Hochzeit machen, das ist wunderschön - Lise Gast - E-Book

Hochzeit machen, das ist wunderschön E-Book

Lise Gast

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Beschreibung

Kann man seine fünf Kinder, die sich dem Erwachsenenalter annähern oder es vor kurzem erreicht haben, bereits allein lassen? Die Frage stellen sich Dr. Frobenius und seine Frau, weil sie einen Kuraufenthalt machen wollen. Die Geschwister sind der Meinung, dass sie die Hochzeit der drittältesten Schwester planen können und damit beschäftigt sind, daher reisen die Eltern ab. Doch es dauert nicht lange, bis zu Hause das Chaos ausbricht, Barbara will nicht mehr heiraten, ihre ältere Schwester Inka nun aber schon und zu allem Überfluss steht das Haus auch noch unter Wasser. Ob sich bleibende Schäden noch verhindern lassen?-

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Lise Gast

Hochzeit machen, das ist wunderschön

SAGA Egmont

Hochzeit machen, das ist wunderschön

Copyright © 1982, 2018 Lise Gast und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711514023

1. Ebook-Auflage, 2018

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

Der Zug fuhr aus der Halle, wichtigtuerisch und höhnisch, so, wie es Züge an sich haben, die man nicht mehr erreicht. Barbara hatte den Knipser sozusagen überrannt, um noch zurechtzukommen, jetzt bremste sie mitten auf dem Bahnsteig und warf ihr Gepäck, den eleganten kleinen Koffer, der Inka gehörte, und eine scheußliche, abgeschabte Schulmappe, vollgepfropft zum Platzen, voller Wut auf die Erde. Beide Gepäckstücke rutschten noch ein Stück vorwärts, in Richtung des Zuges, als wollten sie die vergebliche Mühe andeuten, ihn noch einzuholen. Barbara gab der Mappe einen Fußtritt, der von Herzen kam.

»Nana«, sagte ein Herr, der hinter seiner in den Alleinurlaub hineinfahrenden Frau hergewinkt und soeben das Taschentuch abschließend eingesteckt hatte. Er sagte es mahnend, aber ohne ernstlichen Vorwurf. Dazu war Barbara zu hübsch.

Sie war in der Art hübsch, in der es heutzutage jedes junge Mädchen ist – nicht auffallend, aber, wenn man genauer hinsah, noch viel erfreulicher. Die Haare kurz, die Augen braun, und die Haut von jener gleichmäßigen, stumpfen Goldtönung, die sehr viel schöner ist als jedes Make-up. Alles an ihr wirkte rund, obwohl sie schlanke Glieder und eine zierliche Taille hatte; irgendwie kamen bei ihr die Rundungen, die den weiblichen Menschen vom männlichen unterscheiden, entscheidend zur Geltung. Der Herr spürte das, ohne es wirklich zu sehen, und hob eifrig Mappe und Köfferchen auf.

»Danke«, sagte Barbara und nahm das Köfferchen – es war das leichtere – aus seiner Hand. Die Mappe durfte er tragen. So wanderten sie den Bahnsteig entlang.

»Wie werde ich die Karte wieder los?« fragte Barbara, als sie am Häuschen des Knipsers ankamen. Der kniff ihr ein Auge.

»Ich hab’ sie ja nicht gelocht – bei Ihrem Tempo vorhin …«

Barbara lachte. Sie besaß einen fast zu großen, weitgeschwungenen Mund – von einer Tante sollte der stammen, hatte Mutter manchmal gesagt, von einer, die man fast nie sah, einem Zugvogel; Barbara hatte sich diese Tante früher wirklich mit Schwingen und langen, zurückgelegten Beinen vorgestellt – und wenn sie lachte, wurde sie, ohne übrigens bewußt davon Gebrauch zu machen, gefährlich.

Es kam so, daß der Herr, der ihr die geschwollene Mappe nachtrug wie ein Pudel seinem Herrn den Stock, alle Förmlichkeiten am Schalter für sie erledigte. Sie erhielt ihr Geld zurück, stand da und sah es nachdenklich an, ehe sie es wieder einsteckte.

»Fahren Sie nun gar nicht?« fragte ihr Begleiter, und es klang hoffnungsvoll. Barbara hob die Augen.

»Doch. Mit der Straßenbahn«, sagte sie, und es klang, als habe sie soeben eine Erleuchtung gehabt.

»Aber doch nicht so weit – ich meine –« Er deutete unbestimmt nach dem Schalter hin, hatte also die Aufschrift der Fahrkarte gelesen. Nun, mochte er.

Barbara hob sich auf die Zehen, um bis zu seinem Ohr hinaufzureichen, das sich ihrem Mund in der Vorausahnung einer sensationellen Nachricht entgegenstreckte. Es stand sowieso ein wenig ab, und das gab seinem Gesicht den Ausdruck, der Barbara veranlaßte, ihn als Gepäckträger und weiter nichts einzustufen.

»Nach Obermenzing, zu meiner Großtante. Sie ist gelähmt und außerdem taubstumm. Ich werde sie dieses Wochenende über erfreuen.«

Barbara lachte noch, als sie in der Drei saß. Er hatte sie bis zur Haltestelle gebracht, dort aber war die Tram mit überraschender Plötzlichkeit erschienen. Glück muß der Mensch eben haben. Ihr gegenüber saß eine Frau mit einer Katze auf dem Schoß. Barbara verfolgte entzückt den Dialog, der sich zwischen dieser Frau und dem Schaffner entspann.

»Zohln.«

»I hab’ ja zohlt.«

»Aber net für dees Viech.«

»Neuli bin i gfohrn und hab a Schildkrotn mitghabt, und des hat nix kostet.«

»An Schmarren. A Schildkrotn is a Reptil, aber a Katz is a Hund, und a Hund muß zohln.«

Die Frau wehrte sich noch eine Weile und mußte dann nachgeben. Die Katze war graugetigert und sehr schön. Barbara betrachtete sie mit freundlichem Interesse. Dann aber überlegte sie endlich, was nun werden sollte. Bisher hatte sie instinktiv und sozusagen im Zwange der Ereignisse gehandelt. Sie seufzte. Ihre Lage war ernst, wenn auch nicht hoffnungslos.

Der Zug, den sie verpaßt hatte, war der letzte, der sie bis nach Hause gebracht hätte, richtiger, bis zu dem Bus, den man erreichen mußte, um ohne andere Hilfsmittel – herantelefoniertes Auto, das natürlich gerade unterwegs sein würde, und ähnliche Schwierigkeiten – heimzukommen. Blieb Anhalterfahren, aber das erlaubte Hans Friedrich nicht. Barbara zog die Nase kraus, während sie an Hans Friedrich dachte, und hatte ein schlechtes Gewissen dabei. Gottlob sah es ja niemand. Die Frau mit der Katze, die ein Hund war, hatte den Wagen verlassen.

Was der Verlobte nicht erlaubte, durfte man natürlich nicht tun. Ebenso natürlich aber mußte man ja weiter. Barbara überlegte und erinnerte sich sogleich – merkwürdig, daß sie vorher nicht daran gedacht hatte –, daß ein Kollege von ihr heute mit dem Auto nach Stuttgart fahren wollte. Sie besaß gar keinen Kollegen mit Auto, trotzdem erinnerte sie sich genau. Wenn sie den am Anfang der Autobahn erwischte, nahm er sie natürlich mit, und das war ebenso natürlich kein Anhalterfahren, sondern das Benützen einer Gelegenheit. Ihre Nase entkrauste sich, und sie sprang an der Endhaltestelle so fröhlich aus der Straßenbahn, um in den Bus nach Obermenzing umzusteigen, daß ein Personenwagen, der dieselbe Richtung fuhr, von ganz allein hielt. Die rechte Autotür wurde gastfrei aufgestoßen, und Barbara hätte von Sinnen oder ein junges Mädchen aus der Jahrhundertwende sein müssen, wenn sie jetzt nicht hingegangen wäre und in den Wagen hineingeguckt hätte, zum mindesten aus Höflichkeit.

Sie war höflich. Ein Herr mittleren Alters, breit, freundlich. Barbara sah es mit einem Viertelblick und lächelte. Wenn jemand von selbst hält, ist dies natürlich kein Anhalterfahren. Die letzten hauchdünnen Bedenken waren zerstoben wie die Nebel eines Septembermorgens, wenn die Sonne kommt, und Barbara verstaute ihr Gepäck auf dem Rücksitz, der leer – oder beinah leer war.

»Oh, ein Waschbär!« rief sie halblaut, und der Herr freute sich. Nun ging alles wunderbar glatt, und Barbara brauchte überhaupt nichts mehr zu überlegen. Die Wahrheit ist insofern jedem Gaukelwerk der Phantasie vorzuziehen, als sie bequemer ist.

Obermenzing war noch nicht erreicht, da hatte Barbara den kleinen Waschbären schon auf dem Schoß. Er war noch jung, sehr anschmiegsam und tausendmal entzückender als alle Teddybären, die ganze Generationen von Kindern beglückten und beglücken.

»Daß Sie gleich gemerkt haben, daß er lebendig ist!« lobte der Fahrer, und Barbara lachte.

»Kunststück. Wenn man Fachmann ist.«

Nun war es an ihm, neugierig zu werden, und sie ließ ihn zappeln. Das uralte Spiel zwischen männlich und weiblich ging über die Bühne. Eigentlich störte es Barbara ein bißchen, daß es so genau nach den Spielregeln verlief, dazu war der Mann zu nett und der Bär zu süß. So sagte sie entschlossen:

»Ich bin in Hellabrunn im Zoo Tierpflegerin, und dieses Wochenende wollte ich nach Hause fahren, hab’ aber den Zug verpaßt.« Kurz, bündig, wahr – mitunter ist das das Schlaueste. Der nicht mehr junge Mann lachte, er spürte genau, daß dies alles stimmte, und das behagte ihm.

Sie fuhren. Der Bär war ein weiches Wollknäuel und ebenso reizend wie sein Herr Besitzer. Freilich traf man in fremden Autos sehr viel nette Männer jeden Alters, wenn man so aussah wie Barbara.

Augsburg war noch nicht zu sehen, da hatte sich bereits herausgestellt, daß der freundliche Herr Barbaras Vater kannte. Dr. Frobenius, Dr. med. und med. vet., ausübend freilich nur seine Kunst am menschlichen Patienten, in Zeitschriften aber bekannt durch seine Artikel über Tiere, auch das war nicht allzu erstaunlich. Blieb zu erzählen, daß Barbara noch zwei Schwestern und zwei Brüder hatte, verlobt war und in etwa fünf Wochen heiraten würde.

»Einen Tierarzt?« fragte ihr Begleiter höflich. Barbara schüttelte die Fransen. Nein, Hans Friedrich war kein Tierarzt, leider, er war Physiker. Es klang respektvoll, wie sie das sagte, und ein wenig so, daß ihr Fahrer ein ganz kleines Lächeln nicht unterdrücken konnte. Er nannte nun seinen Namen: Landwirtschaftsrat Dr. Ring, in Stuttgart beamtet.

Danach war es eine Weile still. Barbara streichelte den kleinen Bären, und der Fahrer ging von der linken Fahrbahnhälfte, auf der er bisher ziemlich schnell dahingeschnurrt war, auf die rechte hinüber.

Inka hörte die Türglocke und wußte sofort, das war kein Patient. Besuch, wie gräßlich. Sie überlegte sekundenlang: Wenn Frau Steiner, Zugehfrau, jetzt öffnete, wurde man ihn nicht los. Wenn sie selbst ging, hatte man eine winzige Chance …

Sie zog die Hände aus dem weichen Tonbrei, strich das meiste ab und war schon an der Zimmertür, öffnete sie mit dem Ellbogen und lief durch den Flur. Klacks, verlor sie etwas von dem feuchten Ton – na, das half nichts. Sie mußte nachher –

Noch ehe sie die Haustür erreicht hatte, wußte sie, wer es war: Hans Friedrich. Und Barbara noch nicht daheim! Himmel, und sie hätte so gern weitergearbeitet!

Hans Friedrich begrüßte sie in seiner korrekten, überaus höflichen Art, die Mutter so gefiel und sie alle zum Lachen und Spotten reizte. Heute aber reizte er sie nicht nur zum Lachen, sondern überhaupt.

»Komm rein«, sagte sie kurz (es klang aber eher wie: scher dich zum Satan –), »ich hab’ zu tun.« Seit Sylvester duzten sie sich.

Warum war sie nur so wütend! Ging sie der Schwager ernstlich etwas an? Zum Kuckuck, nein. Barbara konnte heiraten, wen sie wollte. Außerdem –

Ja, was außerdem war, hatte bisher unverdaut im Vorraum ihres seelischen Magens gelegen, seit Wochen, wie sie plötzlich wußte. Jetzt schluckte sie es, bewußt und mit einem kleinen Schütteln. Eine Bekannte hatte es gesagt, als sie neulich – eben vor diesen besagten Wochen – zu Besuch bei ihnen war: »Wer hätte gedacht, daß Barbara vor Inka heiraten würde!«

Heiraten war Trumpf As. Heute noch wie alle Zeit. Nicht nur, daß Hochzeitmachen wunderschön war – Heiraten war etwas Absolutes, Ernstes, die Krone. Alle anderen Beweise der Liebe, und sie hatte deren schon eine ganze Anzahl eingeheimst in ihrem immerhin doch noch jungen Leben, wogen leicht gegen die Unterschrift auf dem Standesamt und den Ring am Finger. Briefe, Geschenke, Beteuerungen, das Angebot, gemeinsam zu reisen, Besuche über Hunderte von Kilometern weg – dies alles konnte Übersteigerung des augenblicklichen Gefühls, konnte Täuschung sein. Den Namen des Mannes jedoch zu tragen, zu übernehmen – das war Ernst.

Nun war es nicht so, daß nicht auch Inka schon ernstgemeinte Heiratsanträge bekommen hätte. Die Antragsteller aber waren auch danach (fand sie), Männer von Format jedenfalls befanden sich nicht darunter. Solche aber mußten es sein. Inka Frobenius war nicht nur schön, sondern auch wach und sehr anspruchsvoll. Inka glich ihrer jüngeren Schwester eigentlich wenig mit ihrem überlebhaften, schmalen Gesicht, in dem zwei längliche Grübchen beim Sprechen und Lachen kamen und gingen, Grübchen, die später charakteristische Falten sein würden.

Inka hieß eigentlich Inge, schlicht und einfach. Seit sie erwachsen war, hatte sie jedoch diesen, wie sie sagte, popeligen Namen eigenmächtig in »Inka« umgeformt. »Ingen gibt es wie Sand am Meer«, erklärte sie und hörte von Stund’ an einfach nicht mehr auf den bisherigen Rufnamen, so daß die Familie sich tatsächlich mit dem neuen abfand.

»Wann wollte sie denn da sein?« fragte Hans Friedrich.

»Na, wie immer. Geh doch an die Bushaltestelle.«

Er ging aber nicht. Er saß und starrte sie an, wie sie da in ihrem beschmierten Kittel hin- und herging – Inka arbeitete immer im Gehen, sie ging die Arbeit an, wütend vor Eifer und Energie.

»Mach doch mal eine Porträt-Studie von mir«, sagte er plötzlich. Das hörte sie. Vieles war an ihr vorbeigeglitten.

»Warum nicht?«

Sie knallte einen dicken Brocken Ton auf den Ständer, formte mit geübter Handfertigkeit Hals und grobe Umrisse vom Kinn bis zur Stirn, hielt dann inne und sah ihn an. So eindringlich, daß es ihm nicht geheuer war. Er hatte es aber nun einmal gesagt.

Später kam Christian ins Zimmer. Er war jetzt achtzehn, sehr lang und schmal, von jener ein wenig lässigen Jagdhund-Schlenkrigkeit, die jungen Menschen gut stehen kann, wenn sie sie nicht unterstreichen. Inka warf ihm einen kurzen Blick zu und arbeitete weiter. Er setzte sich still ans Fenster. Seinen zukünftigen Schwager hatte er kaum begrüßt.

Christian war sehr anders als Torsten. Der Älteste war dem Vater ähnlich, mit der ein wenig vorgebeugten Haltung sehr großer Menschen und mit seinem Hang zur Medizin. Für Torsten wäre nie und unter keinen Umständen ein anderer Beruf möglich gewesen als der des Arztes. Christian dagegen wußte heute noch nicht, was er werden sollte, und er saß nun schon in der Unterprima. Inka, die diesen Bruder besonders liebte, hoffte, er würde den Weg zur grünen Farbe einschlagen, Förster werden oder etwas Ähnliches. Sie schaute jetzt, nachdenklich, mehr in das stille Gesicht des Jungen als in das ihres Modells.

»Wir wollen aufhören«, sagte sie, als sie es merkte, »hol Tassen, Christian, ich mach’ einen Kaffee.«

Christian ging, gleich darauf ertönte aus dem Flur ein entsetzliches Kläffen und Jappen.

»Aha, Vater.« Mit Vater kam unweigerlich Wurzel, die geliebte und von allen verhätschelte Langhaardackelin, die alles ankläffte, beknabberte, was ihr vor die Schnauze kam, nie gescholten wurde und nicht den geringsten Appell hatte. Sie beglückte das Haus alljährlich mit einem Wurf völlig rasseloser, bezaubernder und von niemandem umzubringender Kinder, die Vater mit verzweifeltem Gesicht und einer unglaublich liebenswerten Hilflosigkeit genesenden Patienten aufhängte. Jedesmal, wenn Wurzel ins Wochenbett kam, wettete die Familie, daß er sie diesmal nicht loswürde, und er selbst war am meisten davon überzeugt. Vielleicht hatte Barbara die Gabe, unwiderstehlich zu sein, von ihrem Vater, dem man das freilich nicht ansah. Er war jetzt achtundfünfzig, grauhaarig, mit vom vielen Rauchen verfärbten Zähnen und einer Weitsichtigkeitsbrille, mit gefurchter Haut und einem Gang, der nicht mehr so federnd war wie noch vor wenigen Jahren.

»Vater muß ausspannen«, sagten die Kinder von Zeit zu Zeit. Auch Mutter sagte es. Und dabei war es bisher geblieben.

Inka war an die Tür gegangen und öffnete sie in dem Augenblick, als Vater daran vorbei wollte. Wurzel schoß ins Zimmer. Vater hielt an, und Inka zog ihn herein.

»Du hast einen Kaffee bestimmt nötig.«

»Danke. Ah, das tut gut –« Er atmete den bitteren Geruch genüßlich ein. Inka verteilte die anderen Tassen und setzte sich mit der ihren aufs Fensterbrett.

»Wo ist Bulli?« fragte Vater nach dem ersten Schluck.

Alle waren an diese Frage gewöhnt; übrigens auch an die entsprechende von Bullis Seite her. Während die vier anderen Geschwister gewohnheitsmäßig und sehr oft auch gedankenlos »Wo ist Mutz?« fragten, wenn sie das Haus betraten, war Bullis ständige Frage: »Vater schon da?« Es bestand ein eigentlich ganz unerklärlich inniger Bezug zwischen diesen beiden, dem Ältesten und der Jüngsten der Familie, weshalb sie in gutmütigem Spott manchmal ›das Liebespaar‹ genannt wurden. Bulli war auch diejenige der Geschwister, die sich am häufigsten im Krankenhaus aufhielt, Patienten besuchte, neugeborene Babys bewunderte und für die Schwestern Gänge und Besorgungen machte, wenn sie nicht fort konnten. Auch an der Pforte vertrat sie gelegentlich.

»Nachhilfestunde«, berichtete Christian jetzt, »wird gleich da sein.«

Vater nahm die Brille ab und putzte sie. Plötzlich sagte er:

»Ihr habt geerbt.«

Stille.

»Wer?« fragte dann Inka halblaut. Sie fragte es im Namen aller, so, als wolle sie es noch einmal hören, sei aber zu taktvoll, um »Wie bitte?« zu fragen.

»Ihr. Die Geschwister Frobenius.« Vater sprach wie gewöhnlich: Nicht sehr laut, ein wenig stockend, zwischen jedem Satz oder Satzfragment eine Pause einschiebend.

»Von Onkel Clemens. Das Testament ist heute eröffnet worden. Dr. Schempp rief mich an. Es ist ein bißchen kompliziert, sagte er.«

»Und?« Inka hatte das Gefühl, fragen zu müssen. Onkel Clemens war vor ein paar Wochen, neunzig Jahre alt, in Vaters Krankenhaus gestorben. Er war ihr Großonkel und hatte die letzten Lebensjahre so zurückgezogen gelebt, daß er keine Lücke hinterließ.

»Tja. Die vier Großen das Haus. Ihr kennt es doch, das, was er selbst gebaut hat. Torsten, Inka, Barbara und Christian. Bulli die Geige. Merkwürdig, nicht?«

»Bulli die Geige? Sie spielt aber doch gar nicht, oder?« fragte Hans Friedrich. Er hatte bisher geschwiegen.

»Nein. Vielleicht aber nahm Onkel Clemens das an. Oder er wollte, daß sie es lernte. Bulli war in den letzten Wochen, als Onkel Clemens bei uns lag, öfter da. Manchmal brachte sie ihm Blumen mit. Bulli tut das ja bei manchen Patienten.« Er schwieg wieder. Alle schwiegen. Dr. Frobenius trank seinen Kaffee aus.

»Alsdann –« Er sagte dies Wort oft, meist, wenn er sich von einem Patienten verabschiedete. Es blieb dann sozusagen hinter ihm in der Luft hängen. Auch jetzt stand er auf, ging durch das Zimmer, Wurzel mit klappernden Zehennägeln ihm nach. Die andern warteten, bis er die Tür geschlossen hatte.

Dann brach der Sturm los. Geerbt! Ein Haus! Hier im Doktorhaus gab es nur zwei sogenannte Kinderzimmer, in denen die jeweiligen Brüder und Schwestern hausten. Natürlich konnte man sich die nach dem eigenen Geschmack zurechtmachen, aber nur bis zu einem gewissen Grade. Die Aussicht, daß nun jeder seine eigene Bude, jeder einen Hausschlüssel haben würde – es war überwältigend.

Dr. Frobenius hörte die Ausläufer der Stimmenbrandung, er zog ein wenig den Kopf ein. Eigentlich hatte er zu seiner Frau gewollt, um mit ihr zu sprechen. Sie lag noch, hatte aber kein Fieber mehr. Zu seinem eigenen Erstaunen aber bog er nach rechts statt nach links, ging die Stufe zur Garage hinunter, schob die Garagentür von innen auf, setzte sich, geistesabwesend und gleichsam sich selbst ein wenig bange beobachtend, hinters Steuer, lockte Wurzel neben sich und ließ den Wagen an. Gehorsam rollte das niedrige, breite Gefährt aus dem Haus. Dann hielt er noch einmal an, stieg aus und ging ins Haus zurück. Stimmengewirr im Wohnzimmer. Er öffnete die Tür, für einen Augenblick wurde es still, als er den Kopf hineinsteckte. »Es kann heute abend spät werden, Kinder«, sagte er, »sagt das Mutter, wenn sie aufwachen sollte.« Er schloß die Tür, hörte Inkas Stimme, die »Wiedersehen« rief, und ging mit weit ausgreifenden Schritten zum Wagen.

Es war lange her, daß Dr. Frobenius einfach davongefahren war, ohne Ziel, nicht zu Patienten, sondern, wie er es heimlich nannte, zu sich selbst. Jahre war es her, wahrscheinlich seit dem Zeitpunkt, an dem er das Musizieren aufgegeben hatte. Anfangs hatten sie ein schönes Streichquartett im Städtchen gehabt, nicht konzertreif, nur zum eigenen Vergnügen, l’art pour l’art. Dann aber verzog das Cello, und bis man ein neues fand, ging die Initiative der andern Teilnehmer verloren, wie das so ist. Jahrelang war Dr. Frobenius nichts anderes gewesen als Arzt und Chirurg, Chefarzt des Krankenhauses, Hausherr, freundlich geduldiger Mann einer heiteren und noch immer schönen Frau, Vater von fünf recht munteren Kindern. Heute plötzlich wollte er wieder er selbst sein.

Als er die Kleinstadt verlassen hatte – es ging rasch, sein Haus stand ziemlich am Rande, obwohl natürlich auch dieser Ort zu wachsen begonnen hatte –, richtete er sich auf und wurde größer, schmäler, jünger. In der nächsten kleinen Stadt hielt er vor dem Postamt. Es war, da Samstag, geschlossen, aber davor befand sich eine Fernsprechzelle. Er trat ein, ließ zwei Geldstücke hineinklingeln und wählte. Gleich darauf hörte er die Stimme, unvergessen, unverwechselbar und so nahe, als sei die Sprecherin nebenan und nicht hundertfünfzig Kilometer weit entfernt.

»Nein und nein und nein«, sagte Torsten Frobenius. Er wußte verzweifelt genau, daß er ›Ja und ja und ja‹ hätte sagen müssen. Der Teufel saß ihm in der Kehle, und der Teufel sprach für ihn. Wahrscheinlich bin ich schizophren, ich muß das mal genauer untersuchen, beschloß Torsten. Der Teufel aber erlaubte natürlich nicht, daß er das aussprach. Der Teufel sagte immerzu »Nein!«

»Schön, wenn du nicht willst …«

Karen sah, während sie das sagte, anders aus als sonst, viel älter, dadurch aber nicht weniger gut. Ihr Gesicht hatte sich gestrafft und war, wie es Torsten erschien, auf das Wesentliche zusammengezogen: Mager, mit ein wenig vorstehenden Backenknochen, sehr ruhig. Es war das Gesicht eines Menschen, zu dem man rückhaltloses Vertrauen haben konnte, nicht mehr das eines jungen, reizvollen Mädchens, in das man sich verliebte.

Torsten fühlte, welches Versprechen ihm das Leben in diesem Augenblick anbot, blitzartig kurz, aber der Teufel wollte dieses Versprechen nicht annehmen.

»Nein und nein und nein!« schrie er. Im nächsten Moment hatte Karen sich abgewandt, und als er ihr Gesicht wiedersah, war es wie immer.

»Ich gehe aber trotzdem nach Hamburg«, sagte sie freundlich. »Das Klima in Eppendorf ist ja nicht erfreulich, zugegeben, jedenfalls liegt es mir nicht, vielleicht aber bin ich persönlich daran schuld. Und darauf kommt es ja auch nicht in erster Linie an. Wohnen kann ich bei Christa.«

»Viel Vergnügen!« jappte der Teufel.

»Danke«, sagte Karen und stand auf, während sie sich, ihr Täschchen suchend, umsah. Auf dem Tisch lag ein Stoß »Innere Medizin«, eine grüne Schwimmflosse, eine angerissene Packung Zigaretten und ein noch eingewickeltes Brot. Der Aschenbecher war gehäuft voll. Sie nahm ihn mechanisch, ging zum Ofen und leerte ihn hinein. Torsten sah ihr zu.

Karen trug an diesem Samstagnachmittag ein helles, enggeschnittenes Kleid, vorn durchgeknöpft. Es fiel am Hals zu einem breiten Kragen auseinander und zeigte den kräftigen, glatten, braunen Nacken. Unter dem Saum bewegten sich ihre schlanken, hochangesetzten Beine. Beine sind wichtig, pflegte Torsten zu sagen, Beine halten, was sie versprechen. Beinah wäre der Teufel diesen Beinen erlegen, aber doch nur beinah.

»Nein und nein und nein …«

»Du kannst aufhören«, sagte Karen und lachte ein wenig. »Ich hab’ es begriffen. Grüß deine Schwestern – und deine Mutter, und überhaupt – ja, deinen Vater auch.«

»Vielleicht auch Christian?« krächzte der Teufel.

»Ihn auch. Ihn vor allem. Ja, grüß Christian herzlich!« Karens Augen konnten glitzern, und das taten sie jetzt. Funken schossen heraus, als sie auf Torsten zuging, ihn bei den Schultern faßte – nicht packte, sie faßte vorsichtig und sehr weiblich zu, er nahm es genau wahr – und ihr Gesicht dem seinigen näherte.

»Christian ist ein reizender Junge, und ich bin toll verliebt in ihn.« Sie küßte Torsten auf die rechte Wange und dann auf die linke. »Toll – toll verliebt«, sagte sie dazwischen und funkelte ihn an. »Hörst du? Verstehst du? Toll verschossen.«

»Du bist eine Hexe«, stammelte Torsten. Diesmal war es nicht der Teufel, der dies sagte, sondern er selbst. Karen lachte.

Sie lachte noch, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, nicht zugeworfen, sondern vorsichtig ins Schloß gezogen. Trab trab trab – die Stufen hinunter. Dritter Stock – Karen lachte noch immer. Trab trab trab – zweiter Stock. Karen lachte. Im ersten Stock, dort, wo das »foto-studioanton-mueller« seine Anwesenheit anpries, setzte sie sich auf die Treppe, legte den rechten Arm gekrümmt auf die hochgezogenen Knie und die Stirn darauf. Sie weinte. So fand Herr Mueller sie, als er einen Kunden verabschiedend an die Tür brachte.

Erschrocken trat er näher und legte seinen Arm um Karens Schulter.

»Ist Ihnen nicht gut? Ist etwas passiert?«

»Nein. Natürlich ist nichts passiert«, sagte sie und hob das Gesicht. Es war naß von Tränen und lächelte.

»Kommen Sie rein«, sagte der Fotograf aufgeregt, »schnell! Ich möchte eine Aufnahme von Ihnen machen. Bitte, jetzt sofort. Nein nein, nicht erst vor den Spiegel, ich brauche ein Gesicht, ein Menschengesicht.«

»Sind die andern denn Affen?« fragte Karen und schluckte. Er schob an seinen Lampen, knipste an Schaltern und riß Vorhänge beiseite.

»Genau. Affen. Alles Affen. So, und nun bitte den Kopf ein wenig zurück. Ja. Noch weiter. Halt. Wunderbar. Wun-der-bar! Danke. Nein, nicht noch einmal. Nur diese Aufnahme – Danke. Fertig. Wunderbar.«

»Woher wissen Sie denn, daß sie wunderbar und nicht verwackelt oder falsch belichtet oder verzerrt ist?« fragte Karen und schnupfte.

»Ich weiß es eben«, erklärte er vergnügt. »Wir sind fertig. Danke schön.« Er trat zu seinem Schrank mit den sicher tausend schmalen Schubfächern, öffnete ein paar, schob sie wieder zu, setzte sich dann an seinen Tisch unterm Fenster. Karen beobachtete ihn belustigt.

»Und?« fragte sie dann.

»Wieso?« kam es zurück.

»Ich meine: Bekomm’ ich einen Abzug?«

»Einen Abzug? Wovon?« Sein Gesicht war dem ihren freundlich fragend entgegengehoben. Sie lachte.

»Na, von dem Bild –« Sie deutete auf den Apparat hinter sich. Der Fotograf sprang auf.

»Ach ja, Verzeihung, ich hatte ganz vergessen –. Natürlich, ja. Das heißt, wenn Sie möchten. Es nützt Ihnen selbstverständlich gar nichts. Es ist kein Paßbild.« Er sprach, als wäre der Abzug schon fertig.

»Ich hatte auch keins bestellt.« Sie lachte noch mehr. Die Funken tanzten in ihren Augen.

»Nein, nein.« Er schüttelte den Kopf. Sicher sah es hübsch aus, wie sie da stand und lachte. Aber es war kein Vergleich, wahrhaftig, kein Vergleich!

»Wissen Sie, ich mach’ noch ein paar andere Bilder von Ihnen«, sagte er väterlich-gütig und schob sie auf einen Stuhl, rückte routinemäßig an seinen Requisiten und visierte. Er war höchstens fünfundzwanzig Jahre alt und sicher seit vorgestern unrasiert, aber es störte nicht. »Ja, so! Lachen Sie ruhig weiter, Ihre Zähne sind bezaubernd.«

»Wieviel Abzüge möchten Sie?« fragte er etwas später, geschäftlich-liebenswürdig. Karen sah ihn an und schüttelte den Kopf. Dann nahm sie sich zusammen.

»Ich seh’ sie mir erst an«, sagte sie, vernünftig und sachlich. »Ich kaufe die Katze doch nicht im Sack. Wann kann ich wiederkommen?«

Sie verabredeten einen Tag. Da bin ich vielleicht schon fort, dachte sie, sagte es aber nicht. Er brachte sie zur Tür. Karen ging. Als sie aus dem Haus trat, hielt dort gerade der Bus, der zum Bahnhof fuhr. Karen sprang auf. Sie mußte ja den Zug nach Hamburg heraussuchen und sich erkundigen, wie man es am besten mit dem Gepäck hielt. Budenwechsel war mühselig und zeitraubend. Trotzdem lächelte Karen van der Beek und war guter Dinge. Das ging ihr immer so nach gefaßten Entschlüssen.

Sie freute sich auf Hamburg.

»Na? Gefällt es Ihnen hier?« fragte Barbara.

Er lachte. »Sehr. Kommen Sie, hier essen wir etwas.« Dr. Ring blickte sich in dem gemütlichen Lokal um. Barbara hatte den kleinen Waschbären auf dem Arm und sah in diesem Augenblick aus wie ein süditalienischer Gassenjunge, der bettelt – die Wange an das weiche Fell des kleinen Bären gelegt, die Augen bittend aufgeschlagen. Sie trug zur kurzärmeligen Bluse einen karierten Rock, der wie eine knappe Hose wirkte und die braunen Beine freiließ bis zu den roten, etwas abgetragenen Sandaletten hinunter.

»Ich muß aber –«

»Nach Hause fahre ich Sie dann«, versprach er rasch. »Natürlich, machen Sie sich keine Sorgen. Ich setze Sie doch nicht einfach auf die Landstraße.«

»Ich müßte aber längst –« Es war ziemlich spät geworden, er war nicht schnell gefahren. Wenn jemand sie vom Bus hatte abholen wollen, so mußte er schon ein ganzes Weilchen wieder daheim sein. Jemand? Hans Friedrich natürlich. Aber sie stand und konnte sich nicht entschließen, zum Telefon hinauszugehen. Jetzt gehe ich, dachte sie zum siebenundzwanzigstenmal und blieb stehen.

»Kommen Sie, setzen Sie sich doch.«

Sie gehorchte. Er nahm seine Brieftasche heraus und legte sie auf den Tisch. Sie war dick voller Fotos. Er zog den Stoß heraus.

»Das ist der Hengst, den wir dies Jahr A-gekört haben«, sagte er und schob ihr das Bild hin, »ein Tier, hervorragend im Gebäude und mit einem Temperament – ja, fünfjährig, also in bester Kondition. Er steht in Ludwigsburg.«

Der Ober kam, sie bestellten. Barbara hörte gar nicht hin, was. Sie nahm eins nach dem andern der Bilder auf, sah sie an, fragte. Dr. Ring antwortete. Das Essen kam und blieb stehen. Sie merkten es nicht. Bei manchem der Fotos verweilten sie minutenlang. Als der Ober Licht machte, sah Barbara mit einem Seufzer auf.

»Und da fahren Sie so in ganz Württemberg herum und sehen die Pferde an, und kören – und brennen die Fohlen …«

»Ja.« Er strich den Stoß Bilder zusammen und klopfte ihn auf dem Tisch zurecht, damit er wieder in die Brieftasche paßte. »Mein Gebiet ist ziemlich groß.«

»Allein?«

»Manchmal auch zu zweit. Mein Kollege ist aber beinbehindert, vom Kriege her, und oft krank, so daß ich eigentlich praktisch die ganze Sache auf mir liegen habe.«

»Hm.« Barbara stützte beide Ellbogen auf den Tisch und die Wangen in die Fäuste. Plötzlich stand sie auf, mit einem Ruck.

»Ich will mal anrufen, zu Hause.«

Er sah ihr nach, wie sie, den schlafenden kleinen Bären im Arm, durch das Lokal ging, das jetzt ziemlich besetzt war. Sie schien niemanden wahrzunehmen, ging wie im Traum. »Haben Sie gesagt, daß Sie nun gleich kommen?« fragte er, als sie zurückkam. Barbara schob den Stuhl mit dem Fuß zurecht und setzte sich dann, vorsichtig, um ihr Wikkelkind nicht zu wecken.

»Gegenteil. Ich hab’ gesagt, ich käme noch lange nicht«, sagte sie und sah ihn an. Er erwiderte ihren Blick. Eine ganze Weile sahen sie sich in die Augen, nachdenklich, ruhig, prüfend. »Inka, das ist meine Schwester, hat gesagt, die Schneiderin kommt heute abend. Ich soll anprobieren. Mein Brautkleid.«

»Und da müssen Sie natürlich …«

»Mein Verlobter ist da«, murmelte Barbara.

»Und?« fragte er.

»Und es gäbe eine große Überraschung, wir haben eine Erbschaft gemacht.«

»Was? Wer: wir?«

»Wir Geschwister. Und Vater ist fortgefahren –« Sie sagte das alles abwesend, wie eingelernt, mechanisch. »Mutter ist schon ein paar Wochen krank, wissen Sie.«

»Da müssen Sie also nun schleunigst fort«, sagte er und lächelte betrübt. Barbara sah ihn mit aufgerissenen Augen an.

»Nein, noch nicht«, sagte sie plötzlich laut. »Ich geh’ nicht. Ich denke nicht dran. Ich bleibe hier.«

Sie setzte sich wie zur Bestätigung auf den Stuhl, mit einem kleinen Wupp, einem kleinen nur, in Anbetracht des schlafenden Bärenkindes auf ihren Armen. »Ich bleibe hier, und nun erzählen Sie weiter –« Sie deutete mit dem Kinn nach der Brieftasche, die er eben hatte einstecken wollen.

Dr. Ring lachte. Dann atmete er hörbar tief durch, ganz tief, schnaufend, sein gutes, breites Gesicht zog sich noch mehr in die Breite. »Gern«, sagte er, »soviel Sie wollen. Übrigens hatten wir bis jetzt einen anderen Hengst, auch sehr schön, Glanzrappe, jetzt zwölfjährig, sehr gut in den Gängen. Einen Hengst soll man am dritten Lebenstage ansehen und dann nicht wieder. Was er an diesem Tag verspricht, das hält er.«

»Und Stuten?« fragte Barbara dringlich.

»Gute Stuten erkennt man erst später«, erklärte er, »freilich kann man von Vater und Mutter aus rückschließen. Wir haben hervorragende Zuchtstuten im Gebiet, also ich könnte Ihnen da zeigen – Material ist das! Und sie werden auch prämiiert. Wir müssen das Pferd halten, auf jeden Fall, mit jedem Mittel. Und wir werden es halten. Noch vor fünfzehn Jahren sah es aus, als würden unsere Kinder bald ein Pferd nur noch aus dem Bilderbuch oder dem Zoo kennen, heutzutage aber sind wir darüber längst hinweg. Die Pferde sind im Kommen, in der Stadt und auf dem Lande, die Pferde sind …«

»Wo hast du denn bis jetzt gesteckt?« fragte Inka, als Bulli hereinkam. Die erste Aufregung war vorüber, sie hatten Abendbrot gegessen, der Tisch stand noch unabgeräumt da. Sie saßen im Wohnzimmer am langen Fenster, Inka, Christian und Hans Friedrich. Draußen verdämmerte der Sommerabend.

Bulli war jetzt fünfzehn und bereits recht rund, Inka hatte das in der letzten Zeit mehrfach stirnrunzelnd festgestellt, ohne bisher etwas darüber gesagt zu haben; vorlauter als ihrem Alter zustand – das war wiederum Inkas Meinung –, in der Schule miserabel. Nun, das konnte sich noch ändern. Dabei von einem bedauerlichen Ungeschmack, sich anzuziehen – bei rundlichen Mädchen ist das sowieso schwieriger, schlanken steht alles – und einer naseweisen Art, die die Familie gleichzeitig amüsierte und ärgerte. Neuerdings fing sie an, nach Jungen zu schielen. Na, als ob das nicht noch Zeit hatte! Inka war bereit, hier einen festen Riegel vorzuschieben, uneingedenk dessen, daß sie selbst in diesem Alter schon mehr Flurschaden auf dem Gebiet der Liebe angerichtet hatte als Bulli es vermutlich im ganzen Leben tun würde. Egal, große Schwestern sind nun einmal streng. Bulli war also sozusagen noch gar nicht, sie würde erst werden.

»Wo hast du gesteckt?« fragte Inka streng.

»In euerm Haus«, sagte Bulli und setzte sich. Sie trug Shorts und ein kariertes Jungenhemd.

»In – wo warst du?« fragte Inka und schob die Augenbrauen zusammen.

»Na, in euerm neuen Haus«, antwortete Bulli lautstark und biß in das Quarkbrot, das sie sich soeben gestrichen hatte. »Es war verschlossen, aber ich bin eingestiegen. Rosalie ist nicht da, Onkel Clemens hat sie auf Urlaub geschickt, für sechs Wochen. Er hat es mir erzählt.«

»Wer ist denn Rosalie?« fragte Christian.

»Na, Onkel Clemens’ Betreuerin. Oder wie man das nennt. Dienstmädchen gibt’s ja nicht mehr, und sie ist auch keins. Sie hat ihn, glaub’ ich, fünfzehn Jahre lang versorgt – besser: unter ihrer Fuchtel gehabt. Aber ihr braucht nichts Schlimmes zu denken, sie ist alt, klein und krumm, und sieht aus wie eine getrocknete Feige, braun und runzlig.«

»Du kennst sie?« fragte Inka verwundert. Christian stieß die jüngste Schwester ein wenig an.

»Los, erzähl. Nicht von Rosalie, aber vom Haus. Wie groß ist es?«

»Unten Küche und zwei Zimmer, oben drei. Unterm Dach noch eins. Heizung natürlich nicht, es stammt – ich weiß nicht, wie alt es ist. Wohl aus Onkels Jugendzeit. Aber der war ja nie jung –« Bulli lachte. Der Quark klebte rechts und links auf ihren Backen.

»Iß manierlich«, sagte Inka indigniert. »Natürlich war er mal jung, jeder war mal. Also Öfen. Ich ziehe dann in die beiden unteren Zimmer, in das eine kommt mein Ofen, ich meine, mein Brenn-Ofen –«

»Und wir sollen rauf? Unters Dach vielleicht? Ich bin beinverletzt, ich kann keine Treppen steigen«, sagte Christian sofort. Inka sah ihn von der Seite an.

»Faul bist du.«

»Also, das wollen wir doch gleich mal richtigstellen. Treppensteigen ist was für Mädchen, es macht schlanke Waden.«

»Findest du etwa, daß meine dick sind?« fragte Inka empört.

Christian grinste breit.

»Hab’ ich das gesagt?«

»Und überhaupt …«

»Sieh das doch ein! Ihr Schwestern könnt oben wohnen – wenn jemand einbricht, dann bricht er unten ein. Da habt ihr mich gleich als männlichen Schutz. Ich muß ja überall den Hausdiener spielen, warum nicht auch dort.« Es klang leidend ergeben. Inka lächelte höhnisch.

»Du und Hausdiener. Wenn du heizen müßtest …«

»Ich heize meine eigene Etage und damit fertig.«

»Ach so, die ganze Etage willst du haben – und außerdem denkst du wahrscheinlich, die untere sei sturmfrei? Mein Lieber, du bist noch lange nicht mündig!«

»Und du nicht mein Vormund!«

»Nein. Aber solange Mutter krank ist –«

Einzig Hans Friedrichs Gegenwart verhinderte den Ausbruch von Tätlichkeiten, wie sie eigentlich seit einiger Zeit unter den Geschwistern nicht mehr vorkamen. Christian hatte eine gar zu aufreizende und unverschämte Art für sein Alter, fand Inka, und Inka einen Gouvernantenton, den man sich nicht gefallen lassen konnte, fand Christian.

»Also, nun sag du mal, Hans Friedrich«, wandte Inka sich jetzt, wildwütig und in der rasend schnellen Sprechtechnik, die ihr eigen war, wenn sie in Feuer kam, an den zukünftigen Schwager, der stumm und ein wenig geniert dagesessen und nichts gesagt hatte. »Wir Frauen sollen raufziehen und alle Tage Treppen steigen, vor allem ich mit meinen Lehmklumpen und dem allen, und Christian will es sich unten bequem machen und die Küche benützen – wie ein Ochsenfrosch –«

»Benützen Ochsenfrösche Küchen?« fragte Christian, sein Gesicht noch breiter auseinanderziehend. Inka sprang auf ihn los, aber er wich im Sitzen so gewandt und mit einer so geringen Bewegung aus, daß die Backpfeife in die Luft sauste und Bulli bewundernd Beifall klatschte.

»Wie ein Torero!« rief sie, und dann, mit der gemütlichen Sachlichkeit, die ihr mitunter eigen war, entspannte sie die Atmosphäre mit den Worten:

»Überhaupt, die Küche behält, glaub’ ich, Rosalie. Jedenfalls den Nutznieß oder wie das heißt. Komisches Wort, ich muß dabei immer an Erkältung denken.«

»Die Nutznießung der Küche?« Inka stand vor Christian und sah Bulli an. Ihre Hand sank langsam herunter.

»Weißt du das genau?«

»Genau nicht, aber Onkel Clemens hat sowas gesagt. Rosalie darf bis an ihr Lebensende drin wohnen, sie behält ihr Zimmer und darf die Küche mitbenützen. Und eine Leibrente kriegt sie. Heißt das so? Und ihr müßt sie halten wie einen alten Dackel, der das Gnadenbrot bekommt.«

»Wir haben ja nichts gegen sie«, murmelte Christian, als habe er schon etwas Abfälliges gesagt und bereue es jetzt.

»Alter Dackel ist gut«, sagte Inka, »sagtest du nicht, sie hat krumme Beine? Oder ist sonst krumm?«

»Man soll nicht –«

»Über körperliche Gebrechen seiner Mitmenschen spotten, ich weiß.« Das war ein Satz von Vater. »Tun wir ja gar nicht. Also, sie kriegt die Leibrente, wenn sie auch dürr ist. Von Leib keine Spur. Mag sie die Küche also haben. Ich bau’ mir dann eine Kochnische ein.«

Es klopfte.

»Herein?« sagte Bulli verwundert. Um diese Zeit kam doch kein Patient mehr, oder?

»Ach, Sie sind es«, rief Inka und sprang auf, »nein, wie reizend, uns zu besuchen, Frau von Sydow!« Sie fegte die abgegessenen Teller geschickt zur Seite und hatte sie schon auf dem unteren Brett der »Freßdroschke«, wie Christian den Teewagen nannte, unsichtbar gemacht. »Bitte nehmen Sie doch Platz! Wir freuen uns! Mutter ist leider krank.«

»Danke.« Die Dame setzte sich. Sie war wirklich eine Dame, Witwe eines Offiziers, groß, pompös, mit hochgesteckter Frisur. In ihrer Gegenwart konnte man nicht anders als sich hervorragend benehmen. Jeder fühlte das. »Ich bin soweit. Wir können anprobieren.«

Anprobieren! Inka wurde heiß.

»Barbara ist noch nicht da, sie hatte Pech, wie war das mit dem Zug, Christian?« fragte sie den Bruder. Der hatte vorhin das Gespräch entgegengenommen.

»Sie läßt Sie sehr, sehr schön grüßen«, sagte er und richtete sich von dem Handkuß auf, den er soeben vollendet angebracht hatte. Inka staunte, giftete sich aber auch – ihr gegenüber war er noch immer der alte Lümmel, keine Spur von guten Formen. »Und es tut ihr entsetzlich leid, aber durch eine – eine Neuerwerbung in ihrer Firma –«

Inka stieß ihn unauffällig, aber schmerzhaft mit dem Fuß ins Schienbein. Daß Barbara im Zoo arbeitete – ›Affenkäfige scheuerte‹, sagten Übelwollende –, hatte man mit Rücksicht auf die Kleinstadt und Vaters Stellung darin bisher möglichst verschwiegen.

»In welcher ist sie denn tätig?« fragte Frau von Sydow. »Bei – bei – Tiermann heißt die Firma. Ja, genauer: von Thiermann«, sagte Christian schnell, und man hörte das h hinter dem T sehr deutlich. Er konnte so etwas. »Vielleicht ist sie Ihnen bekannt? Ich könnte mir das sehr gut vorstellen.«

»Welche Branche ist denn das?« fragte Frau von Sydow. »Thiermann – Thiermann – im Augenblick weiß ich nicht …«

»Ex- und Import von Persern – von Persianern«, verbesserte sich Christian.

Inka schob ihn beiseite. »Barbaras Chef war diese Woche krank und mußte am Samstag einiges an Post nachholen, nachdiktieren. Es ist natürlich sehr schade, daß sie nun nicht anprobieren kann. Wäre es möglich –«

»Mir ist es nur heute möglich«, sagte Frau von Sydow ruhig. Sie schneiderte nur, weil es ihr Freude machte, so gab sie an. Es war eine Gnade und eine Gunst, wenn sie einen Auftrag annahm. Das übrigens stimmte, keine Schneiderin im Ort hatte Zeit gehabt, Barbaras Brautkleid zu nähen, sie waren von einer zur andern gepilgert.

»Dann probiert Bulli für Barbara«, sagte Inka schnell. So sehr sie sich auch oft, ja täglich, über die Schwestern ärgerte, wenn es nötig war, stand eine für die andre.

Dr. Frobenius schluckte einmal kurz, richtete sich dann auf und hob ein wenig das Kinn, ehe er den Finger auf den Klingelknopf drückte. Er hatte seine Schwägerin ein paar Jahre lang nicht gesehen. Im Grunde wußte er, daß das nichts ausmachte, immerhin, man wurde ja mit jedem Jahr vernünftiger, so stand zu hoffen. Oder sollte es doch werden.

Der Öffner surrte. Er drückte gegen die Tür und nahm die Treppen schneller als sonst. Über sich im Flur erblickte er Corinna. Sie beugte sich über das Geländer und winkte ihm zu. Als er oben war, hakte sie ihn unter und zog ihn in ihre Wohnung. Erst als sie einander gegenübersaßen, auf dem Balkon, unter dem das sommerabendliche Nürnberg mit verschlafenen Goldaugen blinzelte, wagte er, sie anzusehen.

Das erste, was ihm auffiel, war die jetzt stärker hervortretende Ähnlichkeit mit seiner Frau. Corinna war etwa zehn Jahre jünger als Marlene. Ihre Augen waren heller, ›gletscherfarben‹, hatte einmal jemand gesagt, Marlenes dagegen einfach blau, hell, aber deutlich blau. Corinnas wechselten von hellem Grün in weißliches Blau; sie waren noch die gleichen. Auch das Haar. Vielleicht hielt sie es jetzt künstlich so, wie es einmal von Natur aus gewesen war: hartblond, metallisch schimmernd, an manchen Stellen ins Weißliche spielend.