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Polly fühlt sich wie Aschenbrödel mit ihrem Prinzen, als Reverend Alex Martindale sie unter dem Mistelzweig zärtlich in die Arme nimmt und küsst. Wird für die mittellose junge Lehrerin etwa doch ein Märchen wahr?
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Seitenzahl: 175
IMPRESSUM
Wintermärchen für Miss Polly erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2013 by Elizabeth Rolls Originaltitel: „Christmas Cinderella“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL SAISONBand 25 - 2014 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Eleni Nikolina
Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.,lilkar/GettyImages
Veröffentlicht im ePub Format in 11/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733728359
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Reverend Alex Martindale blickte auf das unschuldige Baby in seinen Armen herab und wappnete sich für den unvermeidbaren Sturm. Das Gesicht rot, die Augen zugekniffen, weil sie einige Tropfen des heiligen Wassers abbekommen hatten, brachte der Ehrenwerte Philip Martindale – Erbe beträchtlicher Güter und, was sehr viel wichtiger war, der Augapfel seiner ihn vergötternden Eltern – sein Missfallen lauthals zum Ausdruck.
Da er in den vergangenen zwei Jahren jedes Kind in seiner Gemeinde getauft hatte, war Alex den Lärm gewohnt. Dennoch warf er einen Blick über den vornehmen kleinen Schreihals hinweg zu dessen Vater, Viscount Alderley. „Schlägt ganz nach dir, Dominic, was das Temperament angeht.“
Der Viscount lachte. „Aber nein, lieber Cousin.“ Er blinzelte seiner Frau zu. „Wohl eher nach Pippa.“
Alex fuhr fort, seinen kleinen Neffen zu segnen, das Kind, das – Dank sei dem Herrn – ihn aus seiner Position als Dominics Erbe gedrängt hatte. Ein leichtes Zupfen an seinem Chorhemd ließ ihn nach unten schauen.
Seine Patentochter, die ältere Schwester des kleinen Philip, sah ihn ernst an. „Du hast ihm Wasser in die Augen gespritzt, Onkel Alex“, erklärte sie ernst. „Das nächste Mal ist es besser, wenn Mama oder das Kindermädchen ihn baden.“
„Ach so, das war es, meinst du?“, erwiderte er mit priesterlich unbewegter Miene. „Ich danke dir für den Hinweis, Emma.“
Die Tauffeier in der großen Halle auf Alderley war eine laute, fröhliche Angelegenheit. Auffällig nur durch die Abwesenheit des Ehrengastes und dessen Schwester, die sich beide schon früh in Begleitung ihres Kindermädchens in die Kinderstube zurückgezogen hatten.
Mit ebenso großer, wenn nicht größerer, Begeisterung wie seine Tischnachbarn stieß Alex auf die Gesundheit des Erben von Alderley an. Ein Blick in die Runde zeigte ihm, dass die Feier, an der auch viele von Dominics Pächtern teilgenommen hatten, sich allmählich ihrem Ende zuneigte. Die weit weniger ausgelassene Versammlung des ortsansässigen Adels hatte im Salon stattgefunden, allerdings nahm Alex an, dass Dominic und Pippa, nachdem sie die illustren Gäste vorhin verabschiedet hatten, sich ebenso gern mit den Pächtern zusammentaten.
Gemächlich schlenderte er zu ihnen. Dominic legte Farmer Willet seine Hand auf die breite Schulter und schüttelte ihm zum Abschied die Hand. „Ich werde mich erkundigen, was mit dem Bullen los ist“, versicherte er dem Mann und wandte sich lächelnd an Alex.
„Bleibst du zum Abendessen?“
Alex war in Versuchung, aber … „Nein, danke. Mrs Judd würde mich umbringen.“ Seine Haushälterin gehörte zu jener Sorte gutmütiger Tyrannen, die zu verärgern sehr unklug war. Woanders zu Abend zu essen, ohne sie vorher davon in Kenntnis zu setzen, würde zur Folge haben, dass er eine ganze Woche lang statt seiner geliebten pochierten Eier hart gekochte verzehren müsste.
Dominic schnaubte. „Warum zum Henker hast du ihr nicht einfach gesagt, dass du zum Dinner hier bleibst? Du musst doch gewusst haben, dass wir dich einladen würden.“
Das stimmte natürlich. Dominic war sein Cousin und engster Freund, aber Alex zog es vor, seine Gastfreundschaft nicht für selbstverständlich zu halten.
Pippa lächelte ihm zu, und ihr seltsam durchdringender Blick zeigte ihm, dass sie genau wusste, wie er sich fühlte, und ihn gut verstehen konnte. „Dann also morgen?“, schlug sie vor. „Wir müssen endlich über die Dorfschule sprechen, die du eröffnen möchtest.“
Erleichtert erwiderte er ihr Lächeln. „Morgen. Und vielleicht erweist ihr mir ja nächste Woche die Ehre.“
„Das wäre schön.“
„Willst du die Kutsche haben, Alex?“, fragte Dominic freundlich.
„Nein, danke. Ein Spaziergang wird mir guttun.“
Und der Spaziergang war wirklich angenehm. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen, und der aufgehende Mond ließ den knirschenden Raureif unter seinen Stiefeln aufschimmern. Ein weiteres Jahr ging zur Neige, es blieben nur noch vier Wochen bis Weihnachten. Morgen war der erste Adventssonntag, und eigentlich hätte Alex an seine Predigt denken sollen, doch stattdessen genoss er die klare, kühle, vom silbrigen Mondlicht erhellte Nacht. Der vertraute Weg, ein Pfad aus uralten Zeiten, war deutlich zu sehen. Manchmal dachte Alex an all die Menschen, die ihn vor ihm benutzt haben mussten – die Ahnen all jener Männer und Frauen, denen er jetzt als Seelsorger diente. Römer, Sachsen, Wikinger, Normannen: Alle waren als Eroberer gekommen und von diesem Land gezähmt worden, bis sie sich ihm alle unter einem Gott zugehörig gefühlt hatten, so wie auch das Land ihnen gehörte.
Nicht zum ersten Mal dankte Alex dem Herrgott für die Gelegenheit, ihm an einem solchen Ort dienen zu dürfen – einem Ort, den er sein ganzes Leben lang gekannt und geliebt hatte. Sein Onkel, Dominics Vater, hatte ihn und seine Mutter bei sich aufgenommen und ihn erziehen lassen wie einen eigenen Sohn, als gäbe es zwischen seinen Söhnen und dem verwaisten Neffen keinen Unterschied. Allerdings hatte der Onkel klug erkannt, dass es für den belesenen Alex besser war, wenn er von Mr Rutherford, dem Priester, unterrichtet wurde, und so hatte er ihn nicht mit seinen Söhnen nach Eton geschickt.
Alex wusste, wie glücklich er sich schätzen durfte. Gesegnet sogar. Und seine verwitwete Mutter hatte den Rest ihres Lebens in Sicherheit und Frieden zubringen dürfen. Ein solches Glück war nicht vielen Frauen in ihrer Lage – ohne Familie oder Vermögen – vergönnt.
Er weidet mich auf einer grünen Aue …
Dankbar für alles zu sein, was ihm der Herr geschenkt hatte, war eine Sache. Wollte er sich allerdings jetzt auf diese Auen legen, würde er sich den Tod holen, und Mrs Judd wäre mehr als erbost über die Vergeudung seines schönen Abendessens. Also beeilte er sich, nach Hause zu kommen.
Alex genoss sein einsames Dinner nicht halb so sehr wie den Spaziergang. Und das lag nicht an Mrs Judds Kochkünsten – die unbestreitbar ausgezeichnet waren –, sondern daran, dass er es mit niemandem teilte. Einige Jahre lang hatte er die Pfarrei zusammen mit seinem Vorgänger und Mentor Matthias Rutherford geführt, doch der alte Herr war zu Beginn dieses Jahres gestorben.
Rutherford hatte ihm das Amt schon im Jahr davor übergeben, war jedoch in der Pfarrei geblieben. Seine Gesundheit hatte immer mehr nachgelassen, doch sein Geist war wach gewesen wie eh und je. Für Alex hatte es sich angefühlt, als verlöre er seinen Vater ein zweites Mal. In gewisser Weise sogar schlimmer, da er dieses Mal genau gewusst hatte, was er verlor. Er hatte Rutherford sehr viel besser gekannt als seinen Vater. Und jetzt stand Weihnachten vor der Tür, das erste ohne den lieben alten Herrn. Trauer war kein neues Gefühl für Alex, er hatte seine Mutter begraben und seinen älteren Cousin, Dominics Bruder Richard. Und es gehörte zu seinen Aufgaben, die Hinterbliebenen zu trösten. Doch gelegentlich dachte er, wie schön es doch wäre, wenn der Tröster auch einmal getröstet werden könnte …
Sofort riss er sich zusammen, entschlossen, die Melancholie, die ganz allmählich Besitz von ihm ergriffen hatte, abzuschütteln. Kummer war eine Sache, Selbstmitleid eine ganz andere – eine der heimtückischeren Sünden. Außerdem gab es viele, die ihm ein Trost waren – Dominic, Pippa, selbst die Kinder, Emma und Philip. Er lachte leise bei der Erinnerung an Emmas Tadel wegen seiner vermeintlichen Ungeschicklichkeit bei der Taufe.
Dennoch wäre es gewiss ein großer Trost, Gesellschaft zu haben, einen Menschen, der das Pfarrhaus mit ihm teilte, mit dem er sich an ruhigen Abenden unterhalten und nach dem Dinner einen Brandy trinken konnte und der ihm bei der Gemeindearbeit half.
Je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, was für ein Dummkopf er doch war, nicht früher auf die Idee gekommen zu sein. Sein Blick fiel auf den Schachtisch und die Figuren, die dort seit zehn Monaten unverändert auf ihrer Position standen. Es lag doch auf der Hand! Er brauchte einen Hilfspfarrer, der eine anständige Partie Schach spielen und gleichzeitig den Posten des Schullehrers übernehmen konnte.
Wenn man Miss Hippolyta Woodrowes Meinung dazu hören wollte, so war Aschenputtel ein ausgemachter Hohlkopf. Natürlich hatte sie unglaubliches Glück gehabt. Allerdings hielt Miss Woodrowe es nicht für weise, sich auf das Glück zu verlassen. Oder auf den Märchenprinzen, der herbeigeritten kam, in der Hand den gläsernen Schuh, um die Jungfrau in Nöten zu retten.
Schon gar nicht, nachdem sie vor zwei Jahren so töricht gewesen war, ihrem Cousin Tom diese Rolle zu geben. Doch Polly Woodrowe hatte ihre Lektion gelernt. Denn seit sie mittellos war, zog es der Alles-andere-als-Märchenprinz vor, so zu tun, als gäbe es sie überhaupt nicht und als habe sie nicht das geringste Recht auf sein Herz.
Sie schnaubte undamenhaft. Es war leichter zu glauben, dass die Fee den Kürbis samt Ratte, Mäusen und Eidechsen in eine Kutsche mit Gespann verwandeln konnte, als sich einzubilden, der Märchenprinz hätte Aschenputtel auch dann noch geliebt, wenn sie in Lumpen vor ihn hingetreten wäre.
„Er hätte sie wahrscheinlich eher die Treppe des Palastes hinuntergeworfen“, murmelte Polly vor sich hin und stapfte weiter die Dorfstraße entlang. Andererseits schien es, als wäre Aschenputtel mit einem fast schon sträflich gutmütigen Wesen gesegnet, weil sie nicht nur nicht mit ihrem Schicksal haderte, sondern am Ende sogar ihren gemeinen Stiefschwestern vergab.
Ganz offensichtlich hatte Aschenputtel über einen sehr viel freundlicheren Charakter verfügt als Polly Woodrowe. Aschenputtel war geduldig gewesen, hatte in stoischem Schweigen gelitten und auf ihren Prinzen gewartet. Polly verspürte eher den Wunsch, jemand zu schlagen. Wenn nicht sogar mehr als einen Jemand.
In den zwei Jahren, seit der einzige verbliebene Treuhänder verkündet hatte, dass ihr Vermögen fort war, verspielt vom Sohn seines Partners, hatte Polly gelernt, sich nur auf sich selbst zu verlassen. Sie fröstelte in der Kälte und beschleunigte ihren Schritt. Erst neulich hatte ihre jüngere Cousine Susan sich beschwert: „Hippolyta geht viel zu schnell. Eine Dame sollte nicht so große Schritte machen, Mama, nicht wahr?“ Nun, eine Dame, die in einem viel zu dünnen Umhang warm bleiben und ihr Ziel erreichen wollte, bevor ihr die Zehen abfroren, machte so große Schritte, wie sie nur konnte. Besonders wenn sie den ihr genehmigten Botengang zum Dorfladen dazu nutzen wollte, das, was sie wirklich im Sinne hatte, zu verschleiern.
Da kam schon ihr Ziel in Sicht – die Pforte zur Pfarrei. Pollys Magen zog sich zusammen, als sie daran dachte, was sie im Begriff stand zu tun. Aber vielleicht traf sie Mr Martindale gar nicht daheim an. Es war gut möglich, dass er seine Gemeindemitglieder besuchte oder … oder irgendjemanden begraben musste. Sie wurde langsamer. Ganz gewiss war er außer Haus. Sie würde ein anderes Mal wiederkommen. Oder überhaupt nicht. Er würde sie für dreist halten. Für aufdringlich. Ihre Tante jedenfalls hielt sie für aufdringlich. Als sie noch vermögend gewesen war, hatte es nichts ausgemacht, dass sie die Tochter eines Kaufmanns war. Doch jetzt legte sie angeblich Allüren an den Tag, und die Verbindung ihres Vaters mit dem Handel war ihren Verwandten zuwider …
Sie zögerte. Seit wann kümmerte es sie, was ein schlichter Pfarrer vom Land von ihr halten mochte? Allerdings hatte sie Alex Martindale immer bewundert. Als sehr viel älterer Schuljunge war er ihr als kleinem Mädchen, wenn sie ihre Cousins besucht hatte, stets ausgesprochen liebenswürdig begegnet. Manchmal, auf dem Weg zu seinem Unterricht in der Pfarrei, hatte er sie, zu ihrem großen Erstaunen, freundlich gegrüßt. Ebenso freundlich wie die Dorfkinder, und immer mit einem Lächeln in seinen grauen Augen. Der Alex Martindale von damals war niemand, der auf die Bedürftigen dieser Welt herabsah.
Aber natürlich änderten sich die Menschen. Oder vielleicht war es auch so, dass man sie nur besser kennenlernte, je älter man wurde. Fast bedauerte Polly das junge Mädchen von damals, das zweifellos ein tendre für den gut aussehenden Jungen gehegt hatte. Pflichtbewusst, wie sie jedoch erzogen war, hatte die folgsame junge Dame gehorsam ihre Aufmerksamkeit auf Cousin Tom gerichtet, der, wie die Tante versichert hatte, große Zuneigung zu ihr gefasst hatte.
Polly schnaubte geringschätzig und gab einem Erdklumpen vor ihren Füßen einen Tritt. Alex Martindale hatte sich bestimmt verändert. Jeder wurde erwachsen. Und ihre Idee war närrisch, ganz besonders, da sie gewiss ihrer Tante zu Ohren kommen und Polly in noch größere Schwierigkeiten bringen würde.
Sie hatte sich bereits wieder halb abgewandt von der Pforte, als ihr bewusst wurde, was sie da tat: Sie gab auf, ohne es überhaupt versucht zu haben, beugte sich widerspruchslos ihrem Schicksal, statt etwas dagegen zu unternehmen, wie sie gestern beschlossen hatte, als ihre Verwandten in der Kirche waren. Ihre Tante hatte Pollys Aufzug für zu schäbig befunden, als dass sie mit der Familie am Gottesdienst teilnehmen dürfe – andererseits nicht so schäbig, dass man sie heute nicht für einen Botengang ins Dorf schicken konnte. Und natürlich warteten haufenweise Sachen auf sie, die geflickt werden mussten. Falls Mr Martindale sie also für eine undankbare, habgierige, unerzogene – diese Bemerkung von Tante Eliot hatte sie besonders getroffen – aufdringliche Person hielt, die sich Allüren erlaubte, dann war es eben so. Der Stapel Flickwäsche hatte nach einer Woche ununterbrochener Kränkungen und Zurechtweisungen das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht.
Entschlossen straffte sie die Schultern und drückte das Gartentor auf. Er würde ihr entweder zuhören oder nicht. Sie geringschätzen oder nicht. Eine Dame, die sich nur auf sich selbst verlassen konnte, durfte sich Skrupel dieser Art nicht erlauben. Und wenn nicht einmal sie eine gute Meinung von sich hatte, zählte die der anderen erst recht nicht.
„Miss Woodrowe möchte Sie sprechen, Herr Pfarrer.“
Alex sah von dem Brief auf, den er an den Bischof schrieb und in dem er seine Pläne für die Schule und seine Absicht, einen Hilfspfarrer einzustellen, darlegte. „Miss Woodrowe?“ Einen Moment wusste er nicht, von wem die Rede war. Dann fiel es ihm ein. Miss Hippolyta Woodrowe. Natürlich. Die Nichte Sir Nathan Eliots. Die reiche Miss Woodrowe, Erbin eines Fabrikbesitzers. Wahrscheinlich hatten die Gerüchte die Höhe ihres Vermögens übertrieben, aber sie war oft mit ihrer verwitweten Mutter im Dorf zu Besuch gewesen und bereits als Kind und junges Mädchen ein hochwillkommener und gefeierter Gast.
„Bitten Sie sie herein, Mrs Judd.“ Er legte die Schreibfeder ab und erhob sich, als Mrs Judd seinen Besuch einließ. Unwillkürlich runzelte er die Stirn. Vielleicht lag es am schwachen Licht. Es war ein trüber Tag, und nur der sanfte Schein der Argandlampe auf seinem Schreibtisch erleuchtete das Zimmer. Dennoch konnte Alex seine Erinnerung an die lebhafte, gut gekleidete kleine Miss Woodrowe, die immer ein schüchternes Lächeln für ihn übrig gehabt hatte, nicht mit dieser ernsten jungen Frau in dem tristen Umhang mit dem schmutzverkrusteten Saum in Einklang bringen. Vielleicht erinnerte er sich nicht an das richtige Mädchen?
„Miss Woodrowe. Treten Sie doch bitte ein. Mrs Judd, bringen Sie uns Tee, seien Sie so freundlich.“
Miss Woodrowe kam näher und zog die Kapuze ihres Umhangs vom Kopf. Alex hielt den Atem an. Ihr Haar war zu einem strengen Knoten zusammengesteckt. Es hatte den gleichen goldbraunen Farbton wie ihre von dichten dunklen Wimpern umkränzten Augen. Es war das Mädchen, an das er sich erinnerte. Schon damals hatte es ihn fasziniert, dass Haare und Augen eines Menschen von derselben Farbe sein konnten, eine Farbe, die an kostbaren Sherry denken ließ. Aber lieber Himmel, das letzte Mal, als er sie gesehen hatte, war sie noch ein Kind gewesen!
„Guten Tag, Mr Martindale. Ich hoffe, ich störe Sie nicht.“
Mädchen wurden erwachsen, das wusste er natürlich, aber …
„Nein, nein, ganz und gar nicht.“ Was stellte man mit einer jungen Dame an, die ohne Begleitung bei einem erschien? „Äh … möchten Sie nicht ans Feuer kommen?“
„Vielen Dank.“
Er eilte ihr voraus und schob den Sessel an den Kamin. Das Möbelstück stieß scheppernd gegen das Kamingitter, und er verwünschte insgeheim seine Ungeschicklichkeit. „Sie besuchen die Eliots?“, fragte er, und sie nickte. „Wann sind Sie angekommen?“ Er schob einen weiteren Sessel an den Kamin.
„Vor einer Woche.“
Auch dieser stieß gegen das Kamingitter. „Vor einer Woche?“ Bevor er es sich anders überlegen konnte, fragte er: „Warum waren Sie dann neulich nicht mit Ihren Verwandten zur Taufe auf Alderley?“
Sie hob fast unmerklich das Kinn. „Ich war nicht eingeladen, Sir.“
„Unsinn.“ Er wischte ihre Erklärung mit einer Handbewegung fort. „Wenn Lord und Lady Alderley von Ihrem Besuch gewusst hätten, wären Sie selbstverständlich eingeladen worden. Sie und Pippa waren als Kinder doch gut befreundet. Lassen Sie mich Ihnen helfen.“ Er nahm ihr den feuchten Umhang von den schmalen Schultern. Ein zarter, angenehmer Duft umgab sie. Alex stockte der Atem. Er hatte vergessen, wie hübsch sie war – wenn er es überhaupt je bemerkt hatte. Sie war kaum mehr als ein Kind gewesen, als er sie das letzte Mal gesehen hatte … und jetzt war sie … nun, zum einen war sie größer, nicht sehr viel größer als damals, sie reichte ihm immer noch lediglich bis zu den Schultern, aber dennoch größer. Und … unwillkürlich packte er den Umhang fester. Jetzt, da sie das Cape nicht mehr trug, konnte er sehen, dass sie sich auch in anderer Hinsicht verändert hatte. Sie war so viel … voller, weiblicher geworden. Etwas verwirrt über die Richtung, die seine Gedanken einschlugen, wandte er sich ab und hängte den Umhang an einen Haken neben dem Kamin. Dabei wäre er ihm fast heruntergefallen, so ungeschickt waren seine Finger plötzlich. Lieber Himmel! Was war nur los mit ihm? Entschlossen verdrängte Alex seine ungezogenen Gedanken und drehte sich zu ihr um.
„Was kann ich für Sie tun, Miss Woodrowe?“ So, das war besser. Jetzt klang er schon eher wie er selbst. Vernünftig und sachlich.
Sie hatte sich nicht gesetzt und musterte ihn mit noch immer leicht gerecktem Kinn, einen Ausdruck in ihren bernsteinfarbenen Augen, den Alex nicht recht entschlüsseln konnte.
„Ich möchte, dass Sie mich einstellen, Mr Martindale.“
Er schluckte. Zugegeben, er lebte nun schon eine ganze Weile allein und neigte manchmal dazu, Selbstgespräche zu führen. Allerdings glaubte er nicht, dass sein Verstand ernsthaft darunter gelitten hatte. Oder sein Gehör. „Ich bitte um Verzeihung, Miss Woodrowe?“
Jetzt errötete sie. „Ich brauche eine Stellung. Und wie ich höre, wollen Sie hier im Dorf eine Schule eröffnen, also …“
„Miss Woodrowe“, unterbrach er sie kopfschüttelnd, „soll das ein dummer Scherz sein?“ Er gab sich keine Mühe, seinen Ärger zu verbergen. „Vielleicht eine Wette mit Ihren Cousinen?“ Es wäre jedenfalls genau die Art idiotischer Schabernack, die Miss Susan Eliot großartig finden würde. „Sie sind …“ Er hielt sich gerade eben noch davon zurück zu sagen, was er dachte: Sie war eine Erbin. Und eine Erbin brauchte selbstverständlich keine Stellung.
Sie errötete noch heftiger. „Ich scherze nicht“, versicherte sie leise.
Ihr Ton ließ ihn stutzen. Alex musterte sie aufmerksam und bemerkte nicht nur die strahlenden goldbraunen Augen mit den dichten Wimpern und die verwirrenden körperlichen Veränderungen, sondern auch ihr Kleid.
Zwar konnte er nicht von sich behaupten, ein Kenner der Damenmode zu sein, aber selbst er erkannte ein altes, unmodisches, billiges Kleid. Und der Ausdruck in ihren Augen – als versuche sie sich gegen irgendetwas zu wappnen, als müsse sie sich einem Erschießungskommando stellen – zerriss ihm das Herz.
„Setzen Sie sich, Miss Woodrowe.“ Möglicherweise hatte sie nicht das Bedürfnis, sich zu setzen, er hingegen schon.
Sie kniff leicht die Augen zusammen und presste die weichen, rosigen Lippen zusammen. Betroffen verwünschte Alex seine Unhöflichkeit. Was war nur mit ihm geschehen, dass er sie nicht einmal freundlich bitten konnte, Platz zu nehmen? Doch sie folgte seiner Aufforderung, und er tat es ihr gleich.
„Miss Woodrowe …“, begann er und hielt sofort inne. Zum Henker! Es war unmöglich! Wie fragte man eine junge Dame, was aus ihrem Vermögen geworden war?
Sie ersparte ihm die Mühe.
„Mr Bascombe, dem Sohn des ältesten Freundes meines Vaters, wuchsen seine Spielschulden über den Kopf, und er bediente sich an meinem Vermögen, um seine Verluste wettzumachen.“ Sie sprach tonlos, als habe diese Tatsache nicht mehr die Macht, sie aufzubringen. „Er verlor alles. Sein Geld ebenso wie meins. Und danach nahm er den, wie alle meinten, ‚ehrenhaften‘ Ausweg aus seiner Misere.“
Verärgert presste Alex die Lippen zusammen. Seiner Meinung nach war nichts Ehrenhaftes daran, sich das Leben zu nehmen, um den Folgen der eigenen Selbstsucht zu entgehen. „Wann ist das geschehen?“, fragte er leise.
„Vor mehr als zwei Jahren.“
Das erklärte, warum er nicht davon wusste. Vor etwas über zwei Jahren hatte er für einige Monate zu Forschungszwecken den Kontinent bereist. Und es erklärte das fadenscheinige Kleid und den billigen Umhang. „Aber Sie kamen erst vor zwei Wochen zu Ihrem Onkel?“
Sie erstarrte. „Ich hatte eine Position als Gouvernante angenommen.“