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Privatermittlerin Holly Gibney steckt in einer Lebenskrise, da erhält sie einen Anruf: »Meine Tochter Bonnie ist vor drei Wochen verschwunden, und die Polizei unternimmt nichts.« Ihre Nachforschungen führen Holly zu einer weit zurückreichenden Liste ungelöster Vermisstenfälle. Alle spielen im Umfeld eines inzwischen emeritierten Ernährungswissenschaftlers mit dem Spitznamen »Mr. Meat«. Holly hat schon gegen grausame Gegner bestanden, aber hier begegnet sie dem schlimmsten aller Ungeheuer: dem Menschen in seinem Wahn.
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Seitenzahl: 792
Das Buch
Privatermittlerin Holly Gibney steckt in einer Lebenskrise, da erhält sie einen Anruf: »Meine Tochter Bonnie ist vor drei Wochen verschwunden, und die Polizei unternimmt nichts.« Ihre Nachforschungen führen Holly zu einer weit zurückreichenden Liste ungelöster Vermisstenfälle. Alle spielen im Umfeld eines inzwischen emeritierten Ernährungswissenschaftlers mit dem Spitznamen »Mr. Meat«. Holly hat schon gegen grausame Gegner bestanden, aber hier begegnet sie dem schlimmsten aller Ungeheuer: dem Menschen in seinem Wahn.
»Ich kann mich einfach nicht von Holly verabschieden. In Mr. Mercedes sollte sie eigentlich nur eine Nebenrolle spielen, aber irgendwie hat sie das Buch übernommen und mein Herz gestohlen. In Holly geht es ganz um sie.«
Stephen King
Der Autor
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem Edgar Allan Poe Award den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis für Mr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen.
Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag, zuletzt der Spiegel-Bestseller Fairy Tale.
STEPHEN KING
Roman
Aus dem Amerikanischenvon Bernhard Kleinschmidt
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
HOLLY
bei Scribner, New York.
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Copyright © 2023 by Stephen King
Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Lothar Strüh
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com(seksan wangkeeree, Etan Ben-Ami, Chuchawan)
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-30705-9V001
Dieses Buch ist für Chuck Verrill:
Lektor, Agent, doch vor allem eines – Freund.
1951 – 2022
Danke, Chuck.
»Manchmal wirft uns das Universum ein Seil zu.«
BILL HODGES
1
Es ist eine alte Stadt, die nicht mehr in besonders gutem Zustand ist, was auch für den See gilt, an dem sie erbaut wurde. Teile von ihr sind allerdings immer noch ziemlich hübsch. Langjährige Einwohner wären sich wahrscheinlich einig, dass das hübscheste Wohnviertel Sugar Heights ist, und die hübscheste Straße darin ist die Ridge Road, die in einer langen Biegung vom Bell College of Arts and Sciences abwärts zum zwei Meilen unterhalb gelegenen Deerfield Park führt. Unterwegs kommt sie an vielen schönen Häusern vorüber, von denen manche Fakultätsangehörigen des College gehören und manche dem erfolgreicheren Bürgertum der Stadt – Ärzten, Anwälten, Bankern und Topmanagern. Die meisten Häuser sind im viktorianischen Stil erbaut; sie haben Erkerfenster, sind makellos gestrichen und mit vielen verschnörkelten Zierelementen versehen.
Der Park, an dem die Ridge Road endet, ist zwar nicht so groß wie jener, der sich in der Mitte von Manhattan ausbreitet, aber doch beinahe. Er ist der Stolz der Stadt, und eine ganze Gärtnerkolonne hält ihn wunderbar in Schuss. Na gut, da ist der ungepflegte Westrand in der Nähe der Red Bank Avenue, der den Spitznamen Dickicht trägt. Nach Einbruch der Dunkelheit trifft man dort manchmal Leute an, die Drogen kaufen oder verkaufen wollen, und gelegentlich kommt es sogar zu einem Raubüberfall, aber das Dickicht nimmt nur gut einen von dreihundert Hektar in Anspruch. Der Rest ist grasig, blumig und von Wegen durchzogen, auf denen Liebespaare spazieren gehen. Auf den Bänken sitzen alte Männer, die Zeitung lesen (inzwischen immer öfter auf elektronischen Geräten), und miteinander plaudernde Frauen. Manche schaukeln dabei ihr Baby, das in einem teuren Kinderwagen liegt. Es gibt zwei Teiche; auf einem davon lassen Männer und Jugendliche manchmal ferngesteuerte Boote fahren. Auf dem anderen gleiten Schwäne und Enten hin und her. Auch ein Spielplatz für die Kinder ist vorhanden. Eigentlich gibt es alles außer einem öffentlichen Schwimmbad; gelegentlich diskutiert der Stadtrat zwar darüber, eines bauen zu lassen, stellt das Thema jedoch immer zurück. Die Kosten und so weiter.
Der heutige Oktoberabend ist warm für die Jahreszeit, doch in Anbetracht des leichten Nieselregens sind alle bis auf einen einzigen passionierten Läufer zu Hause geblieben. Der heißt Jorge Castro und hat am College einen Lehrauftrag für kreatives Schreiben und lateinamerikanische Literatur. Ungeachtet seines Spezialgebiets ist er in den USA geboren und aufgewachsen; er erklärt anderen Leuten gern, er sei so amerikanisch wie Pie de Manzana.
Im Juli ist er vierzig geworden und kann sich nicht mehr vormachen, er wäre immer noch der junge Dachs, der mit seinem allerersten Roman vorübergehend einen Bestsellererfolg hatte. Mit vierzig muss man aufhören, sich vorzumachen, dass man überhaupt noch jung ist. Tut man das nicht und glaubt an irgendwelchen Selbstverwirklichungsquatsch wie vierzig sind die neuen fünfundzwanzig, fängt man unwillkürlich an abzurutschen. Zuerst nur ein bisschen, aber dann ein bisschen mehr, und urplötzlich ist man fünfzig, trägt einen Bierbauch über der Gürtelschnalle und hat Cholesterinsenker im Medizinschränkchen liegen. Mit zwanzig verzeiht der Körper so allerhand, mit vierzig erfolgt die Verzeihung höchstens vorübergehend. Jorge Castro will an seinem fünfzigsten Geburtstag nicht feststellen, dass er zu einem weiteren amerikanischen Fettwanst geworden ist.
Wenn man vierzig ist, muss man anfangen, auf sich zu achten. Man muss die Maschinerie instand halten, weil man sie nicht austauschen kann. Daher trinkt Jorge morgens Orangensaft (Kalium), an den meisten Tagen gefolgt von Haferbrei (Antioxidantien), und beschränkt den Verzehr von rotem Fleisch auf einmal pro Woche. Wenn er einen Snack braucht, reißt er im Allgemeinen eine Dose Ölsardinen auf. Die enthalten ordentlich Omega-3-Fettsäuren. (Außerdem sind sie lecker!) Am Morgen macht er ein paar einfache Übungen, und am Abend geht er laufen, wobei er es nicht übertreibt, sondern seine vierzig Jahre alte Lunge durchlüftet und seinem vierzig Jahre alten Herzen die Chance gibt zu zeigen, was es draufhat (Ruhepuls: 63). Wenn Jorge fünfzig wird, will er wie vierzig aussehen und sich auch so fühlen, aber das Schicksal ist ein Schelm. Jorge Castro wird nicht einmal seinen einundvierzigsten Geburtstag erleben.
Selbst an einem nieseligen Abend hält sich Jorge an seine Routine; er läuft von dem etwa eine halbe Meile vom College entfernten Haus, das er sich mit Freddy teilt (zumindest so lange, wie er sich als Writer in Residence bezeichnen kann), bis zum Park. Dort wird er den Rücken dehnen, ein paar Schluck von dem Vitaminwasser aus der Flasche in seiner Bauchtasche trinken und wieder nach Hause joggen. Das Nieseln wirkt sogar belebend, und es sind keine anderen Läufer, Spaziergänger und Radfahrer unterwegs, durch die er sich schlängeln müsste. Am schlimmsten sind die Radfahrer, weil sie darauf bestehen, auf dem Gehsteig zu fahren anstatt auf der Straße, obwohl da ein Radweg ist. An diesem Abend hat er den Gehsteig jedoch für sich allein. Er muss nicht einmal irgendwelchen Leuten zuwinken, die auf ihrer großen, alten, schattigen Veranda die Nachtluft genießen; bei dem Wetter sind sie im Haus geblieben.
Alle mit einer Ausnahme: die alte Dichterin. Die hat sich in einen Parka gepackt, obwohl es jetzt um acht noch etwa dreizehn Grad hat, weil sie nur noch fünfzig Kilo wiegt (ihr Arzt tadelt sie deshalb regelmäßig) und die Kälte spürt. Mehr noch als die Kälte spürt sie die Feuchtigkeit. Trotzdem bleibt sie draußen, denn heute könnte ein Gedicht zum Vorschein kommen, wenn sie nur die Finger unter seinen Deckel schieben und es öffnen kann. Seit dem Hochsommer hat sie keines mehr geschrieben, und sie muss eines hinbekommen, bevor sie Rost ansetzt. Schließlich muss sie repräsentieren, wie ihre Studenten manchmal sagen. Wichtiger noch, es könnte ein gutes Gedicht werden. Vielleicht sogar ein notwendiges Gedicht.
Anfangen muss es damit, wie der Dunst die Straßenlaternen dort drüben umweht und sich dann an den Ort verzieht, den sie sich als das Geheimnis vorstellt. Alles ist ein Geheimnis. Der Dunst bildet langsam kreisende Halos, silbern und wunderschön. Allerdings will sie das Wort Halo nicht benutzen, weil es das zu erwartende, das banale Wort ist. Beinahe ein Klischee. Aber silbern … oder einfach Silber …
Ihr Gedankenstrang entgleitet ihr so lange, dass sie beobachten kann, wie ein junger Mann (mit achtundachtzig kommt einem vierzig sehr jung vor) auf der anderen Straßenseite durch die Pfützen platscht. Den kennt sie; es ist der Writer in Residence, der meint, Gabriel García Márquez sei der tollste Hecht der Weltliteratur. Mit seinen langen, dunklen Haaren und seiner Muschibürste erinnert er die alte Dichterin an eine charmante Figur aus Die Braut des Prinzen: »Mein Name ist Inigo Montoya. Du hast meinen Vater getötet, jetzt bist du des Todes.« Er trägt eine gelbe Jacke mit einem reflektierenden Streifen, der am Rücken bis zu der lächerlich engen Jogginghose hinunterläuft. Und er rennt, als wäre der Teufel hinter ihm her, wie die Mutter der alten Dichterin gesagt hätte. Oder wie ein aufgescheuchtes Huhn.
Ihr Blick fällt wieder auf die Straßenlaterne direkt gegenüber. Wie eine Glocke sieht der Lichtschein aus. Sie denkt: Der Läufer hört über sich kein Silber/Diese Glocken läuten nicht.
Zu langweilig, aber es ist ein Anfang. Sie hat es geschafft, die Finger unter den Deckel des Gedichts zu schieben. Das heißt, sie muss jetzt ins Haus gehen, ihr Notizbuch holen und anfangen zu kritzeln. Dennoch bleibt sie noch einen Moment sitzen und beobachtet die silbernen Kreise, die sich um die Straßenlaternen drehen. Halos, denkt sie. Das Wort kann ich zwar nicht benutzen, aber so sieht es aus, verdammt noch mal.
Sie erwischt einen letzten Blick auf die gelbe Jacke des Läufers, dann ist er in der Dunkelheit verschwunden. Mühsam kommt die alte Dichterin auf die Beine, zuckt zusammen, weil sie den Schmerz in ihren Hüften spürt, und schlurft ins Haus.
Jorge Castro legt etwas Tempo zu. Er hat jetzt die zweite Luft bekommen; seine Lunge nimmt mehr Sauerstoff auf, Endorphine werden ausgeschüttet. Direkt vor ihm ist der Park mit den vereinzelten altmodischen Lampen, die einen mystischen gelben Schein verströmen. Vor dem verlassenen Spielplatz befindet sich ein kleiner Parkplatz, auf dem jetzt nur ein Van, eine Großraumlimousine, steht. Die Seitentür ist offen, eine Rampe führt auf den nassen Asphalt herab. Dort sitzt ein alter Mann in einem Rollstuhl, neben dem eine ebenfalls alte Frau kniet und daran hantiert.
Jorge bleibt kurz stehen, beugt sich vor und stützt die Hände knapp oberhalb der Knie auf die Oberschenkel. Während er zu Atem kommt, beäugt er das Fahrzeug. Auf dem blau-weißen Nummernschild hinten ist ein Rollstuhlsymbol angebracht.
Die Frau, die Steppjacke und Kopftuch trägt, blickt zu ihm herüber. Zuerst ist Jorge sich nicht sicher, ob er sie kennt; der kleine Nebenparkplatz ist nicht besonders gut beleuchtet. »Hallo!«, ruft er. »Gibt’s ein Problem?«
Sie richtet sich auf. Der alte Kerl im Rollstuhl, bekleidet mit Wolljacke und Schiebermütze, winkt ihm matt zu.
»Die Batterie ist leer«, sagt die Frau. »Sie sind Mr. Castro, nicht wahr? Jorge?«
Jetzt erkennt er sie. Es ist Professorin Emily Harris, die englische Literatur unterrichtet … jedenfalls hat sie das getan; inzwischen ist sie vielleicht emeritiert. Und das ist ihr Mann, ebenfalls Dozent. Jorge wusste nicht, dass Mr. Harris inzwischen behindert ist, weil er ihn auf der Straße oder auf dem Campus nicht oft sieht, andere Fakultät in einem anderen Gebäude, aber soweit er sich erinnert, war der Alte das letzte Mal noch zu Fuß unterwegs. Auf seine Frau trifft Jorge ziemlich oft bei verschiedenen Fakultätstreffen und kulturellen Veranstaltungen. Er hat so eine Ahnung, dass sie ihn nicht besonders mag, vor allem seit der Fachbereichssitzung, bei der es um den inzwischen nicht mehr existierenden Lyrikworkshop ging. Da ist sie ziemlich in Rage geraten.
»Ja, ich bin’s«, sagt er. »Ich nehme an, Sie beide würden gern nach Hause, um sich abzutrocknen.«
»Das wäre nett«, sagt Mr. Harris. Könnte sein, dass er ebenfalls den Professorentitel trägt. Seine Wolljacke ist dünn, und er zittert leicht. »Meinen Sie, Sie könnten mich die Rampe da hochschieben, junger Mann?« Er hustet, räuspert sich, hustet noch einmal. Seine Frau, die bei Fachbereichssitzungen so scharf und Respekt einflößend wirkt, sieht leicht verloren und zerzaust aus. Verzweifelt. Jorge fragt sich, wie lange die beiden wohl schon hier draußen sind und weshalb sie niemand zu Hilfe gerufen haben. Vielleicht hat Emily Harris kein Handy, denkt er. Oder sie hat es zu Hause gelassen. Alte Leute sind in der Hinsicht manchmal vergesslich. Wobei sie kaum älter als siebzig sein kann. Ihr Mann im Rollstuhl sieht älter aus.
»Das schaffe ich schon, glaube ich. Ist die Bremse gelöst?«
»Ja, natürlich«, sagt Emily Harris und tritt einen Schritt zurück, als Jorge die Handgriffe packt und den Rollstuhl zur Rampe umdreht. Er zieht ihn etwa drei Meter zurück, um Anlauf zu nehmen. Motorisierte Rollstühle sind oft schwer, und er will unbedingt vermeiden, mitten auf der Rampe an Schwung zu verlieren und den Rückwärtsgang einlegen zu müssen. Falls das Ding dann – Gott behüte! – nicht gar auf die Seite kippt und der alte Bursche auf dem Asphalt landet.
»Los geht’s, Mr. Harris! Halten Sie sich fest, gleich wird es holprig.«
Harris ergreift die Seitenstützen, wobei Jorge bemerkt, wie breit die Schultern des Mannes sind. Richtig muskulös sehen sie unter der Wolljacke aus. Wahrscheinlich kompensieren Leute, die ihre Beine nicht mehr gebrauchen können, das auf andere Weise. Jorge läuft auf die Rampe zu.
»Hi-yo, Silver!«, ruft Mr. Harris fröhlich.
Die erste Hälfte der Rampe ist kein Problem, doch dann verliert der Rollstuhl an Schwung. Jorge beugt sich vor, setzt den Rücken ein und schiebt weiter. Während er sich dieser nachbarschaftlichen Aufgabe widmet, kommt ihm ein merkwürdiger Gedanke: Die Nummernschilder in dem Staat hier sind rot-weiß, und obwohl Mr. und Mrs. Harris in derselben Straße wohnen wie er (er sieht Emily Harris oft draußen in ihrem Garten), ist das Schild an ihrem Wagen blau und weiß wie jene des Nachbarstaats im Westen. Merkwürdig ist noch etwas anderes: Er kann sich nicht erinnern, den Van jemals auf der Straße gesehen zu haben, wohingegen er Emily gelegentlich kerzengerade am Lenkrad eines gepflegten Subaru-Kombis mit einem Obama-Sticker beobachtet …
Als er das obere Ende der Rampe erreicht, inzwischen fast waagrecht vorgebeugt, mit ausgestreckten Armen und nach oben gebogenen Laufschuhen, sticht ihn ein Insekt in den Nacken. Nach der von dort ausstrahlenden Hitze muss es ein großes sein, vielleicht eine Wespe, und er hat eine allergische Reaktion. Bisher hatte er bei Stichen noch nie eine, aber bekanntlich gibt es für alles ein erstes Mal. Urplötzlich verschwimmt es ihm vor den Augen, und seine Arme verlieren alle Kraft. Er rutscht mit den Schuhen auf der feuchten Rampe aus und sinkt auf ein Knie.
Gleich wird mich der Rollstuhl rückwärts überrollen …
Aber das ist nicht der Fall. Rodney Harris legt einen Schalter um, woraufhin der Rollstuhl mit zufriedenem Summen ins Wageninnere fährt. Harris springt heraus, dreht sich flink um und blickt auf den auf der Rampe knienden Mann hinab, dem die Haare an der Stirn kleben. Die Regentropfen auf den Wangen sehen aus wie Schweiß. Dann fällt Jorge aufs Gesicht.
»Sieh dir das an!«, ruft Emily leise. »Perfekt!«
»Hilf mir«, sagt Rodney.
Seine Frau, die ebenfalls Laufschuhe trägt, ergreift Jorge an den Fußgelenken, ihr Mann fasst seine Arme. So schleppen sie ihn in den Wagen. Die Rampe fährt ein. Rodney (der tatsächlich den Professorentitel trägt) schlüpft auf den bequemen Fahrersitz. Emily kniet sich hin und fesselt Jorge mit einem Kabelbinder die Handgelenke, obwohl das wahrscheinlich eine unnötige Vorsichtsmaßnahme ist. Jorge ist glatt aus den Latschen gekippt (eine Wendung, die von der alten Dichterin bestimmt missbilligt würde) und schnarcht lautstark vor sich hin.
»Alles in Ordnung?«, fragt Rodney Harris, Professor an der Fakultät für Biowissenschaften.
»Und ob!« Emilys Stimme überschlägt sich vor Aufregung. »Wir haben es geschafft, Roddy! Wir haben den Scheißkerl geschnappt!«
»Nicht so vulgär, Liebste«, sagt Rodney. Dann lächelt er. »Aber es stimmt. Wir haben es tatsächlich geschafft.« Er lenkt den Wagen aus dem Parkplatz und fährt die Straße hinauf.
Die alte Dichterin hebt den Blick von ihrem Notizbuch, auf dem vorn eine winzige rote Schubkarre abgebildet ist. Sie sieht den Van vorbeifahren und wendet sich wieder ihrem Gedicht zu.
Der Van biegt in die Einfahrt von Ridge Road 93 ein, wo Mr. und Mrs. Harris seit beinahe fünfundzwanzig Jahren residieren. Das Haus gehört ihnen, nicht dem College. Das linke der beiden Garagentore fährt hoch, der Wagen rollt hinein, das Tor geht zu, und dann ist wieder alles still auf der Ridge Road. Dunst schlängelt sich um die Straßenlaternen.
Wie Halos.
Nach und nach kommt Jorge wieder zu Bewusstsein. Sein Kopf dröhnt, sein Mund ist trocken, in seinem Magen rumort es. Er hat keine Ahnung, wie viel er getrunken hat, aber es muss eine Menge gewesen sein, sonst hätte er keinen derart fürchterlichen Kater. Wo hat er eigentlich so viel getrunken? Bei einer Fakultätsparty? Bei einem Kneipenbesuch nach dem Creative-Writing-Seminar, wo er unklugerweise so stark dem Alkohol zugesprochen hat wie in seiner Studentenzeit? Oder hat er sich nach dem letzten Streit mit Freddy besoffen? Nichts davon kommt ihm zutreffend vor.
Als er die Augen öffnet, bereitet er sich darauf vor, dass grelles Morgenlicht sich schmerzhaft in seinen armen, missbrauchten Kopf bohrt, aber das Licht ist gedämpft. In Anbetracht seines qualvollen Zustands könnte man es als freundlich bezeichnen. Offenbar liegt er auf einem Futon oder einer Yogamatte. Daneben steht ein Putzeimer aus Plastik, der von Walmart oder Dollar Tree stammen könnte. Wofür der da ist, weiß er, und urplötzlich weiß er ebenfalls, wie die pawlowschen Hunde sich gefühlt haben, wenn die Glocke ertönte, denn er muss nur einen Blick auf den Eimer da werfen, damit sein Magen sich verkrampft. Er erhebt sich auf Hände und Knie und erbricht sich heftig. Nach einer Pause, die lang genug ist, dass er ein paarmal nach Luft schnappen kann, wiederholt er das Ganze noch einmal.
Sein Magen beruhigt sich, doch für einen Moment schmerzt sein Kopf derartig, als wollte er gleich platzen und in zwei Teilen auf den Boden fallen. Jorge schließt die tränenden Augen und wartet darauf, dass die Schmerzen nachlassen. Was sie schließlich tun, doch dafür nimmt er in Mund und Nase den widerwärtigen Geschmack von Kotze wahr. Mit geschlossenen Augen tastet er nach dem Eimer und spuckt hinein, bis sein Mund wenigstens teilweise sauber ist.
Jorge öffnet wieder die Augen, hebt den Kopf (vorsichtig) und sieht Gitterstäbe. Er befindet sich in einem Käfig. Der ist zwar geräumig, aber zweifellos ein Käfig. Dahinter ist ein lang gestreckter Raum erkennbar. Das Deckenlicht muss gedimmt sein, jedenfalls ist es hier schummerig. Er sieht einen Betonboden, der so sauber wirkt, dass man davon essen könnte – wobei er dazu gerade gar keine Lust hat. Die Hälfte des Raums vor dem Käfig ist leer. In der Mitte führt eine Treppe nach oben, an der ein Kehrbesen lehnt. Jenseits der Treppe befindet sich eine gut ausgerüstete Werkstatt mit an Haken hängenden Werkzeugen und einer Tischbandsäge. Zu sehen ist ferner eine Kapp- und Gehrungssäge, ein schickes Gerät, nicht gerade billig. Eine Reihe Stecknüsse liegt auf einem Arbeitstisch neben einer Tür, die … irgendwohin führt. Der ganze übliche Heimwerkerscheiß, und alles sieht äußerst gepflegt aus.
Unter der Bandsäge liegt keinerlei Sägemehl. Dahinter steht eine Maschine, wie er noch nie eine gesehen hat: massiv, gelb und kastenförmig, beinahe so groß wie ein industrielles Heizgerät. Jorge nimmt an, dass es tatsächlich so etwas sein muss, weil ein elastischer Schlauch in die Wandverkleidung führt. Falls ein Markenname darauf steht, dann auf der Seite, die er nicht sehen kann.
Er blickt sich im Käfig um, und was er sieht, macht ihm Angst. Es sind weniger die beiden Flaschen Tafelwasser Marke Dasani, die auf einer als Tisch dienenden, orangefarbenen Kiste stehen. Es ist die blaue Plastikbox, die in der Ecke unter der abgeschrägten Decke steht. Das ist eine Campingtoilette, wie gebrechliche Leute sie benutzen, wenn sie zwar noch aus dem Bett kommen, es aber nicht mehr zum nächsten Klo schaffen.
Jorge fühlt sich noch nicht in der Lage aufzustehen, weshalb er zu der Toilette krabbelt und den Deckel anhebt. Er sieht blaues Wasser in der Schüssel und riecht ein Desinfektionsmittel, das so stark ist, dass ihm wieder die Augen tränen. Woraufhin er den Deckel zuklappt und auf allen vieren zum Futon zurückkriecht. Selbst in seinem beschissenen Zustand weiß er, was die Toilette bedeutet: Jemand hat vor, ihn eine Weile dazubehalten. Er ist gekidnappt worden. Nicht von einem Drogenkartell wie in seinem zweiten Roman, der den Titel Erstarrung trägt, und auch nicht in Mexiko oder Kolumbien. So verrückt es klingt, er ist von einem ältlichen Professorenpaar gekidnappt worden, darunter eine Kollegin aus dem eigenen Fachbereich. Und wenn das der Keller des Paars ist, dann ist er nicht weit von seinem Haus entfernt, wo Freddy jetzt bestimmt im Wohnzimmer sitzt und eine Tasse …
Nein, stimmt nicht. Freddy ist fort, zumindest vorläufig. Ist nach dem letzten Streit wie üblich verärgert abgezogen.
Er untersucht die gekreuzten Gitterstäbe. Sie sind aus Stahl und fein säuberlich zusammengeschweißt. Bestimmt ist das in der Werkstatt da hinten erledigt worden, weil es keinen Versand geben dürfte, bei dem man so etwas bestellen kann, aber die Stäbe sehen äußerst stabil aus. Er packt einen mit beiden Händen und rüttelt daran. Da bewegt sich absolut nichts.
Jorge wirft einen Blick an die Decke und sieht weiße Paneele, in die kleine Löcher gebohrt sind. Schalldämmung. Und noch etwas anderes sieht er, ein gläsernes Auge, das auf ihn herabblickt. Er legt den Kopf in den Nacken.
»Ist da jemand? Was wollen Sie von mir?«
Nichts. Er überlegt, ob er lautstark fordern sollte, freigelassen zu werden, aber was würde das bewirken? Sperrt man jemand samt einem Kotzeimer und einer Campingtoilette in einen Käfig im Keller (es muss der Keller sein), um bei der ersten Unmutsäußerung des unfreiwilligen Gastes die Treppe hinunterzulaufen und zu erklären: Entschuldigung, Entschuldigung, das war ein schreckliches Missverständnis?
Abgesehen davon, muss er pinkeln, und zwar dringend. Er kommt auf die Beine, indem er sich an den Gitterstäben hochzieht. Wieder schießen ihm Schmerzen durch den Kopf, aber nicht so schlimm wie da, wo er zu Bewusstsein kam. Er schlurft zur Toilette, klappt den Deckel hoch, öffnet den Reißverschluss und versucht, sich zu entspannen. Zuerst gelingt ihm das nicht, so stark sein Bedürfnis auch ist. Was seine Ausscheidungsfunktionen angeht, war er schon immer etwas heikel. Wenn er ein Baseballspiel besucht, vermeidet er die Herdenpissoirs, und jetzt muss er ständig an das gläserne Auge denken, das auf ihn herabstarrt. Dem hat er den Rücken zugewandt, was ein bisschen hilft, aber nicht genug. Er zählt, wie viele Tage in diesem Monat verbleiben, und dann, wie viele Tage es bis Weihnachten sind, ach ja, Feliz Navidad, und das wirkt. Er pisst fast eine ganze Minute, dann greift er nach einer von den Wasserflaschen. Zuerst spült er sich damit den Mund aus und spuckt das Wasser in die Toilette, dann schluckt er gierig den Rest.
Er geht zum Gitter zurück und späht in den schlauchartigen Raum, auf die leere erste Hälfte gleich jenseits vom Käfig, auf die Treppe und die Werkstatt dahinter. Immer wieder kehrt sein Blick zu den beiden Sägemaschinen zurück. Für jemand, der in einem Käfig steckt, ist das kein schöner Anblick, aber es ist schwer, nicht hinzuschauen. Schwer, nicht an das schrille Kreischen zu denken, das eine Bandsäge von sich gibt, wenn sie sich durch Kiefern- oder Zedernholz frisst: IIIRRROOOUUU.
Jorge erinnert sich an seinen Lauf durch den Nieselregen. Er erinnert sich an Emily und ihren Mann. Er erinnert sich, wie ihn die beiden reingelegt und ihm dann etwas in den Nacken gespritzt haben. Danach kommt nichts als ein schwarzer Klecks, bis er hier aufgewacht ist.
Aber wieso? Wieso haben die so etwas getan?
»Wollen Sie mit mir reden?«, ruft er dem gläsernen Auge zu. »Ich bin dazu bereit. Sagen Sie mir einfach, was Sie von mir wollen!«
Nichts. Im Raum ist es totenstill bis auf das Scharren seiner Füße und das Pling-pling, mit dem der Ehering, den er trägt, ans Gitter stößt. Es ist nicht sein Ring, denn er und Freddy sind nicht verheiratet. Zumindest noch nicht, und so, wie es momentan läuft, wird es vielleicht auch nie dazu kommen. Den Ring hat Jorge seinem Vater im Krankenhaus vom Finger gezogen, wenige Minuten nachdem der Alte gestorben war. Seither trägt er ihn immer.
Wie lange er wohl schon hier ist? Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr, aber das nützt nichts. Das Ding – ebenfalls ein Souvenir, das er nach dem Tod seines Vaters an sich genommen hat – ist zum Aufziehen und um Viertel nach eins stehen geblieben. Ob in der Nacht oder am Nachmittag, weiß er nicht. Außerdem kann er sich nicht erinnern, wann er die Uhr das letzte Mal aufgezogen hat.
Mr. und Mrs. Harris. Emily und Ronald. Oder war es Robert? Er weiß, wer die beiden sind, und das ist irgendwie ganz schön unheilvoll.
Es könnte unheilvoll sein, redet er sich ein.
Da es in einem schalldichten Raum keinen Sinn hat, zu rufen oder zu schreien – und das seine rasenden Kopfschmerzen zurückbrächte –, setzt er sich auf den Futon und wartet darauf, dass etwas passiert. Dass jemand kommt und ihm den ganzen Scheiß erklärt.
Offenbar schwimmt das Zeug, das man ihm gespritzt hat, immer noch in seinem Kopf herum, weil er den Kopf sinken lässt und eindöst. Aus dem Mundwinkel tropft ihm Speichel. Irgendwann später – laut Papis Armbanduhr ist es weiterhin Viertel nach eins – geht irgendwo oben eine Tür auf, und jemand kommt die Treppe herab. Jorge hebt den Kopf (wieder ein scharfer Schmerz, aber nicht mehr so schlimm) und sieht schwarze, flache Sneaker, Knöchelsocken, adrette braune Hosenbeine und dann eine geblümte Schürze. Es ist Emily Harris. Mit einem Tablett.
Jorge kommt auf die Beine. »Was soll das eigentlich?«
Ohne zu antworten, stellt sie das Tablett einen guten halben Meter vor dem Käfig ab. Darauf steht ein großer Kunststoffbecher von der Sorte, die man für eine lange Autofahrt mit Kaffee füllt, und darin steckt ein dicker brauner Umschlag. Daneben ist ein Teller mit etwas Scheußlichem, einer Scheibe dunkelrotem Fleisch, das in einer noch dunkleren roten Flüssigkeit schwimmt. Schon beim Anblick würde Jorge sich am liebsten gleich wieder übergeben.
»Wenn Sie meinen, dass ich das esse, Emily, dann täuschen Sie sich da.«
Sie erwidert nichts, greift nur nach dem Besen und schiebt das Tablett über den Betonboden. Unten am Käfig befindet sich eine Klappe mit Scharnieren (die haben das richtig geplant, denkt Jorge). Als der Becher an den oberen Rand der nur etwa zehn Zentimeter hohen Klappe stößt, kippt er um, dann gleitet das Tablett hindurch. Sobald Emily den Besen zurückzieht, fällt die Klappe wieder zu. Das in der Blutlache schwimmende Fleisch sieht nach roher Leber aus. Emily Harris richtet sich auf, stellt den Besen zurück, dreht sich zu Jorge um … und lächelt ihn an. Als ob die beiden auf einer verdammten Cocktailparty wären oder so.
»Das werde ich bestimmt nicht essen«, wiederholt Jorge.
»Doch«, sagt sie.
Damit steigt sie die Treppe hinauf. Er hört, wie eine Tür zufällt, gefolgt von einem Klacken. Wahrscheinlich ein Riegel, der vorgelegt wird.
Der Anblick der rohen Leber ist widerwärtig, aber dafür zieht Jorge den Umschlag aus dem Becher. Darin ist ein Pulver, das sich Ka’Chava nennt. Laut dem Etikett macht man daraus ein »nährstoffreiches Getränk, das dir Kraft für all deine Abenteuer gibt«.
Jorge hat das Gefühl, dass er in den letzten wer weiß wie vielen Stunden genügend Abenteuer für das ganze Leben hinter sich gebracht hat. Er steckt den Umschlag in den Becher zurück und setzt sich auf den Futon. Das Tablett schiebt er zur Seite, ohne es anzusehen. Dann schließt er die Augen.
Jorge döst ein, wacht kurz auf und döst wieder ein, bevor er dann richtig aufwacht. Die Kopfschmerzen sind fast verschwunden, und sein Magen hat sich beruhigt. Er zieht Papis Uhr auf und stellt sie auf zwölf Uhr mittags. Vielleicht auch auf Mitternacht. Egal, wenigstens kann er so nachverfolgen, wie lange er hier ist. Irgendwann wird jemand – vielleicht die männliche Hälfte des durchgeknallten Professorenduos – ihm sagen, weshalb er sich hier befindet und was er tun muss, um hinauszugelangen. Viel Sinn wird das vermutlich nicht ergeben, weil die beiden eindeutig loco sind. Viele Professoren sind loco, er war auf seiner Tournee als Writer in Residence an genügend Universitäten, um das zu wissen, aber das Ehepaar Harris schießt eindeutig den Vogel ab.
Nach einer Weile zieht er die Tüte Ka’Chava aus dem Becher, der offensichtlich dazu dienen soll, das Zeug mit der verbliebenen Flasche Tafelwasser zu mischen. Der Becher ist von Dillon’s, einem Truckstop in Redlund, wo Jorge und Freddy manchmal frühstücken. Dort wäre er jetzt gern. Er würde gern in der Ayers Chapel sitzen und einer von Reverend Gallatins stinklangweiligen Predigten lauschen. Er würde gern in einer Arztpraxis auf eine proktologische Untersuchung warten. Anders gesagt, wäre er gern irgendwo anders als hier.
Jorge hat keinerlei Grund, irgendeinem Zeug zu vertrauen, das ihm von dem wahnsinnigen Paar vorgesetzt wird, aber da seine Übelkeit jetzt nachgelassen hat, ist er hungrig. Bevor er Laufen geht, isst er immer nur wenig und spart sich eine stärkere Kalorienzufuhr für die Rückkehr auf. Die Tüte ist versiegelt, was bedeutet, dass wahrscheinlich keine Gefahr besteht, aber er sucht sie trotzdem sorgfältig nach winzigen Löchern (Injektionsnadelstichen) ab, bevor er sie aufreißt und den Inhalt in den Becher gießt. Er fügt Wasser hinzu, schließt den Deckel und schüttelt gut, wie es in der Gebrauchsanweisung steht. Zuerst kostet er nur, dann trinkt er den Becher in einem Zug leer. Er bezweifelt stark, dass das Zeug von »uralter Weisheit« inspiriert ist, wie auf dem Etikett behauptet wird, aber es ist relativ lecker. Schokolade. Wie ein Frappé, wenn man so was auf pflanzlicher Basis herstellen könnte.
Als er ausgetrunken hat, beäugt er wieder die rohe Leber. Er versucht, das Tablett durch die Klappe aus dem Käfig zu schieben, was ihm zuerst nicht gelingt, weil sich die Klappe nur nach innen öffnet. Woraufhin er die Fingernägel unter den unteren Rand schiebt und das Ding aufzieht. Dann schiebt er das Tablett hinaus.
»He!«, brüllt er das gläserne Auge an, das zu ihm herabspäht. »He, was wollen Sie überhaupt? Reden wir doch miteinander! Wir können das bestimmt klären!«
Nichts.
Sechs Stunden vergehen.
Diesmal kommt Mr. Harris die Treppe herab. Er trägt einen Schlafanzug und Pantoffeln. Die Schultern sind breit, aber sonst ist er mager, und der Schlafanzug – mit Feuerwehrautos verziert wie bei einem Kind – flattert ihm um die Glieder. Schon beim Anblick des alten Burschen überkommt Jorge Castro ein Gefühl der Unwirklichkeit – ist das alles wirklich wahr?
»Was wollen Sie von mir?«
Ohne etwas zu erwidern, betrachtet Harris das verschmähte Tablett auf dem Betonboden. Sein Blick wandert zu der Klappe und zurück zum Tablett. Das wiederholt er zur Sicherheit noch zweimal: Tablett zu Klappe, Klappe zu Tablett. Dann nimmt er den Besen und schiebt das Tablett wieder in den Käfig.
Jorge reicht es. Er hält die Klappe fest und schiebt das Tablett hinaus. Die Blutlache schwappt Harris ans Hosenbein. Er senkt den Besen, um das Tablett wieder hineinzuschieben, gelangt dann jedoch wohl zu dem Schluss, dass sich das zu einem Nullsummenspiel auswachsen würde. Woraufhin er den Besen an die Treppe lehnt und sich daranmacht, sie hinaufzusteigen. Bis auf die breiten Schultern ist nicht viel an ihm dran, aber gelenkig wirkt der hinterlistige Dreckskerl durchaus.
»Kommen Sie zurück!«, ruft Jorge. »Reden wir von Mann zu Mann darüber.«
Harris sieht ihn an und seufzt wie ein geduldiger Vater, der es mit einem widerspenstigen Kleinkind zu tun hat. »Sie können sich das Tablett jederzeit nehmen, wenn Sie wollen«, sagt er. »Ich glaube, das haben wir inzwischen geklärt.«
»Ich hab schon Ihrer Frau gesagt, dass ich das Zeug nicht anrühre. Es ist nicht nur roh, es liegt auch seit …« Er wirft einen Blick auf Papis Armbanduhr. »… seit mehr als sechs Stunden bei Zimmertemperatur da rum.«
Darauf erwidert der verrückte Professor nichts, sondern erklimmt nur die Treppe. Die Tür schließt sich. Der Riegel schnappt zu. Klack!
Auf Papis Uhr ist es gerade zehn, als Emily herunterkommt. Anstatt der adretten braunen Hose trägt sie jetzt einen geblümten Morgenrock und ebenfalls Pantoffeln. Ob das wohl schon die Nacht darauf ist,denkt Jorge. Wäre das möglich? Wie lange hat die Spritze mich dann schachmatt gesetzt? Irgendwie verstört ihn die verlorene Zeit noch mehr als der allmählich erstarrende Fleischklumpen. Es ist schwer, sich daran zu gewöhnen, dass man die Zeit verliert. Aber da ist noch etwas anderes, woran er sich nicht gewöhnen kann.
Emily beäugt das Tablett. Beäugt ihn. Lächelt. Wendet sich zum Gehen.
»Hören Sie«, sagt er. »Emily.«
Sie dreht sich nicht um, bleibt jedoch lauschend unten an der Treppe stehen.
»Ich brauche mehr Wasser. Eine Flasche hab ich getrunken, und mit der anderen hab ich mir den Shake gemixt. Der war übrigens ziemlich gut.«
»Kein Wasser mehr, bis Sie das Essen intus haben«, sagt sie und steigt die Treppe hinauf.
Die Zeit vergeht. Vier Stunden. Sein Durst wird richtig schlimm. Er stirbt zwar nicht daran, aber zweifellos ist er durch das Erbrechen dehydriert, und dieser Shake … Er spürt, wie Reste an seiner Rachenwand kleben. Mit Wasser könnte er das runterspülen. Selbst wenn es nur ein, zwei Schlucke wären.
Er wirft einen Blick auf die Campingtoilette, aber er kann sich wirklich noch nicht vorstellen, desinfiziertes Wasser zu trinken. In das ich inzwischen zweimal reingepinkelt habe, denkt er.
Jorge sieht zu der Kamera hoch. »Reden wir doch miteinander, ja? Bitte.« Er zögert, dann sagt er: »Ich flehe Sie an.« Wobei er hört, wie seine Stimme bricht. Wie ein trockener Zweig.
Nichts.
Weitere zwei Stunden.
Inzwischen ist der Durst alles, woran er denken kann. Er hat Geschichten darüber gelesen, wie Schiffbrüchige schließlich das Wasser trinken, auf dem sie treiben, obwohl der Genuss von Meerwasser eine schnelle Reise in den Wahnsinn garantiert. So steht es jedenfalls in den Geschichten, und ob das stimmt oder nicht, ist in seiner derzeitigen Lage völlig egal, weil das nächste Meer tausend Meilen weit entfernt ist. Hier gibt es nichts als das Gift in der Campingtoilette.
Schließlich gibt Jorge auf. Er schiebt die Finger unter die Klappe, stützt sich auf einen Arm und greift nach dem Tablett. Zuerst kann er es nicht richtig fassen, weil die Kante schlüpfrig von Blut ist. Anstatt es zu sich her zu ziehen, schiebt er es auf dem Betonboden nur ein kleines Stück weiter weg. Er strengt sich an, schafft es endlich, die Kante zu greifen, und zieht das Tablett durch die Klappe. Jorge betrachtet das Fleisch, rot wie ein wunder Muskel, dann presst er die Augen zu und hebt es mit beiden Händen hoch. Kalt klatscht es an seine Handgelenke. Ohne die Augen zu öffnen, beißt er hinein. Seine Kehle verkrampft sich.
Denk nicht darüber nach, befiehlt er sich. Kau und schluck einfach.
Es rutscht durch die Kehle wie eine rohe Auster. Oder wie ein Mund voll Schleim. Er öffnet die Augen und blickt zu dem gläsernen Objektiv hinauf. Das sieht er nur verschwommen, weil er weint. »Reicht das?«
Nichts. Und es war nicht einmal ein richtiger Bissen, nur ein kleiner Fetzen. Es ist noch unglaublich viel übrig.
»Warum?«, ruft er. »Warum soll ich das tun? Welchen Zweck hat das?«
Nichts. Vielleicht hat das Ding da oben kein Mikrofon, aber das ist kaum anzunehmen. Jorge denkt, dass die beiden ihn nicht nur sehen, sondern auch hören können, und wenn sie ihn hören, könnten sie ihm auch antworten.
»Ich kann nicht.« Jetzt weint er heftiger. »Wenn ich’s könnte, würde ich’s ja tun, aber ich kann’s nicht, verdammte Scheiße.«
Dann entdeckt er, dass er es doch kann. Bissen um Bissen verzehrt er die rohe Leber. Anfangs hat er einen starken Würgreflex, aber irgendwann verschwindet der.
Nur stimmt das nicht, denkt Jorge, während er die Pfütze aus gerinnendem rotem Glibber auf dem sonst leeren Teller betrachtet. Verschwunden ist der Reflex nicht, ich habe ihn gewaltsam bezwungen.
Er hebt den Teller unter das gläserne Auge. Zuerst passiert wieder nichts, dann öffnet sich die Tür zur oberen Welt, und Emily Harris kommt herunter. Sie trägt Lockenwickler. Auf dem Gesicht hat sie irgendeine Nachtcreme, und in der Hand hält sie eine Flasche Tafelwasser. Die stellt sie außerhalb von Jorges Reichweite auf den Beton, dann greift sie nach dem Besen.
»Trinken Sie den Saft«, sagt sie.
»Bitte«, flüstert Jorge. »Bitte nicht. Bitte hören Sie auf.«
Professorin Emily Harris vom Fachbereich Anglistik – inzwischen ist sie wohl emeritiert, hält nur noch gelegentlich eine Vorlesung oder ein Seminar ab und besucht die Sitzungen – sagt nichts. Was Jorge überzeugt, ist die Ruhe in ihren Augen. Es ist wie in dem alten Blues-Song: Cryin’ and pleadin’ don’t do no good.
Er neigt den Teller und lässt das zu Gelee erstarrte Blut in den Mund rutschen. Einige Tropfen klatschen auf sein T-Shirt, aber das meiste verschwindet in seinem Schlund. Es ist salzig und lässt seinen Durst noch schlimmer werden. Er zeigt Emily den Teller, der jetzt bis auf ein paar rote Schlieren leer ist. Dabei erwartet er, dass sie ihm befehlen wird, das auch noch zu verzehren, es mit dem Finger aufzuwischen und den dann in den Mund zu stecken wie einen schaurigen Halloweenlutscher, doch das tut sie nicht. Sie kippt die Wasserflasche um und schiebt sie mit dem Besen durch die Klappe. Gierig greift Jorge danach, dreht den Verschluss ab und schüttet sich die Hälfte mit mehreren Schlucken in den Rachen.
Welch eine Wonne!
Emily lehnt den Besen wieder an die Treppe und steigt hinauf.
»Was wollen Sie eigentlich? Sagen Sie mir, was Sie wollen, dann tu ich das! Das schwöre ich! Hoch und heilig!«
Sie hält kurz inne, gerade lange genug für ein einziges Wort: »Maricón.« Dann geht sie weiter. Die Tür schließt sich. Das Schloss schnappt zu.
1
Seit der Ankunft von COVID-19 hat Zoom sich ganz schön gemausert. Als Holly es zum ersten Mal benutzt hat – im Februar 2020, was wesentlich länger her zu sein scheint als siebzehn Monate –, brach die Verbindung häufig ab, wenn man nur schief auf den Bildschirm blickte. Manchmal sah man die anderen Zoomer, manchmal nicht, und manchmal flackerten sie mit einer Kopfschmerz verursachenden Frequenz vor sich hin.
Holly ist ein begeisterter Filmfan (wobei sie seit dem vorletzten Frühjahr nicht mehr in einem richtigen Kino war), und sie liebt Hollywood-Blockbuster ebenso sehr wie Kunstfilme. Einer ihrer Lieblingsstreifen aus den Achtzigern ist Conan der Barbar, und ihr liebster Spruch aus dem Film stammt von einer Nebenfigur. »Vor zwei, drei Jahren entstand der Schlangenkult«, sagt ein Straßenhändler über die Jünger des Seth. »Er hat sich ausgebreitet wie die Pest.«
Mit Zoom verhält es sich ebenso. 2019 war es nur eine von vielen Apps, die mit anderen wie FaceTime und GoTo Meeting um die Gunst der Kunden konkurrierte. Jetzt ist es dank Corona praktisch so allgegenwärtig wie der Schlangenkult. Verbessert hat sich übrigens nicht nur die Technik, sondern auch der Produktionswert. Die Zoom-Trauerfeier, an der Holly gerade teilnimmt, könnte fast eine Szene aus einem Fernsehdrama sein. Natürlich liegt der Fokus auf den Leuten, von denen die liebe Verstorbene momentan gepriesen wird, aber gelegentlich sieht man auch verschiedene Trauergäste zu Hause schweigend vor dem Bildschirm sitzen.
Holly sieht man allerdings nicht. Die hat ihr Video blockiert. Sie ist eine bessere, stärkere Person als früher, aber weiterhin sehr zurückhaltend. Sie weiß, dass es in Ordnung ist, bei Trauerfeiern traurig zu sein und zu weinen, aber sie will nicht, dass jemand sie so sieht, vor allem nicht ihr Geschäftspartner und ihre Freunde. Sie will nicht, dass die ihre geröteten Augen sehen, ihr wirres Haar und ihre Hände, die so gezittert haben, als sie die Trauerrede vorgelesen hat. Die war zugleich kurz und so aufrichtig, wie sie es zustande bringen konnte. Vor allem will sie nicht, dass man sieht, wie sie eine Zigarette raucht – nach siebzehn Monaten Corona ist sie schließlich doch rückfällig geworden.
Nun, am Ende der Trauerfeier, läuft eine Diashow, in der die liebe Verstorbene in verschiedenen Posen an verschiedenen Orten zu sehen ist, während Frank Sinatra »Thanks for the Memory« singt. Das hält Holly nicht aus, weshalb sie auf Meeting verlassen klickt. Sie zieht noch ein letztes Mal an der Zigarette, und als sie die gerade ausdrückt, läutet das Telefon.
Eigentlich will sie mit niemand sprechen, aber es ist Barbara Robinson, und daher muss sie den Anruf entgegennehmen.
»Du hast dich ausgeklinkt«, sagt Barbara. »Da war nicht mal mehr ein schwarzes Kästchen mit deinem Namen drauf.«
»Das Lied hat mir noch nie besonders gefallen. Außerdem war die Feier sowieso vorbei.«
»Aber es geht dir doch einigermaßen, oder?«
»Ja.« Was nicht ganz stimmt; Holly weiß nicht, ob es ihr einigermaßen geht. »Aber jetzt im Moment muss ich …« Welchen Ausdruck würde Barbara akzeptieren? Und es Holly erlauben, den Anruf zu beenden, bevor sie in Tränen ausbricht? »Ich muss das alles erst mal verarbeiten.«
»Das versteh ich«, sagt Barbara. »Wenn du willst, komme ich sofort zu dir, egal ob wir jetzt einen Lockdown haben oder nicht.«
Es ist ein De-facto-Lockdown, kein richtiger, was sie beide wissen; der Gouverneur ihres Bundesstaats ist entschlossen, die individuellen Freiheiten zu beschützen, egal wie viele Tausende für diese Idee erkranken oder sterben müssen. Die meisten Leute verhalten sich allerdings ohnehin vorsichtig, Gott sei Dank.
»Das ist nicht nötig.«
»Okay. Ich weiß, wie schlimm es ist, Holly. Es ist eine schlimme Zeit, aber halt bitte durch. Wir haben schon Schlimmeres durchgemacht.« Wobei sie vielleicht, ja fast sicher, an Chet Ondowsky denkt, der vor nicht langer Zeit eine kurze und tödliche Reise durch einen Aufzugschacht unternommen hat. »Außerdem gibt es bald eine Boosterimpfung. Zuerst für Leute mit einem schlechten Immunsystem und solche über fünfundsechzig, aber ich hab in der Schule gehört, dass im Herbst alle dran sein werden.«
»Klingt gut«, sagt Holly.
»Und das ist noch nicht alles! Trump ist weg!«
Aber er hat ein Land hinterlassen, das im Krieg mit sich selbst ist, denkt Holly. Und wer sagt, dass er 2024 nicht noch mal aus der Versenkung auftaucht? Sie denkt daran, was Arnie in Terminator ankündigt: »Ich komme wieder.«
»Holly? Bist du noch da?«
»Bin ich. Hab bloß nachgedacht.« Tatsächlich hat sie an eine weitere Zigarette gedacht. Da sie jetzt wieder angefangen hat, kann sie irgendwie nicht genug von dem Zeug kriegen.
»Okay. Ich hab dich lieb, und mir ist schon klar, dass du deine Ruhe brauchst, aber wenn du dich heute Abend oder morgen nicht meldest, rufe ich wieder an. Nur damit du vorgewarnt bist.«
»Hab verstanden«, sagt Holly und legt auf.
Sie greift nach den Zigaretten, schiebt sie dann jedoch weg, legt den Kopf auf die gekreuzten Arme und fängt an zu weinen. In letzter Zeit hat sie sehr viel geweint. Tränen der Erleichterung, als Biden die Wahl gewonnen hat. Tränen des Schreckens als verzögerte Reaktion darauf, dass Chet Ondowsky, ein als Mensch getarntes Monster, in den Aufzugschacht gestürzt ist. Geweint hat sie auch bei und nach dem Sturm auf das Kapitol; das waren Tränen des Zorns. Heute gelten ihre Tränen Trauer und Verlust, nur sind es zudem Tränen der Erleichterung. Das ist zwar furchtbar, aber es ist wohl auch einfach menschlich.
Im März 2020 hat Corona sich in beinahe allen Pflegeheimen in dem Staat breitgemacht, wo Holly aufgewachsen ist und aus dem sie anscheinend nicht wegkommt. Für ihren Onkel Henry war das kein Problem. Der lebte zu dem Zeitpunkt noch bei ihrer Mutter in den Meadowbrook Estates. Schon da hat Onkel Henry langsam den Verstand verloren, was Holly zu ihrem Glück nicht bewusst war. Bei ihren gelegentlichen Besuchen kam er ihr einigermaßen munter vor, und Charlotte Gibney hat ihre Sorgen über den Zustand ihres Bruders strikt für sich behalten. Dabei hat sie eine der großen stillschweigenden Regeln ihres Lebens befolgt: Wenn man über etwas nicht spricht und es sich nicht eingesteht, dann ist es gar nicht da. Holly nimmt an, dass ihre Mutter sich deshalb nie mit ihr zusammengesetzt und sie aufgeklärt hat, als sie dreizehn war und allmählich Brüste bekam.
Im Dezember des vergangenen Jahres war Charlotte nicht mehr in der Lage, das Offensichtliche zu leugnen, nämlich dass ihr älterer Bruder dement war. Ungefähr zu der Zeit, wo Holly langsam den Verdacht hegte, Chet Ondowsky könnte etwas anderes sein als ein harmloser Fernsehreporter, hat Charlotte Onkel Henry mit Unterstützung von ihrer Tochter und deren gutem Freund Jerome in ein Pflegeheim namens Rolling Hills geschafft. Zugleich wurden in den Vereinigten Staaten die ersten Fälle mit der sogenannten Delta-Variante gemeldet.
Ein Pfleger des Heims wurde positiv auf diese neue und leichter übertragbare Coronaversion getestet. Eine Impfung hatte er zuvor verweigert, weil er behauptete, der Impfstoff enthalte Zellen von abgetriebenen Babys – das habe er im Internet gelesen. Man schickte ihn nach Hause, aber der Schaden war bereits angerichtet. Delta wanderte durch das Heim, und bald litten mehr als vierzig der alten Herrschaften in unterschiedlichem Grad an der Erkrankung. Etwa ein Dutzend starb. Hollys Onkel Henry gehörte nicht dazu, der erkrankte nicht einmal. Er war doppelt geimpft – gegen den Widerstand von Charlotte, aber Holly hatte darauf bestanden – und wurde zwar positiv getestet, bekam aber nicht einmal einen Schnupfen.
Dafür starb Charlotte.
Als fanatische Trump-Anhängerin – was sie ihrer Tochter bei jeder Gelegenheit unter die Nase rieb – hatte sie sich geweigert, sich impfen zu lassen oder auch nur eine Maske zu tragen. Außer im Supermarkt und in der Bankfiliale, wo das vorgeschrieben war. Für diese Gelegenheiten hielt sie eine Maske parat, die hellrot gefärbt und mit MAGA bedruckt war.
Am vierten Juli 2021 nahm Charlotte an einer Anti-Masken-Demonstration in der Hauptstadt des Bundesstaats teil, wobei sie ein Plakat mit der Aufschrift MEINKÖRPERMEINEENTSCHEIDUNG schwenkte (eine Meinung, die sie nicht davon abhielt, eine entschiedene Abtreibungsgegnerin zu sein). Am siebten Juli verlor sie den Geruchssinn und begann zu husten. Am zehnten wurde sie ins Mercy-Hospital eingewiesen, gerade einmal neun Straßen von dem Pflegeheim entfernt, wo es ihrem Bruder bestens ging … jedenfalls körperlich. Am fünfzehnten schloss man sie an ein Beatmungsgerät an.
Während Charlottes letzter, brutal kurzer Krankheit besuchte Holly sie per Zoom. Bis zum bitteren Ende behauptete Charlotte, das Coronavirus sei ein Schwindel und sie leide nur an einer schlimmen Grippe. Sie starb am zwanzigsten, und nur die guten Beziehungen von Pete Huntley, Hollys Geschäftspartner, verhinderten, dass ihr Leichnam vorerst in dem neben der Leichenhalle aufgestellten Kühllastwagen eingelagert wurde. Stattdessen brachte man ihn zum Bestattungsinstitut, dessen Besitzer umgehend die Zoom-Trauerfeier arrangiert hatte. Nach beinahe eineinhalb Jahren Pandemie hatte er mehr als genug Erfahrung mit solchen Internetriten.
Endlich hat Holly sich ausgeweint. Sie überlegt, sich einen Film anzusehen, doch die Vorstellung reizt sie überhaupt nicht, was eine Seltenheit ist. Dann denkt sie daran, sich ins Bett zu legen, aber seit dem Tod ihrer Mutter hat sie sowieso schon sehr viel geschlafen. Wahrscheinlich geht ihre Psyche so mit Trauer um. Ein Buch lesen will sie auch nicht. Sie bezweifelt, dass sie sich auf die Sätze konzentrieren könnte.
Wo früher ihre Mutter war, ist jetzt ein Loch, so einfach ist das. Die beiden hatten eine schwierige Beziehung, die noch schlechter wurde, als Holly sich endlich abgenabelt hatte. Gelungen ist ihr das vor allem mithilfe von Bill Hodges. Als der an Pankreaskrebs starb, hat sie sehr um ihn getrauert, aber die Trauer, die sie jetzt empfindet, ist irgendwie tiefer und komplizierter, weil Charlotte Gibney – da muss man um jeden Preis die Wahrheit sagen – eine Spezialistin für erdrückende Mutterliebe war. Zumindest hinsichtlich ihrer Tochter. Die Entfremdung der beiden nahm zu, als Charlotte sich rückhaltlos zu dem früheren Präsidenten bekannte. In den vergangenen beiden Jahren hat Holly sie daher nur selten besucht, zum letzten Mal an Weihnachten, wo Charlotte alle vermeintlichen Lieblingsgerichte ihrer Tochter auf den Tisch gestellt hat. Jedes einzelne davon hat Holly an ihre unglückliche, einsame Kindheit erinnert.
Holly hat zwei Mobiltelefone auf ihrem Schreibtisch liegen, ihr privates und ihr geschäftliches. Während der Pandemie hatten sie bei Finders Keepers viel zu tun, wobei es ziemlich problematisch geworden ist, Nachforschungen anzustellen. Jetzt ist die Agentur geschlossen, und die Ansagen auf ihrem Geschäftsanschluss und dem von Pete verkünden jedem Anrufer, dass das bis zum ersten August so bleiben wird. Sie hat überlegt, »aufgrund eines familiären Trauerfalls« hinzuzufügen, hat jedoch entschieden, dass das niemand etwas angeht. Als sie jetzt einen Blick auf ihr Geschäftshandy wirft, tut sie das nur, weil sie momentan auf Autopilot ist.
Sie sieht, dass in den vierzig Minuten, die sie an der Trauerfeier für ihre Mutter teilgenommen hat, vier Anrufe eingegangen sind. Alle von derselben Nummer. Außerdem wurden vier Nachrichten hinterlassen. Holly überlegt kurz, ob sie die einfach löschen soll. Sie hat ebenso wenig Lust, einen Fall anzunehmen, wie sie einen Film ansehen oder ein Buch lesen will, aber das schafft sie nicht – so wie sie es nicht schaffen würde, ein Bild schief an der Wand hängen zu lassen oder ihr Bett nicht zu machen.
Wenn ich’s mir anhöre, bin ich noch lange nicht verpflichtet zurückzurufen, sagt sie sich und spielt die erste Nachricht ab. Die ist um 13.02 Uhr eingetroffen und damit etwa zu dem Zeitpunkt, wo die finale Charlotte-Gibney-Show begonnen hat.
»Hallo, hier spricht Penelope Dahl. Ich weiß, dass Sie geschlossen haben, aber es ist sehr wichtig. Ein Notfall, genauer gesagt. Ich hoffe, Sie rufen mich so bald wie möglich zurück. Ihre Agentur wurde mir von Detective Isabelle Jaynes …«
Hier endet die Nachricht. Natürlich weiß Holly, wer Izzy Jaynes ist, die engste Kollegin von Pete, als der noch bei der Polizei war, aber das ist es nicht, was sie an der Nachricht trifft. Getroffen – und zwar mit ganzer Wucht – wird sie davon, wie sehr Penelope Dahl sich wie Hollys verstorbene Mutter anhört. Es ist weniger die Stimme selbst als die schier greifbare Ängstlichkeit darin. Charlotte hatte beinahe immer Angst vor irgendetwas, und mit dieser ständigen Qual hat sie ihre Tochter angesteckt wie mit einem Virus. Wie mit Corona, könnte man sagen.
Holly beschließt, sich die restlichen Nachrichten der ängstlichen Penelope nicht anzuhören. Die Dame wird warten müssen. Pete wird bestimmt eine ganze Weile nicht unterwegs sein können; der wurde eine Woche vor Charlottes Tod positiv auf Corona getestet. Er ist doppelt geimpft und nicht allzu krank – wie er sagt, ist es mehr wie eine schwere Erkältung als wie Grippe –, aber er ist in häuslicher Quarantäne, und dabei wird es für eine Weile bleiben.
Holly steht am Wohnzimmerfenster ihrer hübsch ordentlichen kleinen Wohnung, blickt auf die Straße hinunter und denkt an die letzte Mahlzeit mit ihrer Mutter. Ein echtes Weihnachtsessen, genau wie früher, hat Charlotte fröhlich und aufgeregt gerufen, aber darunter lag jene beständige Angst. Das »echte« Weihnachtsessen bestand aus trockenem Truthahn, klumpigem Kartoffelpüree und schlaffem Spargel. Ach, und zum Anstoßen gab es kleine Gläser mit Wein von Mogen David. Wie furchtbar diese Mahlzeit doch gewesen ist, und wie furchtbar es ist, dass es ihre letzte gemeinsame war. Hat Holly ich hab dich lieb, Mama gesagt, bevor sie am nächsten Morgen abgefahren ist? Sie glaubt ja, erinnert sich aber nicht genau. Genau erinnern kann sie sich lediglich an die Erleichterung, die sie verspürt hat, als sie um die erste Ecke fuhr und das Haus ihrer Mutter nicht mehr im Rückspiegel zu sehen war.
Holly hat ihre Zigaretten neben ihrem Desktoprechner liegen lassen. Sie geht zum Schreibtisch, schüttelt eine heraus, steckt sie an, betrachtet das Geschäftstelefon in seiner Ladestation, seufzt und hört sich die zweite Nachricht von Penelope Dahl an. Die beginnt mit einer missbilligenden Bemerkung.
»Da ist aber sehr wenig Zeit für Nachrichten, Ms. Gibney. Ich würde gerne mit Ihnen oder Mr. Huntley sprechen, oder mit Ihnen beiden. Es geht um meine Tochter Bonnie. Die ist vor drei Wochen verschwunden, am ersten Juli. Die Polizei unternimmt nichts. Die Ermittlungen waren ausgesprochen oberflächlich. Das habe ich auch zu Detective Jaynes gesagt, direkt ins …«
Ende der Nachricht. »Sie hat es Izzy direkt ins Gesicht gesagt«, ergänzt Holly, wobei ihr Rauch aus den Nasenlöchern strömt. Männer sind oft fasziniert von Izzys roten Haaren (inzwischen zweifellos im Frisiersalon aufgehübscht) und ihren geheimnisvollen grauen Augen, Frauen weniger. Aber sie ist eine gute Kriminalbeamtin. Wenn Pete in den Ruhestand geht, wie er immer wieder androht, wird Holly versuchen, sie von den Cops weg auf die dunkle Seite zu locken.
Ohne zu zögern, hört sich Holly die dritte Nachricht an, schließlich muss sie erfahren, wie die Geschichte endet. Wobei sie das schon erraten kann. Es besteht eine gute Chance, dass Bonnie Dahl durchgebrannt ist und dass ihre Mutter das nicht akzeptieren kann. Die Stimme von Penelope Dahl ertönt.
»Bonnie arbeitet als Bibliothekarin auf dem Campus vom Bell College. An der Reynolds Library, die kennen Sie doch, oder? Die haben im Juni wieder für die Sommerkurse aufgemacht, wobei man natürlich eine Maske tragen muss, und ich nehme an, man muss auch einen Impfnachweis vorzeigen, allerdings haben die bisher nicht …«
Die Nachricht bricht ab. Wie wär’s, wenn Sie endlich mal zum Punkt kommen, gute Frau, denkt Holly und ruft die letzte Nachricht auf. Jetzt spricht Penelope schneller, was sich fast wie ein Rap anhört.
»Zur Arbeit fährt sie mit dem Fahrrad. Ich hab ihr schon gesagt, wie gefährlich das ist, aber sie meint, sie würde ja einen Helm tragen. Als würde sie das davor schützen, zu stürzen oder von einem Auto angefahren zu werden. Sie hat beim Jet Mart angehalten, um sich eine Limo zu kaufen, und da hat man sie …« Penelope beginnt zu weinen, was schwer zu ertragen ist. Holly zieht energisch an ihrer Zigarette und drückt sie dann aus. »Da hat man sie das letzte Mal gesehen. Bitte helfen …«
Ende der Nachricht.
Holly steht am Schreibtisch und hat das Handy auf Lautsprecher gestellt. Jetzt setzt sie sich und legt das Gerät in die Ladestation zurück. Zum ersten Mal, seit Charlotte krank geworden ist – nein, seit Holly begriffen hat, dass ihre Mutter nicht genesen würde –, rückt ihr Kummer in den Hintergrund. Sie würde gern die gesamte Geschichte hören oder jedenfalls das, was Penelope Dahl weiß. Pete hat wahrscheinlich nicht mehr darüber erfahren als Holly, aber sie beschließt trotzdem, ihn anzurufen. Sonst hat sie ja eigentlich nichts zu tun, außer über ihre letzten Videobesuche bei ihrer Mutter nachzugrübeln und darüber, wie viel Angst in deren Augen lag, während ein Gerät sie beim Atmen unterstützen musste.
Pete nimmt schon beim ersten Läuten ab. »Hallo, Holly«, sagt er mir rauer Stimme. »Das mit deiner Mama tut mir unheimlich leid.«
»Danke.«
»Du hast eine tolle Trauerrede gehalten. Kurz, aber schön. Schade, dass ich dich …« Er wird von einem Hustenanfall unterbrochen. »… dass ich dich nicht gesehen hab. Wieso eigentlich? War das irgendein Softwarefehler?«
Das könnte Holly bejahen, aber sie hat es sich zur Gewohnheit gemacht, immer die Wahrheit zu sagen, außer bei jenen seltenen Gelegenheiten, wo das absolut nicht infrage kommt. »Nein, mit der Software hatte das nichts zu tun, ich hab einfach die Webcam-Übertragung ausgeschaltet. Bin ziemlich durcheinander. Wie geht’s denn dir, Pete?«
Bei seinem Seufzer hört sie den Schleim in seiner Kehle rasseln. »Nicht so übel, aber gestern war ich besser drauf. Mensch, ich hoffe bloß, dass ich von Langzeitfolgen verschont bleibe.«
»Hast du bei deinem Arzt angerufen?«
Pete stößt ein heiseres Lachen aus. »Da könnte ich mich genauso gut beim Papst melden wollen. Weißt du, wie viele neue Fälle gestern bei uns in der Stadt aufgetreten sind? Dreitausendvierhundert. Das nimmt exponentiell zu.« Es folgt ein weiterer Hustenanfall.
»Und wenn du’s in der Notfallambulanz versuchst?«
»Ach, ich halte mich an Hustensaft und Paracetamol. Am schlimmsten ist, dass ich die ganze Zeit so verdammt müde bin. Jeder Gang in die Küche ist ein Gewaltmarsch, und wenn ich aufs Klo gehe, muss ich mich hinsetzen und pinkeln wie ein Mädchen. Tut mir leid, wenn du das nicht so genau wissen wolltest.«
Auf die Information hätte Holly tatsächlich gern verzichtet, lässt sie aber unkommentiert. Bisher hat sie gedacht, sie müsste sich um Pete keine Sorgen machen. Bei einem Impfdurchbruch verläuft die Erkrankung normalerweise nicht so schlimm, aber vielleicht ist es doch ernster.
»Hast du bloß angerufen, um ein bisschen mit mir zu quatschen, oder willst du was von mir?«
»Tja, ich will dich bestimmt nicht belästigen, wenn du …«
»Ach, belästige mich nur. Dann kann ich über was anderes nachdenken als über mich selbst. Sag mal, wie geht es dir eigentlich? Du bist doch nicht etwa krank?«
»Nein, mir geht’s gut. Hast du einen Anruf von einer Frau namens …«
»Penny Dahl bekommen? Hab ich. Inzwischen hat sie ganze vier Nachrichten auf meiner Mailbox hinterlassen.«
»Auf meiner waren es auch vier. Hast du zurückgerufen?«
Holly weiß, dass er das nicht getan hat. Außerdem weiß sie: Penelope Dahl hat auf der Website von Finders Keepers oder vielleicht auch auf Facebook die geschäftlichen Telefonnummern von zwei Personen verschiedenen Geschlechts gefunden. Woraufhin sie erst einmal den Mann angerufen hat. Wenn man ein Problem hat – eines, das man als Notfall empfindet –, ist das nämlich die erste Wahl. Der Anruf bei der Frau stellt lediglich Plan B dar. Holly ist es gewohnt, dass sie bei Finders Keepers diese Rolle spielt.
Pete seufzt abermals, wobei wieder dieses beunruhigende Rasseln zu hören ist. »Falls du’s vergessen haben solltest, Holly, wir nehmen gerade keine Aufträge an. Außerdem geht’s mir bekanntlich beschissen, und da hab ich keine Lust drauf, dass ’ne wahrscheinlich unglücklich geschiedene Mami mir die Ohren vollheult. Da du gerade deine Mutter verloren hast, dürfte dich das auch nicht in bessere Stimmung versetzen. Warte bis August, das rate ich dir, und zwar dringend. Bis dahin hat sich die Kleine wahrscheinlich bei ihrer Mami gemeldet, aus Fort Wayne, Phoenix oder San Francisco.« Er hustet, dann fügt er hinzu: »Oder die Cops haben ihre Leiche gefunden.«
»So, wie du dich anhörst, weißt du doch irgendwas über den Fall, obwohl du nicht mit der Mutter gesprochen hast. Stand was in der Zeitung?«
»Und ob. Es war sogar ’ne richtig große Story. Eilmeldung, Extrablatt, Extrablatt, lesen Sie alles darüber! Aber jetzt mal im Ernst, es waren ganze zwei Zeilen im Polizeibericht zwischen einem nackten Kerl, der an der Cumberland Avenue aus den Latschen gekippt ist, und einem tollwütigen Fuchs, der auf dem Parkplatz vom City Center unterwegs war. Momentan steht nichts in der Zeitung als irgendwelcher Kram über Corona und über Leute, die sich wegen den Masken streiten. Was so ähnlich ist, wie wenn man im Regen steht und sich darüber streitet, ob man nass wird oder nicht.« Pete macht eine Pause, bevor er widerstrebend hinzufügt: »Unter anderem hat die gute Frau mir auf der Mailbox mitgeteilt, dass Izzy mit dem Fall beschäftigt ist, daher hab ich die angerufen.«
In diesem Sommer hat Holly nur selten Gelegenheit für ein Lächeln gehabt, aber jetzt spürt sie eines auf dem Gesicht. Es ist schön zu wissen, dass nicht nur sie ihrem Beruf verfallen ist.
Es ist, als könnte Pete sie sehen, obwohl sie nicht auf Zoom sind. »Mach bloß keine große Sache draus, okay? Ich musste mich sowieso bei Izzy melden, um zu fragen, wie es ihr geht.«
»Und?«
»Was Corona betrifft, geht es ihr bestens. Allerdings hat sie gerade ihren letzten Freund abserviert und mir deshalb ganz schön was vorgejammert. Dann hab ich sie nach dieser Bonnie Dahl gefragt. Sie sagt, die wird als vermisst geführt, wofür es ein paar gute Gründe gibt. Laut den Nachbarn haben Tochter und Mutter oft gestritten, manchmal sogar richtig heftig, und am Sattel von Bonnies Fahrrad hat ein Zettel geklebt, ’ne Art Abschiedsbrief. Der kam der Mutter allerdings verdächtig vor, und Izzy findet das Ganze zumindest zweifelhaft.«
»Was stand denn drauf?«
»Es waren bloß drei Wörter: Ich hab genug. Was heißen könnte, dass sie abgehauen ist oder …«
»Oder dass sie Suizid begangen hat. Was sagen denn ihre Freunde über ihren Gemütszustand? Oder die Leute, mit denen sie in der Bibliothek zusammenarbeitet?«
»Keine Ahnung«, sagt Pete und hustet wieder los. »Dabei hab ich’s bewenden lassen, und das solltest du auch tun, wenigstens vorerst. Entweder wird der Fall am ersten August noch offen sein, oder er hat sich von selbst gelöst.«
»So oder so«, sagt Holly.
»Genau. So oder so.«
»Wo hat man das Fahrrad denn gefunden? Ms. Dahl hat gesagt, ihre Tochter hätte sich am Abend ihres Verschwindens beim Jet Mart was zu trinken besorgt. Stand das Rad vielleicht da?« Holly kennt mindestens drei solche Supermärkte in der Stadt, und wahrscheinlich gibt es sogar noch mehr davon.