Hinter der Denkmalschutzfassade - Layla Winter - E-Book

Hinter der Denkmalschutzfassade E-Book

Layla Winter

4,8

Beschreibung

Hinter der Denkmalschutzfassade brodelt es: Sebastian Plunkert will paranormale Phänomene untersuchen, Isabella Glitters Mitbewohner ist spurlos verschwunden, und Frieda Chämmerli denunziert jeden ihrer Nachbarn bei der Polizei. Die Stimmung kocht mehr und mehr hoch, und zu allem Überfluss kommt auch noch ein Geheimbund daher, der ein okkultes Interesse an der Liegenschaft hat...

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Inhalt

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1. DIE FASSADE MIT DENKMALSCHUTZ

Manchmal übertrumpft die Fiktion die Realität.

Wahre Begebenheiten werden wieder und wieder erzählt, bis sie zu einer Geschichte werden. Diese Story wiederum ist ein Schwamm, der andere Geschichten aufsaugt. So wird ein mutiger Kerl zuerst zum Helden, dann zum Halbgott, dem auch die Taten anderer, längst vergessener Heroen zugeschrieben werden.

Oder denkt euch ein Zimmer, das Anfangs nur der Tatort eines Familiendramas war. Zuerst füllen es die Gerüchte mit soviel schlechter Energie, dass diese von den Esoterikern wahrgenommen werden kann. Danach breitetet sich diese Aura jedes Mal aus, wenn Schaulustige die bröckelnde Fassade anstarren, und sie nimmt das ganze Haus in Beschlag, wenn sich die Passanten gegenseitig die Details der Horrorstories in Erinnerung rufen. Der Tatort wird so zum Spukhaus, der baufällige Keller zu dem Ort, wo ganz bestimmt jemand eingesperrt worden ist, und die knarrenden Balken zur Erinnerung an die Schreie der Ermordeten.

Manchmal geraten solche Fiktionen wieder in Vergessenheit. Oder sie verlieren zumindest an Wichtigkeit. Der zum Halbgott hochstilisierte Held wird zum Mythos, zu einem archäologischen Artefakt, und das grelle Licht der Museumsvitrine lässt den numinosen Zauber verpuffen.

Doch dies geschieht nicht immer. Das vorhin erwähnte Spukhaus hat eine prachtvolle, neoklassische Fassade. Diese steht unter Denkmalschutz, und konserviert so die Geschichten, die sich um das Bauwerk ranken.

Die Fassade prangt mit ihren trockengelegten Wasserspeiern malerisch über dem Garten. Wie viele Herrenhäuser war die Villa einst von einem Park umschlossen, aber den hat sich die Stadt Winterthur unter den Nagel gerissen. Dem Vermieter ist’s nur recht, denn nun muss er nur noch für die Pflege des Gartens, nicht aber des ihn umschliessenden Parks zahlen.

Die Parkanlage mit ihren alten Bäumen unterstreicht den schauerromantischen Charakter des Hauses, und die dunkelgrünen Fensterläden knarren im Wind, als wollten sie die Schreie der Ermordeten karikieren. Das Dach wurde inzwischen neu gedeckt – Denkmalschutz hin oder her – und weil der Vermieter einen ausgeprägten Sinn für Ironie hat, hat er beim Gartentor Briefkästen im neubarocken Stil aufstellen lassen. Selbstverständlich sitzt ab und an eine schwarze Katze auf diesen Briefkästen und rundet das Bild ab. Die Katze kümmert das alles nicht, sie schätzt nur den erhöhten Liegeplatz im hellen Sonnenschein. Gefüttert wird die Katze von einer Frau um die Fünfzig, die im Erdgeschoss wohnt. Sie hat übrigens nicht nur diese eine, schwarze Katze, sondern auch noch einen Hund in derselben Farbe – ein imposantes Biest, das aussieht wie die Kreuzung zwischen einem Rottweiler und einem Warg. Das rote Lederhalsband mit den Nieten macht den Anblick des Hundes auch nicht unbedingt netter. Das Halsband war ein Geschenk von einer strenggläubigen Veganerin, und demnach ist es aus Kunstleder. Aber dieses Hintergrundwissen vermag die Wirkung, die der Hund auf die meisten Leute hat, nicht wirklich zu schmälern.

Neben der Hunde- und Katzenhalterin wohnt Isabella. Isabella ist mindestens fünfundzwanzig Jahre jünger als ihre Nachbarin und in dem Moment, da diese Geschichte beginnt, gerade stinksauer. Grund dafür ist ihr Mitbewohner. Er sitzt auf dem Klo – wohl gemerkt verrichtet er gerade kein Geschäft, sondern raucht einen Joint, aber das hält ihn nicht davon ab, laut und klangvoll zu furzen. Das ist eines der vielen kleinen Dinge, die Isabella so ärgern. Grundsätzlich stört sie der Grasgeruch nicht allzu sehr, und sie ist tolerant genug, einem Mitbewohner laute Blähungen zu zu gestehen. Aber die Gesamtheit dieser Person, mit der behaarten Wampe, die unter dem fleckigen Pullover hervor hängt, seine unzusammenhängenden Verschwörungstheorien, die er bisweilen vor sich hin monologisiert, und seine Marotte, Bierdosen zusammen zu knüllen und unter den Wohnzimmertisch zu schmeissen, summieren sich, so dass Isabella mittlerweile andauernd vor sich hin brodelt. Ihre Kritik verpackt sie in bissige Bemerkungen und zickige Anweisungen, wobei sie aber nie unhöflich oder laut wird – weswegen ihr Mitbewohner gar nicht merkt, dass er kritisiert worden ist.

Über dieser gespannten Atmosphäre liegt eine weitere Wohnung. Sie ist vollkommen leer. Staub tanzt im Sonnenlicht und legt sich auf die neuen Oberflächen in der Küche. Das Haus mag unter Denkmalschutz stehen, aber dem Vermieter stehen bei den Innenrenovationen durchaus Optionen offen. Und da eine schicke neue Küche gleich mal fünfhundert Franken mehr Miete rechtfertigt, renoviert der Schelm auch fleissig, sobald mal wieder jemand auszieht. Das klingt jetzt vielleicht zynisch, aber wir – und insbesondere Herr Plunkert, der hier wohnen wird – sind da durchaus dankbar. Wäre nie renoviert worden, so würde man jetzt in Herrn Plunkerts zukünftigem Wohnzimmer einen grossen Blutfleck am Bodensehen,unddierotenHandabdrückeandenWänden, zu klein und zu tief unten für ein erwachsenes Opfer.

Herr Plunkert hat sich gut informiert. Er hat zwanzig Jahre darauf gewartet, dass diese Wohnung frei wird, und sorgfältig Kontakte zum Vermieter geknüpft. Man könnte soweit gehen und sagen, dass Herr Plunkert beinahe einen Mord begangen hätte, um diese Wohnung zu kriegen, aber er ist ein friedlicher, zerstreuter Eierkopf, und solche Leute bringen selten jemanden um.

Also hat sich Herr Plunkert ganz konventionell auf diese Wohnung beworben, kaum dass er erfahren hatte, dass der vorherige Mieter verstorben war. Er hat nicht nur gute Beziehungen, sondern auch den Leumund einer soliden Person. Zusätzlich hat er noch eine rumänischstämmige Dame aus dem spirituellen Gewerbe konsultiert und einen geradezu unanständigen Betrag für die Wunscherfüllung auf den Tisch gelegt, so dass er letzten Endes endlich, endlich diese Wohnung gekriegt hatte – man mag es schieben, worauf man will.

Heute Nachmittag wird er einziehen, und er ist schon ganz aufgeregt!

Über der noch leeren Wohnung lebt ein altes Ehepaar im ausgebauten Dachgeschoss. Diese erhöhte Position ist insbesondere der Frau sehr dienlich, denn sie hat kaum etwas Besseres zu tun, als aus dem Fenster zu starren und sich über das, was sie sieht, aufzuregen. Aber eben, die beiden sind ziemlich alt, und darum können sie durchaus beurteilen, dass früher alles besser war, denn ihr Leben besteht fast nur noch aus ‚früher‘.

An dem Tag, da diese Geschichte beginnt, hatte das alte Ehepaar einen friedlichen Morgen hinter den Gardinen verbracht, die natürlich fein genug waren, um einen ungetrübten Blick auf Garten und Strasse zu erlauben. Sie hatten ihre Nachbarin aus dem Parterre dabei beobachtet, wie sie ihren riesigen Hund Gassi geführt hatte, und sich wie gewohnt über das grosse Tier aufgeregt. Danach hatten sie sich bis zum Mittag in eine nette kleine Wut hinein gesteigert, weil der Vermieter einen lausigen Gärtner angestellt hatte, weswegen man nun nur Rosen und Dahlien, aber keinen Flieder und schon gar keine Hyazinthen im Garten hatte. Während die Ehefrau zum Mittag einen leichten Salat mit Spiegelei zubereitete, sass ihr Gatte vor dem Fernseher und regte sich über das Programm auf. Die WM war zu Ende, und da sonst wenig los war, zeigten die meisten Sender Wiederholungen der Glanzmomente aus Brasilien. Der alte Mann brummelte missmutig vor sich hin, während er auf den Bildschirm starrte – das Wort „Neger“ kam in seinem Sermon ziemlich oft vor, oft in Kombination mit Adjektiven wie „dreckig“, „verrückt“ oder „dumm“. Nach dem Essen warf seine Frau einen routinemässigen Blick durch die Gardine und japste auf, als sich zum ersten Mal innert Wochen wirklich etwas ereignete. „Da steht ein Wagen von einer Umzugsfirma“, keuchte sie atemlos. Ihr Mann schlurfte zum Fenster und bestätigte die Beobachtung, indem er anfügte: „Stolzone wird die Wohnung unter uns wieder vermietet haben.“

„Ja der Stolzone“, meinte seine Frau, „dass der überhaupt noch lebt - wie alt ist er jetzt? Achtundneunzig? Oder schon neunundneunzig?“

„Ich dachte, er hätte erst vor zwei Jahren den Neunzigsten gefeiert“, warf der Mann ein, aber seine Frau ignorierte ihn. Bepone Stolzone war älter als sie, und damit ein alter Knacker. „Wer wohl einzieht?“, fragte sie und drückte ihre Nase noch näher ans Fenster, so dass sich der Vorhang ausbeulte und gegen die Scheibe presste. „Schau dir nur diese Möbel an“, meinte sie nach einem Moment gehässig, „ja das kann ja heiter werden.“ Ihr Mann spähte nun aufmerksamer durch die Gardinen.

„Das Sofa ist grün“, meinte er, als ob Herr Plunkert mit der Farbwahl die ultimative Todsünde begangen hätte.

„Mintgrün“, giftete seine Frau, und die beiden tauschten einen entsetzten Blick. „Meinst du, er ist einer von denen, die....“ Sie liess den Satz offen. Ihr Mann blickte sie fragend an. „Du weisst schon“, zischte sie, „vom andern Ufer.“ Ihr Mann riss die Augen auf und starrte dann wieder nach unten, wo die letzte Ecke des mintgrünen Sofas gerade im Hauseingang verschwand.

Unter den vier Argusaugen trugen die Mitarbeiter des Umzugsdienstes Kisten und Möbel ins Haus und kümmerten sich nicht darum, dass die Vorhänge im obersten Stock unabhängig vom Wind flatterten.

In der Wohnung unter dem alten Paar rumpelte es, und mehrfach sägte sich das knochenschabende Fräsen einer Bohrmaschine in die Hörgeräte der beiden. Ab und an hörte man im Treppenhaus Stimmen. Während Herr Chämmerli irgendwann vom Fenster weg watschelte und sich wieder in den Fernsehsessel fallen liess, eilte seine Frau zwischen dem Fenster und dem Spion an der Haustür hin und her. Für jemanden, der die siebzig und einen gesunden BMI deutlich überschritten hatte, legte sie dabei ein beachtliches Tempo an den Tag. Sie war gerade wieder am Fenster, als es klingelte. Betont langsam ging sie zur Tür. Es hätte ja sein können, dass man sie gerade bei etwas Wichtigem störte.

Fischaugig verzerrt durch den Spion sah sie einen kleinen, korpulenten Mann mit Halbglatze und einer Brille, die so stark spiegelte, dass man seine Augen nicht sah.

Misstrauisch öffnete Frau Chämmerli die Tür. Nun, da das Licht anders auf das Gesicht des Mannes fiel, blickte sie in zwei babyblaue Augen. Darunter spannte sich ein freundliches Lächeln.

„Guten Tag!“, meinte der kleine Kerl vergnügt und streckte ihr dynamisch die Hand entgegen.

Frau Chämmerli schüttelte ihm die Hand, weil sich das so gehörte, und erntete einen kräftigen Händedruck mit einem etwas zu energischen Gerüttel. Herr Plunkert sah aus wie jemand, der ständig unter Strom stand – hätte man 80er Discosound laufen lassen, wäre er im Takt losgehüpft wie ein Gummiball. Er strahlte einen Enthusiasmus aus, der Öl in das Feuer von Frau Chämmerlis Argwohn goss.

„Darf ich mich vorstellen?“, fragte der kleine Kerl. „Sebastian Plunkert, ihr neuer Nachbar.“

„Frieda Chämmerli“, sagte Frieda Chämmerli und setzte automatisch ihr Lächeln auf. Es war nicht gerade täuschend echt, aber gut genug, um Plunkerts gutmütigen Charakter zufrieden zu stellen.

„Es wird noch eine Weile etwas laut sein, bis alle Möbel fertig zusammen gesetzt sind.“ Just um seine Worte zu untermalen tönte die Bohrmaschine wieder los. „Bitte entschuldigen sie die Unannehmlichkeit!“, brüllte Plunkert über den Lärm hinweg. „Und bitte melden sie sich, wenn sie etwas zu beanstanden haben.“ Er lächelte strahlend über den Krach hinweg. Frau Chämmerli nickte, während das falsche Lächeln immer mehr verkrampfte und zu einer Grimasse wurde. Da der kleine Kerl nicht aufhörte sie anzugrinsen, sah sie sich gezwungen, etwas zu sagen, als der Bohrlärm erstarb.

„Ja, wir haben sie beim Einzug gesehen, als ich zufällig aus dem Fenster geschaut habe. Eine wirklich schöne Couch haben sie.“ Die Lüge gab dem falschen Lächeln Kraft, und es erstrahlte, wie eine fast vollkommene Travestie echter Freude. „So eine lebendige, unkonventionelle Farbe!“

„Ja nicht wahr?”, meinte Herr Plunkert und hüpfte fast vor Freude bei dem Kompliment. „Ein Geschenk von einem Freund aus London.“

Alles klar, dachte Frieda Chämmerli. „Nein, wie schön. Sie kommen aus London?“

Sebastian Plunkert schüttelte den Kopf. „Ursprünglich komme ich aus Uri. Aber ich bin schon von klein an viel gereist.“

Frau Chämmerli nickte wissend, obwohl sie streng genommen von kaum was einen Plan hatte.

„Ja dann“, sagte Herr Plunkert und streckte nochmals die Hand aus, „auf gut Nachbarschaft.“

Frau Chämmerli schüttelte sie energisch und zeigte die ganze dentaltechnische Pracht ihres Gebisses, als sie ihren neuen Nachbarn anlächelte.

„Natürlich, natürlich“, flötete sie und machte die Tür gerade sacht genug zu, um sie ihm nicht vor der Nase zu zu knallen.

Sebastian Fidelius Plunkert blinzelte einen Moment lang die Tür an, dann wandte er sich schulterzuckend um, um sich bei den andern Nachbarn vorzustellen.

Er stieg die Treppe hinunter und stand vor der offenen Tür seiner Wohnung. Darin wurde gebohrt, gehämmert und gerumpelt. Plunkert wandte sich der andern Wohnungstür auf seiner Etage zu. Ein Gesteck aus transparentroten Schleifen, gelben Trockenblumen und pseudopeppigen bunten Holzsternen dekorierte die Tür und strahlte etwas familiäres aus. Plunkert klingelte und las dabei den Namen unter dem Klingelknopf – wenigstens versuchte er es. Der Name lautete „Chottopadhyay-Mchedlishvili“, aber sein Sprachvermögen streikte nach der dritten Silbe.

Niemand öffnete. Plunkert las den Namen noch einmal, langsam, Buchstabe für Buchstabe. Das wird man wohl kaum so aussprechen, dachte er, und ging die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, um bei der Tür gleich links von der Treppe zu klingeln.

Auch dort öffnete niemand. Plunkert klingelte noch einmal. Vermutlich bei der Arbeit, schloss er und blickte auf das Schild unter dem Klingelknopf. In der für ein solches Schild vorgesehenen Halterung steckte ein schwarzes Plättchen, auf dem „I. & A. Glitter“ stand. An dem Rand der Halterung war mit Klebeband ein Zettel befestigt, auf dem „K. Lahm“ stand. Plunkert irrte sich, wenn auch nur teilweise. Tatsächlich war Isabella Glitter jetzt im Coiffeursalon und verpasste einem Bürstenschnitt den letzten Schliff. Ihr Mitbewohner Kurt Lahm jedoch blieb gerade in der Badewanne liegen und hoffte, der Störenfried möge nicht noch ein drittes Mal klingeln.

Sebastian Plunkert wandte sich schulterzuckend ab und stieg die Treppe hinab, um bei der andern Wohnung im Erdgeschoss zu klingeln. Er sollte auch dort kein Glück haben.

Als er wieder im ersten Stock angekommen war, trat ihm durch die offene Tür ein Mitarbeiter der Umzugsfirma entgegen.

„Wir sind fertig“, sagte er.

„Gut, gut“, strahlte Plunkert. Abschiedsfloskeln wurden getauscht, beide Seiten bedankten sich bei einander (nur einer der Umzugsleute, ein Mann mit einem exotischen, indigenen Einschlag machte ein grantiges Gesicht und sagte keinen Ton). Und endlich, endlich konnte Herr Plunkert seine neue Wohnung in Beschlag nehmen. Als er die Tür hinter sich schloss, stand er einem Berg aufgetürmter Umzugskartons gegenüber. Er hatte nicht vor, das jetzt alles einzuräumen, sondern ging schnurstracks in den grössten Raum, der eigentlich als Wohnzimmer gedacht gewesen wäre. Das mintgrüne Sofa stand nicht hier, er hatte es in ein kleineres Zimmer stellen lassen, zusammen mit dem Couchtisch, dem Fernseher, der Leselampe und einem antiken Schränkchen, das mit seinen geschliffenen Vitrinen geradezu um die Aufbewahrung erlesener Alkoholika bettelte. Nein, dieser Raum hier war Sebastian Plunkert zu wichtig, um darin ein Wohnzimmer einzurichten. Hier waren vor einem guten Jahrhundert die Morde geschehen.

Abgesehenvondenbeiden Büchergestellenanden Wänden war das Zimmer leer, und Plunkert hatte gleich als erstes die Fensterläden geschlossen, als er die Wohnung vor anderthalb Stunden zum ersten Mal betreten hatte. Während die Männer der Umzugsfirma Möbel herbei geschleppt hatten und sich dann daran gemacht hatten, alles Demontierte wieder zusammen zu schrauben, hatte Sebastian die Fensterfront mit einer dicken, schwarzen Folie zugeklebt. Das trug ihm schon sonderbare Blicke seitens der beiden Männer ein, die inseinem Wohnzimmer gerade ein Büchergestell zusammen schraubten. Diese Blicke waren jedoch nichts im Vergleich zu der Reaktion, die Plunkerts Vorhänge auslösten: Antonio Soliz, der gerade ein zum Büchergestell gehörendes Brett hielt, damit sein Kollege es festschrauben konnte, registrierte irritiert das eigenartige Muster auf dem Vorhangstoff, ehe er einige der Symbole erkannte. Er bekam den Schreck seines Lebens und liess beinahe das Regalbrett fallen. „Dios Mio“, krächzte er und schlug ein Kreuz vor der Brust, wofür er das Regalbrett mit einer Hand loslassen musste, was ihm einen bösen Blick seitens seines Mitarbeiters einbrachte. Für den Rest der Zeit, die er in Herrn Plunkerts Gegenwart verbringen musste, hielt Antonio die Augen gesenkt, und sobald er Feierabend hatte, suchte er eine Kirche auf.

Davon allerdings wusste Sebastian Fidelius Plunkert natürlich nichts. Freundlich, wie sein Gemüt nun einmal war, hatte er das Verhalten des Umzugsmitarbeiters blosser Müdigkeit zugeschrieben und auch keinen weiteren Gedanken daran verschwendet. Sobald die Umzugsmannschaft abgezogen war, begann er, den Raum nach seinen Bedürfnissen her zu richten. Dafür schleppte er einen seiner Umzugskartons herbei. Das Wort „Arbeit“ prangte in grossen Filzstiftbuchstaben darauf, und Sebastian holte einen grossen, schwarzen Ordner, einen Beutel voller Teelichter, einen kleinen Gong samt Schläger sowie eine Tube weisser Farbe und einen Pinsel heraus. Er schob den Karton in die Ecke, setzte sich auf den Boden und blätterte den Ordner durch, bis er die Anleitung fand.

Es folgte weiteres Kramen im Umzugskarton, und schon war Herr Plunkert in der Lage, einen grossen Kreis auf den Boden zu zeichnen. Ein weisser Farbstift war dazu an eine Schnur gebunden, die zwei Meter weiter mit Panzertape auf dem Parkett fixiert wurde. Danach konnte Sebastian sich daran machen, den Kreis mit etwas nachzuzeichnen, das dauerhafter war als weisser Farbstift.

Es gibt diverse Ansichten über die ideale Farbe. Die archaischen Lehren schlagen Substanzen wie Blut oder Kreide vor, aber Herr Plunkert hatte folgende Erfahrungen gemacht: Blut stinkt und zieht im Sommer Fliegen an, und Kreide kann gleichzeitig verwischen und sich tief ins Holz einfressen. Acrylfarbe hingegen trocknet schnell, stinkt nicht und lässt sich mit Spülmittel und ein wenig Stahlwolle problemlos vom Holzboden entfernen. Also benutzte Sebastian Acrylfarbe, um seine neue Wohnung seinem abergläubischen Weltbild anzupassen.

Er zog den Pinsel nicht in einem Strich über den Boden. Alle zehn bis fünfzehn Zentimeter hielt er inne, um eine Kerze auf dem just gezeichneten Abschnitt aufzustellen. Danach schlug er den Gong und sang einen Zauberspruch, während er die Lichter entzündete. Dass er keinen Ton traf, störte die Kerzen nicht, sie entflammten trotzdem, sobald die Flamme des Feuerzeugs ihren Docht berührte.

Aber jemand anderen störte es: Frieda Chämmerli hatte, kaum dass sie die Abfahrt des Möbeltransporters beobachtet hatte, ihren Mann genötigt, den Fernseher auf tonlos zu schalten, damit sie lauschen konnte, ob der neue Nachbar auch tatsächlich ruhig war. Und nun sang der kleine Knilch! Eine Frechheit! Sie ging zum Fenster und spähte durch den Spalt in den Vorhängen, einfach nur um hinaus zu starren. Während sie sich ärgerte, glitt ihr Blick über den Garten, den Kiesweg entlang, hinauf auf die Strasse. An der Aussicht gab es überhaupt nichts auszusetzen, und das ärgerte sie noch mehr. Albert Chämmerli drehte den Ton des Fernsehers wieder auf.

Sebastian Plunkert war schliesslich mit seinem Kreis fertig und machte sich nun an den zweiten Teil seines Werkes. Was er nun auf den Boden zeichnete, hätte dem Latino-Umzugsmitarbieter wohl nicht nur einen Gang in die Kirche eingebracht, sondern ihm gleich eine ganze Pilgerreise abgenötigt, um die verstörten Augen von dem Anblick rein zu waschen.

Endlich war Plunkert mit seinem okkulten FengShuifertig und befand, dass er sich eine Pizza verdient habe. Für den späteren Abend stand noch Besuch an: Bepone Stolzone, der Besitzer der Liegenschaft, der schon fast zwei Jahrzehnte zu Plunkerts engem Freundeskreis gehörte, wollte auf einen Drink vorbei kommen. Bis der alte Mann vor der Tür stand, würde es noch mehrere Stunden dauern. Zeit genug, sich noch bei der restlichen Nachbarschaft vorzustellen – und Pizza zu essen.

Er bestellte online über sein Handy, dann unternahm er den erneuten Versuch, sich als neuer Nachbar zu präsentieren.

Bei Familie Chottopadhyay-Mchedlishvili kam er offensichtlich zum falschen Zeitpunkt. Der schwarzhaarige Mann, der ihm die Tür öffnete, wirkte durchaus freundlich, wenn auch erschöpft und leicht genervt. Aus der offenen Wohnung drang die Geräuschkulisse mehrerer laut spielender Kinder, und es duftete intensiv nach Curry und Knoblauch. Plunkert stellte sich vor und war froh, dass ihm der Mann sofort das 'Du' anbot. 'Nikoloz' glitt weitaus einfacher über die Zunge als 'Chottopadhyay'.

Sebastian Plunkert stieg die Treppen hinunter.

Bei I. & A. Glitter und K. Lahm öffnete nach wie vor niemand. Isabella hatte Spätschicht und Kurt zockte mit Kopfhörern, so dass er nichts hörte.

Sebastian wandte sich der letzten Wohnung zu. Auf dem Schildchen unter dem Klingelknopf stand A. Holunder.

Erklingelte.DieTüröffnetesich.Nichtso,wiewennjemand dahinter steht und sie aktiv öffnet, sondern eher so zufällig, als hätte die Türklinke einen kurzen Schluckauf gekriegt und dabei aus versehen das Schloss angestupst, das aus reiner Langeweile einfach so mal aufklickte und sich träge nach hinten lehnte, worauf der Rest der Tür keine Wahl mehr hatte, als hinterher zu gleiten. Während sie aufschwang, offenbarte sie mehr und mehr von einem Flur in warmen, erdigen Tönen, mit kleinen tönernen Lämpchen auf einer Kommode aus hellem Holz, neben der ein Paar ziemlich dreckiger Sandalen lag.

„Hallo?“ fragte er vorsichtig. Dann erst sah er die Katze. Sie sass ziemlich nahe vor ihm auf dem Boden und blickte zu ihm auf, zwei grüne Augen in dem nachtschwarzen Pelz.

„Ähm...guten Tag!“, rief Plunkert über die Katze hinweg ins Leere. „Ich bin ihr neuer Nachbar. Wollte mich vorstellen.“

Die Katze stand auf und stolzierte links aus seinem Blickfeld. Vermutlich verschwand sie in einem der Räume, die an den Flur grenzten. Sebastian überlegte schon, ob er die Tür wieder schliessen sollte, da hörte er von links ein Klirren. Zuerst dachte er, die Katze sei für das Geräusch verantwortlich, doch dann trat aus just jener Richtung eine Frau in die offene Tür. Sie zog sich gerade den Ärmel ihrer Strickjacke hoch, als hätte sie sie gerade erst über geworfen, und die Bewegung hatte die vielgliedrigen, bronzenen Ohrringe klingeln lassen.

„Guten Tag“, sagte Sebastian noch einmal und fühlte Röte in sein Gesicht steigen. Die Frau vor ihm strahlte eine freundliche Exzentrik aus, die er sehr anziehend fand. Wie er war sie um die fünfzig, und wie er war sie nicht allzu gross gewachsen, wenngleich sie statt seiner gedrungenen Statur eher die feingliedrige Figur einer gealterten Primaballerina hatte. Über ihren grünen Augen, die ihn an die der Katze erinnerten, prangte eine Mähne, die so auffällig kupferrot war, dass sie nur gefärbt sein konnte, hochgesteckt in einen losen Knoten, aus dem sich einzelne Locken gelöst hatten. Sie trug ein weisses, tief ausgeschnittenes Trägerkleid mit reichlich Spitzenbesatz. Es war die Art von Kleid, die sich mittellose Hippiemädchen für die Hochzeit gekauft hätten. Die grüne Strickjacke hatte Schmetterlingsärmel, und um ihren Hals lagen unzählige Jadesteinchen, auf denen das bronzene Geriesel ihrer Ohrringe plingend prasseln konnte, wenn sie den Kopf neigte.

„Guten Tag“, sagte sie und strahlte ihn an. Sebastian Plunkert wurde noch röter.

„Ich bin ihr neuer Nachbar“, stiess er hervor.

„Ja, das sagten sie“, meinte die Frau vor ihm. Noch immer lächelte sie wunderschön.

„Plunkert“, sagte er und streckte ruckartig die Hand aus, „Sebastian.“

„Aurora“, erwiderte sie und schüttelte ihm die Hand. Plunkert strahlte über das ganze Gesicht und kam sich gerade unglaublich dumm vor.

„Und, Sebastian“, fragte Aurora, „was machst du beruflich?“

Plunkert, der bei Aurora unbedingt punkten wollte, dachte sehr rasch nach und entschied sich, die schillernde Wahrheit in ein Kleid der Seriosität zu hüllen.

„Ich schreibe Bücher“, sagte er, „niemand wollte meine Science Fiction veröffentlichen, also habe ich ein Buch über reale Ufo-Sichtungen verfasst. Seit dem kann ich davon leben.“

Sie lachte. Eine Kette perlender Laute, die an warme Sommertage am Strand denken liessen. Sebastian strahlte wie ein Honigkuchenpferd. „Und du?“ fragte er sie.

„Botanik“, sagte sie, „ich arbeite im Chinagarten.“

„In Zürich?“

„Ja, genau.“

Plunkert nickte anerkennend, dann stand er da, wusste nicht, was er sagen sollte, und wurde röter und röter.

Seine Verlegenheit schien auf Aurora über zu schwappen.

„Ja dann...“, sagte sie, „ich hoffe, es gefällt dir hier.“

„Ja“, sagte Plunkert und suchte krampfhaft nach etwas Witzigem und Geistreichem, das er sagen konnte, als das verschwommene Sirren einer Klingel erklang, die nicht in Auroras Wohnung betätigt worden war.

Automatisch drehten beide den Kopf in Richtung Eingang, der von Auroras Tür aus gut zu sehen war. Durch die vergitterte Glasscheibe sah er den Lieferanten.

„Ach herrje“, stiess er aus, „meine Pizza!“

„Guten Appetit“, meinte Aurora.

„Ja, danke.“

Der Pizzabote klingelte erneut und starrte die beiden missbilligend durch die Scheibe an.

„Ich glaube, der hat's eilig“, sagte Aurora, lächelte und neigte den Kopf. „Einen schönen Abend noch, Sebastian.“

„Ja, Tschüss“, brabbelte Plunkert, und Aurora schloss die Tür.

Sebastian öffnete dem Pizzaboten und sagte anstelle einer Begrüssung: „Ich hab das Portemonnaie oben, soll ich es kurz holen?“

Der Lieferant blickte ihn bitterböse an, stiess die Tür auf und marschierte hinein. „Wir liefern bis an die Tür“, meinte er brummend.

Sebastian wuselte an ihm vorbei, um ihm voraus zu gehen, und eilte die Treppe hoch. Er drückte dem Mann eine Zwanzigernote in die Hand und liess sich das Retourgeld geben, was den Boten noch grantiger machte. Er stapfte davon, und Plunkert warf einen letzten Blick auf den Gang, und die Treppe hinunter auf die Tür, hinter der K. Lahm und I. & A. Glitter wohnten. Er hoffte, die beiden morgen anzutreffen, da er es für höflich erachtete, sich innerhalb der ersten 48 Stunden bei jedem Nachbarn vorzustellen. Kurz erwog er, noch einmal zu klingeln, doch es war bereits nach sechs und damit eine Zeit, zu der die Leute Abendbrot assen oder sich die Simpsons anschauten, und er wollte nicht stören. Sein Klingeln hätte ohnehin nichts gebracht. Kurt sass mit Kopfhörern vor seinem Notebook und vertrieb sich die Zeit mit einem Spiel, und Isabella war nach wie vor auf der Arbeit.

Sie kam erst kurz vor neun nach Hause, wie üblich, wenn sie Spätschicht hatte. Frieda Chämmerli bekam dies natürlich mit, aber nicht nur, weil sie am Fenster gestanden und das Heranstöckeln der jungen Frau beobachtet hatte. Nein, Isabella hatte eine leidige Angewohnheit: Statt Türen normal hinter sich zu schliessen, indem man die Tür bei nach unten gedrückter Falle zu zog und die Falle los liess, um sie im Schloss einrasten zu lassen – wie jeder gesittete, wohl erzogene Mensch es tun würde – hatte sich die junge Frau angewöhnt, blind nach hinten zu greifen, die Türfalle zu packen und kräftig an ihr zu ziehen, während sie den Schritt über die Schwelle tat. Damit fielen Türen hinter Isabella jeweils mit einem kleinen Knall ins Schloss.

Ein Knall! Um Neun Uhr Abends! Und jetzt ratet mal, wer jeden Morgen nach dem jeweiligen Knall bei der Hausverwaltung anruft.

Bei der Hausverwaltung jedoch kennt man Frau Chämmerli und ihre Leidenschaft für Beschwerden. Daher werden ihre Briefe und Telefonate ohne weitere Konsequenz zur Kenntnis genommen, ausser die Verwaltung hat gerade wieder einmal jemanden neu eingestellt, der Frieda Chämmerli und ihre Denunzierungslust noch nicht kennt. Dies ist momentan der Fall, und darum wird Isabella Glitter am übernächsten Morgen einen Brief erhalten. Die Verwaltung wird sie höflich auffordern, ihre Tür doch bitte etwas leiser zu schliessen, wenn sie mitten in der Nacht nach Hause kommt (so genau nimmt es die ach so anständige Frau Chämmerli nämlich nicht, wenn es ums Beschweren geht), oder gegebenenfalls die Tür mit geräuschdämpfenden Gummistoppern zu versehen. Isabella ihrerseits, die nicht den ersten Brief dieser Art kriegt, wird ihn ihrerseits zur Kenntnis nehmen, ohne irgendwelche Konsequenzen zu ziehen. Und da Isabellas Tür zum jetzigen Zeitpunkt der Geschichte ohnehin nicht von Belang ist, kann sich die Narration getrost spektakuläreren Ereignissen zuwenden.

2. STOLZONES LETZTE TAT

Sebastian Plunkert erwartete seinen Besuch gegen neun Uhr Abends – und pünktlich, wie der alte Stolzone war, klingelte es Punkt 21.00.

Bepone und Sebastian kannten sich schon seit zwei Dekaden. Sie hatten mehrere gemeinsame Interessen und waren über die Jahre hinweg zu guten Freunden geworden. Nicht zuletzt war es der Beziehung zu Bepone Stolzone zu verdanken gewesen, dass Sebastian Fidelius Plunkert überhaupt diese Wohnung gekriegt hatte; Stolzone war immerhin der Besitzer dieser Liegenschaft, auch wenn er die Verwaltung einer externen Firma überliess.

Nach einer kurzen Besichtigung der Wohnung (die noch nicht sehr viel her gab, Plunkert hatte gerade das Nötigste eingerichtet), liessen sich die beiden in dem improvisierten Wohnzimmer nieder. Der Raum wäre wohl als Büro gedacht gewesen, aber nun, mit dem mintgrünen Sofa, den beiden ledernen Sesseln und dem Beistelltischchen war es ein gemütlicher Ort zum Verweilen und Philosophieren. Genau das taten die beiden auch vergnügt – bis der alte Mann kurz vor Mitternacht ein sehr ernstes Thema anschnitt.

„Ich sterbe, Sebastian“, sagte der Vermieter.

Sebastian Plunkert nippte an seinem Portwein. „Das hast du mir schon vor zwanzig Jahren erzählt“, meinte er mit einem humorvollen Augenzwinkern im Tonfall.

Bepone Stolzone blickte mit mildem Lächeln in sein Glas. Es war fast leer.

„Damals war ich einfach nur ein müder, alter Mann. Jetzt bin ich ein neugieriger alter Mann mit drei verschiedenen Arten von Krebs.“

Er blickte Sebastian Plunkert geradewegs in die blauen Augen, die angesichts dieses Gesprächsthemas etwas von ihrem Funkeln verloren hatten.

„Ich kann mir vorstellen“, fuhr Stolzone langsam fort, als würde er jedes Wort erwägen, „dass es unserem Vorhaben nicht dienlich wäre, wenn ich in einem Spitalbett stürbe.“

Plunkert wusste nicht, was er sagen sollte. Oh gewiss, er hatte kräftig mitgeholfen, den Plan zu schmieden, aber jetzt war ihm die Sache nicht mehr so ganz geheuer. Immerhin war das hier jetzt seine Wohnung.

„Was hast du vor?“ fragte er vorsichtig. Stolzone grinste ihn jungenhaft an. „Das erkläre ich dir, wenn ich von der Toilette zurück bin.“ Sebastian leerte sein Glas, während Bepone den Raum verliess. Einen Moment lang starrte er versonnen auf Bepones leeren Stuhl, dann zuckte er mit den Schultern. Bepone Stolzone hatte schon immer seine schwarzen Momente gehabt, ein Aufblitzen zynischer, manchmal geradezu vergnügter Suizidalität zwischen all den wohlgeordneten, kultivierten und geistreichen Elementen, die den Alten ausmachten. Plunkertkannte ihn lange und gut genug, um zu wissen, dass diese Schwärze kaum mehr war als eine kleine, dichte Wolke, die sich mal schnell vor die Sonne schob, und ebenso rasch wieder verblasen wurde. Er schenkte sich und Bepone ein, stellte die Flasche auf den Tisch und lehnte sich zurück, um mit Bepone erneut anzustossen, wenn dieser vom Klo zurück kam.

Nach einer Weile fiel ihm auf, dass der Alte nun schon ziemlich lange weg war. Er blickte auf die Uhr, die an der Wand hing – es war zwei Minuten nach Mitternacht – dann auf das Parkett zu seinen Füssen. Kurz sinnierte er darüber, wie er den Rest des Zimmers einrichten würde, betrachtete seine Fingernägel, dann wieder die Uhr: jetzt war es fünf nach zwölf.

Sebastian erhob sich aus seinem Sessel, betrat den Gang und heftete seinen Blick unsicher auf die geschlossene Klotür.

„Bepone?“, rief er vorsichtig, „bist du auf dem Thron eingeschlafen?“ Er hatte mit einem vergnügten Glucksen als Antwort gerechnet, aber der Alte reagierte nicht.

Sebastian trat vor die geschlossene Tür, hob die Hand um zu klopfen, besann sich anders und fragte noch einmal: „Bepone? Alles okay?“

Keine Antwort.

Plunkert klopfte nun doch gegen die Badezimmertür. Keine Reaktion.

„Bepone?“ fragte er noch einmal, dann drückte er probeweise die Klinke der Tür hinunter.

Sie ging auf und offenbarte den Blick in ein leeres Badezimmer.

Darauf konnte sich Sebastian keinen Reim machen. Wo zur Hölle war der Alte hin? Er hatte wohl nicht etwa die Wohnung verlassen, ohne sich zu verabschieden?

Mit einem riesigen Fragezeichen im Gesicht schritt Plunkert den Gang entlang, fragte noch einmal laut: „Bepone?“ und warf eher zufällig einen Blick durch die offene Tür in jenen Raum, der ursprünglich als Wohnzimmer gedacht gewesen wäre.

Bepone lag am Boden. Genau in der Mitte des Kreises, den Plunkert am Nachmittag auf den Boden gemalt hatte. Er lag auf dem Rücken, mit einem zufriedenen, angedeuteten Lächeln in dem toten Gesicht und einem tiefen Schnitt im Hals. Das Blut war noch nicht geronnen, aber es pumpte auch nicht mehr zur Wunde hinaus.

Fassungslos betrat Sebastian den Raum. Bepone war tot, das sah man auf den ersten Blick. Ausserdem wusste er, dass der Alte eine Patientenverfügung erlassen hatte: Keine Wiederbelebungsmassnamen, stellt die Maschine ab, nehmt an Organen, was ihr noch gebrauchen könnt… einen Text in der Art. Trotzdem stürzte er zu der Leiche, fühlte hastig nach dem Puls, der verstummt war, rüttelte Bepone, sagte seinen Namen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Alte in der rechten Hand eines dieser altmodischen Rasiermesser hielt. Eine schmale, scharfe Klinge, perfekt um eine Kehle mit einem einzigen, willensstarken Streich zu durchtrennen. Unwillkürlich blickte er nach der linken Hand des Toten. Er hielt einen Briefumschlag in der Hand, zerknüllt von Bepones letztem, unbewussten Aufbäumen. Sebastian zog das Couvert aus den Fingern des Alten, die kühl, aber noch nicht richtig leichenhaft kalt waren, und fand ohne Überraschung seinen Namen auf dem Umschlag. Der Umschlag war nicht zugeklebt, klaffte geradezu bereitwillig unter Sebastians Händen auf und gab den Blick auf ein zusammengefaltetes Stück Papier frei. Sebastian zog den Brief heraus und faltete ihn auf.

Mein lieber Sebastian

Es gibt wohl kaum eine Notwendigkeit, diese Tat zu erklären, wir haben oft genug darüber gesprochen. Ich weiss, dass Du meine Ansichten über Blut nicht teilst, aber ich wollte auf Nummer Sicher gehen. Die Schweinerei tut mir aufrichtig leid. Mach dir keine Sorgen, ich habe zu Hause einen Abschiedsbrief deponiert, wo ich meine fortschreitende Erkrankung als Hauptgrund für meinen Suizid angebe – daneben erwähne ich auch Depressionen. Das sollte genügen. Du wirst ausserdem in meinem Testament erwähnt (aber das weisst du ja).

Was soll ich noch sagen? Du weisst, dass ich lange Abschiedenicht leiden kann, von sentimentalem Geschwafel ganz zuschweigen. Ich hatte ein langes, gutes Leben und erspare mir ein scheussliches Sterben. Ausserdem bin ich damit unserer Sache dienlich.

Ich wünsche dir von Herzen alles Gute.

Leb wohl, mein Freund

Bepone

Darunter war mit einem andern Kugelschreiber von Hand gekritzelt: PS: Du solltest vielleicht noch schnell die okkulten Symbole von deinem Wohnzimmerboden putzen, sonst denkt die Polizei noch, du wärst ein Satanist und mein Tod ein Ritualmord.

„Du sturer, alter Esel“, murmelte Plunkert und rang um Fassung. Dann machte er sich daran, die Polizei anzurufen, als ihm einfiel, dass er sein Telefon noch gar nicht angeschlossen hatte. Er suchte sein Handy, fand es schliesslich in der Küche, und wählte 117.

Frau Chämmerli war bereits im Bett. Am Schlafen war sie noch nicht – und Sex hatte sie auch keinen (den hatte sie schon lange nicht mehr gehabt, aber das kann man ihrem Mann auch nicht verdenken). Nein, sie las, wie sie es sich in langen Jahren unbefriedigten Ehelebens vor dem Schlafen angewöhnt hatte. Auf ihrem Nachttisch lagen zwei Zeitschriften mit Strickmustern und das jüngste Positionspapier der SVP, das Frieda Chämmerli vor wenigen Minuten zugunsten einer Schnulze beiseite gelegt hatte. Nun schwelgte sie in einer Geschichte, in der sich ein Tierarzt und eine verwitwete Wirtin vor einem prachtvollen Alpenpanorama mit vielen Irrungen und Wirrungen näher kamen. Sie hatte gerade einen weiteren Höhepunkt in der Storyline erreicht – eine bildschöne Schlagersängerin machte dem Tierarzt Avancen, während die bedauernswerte Wirtin aufgrund einer Weisheitszahnoperation mit geschwollenen Backen unattraktiv daneben stand – als sie ein Geräusch aus ihrer gänseblümeligen Traumwelt riss: Martinshörner! Ein Krankenwagen raste herbei und parkte auf dem Kiesplatz neben dem Haus. Unmittelbar darauf hörte sie noch weitere Autos scharf bremsen. Mit einem Satz war Frieda aus dem Bett gesprungen und hatte sich den hellrosa Morgenrock über das blau gestreifte Nachthemd geworfen. Ihr Mann grunzte im Schlaf. Frieda wuselte zu dem Fenster, das den Blick auf den Kiesplatz erlaubte, und spähte durch den Spalt zwischen Fensterrahmen und Vorhang. Neben Stolzones Karosse stand ein Krankenwagen, und – oh süsser Adrenalinstoss – auch ein Auto, auf dem in herrlichen Lettern POLIZEI prangte. Mit wehendem Morgenrock rannte Frau Chämmerli zu einem andern Fenster und sah gerade noch, wie ein Polizist das Haus betrat. Sie liess alle Vorsicht einer raffinierten Spionin fahren und eilte zur Wohnungstür, riss sie auf und stürzte in den Gang.