sport- oder erlebnisorientiert oder zu aktuellen und problematischen Themen mit einem unmittelbaren Bezug zu den Teilnehmenden (vgl. Möller 2017). In der Praxis werden auch Mischformen angeboten und es wird dabei auf eine Vielzahl von Methoden, Arbeitsformen und Medien zurückgegriffen, insbesondere Entspannungs- und Körperübungen, gestalttherapeutische Elemente, Psychodrama, Rollenspiele, gesprächsorientierte Elemente oder freizeit-‍, bewegungs- und sportorientierte wie erlebnispädagogische Elemente eignen sich für die soziale Gruppenarbeit. Durch soziales Lernen in der Gruppe wird das eigene Verhalten reflektiert und neues Verhalten erlernt und erprobt.

Soziale Gruppenarbeit kann als Kurs oder als fortlaufende Gruppe angeboten werden, die jeweils ein bis zwei Mal wöchentlich oder auch in größeren Zeitabständen stattfindet. In den Kursen wird mit einer festen Gruppe gearbeitet, während ein fortlaufender Kurs immer wieder auch neue Teilnehmende integrieren kann. Die Gruppengröße wird entsprechend dem jeweiligen Angebot festgelegt und liegt schwerpunktmäßig zwischen 6 und 12 Teilnehmer*innen. Die durchschnittliche Dauer liegt bei 13 Monaten. In Bezug auf geschlechtsspezifische Unterschiede sind Jungen und junge Männer fast doppelt so häufig in den Angeboten vertreten wie Mädchen und junge Frauen.

Grundsätzlich richtet sich die Soziale Gruppenarbeit an Kinder und Jugendliche, deren Verbleib im familiären System gesichert ist. In den letzten Jahren wird das Leistungsangebot immer öfter auch mit zusätzlicher Familienarbeit angeboten, damit die Familie in den Entwicklungsprozess mit einbezogen werden kann. Diese kann dann als Zusatzleistung ergänzend beantragt werden und wirkt in der Regel nicht direkt in die Gruppenarbeit hinein. Das genaue Zusammenwirken und die ergänzenden Elemente werden in den Konzeptionen und in den Leistungsbeschreibungen dargestellt. Diese sind auch grundlegend für die Kostenberechnung und für die Anzahl und Qualifikation der betreuenden Fachkräfte.

Aktuell ist eine veränderte Praxis, abweichend von der ursprünglichen Gesetzesintention, zu erkennen. Während der Gesetzgeber, so die Gesetzesauslegungen, ein Mindestalter von 12 Jahren vorgesehen hat, zeigt die aktuelle Statistik derzeit ein Durchschnittsalter von 12 Jahren und damit einen nicht unerheblichen Anteil an jüngeren Kindern. Diese Entwicklung kann darauf zurückgeführt werden, dass Soziale Gruppenarbeit inzwischen häufig im System Schule angeboten wird, um durch eine enge Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe den Verbleib des jungen Menschen in der Schule zu sichern. Die Leistung ist dann meist an die Dauer des Schuljahres gekoppelt und kann, wenn nötig und sinnvoll, verlängert werden. Findet die Soziale Gruppenarbeit im Kontext Schule statt, gehört oft auch eine Hausaufgabenbegleitung zu den Inhalten. Ziele, wie z. B. die Stärkung des schulischen Lernens, der Aufbau einer unterstützenden Arbeitshaltung und eine strukturgebende Alltagsgestaltung, werden verfolgt. In diesem Setting rückt das Leistungsangebot näher an das Leistungsangebot der Tagesgruppe heran, so dass in der Praxis eine klar erkennbare Abgrenzung zwischen diesen beiden Maßnahmen notwendig ist.

Die Betreuung in der sozialen Gruppenarbeit erfolgt über Fachkräfte und zusätzliche Hilfskräfte. Der Betreuungsschlüssel und die Gruppengröße werden regional auf Grundlage der jeweiligen Konzeption verhandelt, sofern in den Bundesländern keine Rahmenverträge vorliegen.

Die Verfügbarkeit einer Sozialen Gruppenarbeit unterliegt regionaler Unterschiede. Insbesondere der ländliche Raum kann auf vergleichsweise wenige Angebote zurückgreifen und bei spezifischen Angeboten gibt es häufig zu wenig Teilnehmende. Die Effektivität des Leistungsangebots hängt nach Macsenaere und Esser (2012) von der Attraktivität des Angebotes für die Nutzer*innen ab und nach Friske (2015) darüber hinaus auch von den persönlichen und fachlichen Kompetenzen der Mitarbeiter*innen.

3.3 Erziehungsbeistand, Betreuungshelfer(§ 30 SGB VIII)