Hölle und Fegefeuer -  - E-Book

Hölle und Fegefeuer E-Book

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Beschreibung

Heft 2/2019 widmet sich dem Thema Hölle und Fegefeuer, das heute bei den meisten Menschen unweigerlich Bilder der Angst und des Schreckens hervorruft. Das war jedoch nicht immer so. Im Gegenteil – ursprünglich verband man die Ideen von Hölle und Fegefeuer durchaus mit dem Aspekt von Trost und Hoffnung.

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Liebe Leserin, lieber Leser!

Ewig lodernde Feuer, schmerzverzerrte Antlitze, schier nie enden wollende Qualen … Das sind vielfach die Assoziationen, die Menschen haben, wenn sie an Hölle oder Fegefeuer denken. Vor ihrem inneren Auge erscheinen Orte der Angst und des Schreckens, an denen der strafende Richtergott die Seelen leiden lässt. So verstanden ist das Fegefeuer, ist die Hölle jedoch „eine von außen auferlegte Strafe, die dem, was geschehen ist, äußerlich bleibt“1. Diese Sichtweise spiegelt das eigentliche christliche Verständnis von Hölle oder Fegefeuer jedoch nicht. Hölle und Fegefeuer waren nie nur äußerlich, sondern bezogen sich immer auch auf das Innere des Menschen. Als Medien der Erziehung wollten sie zur Buße hinführen und damit zu einem guten christlichen Leben anleiten. Überdies boten sie Trost und Hoffnung, insofern nach dem Tod denjenigen, die in dieser Welt Unrecht und Leid erfahren hatten, Gerechtigkeit widerfahren werde, ja einem selbst angesichts eigener Fehler Barmherzigkeit zuteilwerde, so dass Versöhnung noch möglich wird. Wenn aber Hölle und Fegefeuer diese Konnotationen haben, warum ist es in den letzten Jahren und Jahrzehnten in der Pastoral so still um sie geworden? Seit den 1950er-Jahren sind diese Themen aus den Predigten genauso verschwunden wie sie beispielsweise auch in der Sterbebegleitung keinen Platz mehr haben, und das, obwohl die Menschen ein (un-)ausgesprochenes Bedürfnis nach Antworten haben. Im Genre Film und Literatur nämlich boomt das Thema.

Vor diesem Hintergrund erläutern die ersten drei Autoren die verschiedenen aktuell in der Theologie vertretenen Vorstellungen von Hölle und Fegefeuer. Der Freiburger Soziologe und Theologe Michael N. Ebertz macht deutlich, dass sich im Laufe der (katholischen) Christentumsgeschichte zwei kontradiktorische Modelle entwickelt haben: ein „Exklusionsmodell“, nach dem Teile der Menschheit am Ende der Zeiten in der Hölle und damit Gottferne verharren werden, und ein „Inklusionsmodell“, das eine Allversöhnung im Endgericht vorsieht. Aus beiden leiten sich die heute diskutierten Modelle ab, wobei das Inklusionsmodell – ausdifferenziert in vier Varianten – von den meisten Theolog/inn/en eindeutig favorisiert wird. Eine dieser Varianten erläutert der Freiburger Fundamentaltheologe Magnus Striet, der angesichts des Leids in der Welt dafür votiert, dass sehr wohl eine Hölle als Ort der Vergeltung angenommen werden muss. Zugleich darf auf eine so starke Liebe Gottes gehofft werden, die es den Opfern schlussendlich ermöglicht, den Tätern zu vergeben (Allversöhnung), was eine Hölle obsolet werden lässt. Ganz ähnlich argumentiert Markus Mühling, Systematischer Theologe an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, aus evangelischer Sicht. Er macht nach der Erläuterung aller bisher in der protestantischen Theologie gescheiterten Konzepte klar, dass Gericht als ein Prozess der Versöhnung sowohl im Hier und Jetzt als auch nach dem Tod verstanden werden muss, der als „Transformations- und Konstitutionsprozess“ der/des Einzelnen geschieht, ohne dabei die negativen Elemente des Lebens zu negieren.

Die folgenden Beiträge gehen der Entwicklung der Vorstellung von Hölle und Fegefeuer in der Christentumsgeschichte nach. Der Bamberger Alttestamentler Klaus Bieberstein erläutert den Umgang mit dem Tod bzw. den Toten im Alten Testament und verdeutlicht, wie sich erst mit der Ausbildung der Idee der Auferweckung der Toten eine Vorstellung eines Strafortes, einer Hölle entwickelte. Christoph Niemand, Neutestamentler in Linz, zeigt anhand von ausgewählten „Höllenpredigten“ in den Evangelien, wie diese die/den einzelne/n Christ/in ausschließlich zur Buße und damit zum ständigen Überdenken des eigenen Lebens als gutes christliches Leben anhalten sollen. Der Regensburger Altkirchenhistoriker Andreas Merkt und die Linzer Kirchenhistorikern Ines Weber knüpfen direkt an diese Linie an. Andreas Merkt führt vor Augen, wie sich in der Alten Kirche die Idee des Fegefeuers als Ort einer noch möglichen Rettung, aber auch als pädagogische Mahnung und damit als Anleitung zu einem guten christlichen Leben entwickelt hat. Ines Weber bestätigt diese Befunde für das gesamte Mittelalter und die Neuzeit. Sie macht deutlich, dass überhaupt erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Hölle zur Drohbotschaft wird, um in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Plausibilität zu verlieren und völlig aus der Pastoral zu verschwinden. Mit diesen Befunden sowie mit dem Beitrag von Theresia Heimerl, Religionswissenschaftlerin in Graz, schließt sich der Kreis zum eingangs Erläuterten. Sie zeigt, wie sehr das Motiv der Hölle über das Medium Film als realer Ort im heutigen Leben oder als innerer Ort im einzelnen Menschen nach wie vor präsent ist und so seine Aufarbeitung findet.

Das Heft schließt mit zwei Beiträgen zum Amt in der Kirche, die aus dem Studientag „Das Amt weiter-denken“, der im November 2018 im Bildungshaus Schloss Puchberg bei Wels stattgefunden hat, hervorgegangen sind. Johanna Rahner, Tübingen, plädiert aus dogmatischer Perspektive genauso wie Sabine Demel, Regensburg, aus kirchenrechtlicher Sicht für eine Revision des Amts, gerade auch, wenn es um die Fragen von Frauen in kirchlichen Ämtern geht.

Geschätzte Leserinnen und Leser!

„Religionen können menschliche Ängste bis ins Unermessliche steigern, sie können aber auch von Ängsten befreien und sie bewältigen helfen“, so schreibt Ottmar Fuchs, emeritierter Pastoraltheologie in Tübingen, in seinem Buch „Wer’s glaubt wird selig … Wer’s nicht glaubt, kommt auch in den Himmel“2. Dieser Impetus – Befreiung von Ängsten und Hoffnung auf Versöhnung sowie Anleitung zu einem gelingenden Leben – ist der christlichen Botschaft von Hölle und Fegefeuer immanent. Dessen aber sind wir nicht mehr immer gewahr. Theologinnen und Theologen sollten sich deshalb, da sind sich unsere Autor/innen einig, der Thematik neu stellen, um sie für die aktuell vorfindlichen kulturellen Zusammenhänge fruchtbringend zur Sprache zu bringen und damit in die Pastoral neu zu übersetzen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine erhellende Lektüre!

Ihre

Ines Weber (Chefredakteurin)

1Ottmar Fuchs, Das Jüngste Gericht. Hoffnung über den Tod hinaus, Regensburg 2018, 45 f.

2Ders., Wer’s glaubt, wird selig … Wer’s nicht glaubt, kommt auch in den Himmel, Würzburg 2012, 9.

Michael N. Ebertz

Der Kampf um Hölle und Fegefeuer

Ein soziologischer Blick

♦ Dass die Rede von Hölle und Fegefeuer auch soziologisch aufschlussreich gelesen und verstanden werden kann, zeigt Michael Ebertz in diesem Beitrag. Dabei werden in einer zweigleisigen Vorgehensweise theologische Motive mit soziologischen Motiven in Verbindung gebracht. So spielt etwa die Dynamik von Inklusion und Exklusion eine zentrale Rolle für bestimmte Jenseitsvorstellungen und das Fegefeuer kann als Innovation der Theologieentwicklung verstanden werden. Gezeigt wird auch, dass sich verändernde irdische Gewalterfahrungen (und umgekehrt: die Ächtung der Gewalt in modernen Gesellschaften) die Wahrnehmung und Darstellung der „Höllenpein“ in der Theologie beeinflussen. (Redaktion)

Wie auch immer die Nachtodregionen in einigen Religionen modelliert werden, sie haben „häufig eine erkennbare historische Entwicklungs- oder Tiefendimension und können daher für die Beobachterperspektive ‚von außen‘ sowohl Kongruenzen als auch deutliche Spannungen aufweisen oder Widersprüchliches enthalten“1. Die soziologische Perspektive wird solche Spannungen auch im Feld einer Religion wie der christlichen interpretieren und als Kämpfe unterschiedlicher Statusgruppen „um das Monopol der legitimen Verfügung über die Heilsgüter“2 und Heilswahrheiten lesen, zumal es auch nicht-religiöse Antworten auf die Frage nach Leben und Tod geben kann und den sich wandelnden religiösen Bedürfnissen der ‚Massen‘ Rechnung zu tragen ist, um die religiösen Autoritäten zu stabilisieren: „Die Durchsetzung der großen Religionen war das Endergebnis langer Kämpfe. Jede führende Gruppe begegnete dem Widerstand einer oder verschiedener anderer Statusgruppen, die ebenfalls materielle oder ideelle Interessen verfolgten […]“3. Wissenssoziologisch ist dabei zu vermuten, dass mit der massenförmigen Ausbreitung einer Religion überkommene Exklusionsformeln von Heilswahrheiten durch Inklusionsformeln ausbalanciert werden, die den gewandelten gesellschaftlichen Plausibilitätsstrukturen Rechnung tragen müssen, um in der Zeit bestehen zu können.

1 Inklusion – Exklusion

Tatsächlich dreht sich während der gesamten Christentumsgeschichte eine der spannungsvollsten Arbeiten im religiösen Feld um die Frage der postmortalen Inklusion und Exklusion. Dabei geht es auch um die Gewichtung der beiden Gottesattribute, der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit. Bereits Origenes (gest. ca. 253) hatte die dilemmatische Frage damit beantwortet, dass er die Vorstellung von der ewigen Hölle in ein vorübergehendes – wohlgemerkt metaphorisches – Fegefeuer auflöste und damit eine postmortale Resozialisationsstrafe und somit ein Inklusionsmodell für alle Geschöpfe favorisierte. Eine endzeitliche Beseitigung alles Bösen und die vollkommene Wiederherstellung der Schöpfung, auch des Teufels und seiner Engel, sei zu erwarten. Diese Lehre von der Apokatastasis pantón (Allerlösung; Wiederherstellung; vgl. Apg 3,21; 1 Kor 15,25), dass also die Rettung von Gott allein kommt und dem gesamten Kosmos gilt, wurde durch Augustinus (gest. 430) heftig bekämpft und sollte schließlich auf dem 5. Ökumenischen Konzil von Konstantinopel, also dreihundert Jahre nach dem Tod ihres Urhebers, in 15 Canones „contra Origenem sive Origenistas“ ausdrücklich verdammt werden. Gegen das eschatologische Inklusionsmodell setzte Augustinus4 und die ihm nachfolgende Theologie ein eschatologisches Exklusionsmodell, das bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts das kirchenoffiziell gewordene eschatologische Format des westlichen Christentums prägte. Augustinus wird damit zum „großen Töter der Hoffnung“5, indem er jeder „Hoffnung auf Allerlösung jede Grundlage entzog“6, aber damit für die ‚Pastoralmacht‘ (Michel Foucault) der klerikalen Statusgruppen die Grundlagen legte.

2 Innovation Fegefeuer

Diese Macht über die Seelen im Hinblick auf ihr jenseitiges Heil konnte seit der frühchristlichen Innovation des Purgatoriums erheblich gesteigert werden. Denn nicht ‚Himmel und Hölle‘, sondern ‚Himmel, Hölle, Fegefeuer‘ zählen seitdem zum Kernbestand der eschatologischen Vorstellungswelt, die für die römisch-katholische Tradition spezifisch, zur Profilierung des für sie typischen „sakramentalen Religionstypus“7 funktional geworden und dementsprechend auch dogmatisch fixiert worden ist. Spekulativ vorbereitet durch einflussreiche Theologen der Alten Kirche, forciert durch Papst Gregor d. Gr. und auch aus der kirchlichen Frömmigkeitspraxis (Gebete und ‚Seelenmessen‘) heraus entwickelt, war schließlich die Lehre vom Fegefeuer oder ‚Reinigungsort‘ (‚Purgatorium‘) fest in den alten, auch biblisch und außerbiblisch überlieferten Jenseitsdualismus aus ‚Himmel und Hölle‘ hereingezogen und sodann – unter Einfluss der hochmittelalterlichen Scholastik – nach einem Brief des Papstes Innozenz IV. (1254), anlässlich des 2. Konzils von Lyon (1274) sowie auf dem Konzil von Florenz (1439), und zwar gegen die griechische Teiltradition des Christentums zum Glaubensartikel offizialisiert worden. Diese theologische Innovation zielte darauf ab, das diesseits unvollendet gebliebene persönliche Bußgeschehen durch Reinigung im postmortalen Jenseits, abkürzbar über Messopfer, Gebete, Almosen und andere Werke der Frömmigkeit der noch lebenden Gläubigen, zum Abschluss bringen zu können, d. h. auch einer großen Zahl von Sündern – nicht den qua ungebeichteter Todsünde Verdammten – einen ‚Umweg‘ zur himmlischen Seligkeit und somit Heilsgewissheit, zumindest -hoffnung zu erschließen. Dogmatisch bestätigt wurde diese eschatologische Vorstellung schließlich auf dem Konzil von Trient, das auf seiner letzten Sitzung (3.12.1563) im „Decretum de purgatorio“ nun auch gegen die Vertreter der Reformation befahl, „dass von den Glaeubigen Christi die gesunde, von den heiligen Vaetern und heiligen Concilien überlieferte Lehre vom Fegfeuer geglaubt, beybehalten, gelehrt und ueberall geprediget werde“. Denn auch Calvin verwarf die Fegefeuer-Vorstellungen wie Luther („Gauckelwerk“), der das Thema im Kontext der Seelenmessen und der Ablasstheorie behandelt, wegen der fehlenden biblischen Begründung, jener aber auch und vor allem im Zusammenhang mit seiner Prädestinationslehre, dieser aufgrund der Rechtfertigungslehre.

„Diese Behausungen ‹receptacula› sind jedoch nicht alle ein und derselben Art. Es gibt nämlich einen furchtbar grausenhaften und finstern Kerker, wo in ewigem und unauslöschlichem Feuer die Seelen der Verdammten zugleich mit den unreinen Geistern gequält werden, welcher auch Gehenna, der Abgrund, und in eigentlicher Bedeutung die Hölle genannt wird. Außerdem gibt es ein Reinigungsfeuer ‹purgatorius ignis›, durch welches die Seelen der Frommen eine bestimmte Zeitlang gepeinigt und dadurch geläutert werden ‹cruciatae expiantur›, auf dass ihnen der Eingang in das ewige Vaterland geöffnet werden kann, in welches nichts Beflecktes eingeht.“8 So formulierte vor 450 Jahren der Vorläufer unseres heutigen Weltkatechismus: der hochgradig autorisierte und normierende Catechismus Romanus. Vom Tridentinum angeregt, erschien er unter Papst Pius V. als pastorale Richtlinie für den Pfarrer („ad Parochum“). Er galt „weithin als Äußerung des ordentlichen Lehramts“, war „in der ganzen Kirche gehört und benützt“9 worden und blieb „bis in das 20. Jahrhundert der offizielle Katechismus“ der römisch-katholischen Kirche.10 Er gab für die Seelsorge- und Predigtpraxis eine Antwort auf die Katechismusfrage, „wie viele Orte (!) es gebe, in welchen die der Seligkeit nicht theilhaftig gewordenen Seelen nach dem Tode aufbehalten werden“ („Quot sint loca, quibus animae extra beatitudinem constitutae, post mortem detinentur“).. Und von dieser Antwort, „von der Wahrheit dieser Lehre, welche, wie die heiligen Concilien es aussprechen, sowohl durch die Zeugnisse der Schrift als durch die apostolische Ueberlieferung bestätigt ist, soll der Pfarrer um so sorgfältiger und öfter reden, weil wir in solche Zeiten gerathen sind, in denen die Menschen die gesunde Lehre nicht aufnehmen wollen“, heißt es an gleicher Stelle weiter.

3 Das Jenseits im Diesseits

Ohne eindeutigen biblischen Beleg (vgl. 2 Makk 12,45; 1 Kor 3,15) und abgelehnt von den Ostkirchen sowie von den Kirchen der Reformation, deren Theologen im 17. und 18. Jh. in materialreichen Arbeiten die Ablehnung des Fegefeuers mit dem späten Aufkommen dieser Lehre begründeten, avancierte dieser eschatologische Trialismus in der Folgezeit zusammen mit der Marien- und Heiligenverehrung, dem Buß- und Ablass-, dem Prozessions- und Wallfahrtswesen zu einem zentralen konfessionellen Identitäts- und Unterscheidungszeichen und bestimmte – neben der Kontroverstheologie – erheblich die Frömmigkeitspraxis (z. B. Eucharistiefrömmigkeit, Armeseelen-, Marien-, Heiligenkult und die Frömmigkeit u. a. bezüglich der Werke der Barmherzigkeit) der katholischen Länder Europas im Barock, ja die kleinbürgerliche Massenreligiosität bis ins 20. Jahrhundert hinein, aller Aufklärungskritik zum Trotz.

Damit hebt innerhalb der theoretischen und praktischen katholischen Eschatologie verstärkt eine dialektische Entwicklung an, sich von der augustinischen Exklusionstheologie, wonach nur eine Minderheit des Heils teilhaftig werde, abzulösen. Dieser relativ heilsoptimistisch getönte „Übergang von einem Gott des Zornes und der Plagen zu einem Gott der Liebe“, den H. D. Kittsteiner als „eine der größten kulturhistorisch wichtigen Verschiebungen in der Entwicklung des europäischen Denkens“ einschätzt,11 kam auch in Predigten und Katechismen der frühen und späten Neuzeit zur Entfaltung. Bereits die katholische Kontroverstheologie blieb bezüglich der dunklen Seite der Eschatologie ziemlich vorsichtig und zurückhaltend, abgeschwächt und gedämpft wurde das Droh- und Strafpotenzial der Hölle. Der Jesuit Francisco de Suárez (1548 –1619) soll der erste katholische Theologe sein, der die Position vertrat, dass die Mehrzahl der erwachsenen Katholiken des jenseitigen Heils teilhaftig werde. Die „Hoffnung, alle Katholiken würden einmal den Himmel bevölkern, trägt zum Wiedererstarken der Kirche nach den Verlusten der Reformation bei“12. Ein anderer Jesuit, Petrus Canisius (1521–1597), der von Köln bis Wien im Auftrag der katholischen Reform tätig war und die bis ins 19. Jh. hinein in Deutschland und Frankreich einflussreichste Serie von Katechismen geschrieben hatte, sollte mit Maria, der Mutter der Barmherzigkeit, allen Nachdruck auf die göttliche Güte im eschatologischen Gericht legen. Auch die in Italien vorherrschenden Katechismen des Jesuiten Robert Bellarmins (1542 –1621), welche „die Fegfeuerlehre unmäßig ausgebaut“ und „die Ablasslehre breit entfaltet“ haben, suchten „ein sieghaftes Erlösungsbewusstsein und ein unbeirrbares Frohgefühl katholischen Lebensgefühls“ zu vermitteln.13 So konnte auch gezeigt werden, dass in den nachtridentinischen katholischen Katechismen bis ins 18. Jh. hinein „die umfassende Weite der Eschatologie […] einer stark eudämonistisch geprägten und auf den Einzelnen zugeschnittenen Heilsverkündigung gewichen ist […] Das Interesse am Schicksal des Einzelnen beherrscht das Ganze“: Ernst genommen werde die Eschatologie „nur auf das jeweils private Heil hin […] Die Gemeinde, die Gesamtheit der Christen und erst recht das Schicksal der Menschheit interessieren viel weniger als der Einzelne.“14

4 Weichenstellungen

Mit der Offizialisierung der Fegefeuer-Lehre, an die „jeder gute römische Katholik zum Wohl seiner Priester glauben muss“, wie d’Holbach 1768 höhnte,15 wurde einerseits bereits eine Weichenstellung vorgenommen, die, verknüpft mit der Ohrenbeichte, den Weg zu einer ‚Entwirklichung‘ der Hölle bzw. zu einem inklusionistischen Himmel für tendenziell alle bahnt, ohne mit dem – auch von protestantischer Seite festgehaltenen – Dogma von der Ewigkeit der Hölle und seiner Gewaltsymbolik brechen zu müssen. Der spannungsvolle – tröstende wie furchterregende – Glaube an das Fegefeuer stärkte nicht nur die „Pastoralmacht“ klerikaler Statusgruppen und das Erlösungsinteresse der Laien, sondern hatte erhebliche – diesseitige – Handlungs-, Struktur- und Kulturfolgen. Er trug zur eschatologischen Solidaritätsgemeinschaft zwischen den Lebenden und den Toten (z. B. durch Bruderschaften, Stiftungen und Testate), aber auch zu einer wachsenden Disziplinierung und Individualisierung bei, steigerte doch die Verkündigung des Fegefeuers über die „Dauerkatechetisierung des Kirchenvolks“ (Wolfgang Brückner) das Interesse am religiösen Schicksal des Einzelnen. Der kirchlich vermittelten Sorge um die Toten korrespondierte die wachsende (Heils-)Sorge um sich selbst. Die Geschichte des Stiftungswesens kann ohne den Glauben an das Fegefeuer nicht verstanden werden. Indem der Stifter testamentarisch sein Erbe für einen guten Zweck (z. B. Armenspeisung) zukommen lässt und die Stiftungsadressaten zur Fürbitte als Gegenleistung für den Stifter verpflichtet, sorgt er für sich wie für andere, schöpft und tauscht er ökonomisches, religiöses und soziales Kapital.

Doch wird der Niedergang dieses heiligen Tauschs wie andere Maßnahmen der Sicherung des Seelenheils in den testamentarischen Verfügungen in einigen europäischen Regionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts deutlich fassbar. Auch die Zahl der Fegefeuer-Gemälde in Kirchen, Kapellen und Beinhäusern, die seit dem 15. und 16. Jahrhundert stetig zunahmen, erreichen im 18. Jh. ihren Höhepunkt, während ein „für das andächtige Weibervolk“ konzipiertes Gebetbuch des Kapuzinerpaters Martin von Cochem („Guldener Himmelsschlüssel zur Erlösung der lieben Seelen des Fegfeuers“, 1690 ff.) im 18. und 19. Jh. über 300 Auflagen erlebt. Es waren somit bereits Zeiten angebrochen, in denen auch Katholiken, zumal des Bildungsbürgertums, „die gesunde Lehre nicht mehr aufnehmen wollen“. Wie die Angehörigen des aufgeklärten Bürgertums in der wachsenden Sicherheit des Blitzableiters das Gewitter als himmlisches Feuerwerk bestaunen konnten, so haben sie auch die Höllenpredigten immer mehr als irdisches Schauspiel ästhetisch genossen.

Noch in den 1950er-Jahren konnte man in Deutschland nicht nur über die eine oder andere Höllenpredigt staunen, sondern auch über einschlägige Abschnitte der „Katholischen Dogmatik“ von Michael Schmaus16: „Man kann gegen die Ewigkeit der Höllenstrafen nicht einwenden, sie sei sinnlos, weil sie den Bestraften nicht mehr zu bessern vermag“, um an gleicher Stelle antiorigenistisch fortzufahren: „Der Sinn der Hölle ist nicht die Besserung, die Erziehung des Menschen, sondern die Verherrlichung Gottes, des Heiligen, des Barmherzigen, des Wahrhaftigen und Gerechten.“ „Gott verurteilt zu Peinen und Qualen“, so Schmaus weiter, „damit so die Übertretung des Sittengesetzes gerächt werde. Diese Strafen sind nicht einfach die Auswirkung der Sünde, sie kommen vielmehr infolge des unergründlichen göttlichen Gerechtigkeitswillens von außen her hinzu. Gott wirkt […] auf den Verdammten nicht unmittelbar ein, sondern benützt hierbei geschaffene Dinge als seine Werkzeuge.“ Zu diesen „zerstörenden Kräften der gegen ihn aufgebotenen Schöpfung“, zu den „geschöpflichen Medien, die Gott für die Bestrafung des Sünders verwendet“, sei „das Feuer“ als „ein wirkliches Feuer“ zu rechnen: „Wegen der Schmerzen, die es bereitet, ist es […] Sinnbild und Werkzeug seines Zornes und seines Gerichtes, seiner Strafen und seiner Prüfungen.“

5 Ausschweigen und ‚himmeln‘

Auch ‚wir‘ sind offensichtlich in Zeiten geraten, in denen immer weniger die überkommenen christlichen Jenseitsvorstellungen rezipiert werden,17 und Höllenpredigten lassen sich ebensowenig mehr genießen wie Predigten über das Purgatorium. ‚Der Pfarrer‘ schweigt inzwischen, nachdem er noch bis in die 1950er-Jahre hinein dem Auftrag des Catechismus Romanus Folge leistete.18 Dieses Unterlassen erinnert an eine Szene aus einer frühen Kurzgeschichte („Taubenfedern“) des vor zehn Jahren verstorbenen John Up­dike,19 in der ein Junge, David, auf die Frage nach dem Jenseits von einem Geistlichen die Antwort erhielt: „David, vielleicht könntest du dir den Himmel ungefähr so vorstellen, wie die guten Taten Abraham Lincolns nach seinem Tod weiterleben.“ Unzufrieden und wütend über diese Antwort entgegnet David gegenüber seiner Mutter: „Genauso gut hätte er sagen können, es gibt überhaupt keinen Himmel.“ Die findet nicht, „dass es dasselbe ist“, und fragt, wie sich David denn die Beschaffenheit des Himmels wünsche. Ihr Sohn antwortet: „Das weiß ich nicht. Ich will, dass er irgend etwas ist. Und ich habe gedacht, Reverend Dobson würde mir sagen, was er ist. Ich habe gedacht, das sei sein Beruf.“ Während allerdings Updike den amerikanischen Pfarrer über den Himmel schweigen lässt, reden die deutschsprachigen Prediger*innen immerhin über ihn, allerdings verstummen sie vor ‚Hölle‘ und ‚Fegefeuer‘. Indem sie ‚himmeln‘, verstümmeln sie die Eschata um diese beiden ‚grausenhaften Rezeptakula‘. Und sie scheinen damit auch den Zusammenhang von Jenseitsstatus und moralischer Biografie der Verstorbenen zu entkoppeln, jedenfalls die „Verknüpfung von diesseitiger Schuld und jenseitiger Qual“20. Die Darstellungen des Jüngsten Gerichts über Kirchenportalen, in Glasfenstern und in Handschriften des Mittelalters, bis hin zu Michelangelos berühmtem Fresko in der Sixtinischen Kapelle werden dann ähnlich anachronistisch wie der Gerichtstopos der christlichen Glaubensbekenntnisse. Es geht diesen homiletisch Berufstätigen dann so ähnlich wie vielen einfachen Kirchenmitgliedern, aber auch wie den theologischen Reflexionseliten. Die meisten tun sich nicht nur schwer mit dem Glauben an postmortale Zustände der Vergeltung, der Exklusion und der Gewalt. Mit dieser noch heute im päpstlichen Weltkatechismus des Heiligen Johannes Paul II. präsenten Himmel-Hölle-Fegefeuer-Triade stehen sie in massiver kognitiver Dissonanz und versuchen sie auf verschiedene Weise zu reduzieren.

6 Illegitimisierung symbolischer Gewalt

Denn wissenssoziologisch gesehen ist das traditionelle eschatologische Sinnschema mit seinem exklusionistischen Strafkonzept und der ihm inhärenten Vergeltungs-, Ausschluss- und Gewaltsymbolik höchst voraussetzungsvoll, und die Plausibilitätsstrukturen für seine Akzeptanz dürften im zivilisierten Wohlfahrtsstaat der Gegenwart immer weniger gegeben sein. Es hatte seine Plausibilitätsstruktur offensichtlich im Erfahrungsraum einer bestimmten Gewaltkultur der spätantiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Gesellschaft, in der körperliche Instrumentalgewalt im Erziehungskontext und ‚autotelische Gewalt‘ im Kriminalkontext – von der Prügelstrafe bis zur Verbrennung und Vierteilung in öffentlichen Hinrichtungsszenen – als Selbstverständlichkeiten galten. Norbert Elias hat zum Beispiel gezeigt, dass in der mittelalterlichen Gesellschaft „die Grausamkeitsentladung […] nicht vom gesellschaftlichen Verkehr aus[schloss]. Sie war nicht gesellschaftlich verfemt. Die Freude am Quälen und Töten anderer war groß, es war eine gesellschaftlich erlaubte Freude.“21 Von einer solchen „autotelischen Gewalt“22 lässt sich dann sprechen, wenn die Verletzung, ja Zerstörung des Körpers des anderen selbst das Ziel ist und sich darin erschöpft. Sie ist in der heutigen modernen Gesellschaft „so erfolgreich geächtet, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen können, und wo wir nicht umhinkommen, sie dennoch zu sehen, sie nur als pathologische Monstrosität“23 definieren. Entscheidend dafür war, dass sie wie auch die raptive und die instrumentelle Gewalt, die noch lange auch im Erziehungskontext von Familien, Heimen und Schulen praktiziert wurden, in tendenziell allen Handlungskontexten nicht zuletzt dadurch „unter einen besonderen Legitimationsdruck gestellt“,24 ja geächtet wurde, als es der Staat in einem langen Prozess der Zivilisation erfolgreich geschafft hat, die physische Gewalt zu monopolisieren und damit seine Mitbürgerinnen und Mitbürger sozusagen zu entwaffnen, sie also auch gezwungen hat, ihre Konflikte gewaltfrei zu lösen. Gewalt wird – zumindest in der dominanten Kultur unserer Gesellschaft – nur noch für legitim erachtet, wo Gewalt vor schlimmerer Gewalt schützen soll.25

7 Paradigmenwechsel im eschatologischen Büro

Dies erklärt auch erheblich mit, weshalb überlieferte eschatologische Sinnstiftung nicht nur bei ihren Adressaten, sondern ebenso bei ihren theologischen Experten und den wohlinformierten Kirchenmitgliedern erhebliche kognitive Dissonanzen hervorrufen musste. Höllen- wie Fegefeuervorstellungen geraten bei den Zivilisationsmenschen und -priestern von heute, denen Gewaltausübung im Alltag als ebenso verpönt gilt wie Folter, Todes- und Körperstrafe als Maßnahmen des Staates, in den – bereits von d’Holbach formulierten – Verdacht der kognitiven Barbarei und werden als Ausdruck eines längst überwundenen gesellschaftlichen Zivilisationsstadiums betrachtet. Im eschatologischen Büro ist deshalb seit den 1950er-Jahren „mit Überstunden“ „eine starke Tätigkeit im Gang“26; denn der ehedem auf allen Ebenen des kirchlichen Kommunikationsgeschehens gelehrte christliche Terminalsinn gerät mit seiner erheblichen Gewalt- und Exklusionsmetaphorik in massivsten Widerspruch zum Erfahrungsraum des „wohl bedeutsamsten zivilisatorischen Fortschritts der Menschheitsgeschichte“27, sofern er die Gewalt unter erhöhten Legitimationsdruck stellt und seiner eigenen „gewaltbewältigenden Gewalt“28 selbst enge Grenzen auferlegt. Gleichzeitig mit Michael Schmaus – also seit den 1950er-Jahren und über das Erscheinungsdatum des Weltkatechismus hinweg – lässt sich innerhalb der katholischen Eschatologie der Einstieg in einen massiven Paradigmenwechsel29 beobachten, der destruktive wie konstruktive Züge zeigt, aber auch neue Folgeprobleme mit sich führt. Beobachtbar ist, dass bei diesem Paradigmenwechsel „vom klassischen dogmatischen Traktat ‚De novissimis‘ […] kaum ein Stein auf dem anderen geblieben ist“30 und die klassischen Topoi „allesamt fraglich geworden sind“31.

8 Modellierungen

Dennoch halten einige Theologen an diesem traditionellen ‚Dualismus‘ im eschatologischen Denken fest, auch der Katholische Weltkatechismus (Modell 1), der seit neuestem immerhin nicht mehr die Todesstrafe akzeptiert. Andere bauen diesen Dualismus in ein ‚monistisches‘ Modell um, d. h. gehen von der Hoffnung – nicht vom origenistischen ‚Wissen‘ – aus, dass alle Geschöpfe, selbst der Teufel, einmal zu den Erlösten zählen werden. Das ‚Modell 2‘ der verdammten origenistischen Lehre von der Apokatastasis panton (vgl. Apg. 3,21; 1 Kor 15,25 ff.; Phil 2, 5 ff.) erhält somit ein hoffnungstheologisches Gewand (Motto: Lehre nein, Hoffnung ja) und wird als ‚Modell 3‘ heute von vielen, wenn nicht den meisten Theologen vertreten. Ihm neigt sogar Gerhard Ludwig Müller, der von Papst Franziskus abgesetzte Präfekt der römischen Glaubenskongregation, zu:32„Wer, wieviele und ob überhaupt Menschen bis in den Tod einen radikalen Widerstand gegen die Liebe durchgetragen haben, entzieht sich unserem Wissen nicht nur zufällig, sondern prinzipiell. Wir sollen aber hoffen (!) und beten, dass der allgemeine, sich auf jeden Menschen erstreckende Heilswille Gottes bei allen zum Ziel kommt. Es gibt vielleicht noch Liebe und angekommene Selbstmitteilung Gottes, wo man von Gott und Christus explizit nichts weiß.“ Es lassen sich auch Vertreter eines ‚Modells 4‘ ausmachen, die es definitiv „offen“ halten und sich nicht festlegen, ob sich am Ende wirklich alle mit allen – auch Opfer und Täter – miteinander versöhnen lassen. Für eine Minderheit von Theologen wird die Hölle zu einer bloß denkbaren Konsequenz des freiwilligen „dauerhaften Sich-Verweigerns des Sünders gegenüber der bedingungslos für ihn entschiedenen Liebe Gottes“33. Dieses ‚Modell 5‘, das sehr auf die Freiheit des Menschen setzt, vertritt etwa Edward Schillebeeckx,34 der seinerseits die Vorstellung von der Apokatastasis oder Allversöhnung ablehnt. Statt von einer ewigen Verdammnis (in der Hölle) geht dieses Modell von der Möglichkeit eines endgültigen Aufhörens oder Erlöschens als ewig währendes, d. h. irreversibles postmortales Scheitern der menschlichen Existenz aus. „Ob es Menschen gibt, die das Böse wählen, weiß ich nicht“, sagt Schillebeeckx. „Aber auch wenn ich annehme, dass es solche Menschen gibt, die Hölle gibt es jedenfalls nicht. Es gibt kein Leben in der Hölle. Wenn es jemanden gibt, der fähig ist, in seinem Leben sich vollständig und definitiv von der Gemeinschaft mit dem Gott des Lebens zu trennen, so ist ihm die Vernichtung des eigenen Wesens bestimmt […] Das ist schrecklich. Gott hegt keine Rachegedanken. Für mich ist diese Koexistenz des ewigen Himmels für die Guten und der Hölle für die Bösen, die eine ewige Strafe erleiden, unvorstellbar.“35

9 Etwaismen

Mit solchen Konstruktionen sucht zwar die theologische Reflexionselite kognitive Dissonanzen zu lösen und überkommene Exklusionsformeln durch Inklusionsformeln auszubalancieren, auch um den gewandelten Plausibilitätsstrukturen der zivilisierten Gesellschaft Rechnung zu tragen, gerät damit aber auch mit den dogmatisierten Heilswahrheiten der eigenen Tradition in Konflikt und löst neue kognitive Dissonanzen aus. Diese zu verschweigen, reduziert sie nicht, allenfalls auf einen „Etwaimus“, dessen „Credo lautet: ‚Ich glaube zwar nicht an Gott, aber etwas über uns muss es geben‘.“36 Wenn Thomas Luckmann für die gesellschaftliche Gegenwart immer wieder das „Fehlen eines plausiblen und allgemein verpflichtenden sozialen Modells für die bleibenden, universalen menschlichen Transzendenzerfahrungen und für die Suche nach einem sinnvollen Leben“37 konstatiert, dann gilt dies inzwischen auch für die Antworten auf zentrale existenzielle Fragen im religiösen Feld des Christentums, ja im – jeweiligen – konfessionsinternen Feld selbst. Eine Folge ist dann die von Pierre Bourdieu allenthalben beobachtete spirituelle „Autogestion“38, auch im Blick auf die Letzten Dinge.

Der Autor:Prof. Dr. rer. soc. habil., Dr. theol. Michael N. Ebertz, geb. 1953, ist Soziologe und Theologe, er lehrt und forscht pastoralsoziologisch an der Katholischen Hochschule Freiburg. Neuere Publikationen: Verschiebungen des religiösen Feldes. Anstöße und Anstößigkeiten Bourdieus für die Pastoralsoziologie, in: Ansgar Kreutzer / Hans-Joachim Sander (Hg.), Religion und soziale Distinktion. Resonanzen Pierre Bourdieus in der Theologie. Freiburg i. Br.–Basel–Wien 2018, 268–292; Der Kampf um die Kirche – in der katholischen Kirche. Soziologische Perspektiven auf die Debatte um „Amoris laetitia“, in: Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik 2/1 (2018), 1–18, online: https://rdcu.be/Lq7u; zus. mit Lucia Segler, Spiritualitäten als Ressource für eine dienende Kirche. Die Würzburg-Studie, Würzburg 2016.

Weiterführende Literatur:

Patrick Becker, Der Jenseitsverlust der Gesellschaft. Hoffnung worauf?, in: Herder Korrespondenz 3 (2018), 36 – 39.

Ottmar Fuchs, Das Jüngste Gericht. Hoffnung auf Gerechtigkeit, Regensburg 22018.

Ottmar Fuchs, Eschatologie – mehr gefragt als vermutet?, in: Tobias Kläden (Hg.), Worauf es letztlich ankommt. Interdisziplinäre Zugänge zur Eschatologie, Freiburg i. Br.–Basel–Wien 2014, 297–317.

1Andreas Grünschloß, Systematisch-religionswissenschaftliche Orientierung zum Thema Tod und Jenseits, in: Glaube und Lernen 25 (2010), 33 – 45, hier: 34.

2Pierre Bourdieu, Mit Weber gegen Weber, in: ders., Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz 2000, 111–129, hier: 121.

3Reinhard Bendix, Max Weber. Das Werk, München 1964, 205.

4 Vgl. etwa Aurelius Augustinus, Enchiridion de fide spe et caritate. Handbüchlein über Glaube, Hoffnung und Liebe. Lateinisch – Deutsch. Herausgegeben von Joseph Barbel (= Testimonia 1), Düsseldorf 1960.

5Friedrich Heer, Abschied von Höllen und Himmeln. Vom Ende des religiösen Tertiär, München–Esslingen 1970, 84.

6Hans Urs von Balthasar, Eschatologie, in: Johannes Feiner u. a. (Hg.), Fragen der Theologie heute, Zürich–Köln 21958, 403 – 421, hier: 413.

7Paul Tillich, Die bleibende Bedeutung der katholischen Kirche für den Protestantismus, in: ders., Gesammelte Werke. Band 7, Stuttgart 1962, 124 –132.

8Adolf Buse (Hg.), Der Römische Katechismus nach dem Beschlusse des Concils von Trient für die Pfarrer auf Befehl Papstes Pius des Fünften herausgegeben. 2 Bde., Bielefeld 21859, 52.

9Philipp Schäfer, Eschatologie. Trient und Gegenreformation, Freiburg i. Br.–Basel–Wien 1984, 42.

10Carl Andresen / Georg Denzler, Wörterbuch der Kirchengeschichte, München 1982, 306.

11Heinz Dieter Kittsteiner