Historical Lords & Ladies Band 52 - Elizabeth Rolls - E-Book
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Historical Lords & Ladies Band 52 E-Book

Elizabeth Rolls

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Beschreibung

HOCHZEIT IM HERRENHAUS von ASHLEY, ANNE
Wie ein Märchenschloss wirkt Greythorpe Manor im glitzernden Schnee. Und wie ein Märchenprinz erscheint Miss Annis Milbank der attraktive Viscount Greythorpe. Nur zu gern pflegt sie ihn nach seinem Unfall gesund. Als sie sich näherkommen, beginnt Annis bereits von einer Hochzeit zu träumen. Doch dann geschieht das Unfassbare: Auf einem Ball flirtet der Viscount mit einer anderen! War alles nur ein Spiel für ihn?

DIE WEIHNACHTSBRAUT von ROLLS, ELIZABETH
Nie zuvor hat Dominic sich so stark zu einer Frau hingezogen gefühlt wie zu der betörenden Philippa. Doch seine Mutter, die stolze Lady Alderley, sieht in ihr nur eine bessere Dienstbotin - und besteht darauf, dass ihr Sohn sich mit einer reichen Erbin vermählt. Dominic muss sich entscheiden: Entweder folgt er dem Ruf seines Herzens und heiratet seine große Liebe … oder er geht berechnend eineVernunftehe ein!

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Seitenzahl: 441

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Anne Ashley, Elizabeth Rolls

HISTORICAL LORDS & LADIES BAND 52

IMPRESSUM

HISTORICAL LORDS & LADIES erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

Erste Neuauflage in der Reihe HISTORICAL LORDS & LADIESBand 52 - 2015 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2006 by Anne Ashley Originaltitel: „A Lady Of Rare Quality“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Vera Möbius Deutsche Erstausgabe 2007 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe HISTORICAL MYLADY, Band 492

© 2006 by Elizabeth Rolls Originaltitel: „A Soldier’s Tale“ erschienen bei: Harlequin Enterprises, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Petra Lingsminat Deutsche Erstausgabe 2007 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe HISTORICAL MYLADY WEIHNACHTSBAND, Band 16

Abbildungen: Harlequin Books S.A., Firem, Stocknshares / iStsockphoto, Gregor Buir / Thinkstock, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 11/2015 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733761332

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, TIFFANY

Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de

Hochzeit im Herrenhaus

1. KAPITEL

Es dauerte eine volle Minute, bis Miss Annis Milbank sich hinreichend von dem Schock erholt hatte, um zu rufen: „Oh Tante, wieso glaubst du, ich könnte dir diesen Dienst erweisen? Wenn ich mich auch um Manieren bemühe, die meiner lieben Mama gefallen hätten – manchmal äußere ich meine Meinung ganz furchtbar freimütig. Also eigne ich mich wohl kaum zur Vermittlerin, schon gar nicht in einer so heiklen Angelegenheit.“

Mit einem sanften Lächeln betrachtete Lady Pelham das reizvolle, von dichten rötlich braunen Locken umrahmte Gesicht ihrer Patentochter. Gewiss, Annis’ Verhalten war manchmal etwas unkonventionell, und einige Leute fanden sie viel zu selbstbewusst. Aber sie hatte das warmherzige Wesen ihrer Mutter geerbt, zudem die Tatkraft und Vernunft ihres Vaters. Diese bewundernswerten Eigenschaften, verbunden mit mutwilligem Charme, befähigten sie durchaus, den Auftrag auszuführen. „Da irrst du dich, meine Liebe. In diesem Fall wird sich deine Neigung, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, sogar vorteilhaft auswirken.“

Skeptisch hob Annis die schön geschwungenen Brauen. „Wenn der gegenwärtige Viscount Greythorpe im Charakter seinem Vorgänger gleicht – würde er sich überhaupt anhören, was ich zu sagen hätte?“

„Um ehrlich zu sein, Kindchen, ich kenne den derzeitigen Träger des Titels kaum“, seufzte Lady Pelham. Müde stand sie auf und trat ans Fenster. „Da gehen die Meinungen auseinander. Wie ich gehört habe, soll er seinem gefühlskalten, unnahbaren verstorbenen Vater gleichen. Aber er wird auch ganz anders eingeschätzt. Ich persönlich möchte mich vorurteilsfrei zeigen.“ Als sie sich zu ihrer Patentochter umdrehte, nahm ihr Gesicht einen ernsten Ausdruck an. „Du darfst nicht glauben, es würde mir leichtfallen, dich darum zu ersuchen. Könnte ich mich an eine Verwandte oder eine Freundin hier in Bath wenden, hätte ich dir niemals diesen melodramatischen Brief geschrieben und dich um deinen unverzüglichen Besuch gebeten. Sicher warst du beunruhigt, weil ich keine Erklärung abgegeben habe.“

Diese krasse Untertreibung entlockte Annis ein Lächeln. Sobald sie das Schreiben erhalten hatte, war sie in aller Eile in eine gemietete Postkutsche gestiegen. Die Reise von ihrem Heim in Leicestershire nach Bath dauerte nicht lange. Trotzdem fand sie Zeit genug, um sich das Allerschlimmste vorzustellen.

Bei ihrer Ankunft vor einer knappen halben Stunde hatte sie halb und halb erwartet, ein Dienstbote würde ihr mitteilen, die Patentante sei schwer erkrankt oder Helen, die Nichte Ihrer Ladyschaft, habe ein grausiges Schicksal erlitten. Niemals hätte sie vermutet, sie sollte als Vermittlerin agieren. In solchen Dingen war sie völlig unerfahren.

„Vielleicht habe ich dich nicht richtig verstanden, Tante“, gab sie zu. „Du hast mir erzählt, du seist von Lord Greythorpe eingeladen worden, zusammen mit deiner Nichte, die seine Halbschwester ist, ein paar Wochen auf dem Landsitz der Familie in Hampshire zu verbringen, wovon Helen nicht sonderlich begeistert ist.“ Unfähig, ein Lächeln zu unterdrücken, fügte sie hinzu: „Nun, das kann ich ihr nachfühlen. Immerhin meistert sie ihr Leben, auch ohne von den Verwandten ihres verstorbenen Vaters anerkannt zu werden.“

„Helen ist der Familie Greythorpe nicht feindlich gesinnt.“ Nachdenklich musterte Lady Pelham ihr Patenkind, bevor sie wieder Platz nahm. „Während dein Groll auf die Angehörigen deiner Mutter im Lauf der Jahre gewachsen zu sein scheint, Liebes.“

Über dieses unangenehme Thema wollte Annis nicht reden, was die Tante verständnisvoll berücksichtigte.

„Jedenfalls habe ich deine Mama stets bewundert“, fuhr Lady Pelham fort. „Im Gegensatz zu meiner verstorbenen Schwester und mir war sie charakterstark genug, um sich den Anordnungen ihrer Familie zu widersetzen und den Mann ihrer Wahl zu heiraten. Wie anders wäre Charlottes und mein Leben verlaufen, hätten wir den gleichen Mut aufgebracht!“

Annis wusste Bescheid über diese unglücklichen Ehen, die von begrenzter Dauer gewesen waren. Trotzdem fühlte sie sich bemüßigt, eine wichtige Frage zu stellen.

„Dass der sechste Viscount Greythorpe Helens Vater war, habe ich niemals bezweifelt“, antwortete Lady Pelham ohne Zögern. „Das Verhalten meiner Schwester mag unklug gewesen sein, aber unter den Umständen begreiflich. An diesen zynischen, kaltherzigen, wesentlich älteren Mann gebunden, fand sie natürlich Gefallen an der Aufmerksamkeit des jungen Künstlers, der kurz nach ihrer Hochzeit beauftragt wurde, ihr Porträt zu malen. Charlotte gab unverblümt zu, sie habe während seines Aufenthalts im Greythorpe Manor sehr oft seine Gesellschaft gesucht. Aber sie beteuerte, die Beziehung sei nie über einen dezenten Flirt hinausgegangen. Bedauerlicherweise wurde Helen um jene Zeit empfangen. Zu allem Überfluss kam sie auch noch mit den roten Haaren zur Welt, die in unserer Familie von Zeit zu Zeit auftauchten. Was ja auch für mich gilt …“

„Diese Tatsache müsste der Viscount akzeptiert haben“, warf Annis ein.

„Eigentlich schon“, stimmte Lady Pelham zu. „Und er zog sicher auch die Möglichkeit in Betracht, zwei dunkelhaarige Menschen könnten Rotschöpfe zeugen. Leider besaß auch der junge Maler rötliches Haar.“

„Welch ein unglückseliger Zufall!“, meinte Annis. „Aber wenn Helen der Familie ihres verstorbenen Vaters nicht zürnt – warum lehnt sie dann die Einladung auf den Ahnensitz ab?“

„Oh nein, sie hat sich nicht direkt geweigert, es ist nur – wir haben bereits versprochen, Ende Februar ein paar Tage auf dem Landgut ihrer Freundin in Devonshire zu verbringen. Um die gleiche Zeit sollen wir auf Lord Greythorpes Wunsch nach Hampshire fahren. Also schrieb ich ihm, erklärte die Situation und gab ihm zu verstehen, bei Helens erstem Aufenthalt in Greythorpe Manor sei ein kürzerer Besuch empfehlenswerter.“

„Ist deine Nichte nicht damit einverstanden?“, fragte Annis, als ihre Patente verstummte.

„Doch. Unter anderen Umständen wäre sie bereit, den Wunsch ihres Halbbruders zu erfüllen.“ Plötzlich bildete sich ein grimmiger Zug um Lady Pelhams Lippen. „Aber im Augenblick würde sie Bath nur höchst ungern verlassen.“

Gespannt wartete Annis auf nähere Erklärungen. Nun war ihre Neugier erwacht.

„Kurz bevor wir Lord Greythorpes Einladung erhielten, lief ihr unglücklicherweise ein hübscher Taugenichts über den Weg, der seither ihre ungeteilte Aufmerksamkeit genießt.“

„Ein Mitgiftjäger?“

„Ohne jeden Zweifel. Zu meinem Leidwesen hat sie ihn noch nicht durchschaut. Aber wie du weißt, ist sie nicht dumm und erstaunlich reif für ihre Jahre. Sicher ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie zur Vernunft kommen und diese alberne Schwärmerei überwinden wird. Vorausgesetzt, man gesteht ihr diese Zeit zu.“ Lady Pelham erhob sich erneut. Diesmal wanderte sie im Salon umher, ein deutliches Zeichen ihrer inneren Unrast. „Falls sie zur Abreise gezwungen wird, solange sie immer noch in den jungen Schurken vernarrt ist, lässt sie sich womöglich dazu überreden, mit ihm durchzubrennen. Und ich fürchte, dann können weder ihre Treuhänder noch ich verhindern, dass sich dieser Mr Daniel Draycot ihr Erbe aneignet. Oder einen Teil davon …“ Vor lauter Nervosität begann sie ein Porzellanfigürchen auf dem Kaminsims hin und her zu rücken, um es dann wieder an seinen angestammten Platz zu stellen. „Meine Schwester Charlotte hatte entschieden, Helen sollte ebenso wie deine Mutter aus Liebe heiraten. Wenn sie den Richtigen gefunden hat, wird sie ihr Erbe antreten, ohne irgendwelche Bedingungen erfüllen zu müssen. Zumindest wird sie das Vermögen erhalten, das ihre Mutter ihr hinterlassen hat.“

Obwohl Annis diese Sorge ihrer Patentante verstand, glaubte sie, das Problem wäre leicht zu lösen. „Warum schreibst du Lord Greythorpe nicht einfach und schlägst ihm einen Besuch zu einem späteren Zeitpunkt vor? Dann wären alle Beteiligten zufrieden.“

„Das tat ich bereits, meine Liebe. Ohne Erfolg …“ Lady Pelham ging zu ihrem Schreibtisch und nahm einen Brief aus der Schublade, den sie ihrer Patentochter übergab.

Während Annis die kühne, eindeutig maskuline Handschrift überflog, zogen sich ihre dunklen Brauen zusammen. In ihren grauen Augen funkelten grüne Pünktchen. „Was für ein arroganter Mann!“ Erbost legte sie den Brief beiseite. „Wofür hält er sich eigentlich? Warum verlangt er, seine Halbschwester müsse der Familie einen Besuch abstatten, wann es ihm beliebt? Seine Großmutter mütterlicherseits …“ Nun griff sie wieder nach dem Blatt Papier. „Helen ist nicht mit dieser verwitweten Lady Kilbane verwandt, also keineswegs verpflichtet, an der Geburtstagsfeier teilzunehmen, die am Frühlingsanfang in Greythorpe Manor stattfinden soll. An deiner Stelle würde ich die Kutsche, die er nächste Woche hierherbeordern will, um euch abholen zu lassen, sofort zurückschicken – mit einem Brief, der ihm unverständlich klarmacht, du würdest entscheiden, wann deine Nichte die Reise unternimmt.“

„Glaub mir, Kindchen, nichts würde mir größere Genugtuung bereiten“, gestand Lady Pelham. „Allmählich befürchte ich, Lord Greythorpe gleicht tatsächlich seinem Vater – herrisch und kompromisslos. Auf die Gefühle anderer nimmt er keine Rücksicht. Aber traurigerweise ist er berechtigt, Helens Besuch zu erzwingen, wann immer es ihm gefällt.“ Lächelnd bemerkte sie Annis’ unverhohlene Entrüstung. „Nachdem sich der verstorbene Lord Greythorpe von meiner Schwester getrennt hatte, verzichtete er aus Gründen, die nur er kannte, auf eine Scheidung. Bei seinem Tod ging die Vormundschaft über die Tochter, die er niemals anerkannt hatte, an seinen einzigen Sohn, den gegenwärtigen Träger des Titels.“

Irrtümlicherweise hatte Annis stets angenommen, Lady Pelham wäre seit Charlottes Ableben Helens Vormund. Nun konnte sie ihre Verblüffung nicht verhehlen. „Das wusste ich nicht, Tante. Was mag sich Lord Greythorpes Vater dabei gedacht habe? Warum übertrug er die Vormundschaft nach dem Tod seiner Frau nicht dir, wo er doch nichts mit Helen zu tun haben wollte?“

Lady Pelham lächelte wehmütig. „Was immer ihn auch zu seinem Entschluss bewog – das Wohl seines jüngsten Kindes lag ihm sicher nicht am Herzen. Wahrscheinlich versuchte er die Existenz des Mädchens einfach nur zu ignorieren.“

Das vermutete auch Annis, und so nickte sie. Dann kam ihr ein neuer Gedanke. „Und warum interessiert sich der jetzige Viscount plötzlich für seine Halbschwester?“

Über diese Frage hatte Ihre Ladyschaft bereits nachgedacht, ohne das Rätsel zu lösen. „Soviel ich weiß, unternahm er ausgedehnte Reisen. Während er sich im Ausland aufhielt, erreichte ihn die Nachricht vom Ableben seines Vaters. Dann wartete er fast ein ganzes Jahr, bevor er sich bei mir meldete. Die Ländereien in Hampshire erstrecken sich über mehrere Morgen. Zudem besitzt er ein kleineres Landgut in Derbyshire und eine Londoner Residenz. Diese Liegenschaften hat er in den letzten Monaten öfter besucht. Also muss er nach seiner Heimkehr sehr beschäftigt gewesen sein.“

Annis fand diese Erklärung einleuchtend, und so ging sie nicht weiter darauf ein. „Glaubst du, er ist nach dem Tod des Vaters endlich bereit, Helen offiziell als seine Schwester anzuerkennen?“

„Falls er das plant, wäre es zu begrüßen. Meine Nichte hat zwar nicht übermäßig unter dem lieblosen Verhalten ihres Vaters gelitten. Aber manchmal wiesen niederträchtige Klatschmäuler in Helens Hörweite auf ihre fragwürdige Herkunft hin.“

„Hoffentlich unterbindet ihr Halbbruder solche Spekulationen ein für alle Mal, und seine Frau wird ihr freundlich begegnen.“

„Oh, er ist immer noch ledig. Keine Ahnung, ob mich das überrascht oder nicht … Ich traf ihn nur ein einziges Mal, als er mich unerwartet besuchte, um mir nach Charlottes Tod sein Beileid auszusprechen. Ob er das mit dem Wissen und der Billigung seines Vaters tat, konnte ich nicht herausfinden. Jedenfalls schien er den Verlust seiner Stiefmutter aufrichtig zu bedauern. Jetzt, zehn Jahre später, erinnere ich mich verständlicherweise nur vage an ihn. Ich entsinne mich nur, dass ich ihn für einen sehr ernsthaften jungen Mann hielt. Auf seine düstere Weise wirkte er recht attraktiv. Und neulich erwähnte jemand, er würde den Landsitz zusammen mit seiner ebenfalls unverheirateten Schwester bewohnen.“ Anmutig sank Lady Pelham wieder in ihren Sessel und starrte eine Zeit lang gedankenverloren auf den Teppich. „Über seinen letzten Brief habe ich Helen noch nicht informiert. Und sie weiß auch nichts von der Vormundschaft.“

„Großer Gott, Tante, warum hast du ihr das verheimlicht?“, rief Annis bestürzt.

„Weil ich mir deshalb nie den Kopf zerbrach. Ihr Vater mischte sich kein einziges Mal in ihre Erziehung ein. Genau genommen vermied er jeden Kontakt. Warum sollte ich annehmen, sein Sohn würde sich anders verhalten?“ Ihre Ladyschaft seufzte tief auf. „Offen gestanden, ich glaube, es wäre ein Fehler, ihr gerade jetzt reinen Wein einzuschenken, während sie diesen jungen Tunichtgut anhimmelt.“

„Fürchtest du, Helen könnte den Verdacht schöpfen, du würdest sie zu einem längeren Besuch im Greythorpe Manor überreden, um sie von ihrem Verehrer zu trennen?“

„Nicht nur das, Liebes“, erwiderte Lady Pelham lächelnd. „Zuerst möchte ich mit ihr nach Devonshire fahren. Ich fand nämlich heraus, dass ihrem Galan diese Reisepläne missfallen. Und ich habe das Gefühl, sein Protest hängt keineswegs mit der drohenden Trennung von Helen zusammen.“

„Wie interessant!“ Annis beugte sich sichtlich fasziniert vor. „Meinst du, er hat Angst, du würdest in Devonshire diffamierende Neuigkeiten über ihn erfahren?“

„Du hast es erraten. Um die Wahrheit zu gestehen, das hoffe ich sogar. Gelegentlich erwähnte Mr Draycot, er sei kurzfristig dort gewesen. Allerdings weiß ich nicht, ob er in Okehampton war, wo Helens Freundin mit ihren Eltern lebt. Wie auch immer, er drängt meine Nichte unentwegt, den Besuch abzusagen, mit der Begründung, er würde nicht einmal ein paar Tage ohne ihre Gesellschaft ertragen. Bisher hat sie seinen flehenden Bitten widerstanden. Sie will die Einladung nach wie vor annehmen.“

In diesem Moment erklangen Stimmen in der Halle, und Ihre Ladyschaft hob den Kopf.

„Wenn mich nicht alles täuscht, hat Helen auf ihrem Spaziergang im Park wieder einmal Mr Draycot getroffen – natürlich rein zufällig“, fügte sie ironisch hinzu. „Und falls mich meine Ohren nicht trügen, hat sie ihn zum Tee eingeladen. Nun kannst du seinen Charakter selbst beurteilen, Annis. Aber nimm dich in Acht. Helen erwartet nicht, dich hier zu sehen. Also musst du ihr erklären, du hättest dich ganz spontan zu diesem Besuch entschlossen. Auf keinen Fall darf sie erfahren, dass dich mein Brief dazu bewogen hat.“

Unter dem Eindruck der kurzen Begegnung mit Mr Daniel Draycot beendete Annis ihren Aufenthalt in Bath schon zwei Tage später und fuhr in einer gemieteten Postkutsche durch Hampshire. Diese Grafschaft hatte sie nie zuvor bereist.

Normalerweise hätte ihr Interesse der Umgebung gegolten, obwohl die Landschaft um diese frühe Jahreszeit nicht besonders sehenswert wirkte. Aber Annis kannte nur einen einzigen Gedanken – ihr Ziel möglichst schnell zu erreichen. Leider hatte sich das Wetter seit ihrer Abreise aus Bath verschlechtert. Unter einem düsteren Wolkenhimmel peitschte ein bitterkalter Ostwind Regentropfen gegen die Wagenfenster.

„Hätte ich bloß zwei Zimmer in der letzten Poststation genommen, statt den törichten Entschluss zu fassen, noch heute im Greythorpe Manor anzukommen!“, klagte sie, zu ihrer Reisegefährtin gewandt. „Nachdem Sie ebenso wie der Kutscher Schneefälle vorausgesagt haben …“

„Immerhin hatten Sie einen guten Grund, meinen Ratschlag zu ignorieren, mein Lämmchen“, entgegnete Eliza Disher, ihre stets loyale Zofe und Gesellschafterin. „Wie unangenehm Sie den Auftrag finden, den Lady Pelham Ihnen erteilt hat, ist mir nicht entgangen. Je früher Sie die Tortur hinter sich bringen, desto besser.“

„Vorausgesetzt, Seine Lordschaft wird mich empfangen“, gab Annis zu bedenken. Die Möglichkeit, dass er sie abweisen ließ, bestand durchaus. Und dann wäre die beschwerliche Fahrt umsonst gewesen. „Gewiss, ich habe ein Empfehlungsschreiben von Lady Pelham bei mir. Aber ob es mir eine Unterredung mit dem Viscount verschaffen wird, bleibt abzuwarten. Zudem ist es eine sehr persönliche Angelegenheit, die ich mit ihm besprechen will. Vielleicht weist er mir die Tür, bevor ich ihm sämtliche Argumente meiner Patentante erklärt habe.“

„Sie können nicht mehr tun, als in Ihrer Macht steht, Miss Annis“, meinte Eliza aufmunternd, und die junge Frau, der sie vor fast vierundzwanzig Jahren ans Licht der Welt verholfen hatte, belohnte sie mit einem liebevollen Lächeln. „So gut wie ich kennt Sie niemand. Deshalb weiß ich – wenn Sie’s für falsch hielten, den Wunsch Ihrer Ladyschaft zu erfüllen, würden Sie jetzt nicht in dieser Kutsche sitzen.“

Ja, das stimmt, dachte Annis. Seit sie denken konnte, bewunderte sie ihre Patentante. Seit vielen Jahren verwitwet, war Henrietta Pelham intelligent und warmherzig, eine Dame, die sich stets freundlich um sie gekümmert hatte, vor und nach dem Tod der geliebten Mutter.

Dafür wollte Annis ihr danken, indem sie die unerfreuliche Mission auf sich nahm. Dazu hatte sie sich erst nach reiflicher Überlegung entschlossen.

„Wenn ich meinem Gefühl vertrauen darf, beurteilt meine Patentante diesen Mr Draycot völlig richtig, Eliza“, wandte sie sich wieder an ihre Begleiterin. „Zweifellos ist er ein Schurke. Sie braucht nur noch genug Zeit, um seinen wahren Charakter zu entlarven und …“

Als der Wagen plötzlich hielt, verstummte sie. Vorerst schneite es noch nicht so stark, dass eine Unterbrechung der Reise ratsam erschienen wäre. Deshalb nahm Annis an, der Kutscher und seine beiden Gehilfen – nicht ganz sicher, wo Greythorpe Manor lag – würden an einer Kreuzung erörtern, welche Richtung sie einschlagen sollten. Sie zog ihr Cape enger um die Schultern, öffnete das Fenster und verlangte eine Erklärung für die Verzögerung.

Sofort eilte der sichtlich verlegene Kutscher zur ihr, mit der Information, eine Gestalt läge auf der Straße. Verständlicherweise erstaunt, aber nicht ernsthaft beunruhigt, stieg Annis aus, dicht gefolgt von der fürsorglichen Eliza.

Immer wieder war sie mit ihrem Vater verglichen worden. Nicht nur ihr Aussehen hatte sie von dem verstorbenen Dr. Milbank geerbt, sondern bis zu einem gewissen Grad auch ihren Charakter – insbesondere eine untrügliche Beobachtungsgabe. Die nutzte sie jetzt auf dem Weg zu dem Mann, der reglos am Boden lag. Ein schönes rotbraunes Pferd stand in der Nähe seines offenbar verletzten Herrn.

Nach einem flüchtigen Blick in den Wald, der die Straße säumte, kniete Annis nieder, um den Fremden zu untersuchen. Aus einem versengten Loch im Ärmel seines Reitrocks quoll Blut, und an der Stirn entdeckte sie eine Schürfwunde. Mit Elizas Hilfe drehte sie den Mann auf den Rücken. Dann inspizierte sie den Inhalt seiner Taschen, fand aber keinen Hinweis auf seine Identität. Nur eins stand vermutlich fest – er war keinem Raubüberfall zum Opfer gefallen.

„Verzeihen Sie, Miss …“, begann der verängstigte Kutscher, als sie aufstand. „Wir sollten weiterfahren. Wer weiß, wer zwischen diesen Bäumen auf der Lauer liegt …“

„Sollen wir den armen Mann etwa seinem Schicksal überlassen?“ Hochmütig hob sie die Brauen. Diese Miene erinnerte Eliza Disher stets an die aristokratische Großmutter ihrer jungen Herrin, eine furchterregende Matrone, der niemand zu widersprechen gewagt hatte.

Auch jetzt erzielte Annis’ vernichtender Blick die gewünschte Wirkung. Die beiden Gehilfen des Kutschers trugen den Verwundeten in den Wagen, nicht ohne zu murren und zu fluchen. Nachdem sie den edlen Wallach des Fremden am Heck der Kutsche festgebunden hatten, wurde die Reise fortgesetzt.

„Hoffen Sie, man wird den Mann in Greythorpe Manor kennen, Miss?“, fragte Eliza und beobachtete, wie ihre Herrin einen Muff unter den Kopf des Mannes schob, um es ihm bequemer zu machen.

„Wenn er aus dieser Gegend stammt, wird man im Manor sicher wissen, wer er ist.“ Annis betrachtete die aristokratischen Züge des Bewusstlosen, die nicht hübsch, aber prägnant wirkten und einen starken Charakter verrieten. „Nach seiner Kleidung und dem kostbaren Pferd zu schließen, muss er gut situiert sein. Wohlhabende Gentlemen pflegen längere Reisen in ihren Kutschen zu unternehmen, nicht im Sattel. Also dürfte er in dieser Region leben.“

„Jedes Mal, wenn Sie so reden, erinnern Sie mich an Ihren klugen Vater, Miss Annis“, bemerkte Eliza lächelnd.

Dieses Lob wurde nicht gewürdigt. Stattdessen runzelte Annis die Stirn.

„Was bedrückt Sie, Miss? Fürchten Sie, der Gentleman ist schwer verletzt?“

„Das wird sich erst bei einer genaueren Untersuchung herausstellen. Aber ich glaube, es ist nicht so schlimm. Offenbar wurde er von einer Kugel getroffen – nur ein Streifschuss, nehme ich an. Die Wunde an der Stirn muss er sich bei seinem Sturz vom Pferd zugezogen haben. Warum er überfallen wurde, verstehe ich nicht, denn der Angreifer hat ihn nicht beraubt. Die Börse, die ich vorhin aus seiner Tasche nahm, ist prall gefüllt.“

„Vielleicht hat unsere Ankunft den Übeltäter gestört, bevor er sich die Wertsachen des Gentleman aneignen konnte, und er ergriff die Flucht.“

„Wohl kaum, Eliza. Wir haben keinen Schuss gehört. Also muss die Attacke schon vor einiger Zeit erfolgt sein. Außerdem fand ich keine Fußspuren im Schnee, abgesehen von unseren eigenen und den Hufabdrücken des Wallachs. Vor etwa fünfzehn Minuten begann es zu schneien, und ein Räuber hätte genug Zeit gefunden, die Taschen des Gentlemans zu leeren.“

Das Tempo des Gespanns wurde gedrosselt, als der Wagen zwischen zwei imposanten Steinpfeilern hindurchrollte. Kurz danach erblickte Annis die majestätische Fassade des Herrenhauses im Stil des 17. Jahrhunderts. Sobald der Wagen hielt, stieg sie aus und ging zu einer massiven Eichentür.

Gebieterisch betätigte sie den Klopfer, und ein Lakai in eleganter grüner Livree, der ihr mitteilte, sein Herr sei nicht anwesend, erschien auf der Schwelle. Zudem würde Seine Lordschaft nur selten Fremde ohne vorherige Anmeldung empfangen.

Annis erwiderte, sie würde ein Empfehlungsschreiben hinterlegen und am nächsten Tag zurückkehren. Dann erwähnte sie den verletzten Fremden, der in ihrer gemieteten Postkutsche lag.

Nur widerwillig folgte ihr der Lakai durch den eisigen Wind und den Flockenwirbel zum Wagen. „Offensichtlich kennen Sie den Mann“, meinte Annis, als der Dienstbote in die Kutsche spähte und nach Luft schnappte.

„Ob ich ihn kenne, Ma’am? Allerdings – das ist Seine Lordschaft! Schon vor einer ganzen Weile haben wir seine Rückkehr aus der Stadt erwartet.“

2. KAPITEL

Wie unglaublich dumm von mir, schalt sie sich ärgerlich. Warum hatte sie nicht an die naheliegende Möglichkeit gedacht, der Verletzte könnte der Gentleman sein, den sie aufsuchen wollte? Annis befahl dem verwirrten jungen Lakaien und einem der Kutschergehilfen, Seine Lordschaft ins Haus zu bringen. Dann nahm sie die würdevolle Haltung ein, die sie in schwierigen Situationen stets zur Schau trug und für die sie so oft bewundert wurde. Den Kopf hoch erhoben, folgte sie den Männern in eine geräumige Halle.

Kaum hatte sie den schwarz-weißen Marmorboden betreten, kam ihr auch schon ein Mann entgegen, dessen gebieterische Miene sofort bekundete, dass er in diesem Haushalt das Regiment führte.

Erstaunlicherweise zeigte er beim Anblick seines bewusstlosen Herrn kein Entsetzen. Stattdessen musterte er Annis misstrauisch.

„Lass dich niemals einschüchtern, wenn du dich mit Dienstboten befassen musst, Annis“, hatte die Mutter ihr vor langer Zeit geraten. „Tüchtige Leute sind sehr scharfsinnig. Meistens erkennen sie Personen, die der gehobenen Gesellschaftsschicht angehören, und verhalten sich dementsprechend.“

Und so erwiderte Annis den arroganten Blick des Butlers, ohne mit der Wimper zu zucken, und reckte das Kinn empor. „Diesen Gentleman fand ich auf der Straße. Wie man mir soeben mitteilte, ist er Ihr Herr. Nach meiner Ansicht ist er nicht ernsthaft verletzt. Trotzdem sollte man unverzüglich für seine Bequemlichkeit sorgen und einen Arzt holen.“

Anscheinend erzielte ihr kühler Befehlston die gewünschte Wirkung, denn er beorderte einige Diener in die Halle und gab ihnen die erforderlichen Anweisungen.

Nachdem sie den Viscount nach oben gebracht hatten, wandte sie sich wieder an den Butler. „Ist die Schwester Seiner Lordschaft daheim?“ Mit dieser Frage bewies sie, dass sie zwar eine Fremde, aber über die Familienverhältnisse des Hausherrn informiert war.

„Miss Greythorpe besucht gerade eine ehemalige Dienerin, die sich im Ruhestand befindet, Ma’am.“ Wie sein kaum merkliches Zögern bezeugte, hätte er normalerweise niemals einer Unbekannten anvertraut, wo sich seine Herrin aufhielt. Aber unter diesen keineswegs gewöhnlichen Umständen musste er wohl oder übel eine Ausnahme machen.

„Falls sie das Haus zu Fuß verlassen hat, sollten Sie ihr sofort einen Wagen schicken, solange die Straßen in diesem gefährlichen Schneetreiben noch passierbar sind. Da fällt mir ein …“ Annis drehte sich zu dem Kutschergehilfen, der inzwischen aus dem oberen Stockwerk zurückgekehrt war. „Fahren Sie mit Ihren Gefährten in die Stadt, mieten Sie Zimmer in der Poststation, danach kommen Sie wieder hierher und erwarten meine weiteren Anordnungen.“

Schließlich richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihre Zofe, die voller Stolz beobachtete, wie umsichtig ihre junge Herrin die Situation meisterte.

„Lassen Sie das Handgepäck aus der Postkutsche holen, Eliza. Und alles, was wir brauchen würden, falls wir hier übernachten müssen … Natürlich werden wir das Haus nicht vor Miss Greythorpes Rückkehr verlassen, denn sie will zweifellos wissen, warum eine fremde Person ihren Bruder hierhergebracht hat.“

Kampflustig starrte Eliza den Butler an, der den Eindruck erweckte, dass er etwas anderes vorschlagen wollte. „Und sie wird ihre Anwesenheit umso mehr schätzen, falls der Doktor vorerst verhindert ist, Miss Annis. Wenigstens können wir Seine Lordschaft bis zur Ankunft des Arztes betreuen. Soll ich schon mal nach ihm sehen?“

„Ja, bitte, Eliza“, stimmte Annis zu, „sobald Sie sich um unser Gepäck gekümmert haben. In der Zwischenzeit warte ich auf Miss Greythorpe.“ Herausfordernd fixierte sie den Butler. „Aber nicht in der Halle.“

Anscheinend war er mittlerweile zu der Überzeugung gelangt, die unkonventionelle Retterin des Viscounts müsste die Tochter eines Gentlemans sein, denn er führte sie widerstandslos in einen gemütlichen Salon. Annis sank in einen Sessel vor einem hellen Kaminfeuer und fragte den Mann nach seinem Namen, bevor sie sich vorstellte.

„Ja, Dunster, für eine Erfrischung wäre ich dankbar“, beantwortete sie das Angebot des Butlers, der allmählich auftaute. „Nur eine Tasse Tee. Ich möchte nichts essen. Hoffentlich wird Ihre Herrin bald eintreffen. Dann werde ich in die Stadt fahren und dort dinieren.“

Ihre Absicht, die Gastfreundschaft Seiner Lordschaft nicht zu beanspruchen, trug Annis einen anerkennenden Blick des übertrieben korrekten Dienstboten ein. Doch sie war nicht überrascht, als sie ihre Pläne wenig später ändern musste.

Nachdem sie eine Tasse Tee getrunken hatte, wurde sie ins Herrschaftsschlafzimmer gebeten. Dunster begleitete sie nach oben. Ob sie diese Ehre seiner Wertschätzung verdankte oder ob er ein wachsames Auge auf die kostbaren Silber- und Porzellangegenstände werfen wollte, an denen sie vorbeigingen, wusste sie nicht. Und es interessierte sie auch nicht, weil es ihr viel wichtiger erschien, herauszufinden, warum ihre Anwesenheit am Krankenlager des Viscounts erwünscht war.

Ein Blick auf Deverel Greythorpes verletzten Arm bestätigte das Vertrauen, das sie in das Urteilsvermögen ihrer Zofe gesetzt hatte. „Oh ja, Eliza“, sagte sie und nahm auf der Kante des reich geschnitzten, mit üppigen Vorhängen ausgestatteten Vierpfostenbetts Platz, um die Wunde genauer zu inspizieren. „Da haben sich ein paar Fasern vom Reitrock Seiner Lordschaft verfangen. Meine Pinzette, bitte.“

„Wegen meiner schlechten Augen habe ich’s nicht gewagt, sie selber herauszuzupfen, Miss“, gestand Eliza und nahm das gewünschte Gerät aus einer kleinen Reisetasche, die sie mitgebracht hatte. „So, wie die Wunde aussieht, muss man sie sehr vorsichtig behandeln.“

„Allerdings, sie hat sich bereits entzündet. Aber zum Glück ist es nur ein Streifschuss, und ich muss wenigstens keine Kugel herausholen.“

Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Dunster und ein anderes Mitglied des Personals – wahrscheinlich der Kammerdiener des Hausherrn – in unverhohlener Verwirrung einen Blick wechselten. Offenbar staunten sie, weil diese junge Dame ein solches Unterfangen auch nur in Erwägung zog. Sie unterdrückte ein Lächeln und konzentrierte sich wieder auf den angeschossenen Arm.

„Leider kann ich im Moment nicht mehr tun“, verkündete sie, nachdem sie die Fasern behutsam entfernt, die Wunde gründlich gereinigt und dem Patienten einen Verband angelegt hatte. „Ist Seine Lordschaft irgendwann zu sich gekommen, wenn auch nur kurzfristig?“

„Seit er in dieses Zimmer getragen wurde, bedauerlicherweise nicht, Ma’am“, antwortete der Kammerdiener. „Wenn ich mich vorstellen darf – ich heiße Flitwick. Während wir Seine Lordschaft auskleideten und ihm ein Nachthemd anzogen, rührte er sich nicht.“

Das missfiel ihr. Aber Annis verbarg ihre Sorge und erklärte der Zofe: „Vorerst bleibe ich hier. Ruhen Sie sich eine Weile aus. Dunster wird so freundlich sein und Ihnen eine Mahlzeit servieren lassen.“

Sie lächelte den Butler an, der ihr mit einer knappen Verbeugung sein Einverständnis bedeutete. Weil sie nicht den Anschein erwecken wollte, sie würde in diesem Haushalt das Kommando übernehmen, bat sie ihn, er möge ihr sofort Bescheid geben, wenn Miss Greythorpe zurückkehrte. Danach führte er Eliza aus dem Schlafgemach, und der Kammerdiener folgte ihnen, den ruinierten Reitrock seines Herrn und das ebenfalls zerrissene feine Leinenhemd über dem Arm. Sichtlich bestürzt, musterte er den Schaden.

Nun blieb Annis allein mit Seiner Lordschaft zurück und konnte ihn zum ersten Mal etwas genauer betrachten. Dabei fand sie ihren anfänglichen Eindruck bestätigt. Seine Züge waren zu kantig, um schön zu wirken. Wie die Patentante erwähnt hatte, war er vor einigen Wochen dreißig Jahre alt geworden. Trotzdem zeigten sich nicht einmal zarte Linien um seine Augen und den Mund, und das legte die Vermutung nahe, dass dieser Gentleman nur selten lachte. Was aber keineswegs die Schlussfolgerung erlaubte, er würde keinen Humor besitzen …

Annis beugte sich vor. Um die Temperatur seiner Stirn zu prüfen, berührte sie die Furche zwischen den pechschwarzen Brauen. Ein weiterer Hinweis auf ein eher ernsthaftes Gemüt, dachte sie.

Geistesabwesend schaute sie aus dem Fenster, auf die Schneeschicht, die sich allmählich auf dem Sims bildete, und die weiße Landschaft dahinter. Als sie sich wieder zu ihrem Patienten wandte, begegnete sie einem Blick, der Unmut und Verwirrung ausdrückte.

„Willkommen in der Wirklichkeit, Sir“, begrüßte sie ihn und stand vom Bett auf. „Erkennen Sie Ihre Umgebung?“

„Oh ja … Was aber nicht für Sie gilt, Ma’am.“

„Gewiss nicht.“ Seine tiefe, etwas heiserere Stimme hatte sehr angenehm in ihren Ohren geklungen. „Nachdem Sie von Ihrem Pferd gestürzt waren, kam ich zufällig vorbei und brachte Sie nach Hause.“

„Also ein Engel der Barmherzigkeit …“, meinte er und schnitt eine Grimasse.

Seine merkliche Skepsis belustigte sie. „So wurde ich noch nie genannt. Wie fühlen Sie sich? So als wären Sie von einem Maulesel getreten worden, nehme ich an.“

„Als hätte jemand einen Hammer auf meinen Kopf geschlagen.“

„Wie viele Finger halte ich hoch?“, fragte sie und hob eine Hand.

„Drei“, antwortete er gelangweilt.

„Sehen Sie mich klar und deutlich?“

Die dunkelblauen Augen leicht verengt, musterte er ihr Gesicht und die schimmernden kastanienbraunen Locken. „Ja.“

„Dann will ich Sie nicht länger stören.“ Annis nahm eine kleine Flasche aus ihrer Tasche, träufelte ein paar Tropfen in ein Glas und fügte Wasser hinzu. Vorsichtig legte sie einen Arm um die breiten Schultern Seiner Lordschaft und hob ihn ein wenig hoch. „Trinken Sie das. Es wird Ihnen helfen, einzuschlafen. Wenn Sie erwachen, werden Ihre Kopfschmerzen hoffentlich nachlassen.“

Widerspruchslos folgte er der Aufforderung und leerte das Glas. Offenbar legte er keinen Wert auf eine weitere Konversation. Wenige Minuten später fielen ihm die Augen zu.

Tiefe Stille erfüllte das Schlafgemach, die erst durchbrochen wurde, als der Butler mit der ersehnten Nachricht erschien, seine Herrin sei wohlbehalten heimgekehrt und erwarte Miss Milbank im Salon. Wieder einmal übernahm er die Rolle einer Eskorte und ging sogar so weit, Annis höflich vorzustellen, bevor er die beiden Damen allein ließ.

Als Annis die ausgestreckte Hand der Hausherrin ergriff, fiel ihr sofort die Ähnlichkeit zwischen den Greythorpe-Geschwistern auf. Dann las sie Angst und Verblüffung in den blauen Augen, die das Begrüßungslächeln nicht verbergen konnte.

„Was Sie seit Ihrer Ankunft erfahren haben, weiß ich nicht, Miss Greythorpe“, begann Annis und kam ohne Umschweife zur Sache, um die Hausherrin von ihrer schlimmsten Sorge zu befreien. „Aber seien Sie versichert – nach meiner Ansicht ist Ihr Bruder nicht allzu schwer verletzt. Für ein paar Minuten kam er zu Bewusstsein und war bei klarem Verstand. Anscheinend ist sein Sehvermögen nicht beeinträchtigt, aber er leidet unter Kopfschmerzen – kein Wunder unter diesen Umständen. Zum Glück ist seine Temperatur nicht erhöht.“ Sie unterbrach sich, um aus dem Fenster zu schauen und das Schneetreiben zu beobachten. „In absehbarer Zeit wird der Arzt nicht eintreffen – wenn er’s überhaupt noch heute schafft. Deshalb habe ich die Verletzung Ihres Bruders behandelt und ihm ein paar Tropfen Laudanum verabreicht, damit er einige Stunden schlafen kann.“ Die Bestürzung der Hausherrin entging ihr nicht. Und so fügte sie besänftigend hinzu: „Erschrecken Sie nicht, Miss Greythorpe, mein Vater war ein hervorragender Arzt. Einen Teil seiner Kenntnisse gab er an mich weiter. Und so bin ich durchaus imstande, Seine Lordschaft zu betreuen.“

„Verzeihen Sie mir, Miss Milbank“, bat Miss Greythorpe, nur unwesentlich beruhigt. „Sicher halten Sie mich für furchtbar unhöflich. Nehmen Sie doch bitte Platz. Wie Sie zweifellos verstehen werden, schockiert mich, was ich bei meiner Heimkehr erfahren musste. Mein Bruder wurde angeschossen? Und er lag bewusstlos auf der Straße, als Sie ihn fanden?“

Natürlich verstand Annis, warum der hochgewachsenen, etwas knochigen Frau das tragische Schicksal ihres Bruders unbegreiflich erschien. „So ist es, Ma’am“, stimmte sie zu. „Vielleicht sollte ich erklären, warum ich – eine Fremde – zu diesem Zeitpunkt vorbeifuhr.“ Annis sank wieder in den Sessel vor dem Kamin. „Was den Grund meiner Reise betrifft – ich kam hierher, um mit Lord Greythorpe zu sprechen.“ Jetzt genoss sie die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Zuhörerin. „Ich bin ihm nie zuvor persönlich begegnet. Aber ich kenne ein anderes Mitglied Ihrer Familie seit vielen Jahren – Ihre Schwester Helen. Ihre Tante ist meine Patin. Und ich bin in Lady Pelhams Auftrag nach Hampshire gefahren.“

Das alles fand Sarah Greythorpe offensichtlich sehr interessant. Aber ihr unmittelbares Interesse galt ihrem Bruder. „Und auf dem Weg hierher entdeckten Sie den Viscount auf der Straße?“

Annis nickte. „Da ich ihn nie zuvor gesehen hatte, wusste ich nicht, wer er ist. Das erfuhr ich erst hier.“

„Ja, ja, ich verstehe …“ Sarah berührte ihre immer noch sorgenvoll gerunzelte Stirn. „Aber was mir rätselhaft ist – wer trachtet Deverel nach dem Leben?“

Eher praktisch veranlagt, konzentrierte sich Annis auf die unmittelbare Zukunft, die sie für wichtiger hielt. „Sobald Ihr Bruder wieder zu Kräften gekommen ist, werden wir sicher etwas mehr herausfinden. Allzu lange wird es nicht dauern, bis er sich erholt. Ich habe bereits nach dem Doktor geschickt. Ist er ein tüchtiger Mann?“

„Ganz bestimmt“, beteuerte die Hausherrin ohne zu zögern. „Und sehr gewissenhaft.“

„Dann wird er sicher so schnell wie die Wetterverhältnisse es zulassen hier eintreffen.“

„Heute habe ich seine Dienste bereits beansprucht“, berichtete Sarah Greythorpe. „Gemeinsam mit mir besuchte er eine verletzte alte Dienerin im Ruhestand. Während wir uns um sie kümmerten, wurde ihm mitgeteilt, seine Anwesenheit sei in einem Haus erforderlich, das mehrere Meilen entfernt liegt. Und als er dorthin aufbrach, fielen die ersten Schneeflocken.“

„In diesem Fall sollten wir eher nicht mit seiner Hilfe rechnen. Es schneit immer stärker. Deshalb wird der Doktor wohl kaum versuchen, hierherzugelangen – das wäre ziemlich leichtsinnig. Auch ich möchte mich bei diesem Wetter nicht mehr ins Freie wagen, und so sehe ich mich gezwungen, um Ihre Gastfreundschaft zu bitten.“

Bevor Sarah antworten konnte, öffnete sich die Tür, und ein junges Mädchen trat ein.

Zunächst war Sarah Greythorpe nicht sonderlich begeistert, zwei fremde Personen für unabsehbare Zeit unter ihrem Dach beherbergen zu müssen. Aber im Lauf des Abends schwanden ihre Bedenken. Trotz der dramatischen Ereignisse dieses Tages empfand sie sogar eine gewisse Zufriedenheit, als sie ein zweites Mal zur Suite ihres Bruders im Westflügel eilte.

Dieses erstaunliche Gefühl wuchs, sobald sie das Herrschaftsgemach betrat und das Familienoberhaupt bei Bewusstsein antraf. Während ihres ersten Besuchs hatte der Patient tief und fest geschlafen. Von einem Kissenberg gestützt, inspizierte er den Suppenteller, der vor ihm auf einem Tablett stand. Seine unergründliche Miene hinderte Sarah nicht daran, auf der Bettkante Platz zu nehmen. Wie erfolgreich er seine Emotionen stets verbarg, wusste sie, und sie war daran gewöhnt.

„Wie geht es dir nach deinem langen Schlaf?“

Eine Zeit lang schaute er sie schweigend an, dann begann er die Suppe zu löffeln. Erst nachdem er den Teller leer gegessen hatte, antwortete er: „Nun, ich würde mich wesentlich besser fühlen, hätte ich nicht den Eindruck gewonnen, dass unser Haushalt von einer völlig fremden, wichtigtuerischen, aufdringlichen Person übernommen wurde.“

„Oh nein, da schätzt du sie ganz falsch ein“, protestierte seine Schwester erschrocken. „Sie ist nur an deinem Wohl interessiert. Davon bin ich fest überzeugt.“

Deverel Greythorpe lächelte grimmig. „Gewiss, weil sie es so gut mit mir meint, zwingt sie mich, ausschließlich Wasser zu trinken. Sonst nichts. Und sie gönnt mir nur eine dünne Brühe, obwohl ich fast den ganzen Tag nichts zu mir genommen habe.“

„Nun ja, Annis – Miss Milbank – erklärte mir, du müsstest vorerst Diät halten, um das Risiko einer Fieberkrankheit zu vermeiden.“

Sarahs sanfter, beschwichtigender Tonfall erschien ihm überflüssig und irritierte ihn. Bildete sie sich etwa ein, sie würde mit einem ungebärdigen Kind reden?

„Leider ist Dr. Prentiss nicht zu uns gekommen“, fuhr sie fort, als er sich eines Kommentars enthielt. „Kein Wunder … Seit dem Nachmittag schneit es ununterbrochen. Und wie Dunster mir mitgeteilt hat, liegen überall hohe Schneewehen. Wäre Annis nicht so geistesgegenwärtig gewesen, eine Kutsche zu schicken, würde ich mit Louise in Nanny Berrys Cottage festsitzen. Wir hätten wirklich nicht zu Fuß hingehen dürfen. Aber du weißt ja, wie schwierig es ist, unsere Cousine Louise zu amüsieren. Und so dachte ich, der Spaziergang wäre ein angenehmer Zeitvertreib. Übrigens bin ich froh, dass wir Nanny Berry besucht haben. Heute Morgen ist sie nämlich gestürzt und hat sich den Knöchel verstaucht. Es war Dunster, der mir erzählte, es sei Annis’ Idee gewesen, die Kutsche hinzuschicken. So eine umsichtige junge Dame …“, fügte sie hastig hinzu, während Seine Lordschaft in eisigem Schweigen verharrte. „Oh, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mich ihre Anwesenheit erleichtert! Wir haben einen sehr netten Abend miteinander verbracht. Noch nie sah ich unsere kleine Louise so lebhaft. Abgesehen von den ersten Minuten, nachdem ich sie mit Annis bekannt gemacht hatte, war sie kein bisschen schüchtern in ihrer Gesellschaft.“

Nun hatte Deverel endlich Mitleid mit Sarah und ergriff das Wort. „Wenn diese Dame so ein Ausbund an Tugend ist – warum besaß sie die Kühnheit, ein Tablett mit dieser kargen Mahlzeit auf meinen Nachttisch zu stellen? Bedauerlicherweise schlief ich zu jenem Zeitpunkt, sonst hätte ich Einwände erhoben.“

„Nein, das muss Eliza gewesen sein“, entgegnete sie, „Eliza Disher, Miss Milbanks Gesellschafterin und Zofe. Sie saß fast den ganzen Abend bei dir. Davor wurdest du von Annis betreut. Zufällig fand sie dich auf der Straße und brachte dich nach Hause …“

„Ja, darüber hat Flitwick mich informiert“, unterbrach er sie, während seine Erinnerung das Bild eines attraktiven, von rötlich braunen Locken umrahmten Gesichts heraufbeschwor. Nicht schön im konventionellen Sinn, aber apart … „Ich kenne sie nicht. Stammt sie aus dieser Gegend?“

„Nein, Deverel, sie lebt in den Shires, wo sie aufgewachsen ist. Und sie kam hierher, um dich aufzusuchen.“

Erstaunt hob er die Brauen. „Oh, tatsächlich?“

Der ärgerliche Unterton in seiner Stimme entging ihr nicht. Und wenn sie es auch billigte, dass er Fremden keinen Zutritt in sein Haus gewährte – in diesem Fall musste sie den unerwarteten Gast verteidigen. „Sicher ist Miss Milbank eine etwas – eh – eigenartige junge Dame. Aber lass dir versichern, Deverel – über jeden Verdacht erhaben! Dunster ließ ihr Gepäck sogar ins Grüne Schlafzimmer bringen. Unglaublich, nicht wahr? Und wie du immer wieder betonst – unser Butler weiß ganz genau, was er tut.“

„Ah, ins Grüne Schlafzimmer … Ja, das hat was zu bedeuten“, musste er zugeben.

„Warum sie dich sprechen will, kann ich nicht sagen. Wäre ich so indiskret gewesen, danach zu fragen, hätte sie meine Neugier sicher befriedigt. Eins steht jedenfalls fest – Lady Henrietta Pelham ist ihre Patentante. Also dürfte Miss Milbanks Anliegen mit Helen zusammenhängen.“

Wenn sie vermutet hatte, diese Information würde ihn beschwichtigen, sah Sarah sich getäuscht, denn die Furche zwischen seinen dunklen Brauen vertiefte sich, ein unmissverständliches Zeichen seines Unmuts.

Wer den Viscount kannte, würde jederzeit bezeugen, er sei ein gerechter, toleranter Mann, zumindest meistens. Was er allerdings niemals duldete, war die Einmischung Außenstehender in seine persönlichen Angelegenheiten.

„Am besten teilst du der jungen Dame mit, ich werde sie morgen nach dem Frühstück in der Bibliothek empfangen.“ Das Lächeln, das seine Lippen umspielte, wirkte keineswegs liebenswürdig, und es erstarb sofort wieder. „Warten wir ab, ob sie diese Begegnung erfreulich finden wird.“

3. KAPITEL

Warum Annis sich so zufrieden fühlte, wusste sie nicht genau. Weil sie eine erholsame Nacht in einem sehr komfortablen Bett genossen hatte? Nur eins stand fest. Die Aussicht, zumindest einen zusätzlichen Tag im Greythorpe Manor zu verbringen, störte sie kein bisschen. Wahrscheinlich würde sie sogar noch länger hierbleiben, und sie freute sich auf weitere Stunden in der Gesellschaft der beiden liebenswerten jungen Damen, die sie unter normalen Umständen wohl kaum kennengelernt hätte.

Da sie jedoch realistisch zu denken pflegte, sagte sie sich, die Anwesenheit des ungebetenen Hausgasts würde nicht alle Bewohner des Herrenhauses beglücken. Ebenso wenig vergaß sie den Grund ihrer Reise. Nach einem üppigen Frühstück im Bett – ein Luxus, den sie sich nur selten gönnte – beeilte sie sich, dem Ruf des Viscounts in die Bibliothek zu folgen.

Anscheinend wollte Dunster die Rolle ihrer persönlichen Eskorte beibehalten, denn er geleitete sie beflissen die Treppe hinab, in einen schönen Raum mit hohen Bücherregalen an allen Wänden. Wie ein Wachtposten stand der Hausherr am Fenster und betrachtete seinen schneebedeckten Park.

Nachdem der Butler die Besucherin angemeldet und die Bibliothek verlassen hatte, dauerte es fast eine volle Minute, bevor Seine Lordschaft geruhte, sich umzudrehen. Immer noch schweigend, musterte er Annis. Ob er irgendetwas an ihrer äußeren Erscheinung auszusetzen fand, ließ seine undurchdringliche Miene nicht erkennen.

Schließlich wies er einladend auf einen Sessel vor dem Kamin und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. „Ich muss Ihnen erst einmal für den einzigartigen Dienst danken, den Sie mir gestern erwiesen haben, Miss Milbank. Ohne Ihre Hilfe würde es zweifellos viel schlechter um mich stehen.“

„Wie ich sehe, haben Sie den unglückseligen Zwischenfall recht gut überstanden, Mylord.“ Annis fragte sich, ob er ihr wirklich dankbar war oder nur Höflichkeitsfloskeln aussprach.

„Hätten Sie sich nicht um mich gekümmert, würden mich nicht nur ein paar Schürfwunden und ein verletzter Arm behindern.“

„Bitte, Sir – Sie dürfen meine selbstverständliche Hilfeleistung nicht überbewerten“, erwiderte sie und schwenkte eine Hand durch die Luft, als wollte sie ein lästiges Insekt verscheuchen.

„Das tue ich keineswegs – nach allem, was meine Schwester und meine Dienstboten mir mitteilten.“ Was ihm tatsächlich durch den Sinn ging, verriet seine Miene nicht.

„Dann sollten wir beide einer gütigen Vorsehung danken, Sir“, schlug sie vor, aus der Überzeugung heraus, Viscount Greythorpe würde offene Worte schätzen. „Die unerwartete Begegnung geriet nicht nur Ihnen, sondern auch mir zum Vorteil. Hätte ich Sie nicht auf der Straße gefunden, wäre mir das Gespräch, das Sie mir jetzt gewähren, womöglich verweigert worden.“

Nur sekundenlang glaubte sie in seinen dunkelblauen Augen eine gewisse Anerkennung zu lesen. Und dieser Ausdruck verschwand so schnell, dass sie überlegte, ob sie sich geirrt hatte. Immerhin hielt sie die Beobachtung für einen kleinen Sieg, denn es war ihr gelungen, die unergründliche Maske zu durchdringen – wenn auch nur kurzfristig. Was hinter dieser kühlen Fassade lauerte, vor der Außenwelt verborgen, würde sie vielleicht nie erfahren. Nur eins stand fest – der Herr von Greythorpe Manor war nicht so kaltschnäuzig, wie er erscheinen wollte.

„Wie ich höre, hegen Sie ein ungewöhnlich großes Misstrauen gegen alle fremden Personen, Sir“, fuhr sie fort. Weil sie ins Kaminfeuer starrte, entging ihr die Verblüffung des Viscounts. „Hier sitze ich – eine Frau, die Sie nicht kennen. Wie können Sie sicher sein, dass ich die bin, für die ich mich ausgebe? Dass ich Sie aus legitimen Gründen sprechen möchte? Dass ich dies nicht wünsche, um einen persönlichen Gewinn daraus zu ziehen?“

Falls die unverblümte Wortwahl ihn irritierte, ließ er sich nichts dergleichen anmerken. Als sie ihn wieder anschaute, verhehlte seine undurchdringliche Miene erneut, was er dachte. „Seien Sie unbesorgt. Dass Sie Miss Annis Milbank sind, bezweifle ich nicht. Zudem wurde mir angedeutet, Sie wären nicht aus eigennützigen Gründen hierhergekommen, sondern in Lady Pelhams Auftrag. Und das keineswegs bereitwillig.“

Annis bewunderte seinen Scharfsinn. Was ich seinerSchwester anvertraut habe, muss sie ihm erzählt haben. Und daraus zog er völlig richtige Schlüsse. Ob ihm das gefiel, war eine ganz andere Frage. Wahrscheinlich nicht, was er allerdings für sich behielt …

Aber diese Vermutung hinderte sie nicht daran, ihm zu versichern, sein Eindruck sei zutreffend. „In der Tat, Sir, und das würde ich gern beweisen. Leider vergaß ich, das Empfehlungsschreiben meiner Patentante dem Gepäck zu entnehmen, das sich jetzt in der Poststation befindet. Jedenfalls muss ich Ihnen zustimmen – diesen Auftrag übernahm ich nur sehr ungern.“

Offensichtlich erwachte die Neugier des Viscounts, denn er fragte in ziemlich scharfem Ton: „Warum?“

„Weil ich glaube, dass ich mich nicht zur Vermittlerin eigne. Für den Geschmack einiger Leute sage ich etwas zu offenherzig, was ich denke.“ Seufzend zuckte sie die Achseln. „Aber Lady Pelham sieht das etwas anders – möglicherweise, weil ich dank ihrer langjährigen Freundschaft mit meiner verstorbenen Mutter über ihre privaten Angelegenheiten Bescheid weiß.“

Nach einer längeren Pause verkündete er: „Gegen offene Worte habe ich nichts einzuwenden. Also sprechen Sie ohne Scheu.“

Auf diese Weise ermutigt, zögerte Annis nicht, das Dilemma ihrer Patentante zu erläutern. Allerdings erwähnte sie nicht, wie sie Lady Pelhams Widerstreben beurteilte, Greythorpe Manor zum jetzigen Zeitpunkt zu besuchen.

Gerade das schien den Viscount zu interessieren. „Trotz Ihrer flüchtigen Bekanntschaft mit diesem Draycot glaube ich nicht, dass Sie sich kein Bild von ihm machen konnten.“

Um ihre sanft geschwungenen Lippen spielte ein schwaches Lächeln, bevor sie den Kopf wieder zu den tanzenden Flammen im Kamin wandte. „Nach meiner Ansicht hat Lady Pelham seinen Charakter richtig eingeschätzt. Ich fürchte, die Gefühle anderer Menschen sind ihm gleichgültig.“ Nun betrachtete sie ihn wieder, und er entdeckte die grünen Punkte in den Tiefen ihrer schönen grauen Augen. „Außerdem erkennt meine Patentante den Ernst der Lage. Derzeit wäre es sicher ein schwerer Fehler, Helens Trennung von Draycot zu erzwingen.“

„Also glauben Sie ebenfalls, er würde meine Schwester überreden, mit ihm durchzubrennen?“

„Ja, diese Gefahr besteht durchaus“, antwortete sie wahrheitsgemäß. Nach einem tiefen Atemzug fuhr sie fort: „Gestern Abend fand ich eine Gelegenheit, Helen mit Ihrer Cousine Louise zu vergleichen. Obwohl der Altersunterschied nur zwei Jahre beträgt, ist Helen ganz anders – nämlich überaus selbstbewusst und erstaunlich reif.“

„Trotzdem lässt sie sich von einem Mitgiftjäger betören“, warf Lord Greythorpe ein.

„Ja, das stimmt. Aber welcher unerfahrenen jungen Dame würde die besondere Aufmerksamkeit eines attraktiven Gentlemans nicht schmeicheln? Und Draycot ist zweifellos ein Adonis, Sir! Sogar ich musste blinzeln, als er den Salon meiner Patentante betrat. Und seien Sie versichert – das hübsche Gesicht eines Mannes lässt mein Herz seit Jahren nicht mehr höher schlagen!“

Vielleicht war es ein Trugbild, vom Widerschein der lodernden Flammen bewirkt, aber Annis glaubte einen Mundwinkel des Viscounts zucken zu sehen, bevor er sich über das Kinn strich und gründlich zu überdenken schien, was er soeben gehört hatte.

„Niemals würde ich behaupten, Ihre Halbschwester wäre lebensklug genug, um keine Ratschläge zu brauchen, Sir“, fügte sie hinzu, während er den Teppich inspizierte. „Aber mit der Zeit wird ihr gesunder Menschenverstand siegen, und dann müsste sie Draycot durchschauen. Lady Pelham möchte mit ihrer Nichte die Party besuchen, die Anfang April hier stattfinden soll. Dann würde Helen ihre Verwandten kennenlernen. Aber wenn meine Patentante Ihre Einladung annimmt, Sir, und mit Helen schon vorher mehrere Wochen hier verbringt, würde der Eindruck entstehen, sie hätte das Mädchen absichtlich dem Einfluss des jungen Mannes entzogen.“

„Und warum möchte sie mit meiner Halbschwester nächste Woche nach Devon fahren?“ Der unverhohlene Sarkasmus irritierte Annis nicht im Mindesten.

„Aus einem ganz bestimmten Grund. Wie Sie sich vielleicht entsinnen, Sir, wurde diese besondere Einladung schon lange vor Draycots Ankunft in Bath ausgesprochen und angenommen. Auch vor Ihrem ersten Brief an Lady Pelham. Zunächst freute sich Helen geradezu überschwänglich auf die Geburtstagsfeier ihrer besten Freundin. Das änderte sich erst, nachdem Draycot ihren Weg gekreuzt und sie angefleht hatte, die Stadt nicht zu verlassen. Klugerweise erhob Lady Pelham keinen Protest und verkündete nur, sie würde an ihren eigenen Plänen festhalten. Falls Helen das wünsche, solle sie in Bath bleiben – vorausgesetzt, sie würde in das Haus einer Dame ziehen, die mit Ihrer Ladyschaft eng befreundet ist. Da beschloss Helen, ihre Tante nach Devonshire zu begleiten, obwohl ihr Verehrer das mit aller Macht verhindern will. Während meines kurzen Aufenthalts in Bath erzählte sie mir, der junge Mann habe sie ermutigt, einige Wochen bei ihren Verwandten in Hampshire zu verbringen. Sogar sie fand das seltsam, nachdem er beteuert hatte, das verlängerte Wochenende, das sie in Devonshire verleben würde, könnte er nicht ertragen. Und so teile ich die Meinung meiner Patentante – irgendetwas stimmt nicht mit Mr Draycot. Offenbar hat er allen Grund, Helen und Lady Pelham von Devonshire fernzuhalten.“

Diesen Worten folgte ein längeres Schweigen, das der Viscount schließlich brach: „Sagten Sie vorhin, diese Geburtstagsfeier finde in Okehampton statt?“

Annis nickte und beobachtete, wie er aufstand. Die Stirn gerunzelt, trat er wieder ans Fenster.

„Was Sie mir soeben mitgeteilt haben, werde ich gewissenhaft überdenken, Miss Milbank. Aber es hat wohl keine Eile. Wie ich annehme, werden Sie noch ein oder zwei Tage hierbleiben.“

Offenbar war das Gespräch beendet. Annis stand auf und ging zur Tür. Dabei fiel ihr etwas ein, und sie zog die Börse des Viscounts aus der Tasche ihres Rocks, kehrte zurück und legte sie auf den Schreibtisch. „Ihr Eigentum, Sir, das ich Ihnen abnahm, als Sie bewusstlos auf der Straße lagen. Leider vergaß ich bisher, Ihnen diese Börse zurückzugeben. Was immer den Anschlag auf Ihr Leben veranlasst hat – offensichtlich war es kein Raubüberfall. Dieses Rätsel muss noch gelöst werden.“

Wortlos schaute er ihr nach, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Oh ja, Miss Annis Milbank“, flüsterte er, ergriff die Börse und wog sie in einer Hand, als wollte er ihr Gewicht prüfen. „Und dieses Rätsel fasziniert mich längst nicht so sehr wie das Wesen der jungen Dame, die meinen Besitz in Gewahrsam nahm.“

Annis sah den Viscount erst am Abend in dem kleinen Salon wieder, wo sich die Familie vor dem Dinner versammelte. Auch am Nachmittag hatte sich Miss Greythorpe als freundliche Gastgeberin erwiesen und ihr die meisten Räume des Herrenhauses gezeigt. Dieser Besichtigung schloss sich Louise an. Übermütig kicherte sie über die wenig schmeichelhaften Kommentare, die Annis zu den düsteren Mienen der Greythorpe-Ahnen auf den alten Porträts abgab.

Deshalb staunte Annis über eine seltsam angespannte Atmosphäre, als sie den kleinen Raum betraten.

Die Unrast schien noch zu wachsen, sobald sie im Speisezimmer Platz nahmen, und es dauerte nicht lange, bis Annis den Grund der Befangenheit erkannte.

Auch wenn Sarah Greythorpe eine ihr völlig fremde Dame sehr liebenswürdig unter ihrem Dach aufgenommen hatte, besaß sie doch einen eher zurückhaltenden Charakter. Ebenso wie der Viscount war sie nicht von Natur aus redselig. Annis vermutete, die Geschwister verbrachten ihre gemeinsamen Abende zumeist in einträchtigem Schweigen. Vielleicht hatten sich ihre Lebensweise nach Louises Ankunft notgedrungen geändert. Aber zwei so reservierte Menschen verband sicher nicht allzu viel mit einem Mädchen in diesem Alter, schon gar nicht den Viscount, dem es zweifellos schwerfiel, seiner jungen Cousine über ihre angeborene Schüchternheit hinwegzuhelfen.

Voller Mitgefühl beschloss Annis, ihm beizustehen, das Mädchen anzusprechen und zu einer Teilnahme an der Konversation zu ermuntern. „Wie ich mich entsinne, haben Sie erwähnt, dass Ihre Eltern gerade eine Reise durch Italien unternehmen. Wann erwarten Sie ihre Heimkehr?“

„Im Spätfrühling“, lautete die knappe Antwort.

„Und haben Sie mir heute nicht erzählt, Ihr Bruder würde in Oxford leben?“, fuhr Annis fort, fest entschlossen, das lebhafte Mädchen wieder heraufzubeschwören, dessen Gesellschaft sie an diesem Tag genossen hatte.

„Ja – Tom. In seinem letzten Brief versprach er mir, er wolle versuchen, mich möglichst bald wiederzusehen.“ Nun wirkte Louise noch trauriger. „Aber er wird wohl kaum an diesem Wochenende hierherkommen.“

„Das ist unwahrscheinlich“, bekräftigte Greythorpe. „Nur ein Narr würde eine so weite Reise antreten, bevor es zu tauen beginnt.“

„Wenn wir Glück haben, wird das nicht allzu lange dauern, und die Straßen sind wieder passierbar“, warf Annis hastig ein, bevor der Viscount die arme Louise noch tiefer betrüben konnte. „Wenigstens sind Sie dann nicht mehr ans Haus gefesselt, meine Liebe, und Sie werden sicher einen erfrischenden Galopp durch den Park genießen.“ Wie sie sofort erkannte, hatte sie die falsche Methode gewählt, um das Mädchen aufzuheitern.

Bedrückt senkte Louise den Kopf. „Nein, ich reite nicht – ich mag Pferde nicht.“

„Vor etwa einem Jahr stürzte unsere Cousine aus dem Sattel und brach sich das Schlüsselbein“, erklärte Sarah. „Deshalb macht sie jetzt einen großen Bogen um alle Pferde.“

„Das ist begreiflich“, meinte Annis und beobachtete, wie Lord Greythorpe unwillig die Stirn runzelte. Offenbar kannte er keine Geduld mit Menschen, die ihre Angst nicht überwanden. Bis zu einem gewissen Grad teilte sie seine Meinung. Andererseits verstand sie Louises Bedenken und wollte ihr beistehen. „Gewiss, sogar die sanftmütigsten Pferde verhalten sich manchmal unberechenbar und schlagen aus, wenn man es am allerwenigsten erwartet. Oder sie gehen plötzlich durch.“