Honolulu King - Anne-Gine Goemans - E-Book
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Honolulu King E-Book

Anne-Gine Goemans

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Beschreibung

Hardy Hardy, Betreiber eines indonesischen Imbiss’ in Haarlem, hat mit seinen fast achtzig Jahren schon jede Menge erlebt: als Elfjähriger musste er auf Java mit ansehen, wie Unabhängigkeitskämpfer seine Familie ermordeten. Einen Trost fand er als Erwachsener in der Hawaii-Musik, bei seiner Band »Honolulu Kings« – und bei seiner Frau Christina, einer bildschönen Holländerin, der Liebe seines Lebens. Doch während sie immer tiefer in der Demenz versinkt, tritt seine eigene Vergangenheit zunehmend klarer ans Licht: Blieben die Morde an seiner Familie doch nicht ungesühnt? Hat Hardy sich gar selbst mit Schuld beladen? Er kann dem, was geschehen ist, nicht entfliehen, und muss sich den Dämonen seiner eigenen Geschichte stellen.
Ein großer Roman über das, was war und was bleibt – und über ein außergewöhnliches Leben, bevölkert von Figuren, die dem Leser ans Herz wachsen.

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Seitenzahl: 575

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Anne-Gine Goemans

Honolulu King

Roman

Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke

Insel Verlag

Für John Und für Lucy, Wester und Flint

Dragonfly out in the sun You know what I mean, don’t you know Butterflies all havin’ fun You know what I mean Sleep in peace when day is done That’s what I mean And this old world is a new world And a bold world For me

It’s a new dawn It’s a new day It’s a new life For me And I’m feeling good

Nina Simone, »Feeling Good«

Text und Musik von Anthony Newley und Leslie Bricusse

Ein Kurs in Wundern

Lektion 33: Es gibt eine andere Art, die Welt zu betrachten.

Als Hardy Hardy schließlich sprach, wünschten alle aus tiefstem Herzen, er hätte den Mund gehalten. Man kannte ihn als optimistischen und umgänglichen Menschen, der sich als Honolulu King mit Hawaiimusik einen Namen gemacht hatte. Über die bestialischen Morde an seiner Mutter, seinen beiden kleinen Brüdern und seiner Schwester hörte man ihn nur selten sprechen. Bis Hardy Hardy es für notwendig hielt, seine Geschichte zu erzählen. Nach mehr als siebzig Jahren.

1

Wie hieß doch gleich der Mann, der die Gefängniskatze gegessen hat? Das ist die Frage, und es spielt keine Rolle, welcher der drei Freunde sie stellt oder wie sie auf das Thema kommen. Es geht um den Nachnamen, und nichts anderes interessiert an diesem Frühlingsmorgen im Toko Hardy.

»Er heißt Brouwer«, sagt George. »Sure as hell. Er und seine Kameraden haben die Katze gefressen, aus Not. Sie hungerten und waren verzweifelt.« Aufs Sofa gefläzt, schaut er seine beiden Freunde mit dem typischen George-Blick an. Trotz seiner einundachtzig Jahre und der schlechten Augen macht er noch einen genauso selbstsicheren Eindruck wie vor gut einem halben Jahrhundert, als die Honolulu Kings vor vollen Sälen spielten. Fünf junge Männer mit Saiteninstrumenten auf der Bühne, alle fünf indonesisch-niederländischer Herkunft, nur dass George weniger wie ein Indo als wie ein Afrikaner aussah. Wie Nelson Mandela, um genau zu sein.

»Meiner Ansicht nach hieß er anders«, sagt Cok und hustet über einem Behälter mit Hühnerfilet-Stücken. Er sitzt am Tisch und schiebt das Fleisch auf Satéspieße. »Ich sehe ihn noch genau vor mir. Ein dürres Männchen mit unglaublich großen Füßen … Verbeek! Verbeek aus Batavia hat die Gefängniskatze gegessen! Das war seine Rettung. Die Japse hatten den Gefangenen befohlen, ihren Kot abzuliefern, wegen Verdacht auf Grubenwurm. Aber es gab nichts zu kacken, weil sie nichts zu fressen bekamen. Ohne Essen keine Kacke.«

Zufrieden zieht Cok an seiner Nelkenzigarette, dann stülpt er die Lippen vor, so dass Rauch durch die Zwischenräume der Zahnprothese entweicht. »Da hat Verbeek seinen Kot, die Überreste der Gefängniskatze, unter seinen Kameraden verteilt. Denn wer nichts ablieferte, bekam Schläge.«

George schüttelt den Kopf. »Du täuschst dich. Der Mann heißt Brouwer.«

»Verbeek«, bekräftigt Cok.

Cok sieht merkwürdig aus, findet Hardy. Wie er da so sitzt mit seinem viel zu weißen und zu großen neuen Gebiss, ähnelt er mehr einem Hai als einem achtundsiebzigjährigen Mann. Das liegt auch an seiner Haut. Sie ist so straff wie bei einem braunen Hai.

»Hardy? Was meinst du?«, fragt Cok, während etwas Asche aufs Hühnerfilet fällt. »Brouwer oder Verbeek?«

Hardy erhebt sich langsam aus seinem Sessel und zieht sein Hemd mit den dynamischen weißen Kringeln glatt. »Wir tracen ihn«, sagt er auf dem Weg zu den Regalen, die den Imbiss und den Wohnzimmerbereich gegeneinander abgrenzen. Viel mehr als eine Vitrinentheke mit indonesischen Gerichten und Zutaten und ein paar kleine Tische gibt es im Toko nicht. Hardy entnimmt einem der Regale eine Plastikkiste und stellt sie auf den Esstisch. Vier solche Kisten besitzt er, randvoll mit Kassetten. Ordentlich aufgereiht, die Rücken der Hüllen nach oben, so dass man die notierten Nachnamen lesen kann. Jansen. Tikoealoe. Oosterhof. Velthuizen. De Jong. Kakabeke. Disco.

Hardy beugt sich über die Kiste. »Es ist niemand anderes als Wolff«, sagt er. Während er sich durch die Kassettenhüllen arbeitet, liest er laut die Namen vor. George Akkerman und Cok Bakker, Bassist beziehungsweise Gitarrist ihrer im vorigen Jahrhundert eingegangenen Hawaiiband Honolulu Kings, hören schweigend zu.

Wie oft haben sie schon so zusammengesessen, um jemanden zu tracen? »Wir tracen ihn.« Hundert Mal? Hundertfünfzig Mal? Keiner von ihnen könnte es sagen. Es beginnt immer damit, dass einer von ihnen eine Frage zu irgendeinem Ereignis in der niederländisch-indonesischen Gemeinschaft stellt. Etwa: Welcher der Interviewten hat erzählt, dass seine Gruppe beim Hawaiimusik-Wettbewerb 1948 disqualifiziert wurde, weil sie Hulamädchen auftreten ließ, obwohl Tänzerinnen bei Wettbewerben ausdrücklich verboten waren? Sie konnten ja die Jury beeinflussen. War es Eddy Doorenbos von den populären Maui Eilanders? Oder Peter Schilperoort von den Puka Pakas? Über jeden Namen, der fiel, wurde diskutiert. Hardy und seine Freunde waren jedenfalls selbst nicht dabei gewesen. Im Jahr 1948 waren sie noch Kinder und hörten Hawaiimusik nur im Radio.

Hardy bezeichnet seine Kassettensammlung als »wissenschaftliches Material«. Seiner Ansicht nach enthält sie »explosive« Enthüllungen von Tatsachen, die in der Geschichtsschreibung gewöhnlich verdrängt oder ganz bewusst unterdrückt werden. Früher besaß er ein schweres Tonbandgerät, das er zu Auftritten mitschleppte, um die Musik seiner Honolulu Kings und ähnlicher Gruppen aufzunehmen. Als ihre Musik Ende der sechziger Jahre aus der Mode kam, brauchte er es dafür kaum noch. Stattdessen benutzte er das Tonbandgerät – und später einen Kassettenrekorder –, um seine niederländisch-indonesischen Imbissgäste zu interviewen. Die Leute schilderten ihre Erinnerungen an Niederländisch-Ostindien und die Besetzung durch die Japaner. Interviews kann man die Aufnahmen im Grunde kaum nennen. Hardy gab nur schnaubende Laute von sich, wenn ihm etwas nicht gefiel. Die »Japse«, genauer gesagt, positive Äußerungen über die Japse, waren ein äußerst empfindlicher Punkt. Wenn jemand behauptete, es habe auch gute Japaner gegeben, hörte man den sonst so umgänglichen Hardy plötzlich unterdrückt schnauben. Es klang wie die Ankündigung eines Herbststurms: Die letzten Blätter an den Bäumen werden unruhig, Wasseroberflächen kräuseln sich. Doch im Allgemeinen ließ Hardy seine Landsleute ungestört reden und nahm auch das lang anhaltende Schweigen auf, das den größten Schmerz in sich barg.

Hardys Hand arbeitet sich durch die Kiste, auf der Suche nach dem Mann mit der Gefängniskatze. Die meisten Interviewten sind inzwischen tot.

»Wen haben wir denn da«, sagt Hardy triumphierend und hält die Hülle einer BASF-Kassette hoch, auf deren Einleger in kindlicher Schleifenschrift Herr Wolff, Oktober 1997 steht. »Du hast ihn getracet!« George und Cok beglückwünschen ihn und applaudieren. Das gehört zum Ritual. Ehre, wem Ehre gebührt. »Er stand im Verdacht, die Katze gegessen zu haben. Aber jetzt, wo ich darüber nachdenke, bin ich mir fast hundertprozentig sicher, dass er es nicht gewesen ist«, sagt Hardy.

Aus dem mit Vorräten an Sambal, Sirup, Gewürzen und Konserven vollgestopften Regal nimmt er einen großen, schwarzen Ghettoblaster. Ein Weihnachtsgeschenk von seiner Tochter vor vielen Jahren. Die drei Freunde stellen sich feierlich in einer Reihe auf, sie pflegen die Erinnerungen stehend anzuhören. Während ihre Hände auf den Rückenlehnen der Esszimmerstühle ruhen, dringt leicht schleppend die Bassstimme von Herrn Wolff aus den Lautsprechern. Die magnetisierbare Schicht, in der seine Erinnerungen an Niederländisch-Ostindien festgehalten sind, hat sich mit der Zeit abgenutzt. Die hohen Töne sind verloren gegangen.

Während des Krieges konnte ich nicht mehr das Gymnasium besuchen. Ich fing deshalb als Seifenmacher bei meinem Onkel in Batavia an. Wir stellten Badeseife in verschiedenen Farben und grüne Waschseife aus Öl und Soda her. Als es kein Öl mehr gab, konnten wir keine Seife mehr machen und verlegten uns auf Schleifpapier aus Schweinehaut. Das stank entsetzlich. Wir holten im Schlachthof Sehnen und Haut und verkauften das stinkende Schleifpapier an chinesische Händler.

Hardy hat Herrn Wolff wieder deutlich vor Augen. Ein kleiner Mann mit melancholischem Blick, acht bis zehn Jahre älter als er. Herr Wolff wohnte in einer anderen Stadt, er war zufällig vorbeigekommen, und die Aufschrift »Institut für mündliche Geschichte Niederländisch-Indiens« – aus Klebebuchstaben auf der Tür von Toko Hardy unter den Öffnungszeiten angebracht – hatte sein Interesse geweckt. Nach dem Verzehr einer Portion Gado-Gado hatte Herr Wolff sich auf dem Sofa niedergelassen, während Hardy seine übliche Position einnahm, auf dem Esszimmerstuhl gegenüber dem Interviewten; Ghettoblaster und Mikrofon hatte er auf den Couchtisch dazwischen gestellt. Dann hatte er den Mann nach seinen Erinnerungen an die Besatzungszeit gefragt.

Meine Mutter hatte für die ganze Familie Rucksäcke gepackt, für den Fall, dass wir interniert würden. Aber der Krieg dauerte so lange, dass wir die Kleidung wieder auspackten, sonst hätten wir nichts mehr zum Anziehen gehabt. Als ich 1944 verhaftet wurde, war mein Rucksack leer. Unter den jungen Leuten, die nicht für die Japse arbeiten wollten, war es zu Unruhen gekommen. Auch ich war dabei. Alle wurden einkassiert. Wir waren jung, ich war gerade siebzehn geworden. Wir wurden mit Lastwagen zu Hause abgeholt und kamen ins Glodok-Gefängnis.

Hoch konzentriert warten die ehemaligen Honolulu Kings auf die Fortsetzung von Herrn Wolffs Bericht.

Wissen Sie, die Wärter waren hauptsächlich Indonesier. Japse habe ich dort kaum gesehen. Die Wärter waren Abschaum, sie folterten Menschen am laufenden Band. Und alles im Gefängnis geschah auf Kommando, mit Trillerpfeife. Waschen auf Kommando. FÜÜÜÜÜT! Einseifen!FÜÜÜÜÜT! Abwaschen! Sogar scheißen musste man auf Kommando. Eines Tages sollten wir unseren Kot abliefern, wegen Grubenwurm. Leichter gesagt als getan. Es kam ja nichts raus, so wenig, wie man uns zu essen gab. Manche hatten sich zuletzt vor einer Woche entleert. »Ich muss noch, Jungs«, habe ich da gesagt, und dann habe ich meinen Kot unter den Kameraden verteilt. Für jeden ein kleines bisschen. Unser Saal wurde beschuldigt, die Gefängniskatze gegessen zu haben. Das stimmte aber nicht.

Grinsend schaut Hardy seine Freunde an. Cok stützt sich schwer auf die Rückenlehne des Stuhls. Langes Stehen fällt ihm in letzter Zeit schwer.

Die indonesischen Wärter befahlen uns, so lange in der brennenden Sonne zu stehen, bis jemand die Tat gestand. Als die Ersten umfielen, haben wir zusammen die Schuld am Verschwinden der Gefängniskatze auf uns genommen. Wie gesagt, von den Japsen hatten wir nicht so viel zu befürchten. Ich bin vor allem guten Japsen begegnet, gebildeten Leuten, die ihre Militärzeit abdienten. Es waren unsere eigenen Landsleute, die uns fertigmachten.

Hardys Atemgeräusche sprechen Bände. Auch aus dem Ghettoblaster kommt schweres Schnauben. Offenbar merkte auch Herr Wolff, dass der Besitzer des Tokos nichts Nettes über Japaner hören wollte.

Verstehen Sie mich nicht falsch, Herr Hardy, letztlich war die Atombombe unsere Rettung. Dank der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki wurden wir mit einem Schlag befreit. Deshalb werde ich nie gegen Atomenergie sein. Aber soll der Krieg nie enden? Sollen wir keine japanischen Autos mehr kaufen? Sollen wir das tun? Sollen wir immer weiter hassen? Hass vergiftet die Seele. Ich bin zu alt für Hass, Herr Hardy.

»Es gibt keine guten Japse«, stößt Hardy zwischen den Zähnen hervor und geht weg. Trotzig hämmern die Absätze seiner Cowboystiefel auf die Fliesen. Mit einem Knall zieht er die Toilettentür hinter sich zu. Er öffnet den Reißverschluss seiner Hose und schaut zu der abgehängten, holzverkleideten Decke hinauf. Eine Gewohnheit seit der Zeit, als die Fratres im Waisenhaus ihm einbläuten, dass man beim Pinkeln den Blick gen Himmel zu richten habe. Nicht, dass man fürs Pinkeln den göttlichen Segen brauchte, aber man hätte sonst vielleicht nach dem Jungen geschielt, der neben einem pinkelte, ein schrecklicher Gedanke. Inzwischen ist Hardy in einem Alter, in dem er gar nicht mehr nach unten schauen will. Sein Geschlecht ist zu einem Luftballon-Zipfel zusammengeschrumpelt.

»O doch, das sollen wir«, zischt Hardy der holzverkleideten Decke zu. »Und ob wir das sollen, Herr Wolff.«

Er ist ihnen oft genug begegnet. Landsleuten, die in seinem Toko ganze Kassetten mit ihren schrecklichen Erinnerungen an die Besatzungszeit und an brüllende Japaner füllten, aber anschließend wie selbstverständlich in ein japanisches Auto stiegen. Den Mund voll Hass auf die Japse, aber Daihatsu, Mitsubishi und Suzuki davon ausnehmen. Der Einfachheit halber vergessen, dass Mitsubishi die Jagdflugzeuge und Bomber baute, die ihrem Volk Tod und Verderben brachten. Oder sie trugen eine Seiko-Armbanduhr. Seiko! Aber einer schoss wirklich den Vogel ab. Weil er Hardys Philips-Kassettenrekorder hoffnungslos veraltet fand, brachte er ihm doch tatsächlich einen gebrauchten Panasonic.

»Eine gottverdammte Japsen-Marke«, schimpft Hardy und zieht den Reißverschluss hoch, den Blick immer noch aufwärts gerichtet. Er wäscht sich in dem kleinen Waschbecken die Hände und schaut in den Spiegel. Sein Gesicht sieht trotz oder gerade dank seines Alters sehr gut aus. Die tiefen Falten geben ihm Charakter, die Nase ist kräftig, aber schmal, glücklicherweise nicht so pésék wie die von George. Besonders zufrieden ist Hardy mit seinen Augen, in denen es seit ein paar Jahren weißlich schimmert. Laut Hausarzt ist das ein Anzeichen für beginnenden Star, aber Hardy hat keine Beschwerden. Star – na wenn schon.

Von der Ablage über dem Waschbecken nimmt er einen Kamm. Dichtes Haar, keine Geheimratsecken. Cok beneidet ihn darum. Bevor Hardy grau wurde, bekam er regelmäßig zu hören, mit seinen Locken sehe er Herman Brood ähnlich. Er kannte Brood nicht. War ihm auch in der Musikwelt nie begegnet. Logisch, Hawaiimusik stand weitab von allen anderen Musikgenres.

Hardy kehrt durch die kleine Diele in den Wohnzimmerbereich des Tokos zurück. Cok raucht am Tisch entspannt eine Nelkenzigarette. George sitzt auf dem Sofa, dessen grünes Skai-Leder von einem Batikmuster aus Fettflecken überzogen ist, und starrt mit zusammengekniffenen Augen in ein Klatschblättchen. Zu eitel, um sich eine Brille zu kaufen. Mandela trug auch keine Brille. Die Kiste mit den Kassetten und der Ghettoblaster stehen wieder ordentlich im Regal. Seine Freunde werden kein Wort darüber verlieren, dass er Herrn Wolff unterbrochen hat, weiß Hardy. Das zweite ungeschriebene Gesetz des Tracens lautet, dass man den Interviewten schweigend zuhört, aber seine Freunde tun so, als wäre nichts geschehen. So ist es immer, und das ist schön. Es sagt viel über ihre Freundschaft.

»Ich fahre zu Christina«, verkündet Hardy und schiebt das Portemonnaie in eine Gesäßtasche seiner Jeans. »Um zwei Uhr holt Frau Poirrié ihre Bestellung ab. Sechzig Saté ajam.«

2

Hardy steht im Aufzug des Pflegeheims und drückt auf vier. Es riecht unangenehm. Das wundert ihn, im Aufzug oder auf den Fluren riecht es sonst nie unangenehm. Er blickt sich um und entdeckt eine kleine Pfütze. Wahrscheinlich von einem Gast, der den Unterschied zwischen dem Aufzug und der Toilette nicht mehr kennt. Dann ist dieser Liftpinkler sogar noch fein heraus – die meisten Gäste tragen Windeln. Glücklicherweise ist auch Hardys Frau diese Demütigung bisher erspart geblieben, obwohl sie es hin und wieder nicht rechtzeitig zur Toilette schafft. Ihre kleinen Missgeschicke sind aber nicht das Schlimmste. Was ihm wirklich weh tut, ist etwas anderes: dass Christina ihn nicht mehr erkennt. Manchmal erkennt sie nicht einmal mehr sich selbst.

Vor einiger Zeit hat er ein Foto von ihr gemacht. Sie trug eine dunkelblaue Wolljacke und einen bunten Seidenschal, und im Friseursalon hier im Hause hatte man ihr das Haar zu einer eindrucksvollen Frisur hochgesteckt. Hardy zeigte seiner Frau das Foto.

»So eine hässliche Frau«, sagte Christina.

»Aber Liebste«, entgegnete Hardy, »das bist doch du.«

Seine Frau betrachtete das Foto noch einmal genau und schüttelte den Kopf. »In meiner Familie gibt es keine so hässlichen Menschen.«

Hardy geht zu Christinas Hotelzimmer. Er weigert sich, das Haus, in dem sie untergebracht ist, als Pflegeheim zu bezeichnen. Niemand verlässt eine solche Einrichtung lebend. Hardy hat die feste Zuversicht, dass sie eines Tages wieder nach Hause kann. Deshalb betrachtet er ihren vorübergehenden Aufenthaltsort als Hotel, in dem sie von Gästen und Personal umgeben ist. Obwohl seine Frau Holländerin ist, wohnt sie in einem »indonesischen« Hotel. Es gibt aber außer ihr noch andere niederländische Gäste. Zum Beispiel den Mann im Nebenzimmer. Er ist neu. Beim Einchecken geriet er in Panik. Weinte, schrie, wurde handgreiflich. Während des Krieges war er in einem japanischen Lager eingesperrt, und nun glaubte er, dass er wieder interniert wurde.

An der Tür ihres Zimmers hängt ein Zettel, auf dem NICHTKLOPFEN steht. Klopfgeräusche können Christina erschrecken. Langsam öffnet er die Tür. Seine Frau sitzt am Tisch vor dem Fenster und starrt hinaus. Sie trägt ein blaues Kleid und rosa Schluffen mit Hasenöhrchen; ein Geschenk von ihrer Enkelin Synne. Ihre Tochter und ihr Schwiegersohn haben ihr einen norwegischen Namen gegeben, weil sie in Oslo gezeugt wurde. Hardy hat versucht, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn das kränkte. Mit einem norwegischen Vornamen wurden seine indonesischen Wurzeln verleugnet, so wie überhaupt alles an ihm, was indonesisch war, von seiner Tochter verleugnet wurde. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass Synne »Ssüün« ausgesprochen wird, was für ihn eher indonesisch als norwegisch klingt.

Als Hardy sich neben Christina setzt, dreht sie den Kopf zu ihm hin. Ihre hellen blauen Augen schauen durch ihn hindurch. »Junge«, sagt sie.

Obwohl sie ihn nicht mehr bei seinem Namen nennt, macht ihn dieses Wort glücklich. Er legt seine Hand auf ihre und schaut aus dem Fenster. Ihr Zimmer hat Aussicht auf den umschlossenen, südostasiatischen Garten. Er erinnert ihn an den Garten seiner Kindheit in Malang. Seine Mutter züchtete Rosen, deren Duft er nachts in seinem Zimmer roch.

Eine Tür wird zugeschlagen, jemand schreit: »Ich gehe! Ich gehe jetzt!«

Christina reagiert nicht auf den Tumult im Flur, den ihr internierter Zimmernachbar verursacht.

Sie blickt still vor sich hin. Auf was? Auf ihre Handtasche, die nutzlos auf dem Tisch steht? Sie geht nirgends mehr hin. Auf den Baum im Garten?

Nachdenklich betrachtet er die Wiege, die in einer Ecke des Zimmers steht. In der Wiege liegt ihre Tochter, Aswani. In letzter Zeit klagt seine Frau, das Baby sehe nicht mehr wie ihre Tochter aus.

Hardy kann ihr da kaum widersprechen. Die kahle Puppe mit der hohen Stirn hat nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit Aswani, die dichtes, schwarzes Haar hatte, als sie zur Welt kam.

Sie sitzen still nebeneinander, nur dass er nicht weiß, wo sich seine Frau gerade aufhält. Er ist nicht mehr ihr Mann. Hardy stellt sich vor, dass sie in Urlaub sind und sich in ihrem Hotelzimmer von einem Strandspaziergang ausruhen. Nachher werden sie im Fischrestaurant an der Promenade Krabbenkroketten essen und dazu einen trockenen Weißwein trinken. Das gefällt Christina. Er wird ihre Hand halten und mit seiner Frau Eindruck machen. Er macht gern Eindruck mit Christina. Ihre blauen Augen, das lange, hellblonde Haar – er sieht die anderen Männer schon denken: Wie kommt der kleine Indo zu diesem holländischen Prachtweib?

»Ein wunderbares Hotel ist das«, sagt Hardy. »Wie ich gehört habe, gibt es ganz in der Nähe ein Fischrestaurant, das Krabbenkroketten hat. Lass und nachher dort essen.« Er drückt sanft ihre Hand.

»Kommt John an deinem Geburtstag?«, fragt seine Frau und schaut ihn fröhlich an. »Er muss aber auch spielen.«

Es überrascht Hardy, dass sie jetzt von John spricht. John Sabelis. Gerade saßen sie noch in ihrem Hotelzimmer am Meer, und plötzlich sind sie dreiunddreißig Jahre in der Zeit zurückgereist. Er versucht, mit ihr zu reisen, ihrem Geist zu folgen. Wenn er das nicht tut, verliert er sie endgültig. Davor hat er am meisten Angst: dass Christina in eine andere Dimension verschwindet und ihn allein zurücklässt. »Natürlich kommt John an meinem Geburtstag und spielt«, sagt er fröhlich. »Er und die anderen Jungs werden sogar ›Happy Birthday‹ für mich singen.«

Sie lächelt ihn glücklich an.

Hardy hat John nicht mehr gesehen, seit der sich weigerte, »Happy Birthday« zu spielen. Es war 1982, und die Honolulu Kings waren im Studio, um ihre siebte und letzte LP aufzunehmen, Hawaiian Sunset. Damals traten sie schon nicht mehr auf, ihre Musik war mausetot. Im Studio schlug Hardy vor, als Hommage an den kürzlich verstorbenen Lap-Steel-Gitarristen Rudi Wairata dessen einzigartige Version von »Happy Birthday« einzuspielen. Der Molukker war zwar ein komischer Kauz gewesen, aber spielen konnte er. Rudis Interpretation von »Happy Birthday« war ganz und gar er selbst, als würde er durch die Saiten seines Instruments sprechen.

Hardy ahnte schon, dass John Schwierigkeiten machen könnte. Als Zeuge Jehovas lehnte der Ukulelespieler das Feiern von Geburtstagen ab. Besser gesagt, seine Frau, die große Spielverderberin, verbot es ihm. Sie war viel dogmatischer als John. Aber der dackelte immer folgsam hinter dieser fiesen Person mit ihrer fiesen Religion her. Hardy wusste also, dass John Bedenken haben würde, und war deshalb der Geschichte von »Happy Birthday« auf den Grund gegangen. Und siehe da: Es war eigentlich gar kein Glückwunschlied! Der ursprüngliche Titel lautete »Good Morning to All«. Kinder in einem amerikanischen Kindergarten hatten es als morgendliches Begrüßungslied gesungen.

John konnte also mit einem blütenreinen Jehova-Gewissen »Happy Birthday« spielen. Hardy kam ihm sogar noch einen weiteren großen Schritt entgegen und schlug vor, das Lied auf der Plattenhülle unter dem Originaltitel »Good Morning to All« aufzulisten. Er hatte ihn überzeugt – bis John beschloss, doch erst seine Frau anzurufen. Hardy, George, Onkel Nono und Cok konnten das geistesgestörte Weib durchs Telefon keifen und zetern hören, von Heiden, Buße und ewigem Ausschluss war die Rede. Fix und fertig legte John den Hörer auf. Es wurde eine Frage des Prinzips. Hardy stellte John vor die Wahl: entweder die Honolulu Kings oder Jehova. Auch darüber musste John erst wieder seine Frau konsultieren.

Während John sein Instrument in den Koffer legte und sich, den Tränen nah, von ihnen verabschiedete, sah Hardy die Blumen auf dem Hawaiihemd des Ukulelespielers rapide verwelken. Nach fast drei Jahrzehnten Freundschaft sollten sie ihn nicht mehr wiedersehen. Bis zum heutigen Tag vermisst er John, doch das würde Hardy nie zugeben.

»Da ist der junge Mann ja wieder. Gleich spielen wir Tennis«, sagt Christina plötzlich.

Hardy späht angestrengt in den Garten, kann aber keinen Menschen entdecken.

Seine Frau beginnt sich zu erheben. Unbeholfen, als hätte sie vergessen, wie man aufsteht. Im Schneckentempo schlurft sie zur Wiege, die rosa Hasenschluffen fegen den Bodenbelag.

Im Zimmer nebenan ruft der Internierte: »Lasst mich raus!« Die Angst, die man ihm anhört, ist Hardy nicht fremd, und sie verstört ihn. Noch vor zwei Jahren hätte Christina das deutlich gespürt und ihn mit ihrer sanften Stimme und liebkosenden Händen beruhigt. Aber seine Frau spürt nichts mehr von ihm.

Christina steht neben der Wiege und fängt an zu weinen. »Das ist nicht mein Kind.« Ihre schmalen Schultern zucken.

Hardy betrachtet die Puppe mit den leblosen Augen und dem aufgesperrten rosa Mund. Er legt tröstend den Arm um seine Frau. Trotz seiner hochhackigen Cowboystiefel ist Christina zehn Zentimeter größer als er, aber sie kommt ihm plötzlich so klein vor.

»Ich werde dafür sorgen, dass du Aswani wiederbekommst«, verspricht er und küsst Christina auf die Wange. Den Arm um ihre Taille gelegt, begleitet er sie zum Stuhl am Fenster zurück. Er hält ihr den Schnabelbecher mit Apfelsaft vor den Mund, aber seine Frau reagiert nicht. Langsam versinkt sie in sich selbst.

3

Synne Blom hat versucht, aus einem Ei, Feta und zwei Scheiben styroporartigem Brot ein Frühstück zuzubereiten. Das Brot mit dem Käse darauf hat sie in den Backofen geschoben und das Ei in etwas Öl von den drei Griechen gebraten, mit denen sie sich die beiden oberen Etagen des Hauses teilt. Sie weiß nicht, wie die Männer heißen, und nennt sie »die Souvlakis«. Sie meint es nicht spöttisch.

Synne bedient sich auch mit Ketchup, Kaffee, Milch und Butter von den Souvlakis. Jeden Tag nimmt sie sich etwas von den Griechen. Es verschafft ihr eine gewisse Befriedigung, als würde es sie für manches andere entschädigen. Die Souvlakis sind freundlich und fleißig, sie arbeiten in der Küche des griechischen Restaurants im Erdgeschoss, aber sie sind auch Dreckschweine. Synne hat den Verdacht, dass sie auf dem Umweg über die Decke in die Toilette pinkeln. Jedenfalls nicht in gerader Linie. Ihre Duschgewohnheiten sind noch ekliger. Neulich ist sie auf Rotze von einem der Souvlakis ausgerutscht, es konnte aber auch etwas anderes sein.

Synne trägt das Frühstück die Treppe hinauf. Sie wohnt im Dachgeschoss, neben dem Badezimmer, die Griechen unter ihr. Sie hört sie nur selten, riecht sie aber ständig. Auch in den gemeinsam genutzten Räumen der beiden oberen Etagen hängt ihr typischer Schweißgeruch. Ein bleischweres Aroma. Mit der Hüfte drückt sie ihre Zimmertür auf. Sofort schnellt Olaf hoch, um ihr das Tablett abzunehmen. »Lass mal«, sagt sie und unterdrückt ein Gefühl des Ärgers. Auch als Olaf in der vergangenen Nacht über ihre Klitoris rieb, als wäre sie ein Rubbellos, hat sie sich geärgert, aber nichts gesagt.

Er setzt sich brav wieder an den Tisch, wobei er Weingläser und eine leere Chipstüte beiseiteschiebt. Synne trinkt einen Schluck Kaffee und betrachtet Olaf, der wie ausgehungert über das geröstete Feta-Brot mit Spiegelei herfällt. Sie hat keinen Appetit. Das Zubereiten von Mahlzeiten bereitet ihr mehr Vergnügen als das Essen. Sie sucht die Fernbedienung und schaltet den DVD-Spieler mit Nigella’s Christmas Bites ein. Vom ausgeklappten Schlafsofa aus schaut Synne Nigella dabei zu, wie sie Schlagsahne in die Rührschüssel der Küchenmaschine füllt. Die britische Fernsehköchin trägt einen eng anliegenden Pulli mit tiefem Ausschnitt, ihr üppiges Dekolleté hat die gleiche Farbe wie die allmählich steif werdende Schlagsahne. Synne hätte gern ihre eigene Kochsendung, zusammen mit Opa Hardy. Von ihm hat sie kochen gelernt, aber ihre Eltern sind der Ansicht, eine Ausbildung zur Köchin sei weit unter ihrem Niveau.

»Soll ich die Lampe aufhängen?«, fragt Olaf und deutet mit dem Kopf auf den gläsernen Kronleuchter, der in einer Zimmerecke liegt. Synne weiß, dass er ihn aufhängen will, um länger bleiben zu können.

»Das eilt nicht«, sagt sie, ohne Nigella aus den Augen zu lassen. Wie sie mit dem Löffel Sahne aus der Rührschüssel schöpft, hat etwas Obszönes. Nigella zuzuschauen befriedigt sie mehr, als mit Olaf zu schlafen. An seinem Körper liegt es nicht; Olaf ist groß, muskulös und unübersehbar hübsch. Vielleicht liegt genau da das Problem. Vielleicht möchte sie selbst entdecken können, dass jemand anziehend ist. So ist alles zu einfach.

»Sollen wir duschen?«, fragt Olaf und steht auf. Er trägt nur Boxershorts und ein T-Shirt. Sie kennt Olaf von Lehrveranstaltungen zur niederländischen Geschichte und hat einschließlich der vergangenen Nacht dreimal mit ihm geschlafen. Seine blonden Locken sind das Witzigste an ihm.

»Die Dusche ist nichts für zwei«, sagt Synne. »Es liegt am Wasserstrahl, der ist ziemlich schwach. Ich glaube, die Brause ist verkalkt.«

Enttäuscht geht Olaf in Richtung Badezimmer. An der Tür fragt er, ob sie ein Handtuch für ihn hat. Während er im Bad verschwindet, durchsucht sie den Schrank nach Handtüchern, aber dann fällt ihr ein, dass sie gestern bei ihren Eltern eine Maschine Wäsche gewaschen hat. Auf dem Heizkörper hängt ihr letztes, hart wie Schleifpapier, aber sauber. Sie geht ins Badezimmer, wo die Souvlakis ihre Handtücher aufhängen. Mit Daumen und Zeigefinger greift sie ein auberginefarbenes von einem Wandhaken und schnüffelt daran. Sie sieht keine verdächtigen Flecken.

»Ich hab ein Handtuch für dich«, teilt Synne dem ausgebleichten Duschvorhang mit. »Das Wasser fließt nicht ab«, hört sie Olaf durch eine der Falten sagen. Synne nimmt die Zahnbürste eines der Griechen vom Waschbecken. Ihre eigenen Toilettensachen hat sie sicher in ihrem Zimmer untergebracht. Sie hockt sich vor die Duschwanne und zieht den Vorhang ein wenig zur Seite. Dann pult sie mit der Zahnbürste im Abfluss.

»Pfui Teufel!«, ruft Olaf, als ein schwarzer, schleimiger Haarknäuel an den Borsten hängen bleibt. Synne schleudert die Haare in den Mülleimer. Die Zahnbürste legt sie aufs Waschbecken zurück.

Als Olaf endlich gegangen ist, zieht Synne sich um. In einer Stunde wird sie in Opas Toko erwartet, wo sie mittwochs und samstags arbeitet. Sie setzt sich an den Tisch. Würde ihre Mutter jetzt vorbeischauen, dann würde sie sich wegen der beiden leeren Weingläser noch mehr Sorgen machen. Ihrer Ansicht nach ist Synne niedergeschlagen und unzugänglich. Auf Drängen ihrer Mutter hin ist sie zu einer Psychotherapeutin gegangen, die feststellte, sie habe »wenig Kontakt zu ihren Gefühlen«.

Auf dem Tisch türmen sich Lehrbücher. Bei ihrem Anblick fühlt Synne nichts, auch keinen Widerwillen. Neben dem Stapel liegt ihr Sony-Walkman. Als Olaf gestern Abend den Walkman betrachtete, sagte er, dass er noch nie eine Kassette gesehen habe. »Wer ist Frau Storm?«, fragte er. »Ein DJ?«

Synne setzt den Kopfhörer auf und drückt auf PLAY. Frau Storm spricht ein gewähltes Niederländisch. Synne schließt die Augen, sie ist allein mit der Sprecherin.

Ich habe einen weißen Niederländer geheiratet, ohne Hochzeitsfest. Der Standesbeamte saß an einem kleinen Küchentisch, und ehe ich mich’s versah, war die Trauung vorbei. Mein Mann hatte nur Pause und ging wieder zur Arbeit.

Frau Storm erzählt in gleichgültigem Ton, unbeteiligt. Als ginge es um einen gewöhnlichen Vormittag mit ein paar Einkäufen.

Gegen Abend kamen Freunde und Verwandte meines Mannes. Meine Freunde interessierten ihn nicht. Die Familie meines Mannes war in einem japanischen Lager interniert gewesen. Ich nicht, ich bin niederländisch-indonesischer Herkunft. Mein Mann wollte niemanden kennenlernen, der während der Besatzungszeit nicht in einem Lager gewesen war. Die Leute außerhalb der Lager hätten nichts Schlimmes erlebt, meinte er. Ich konnte niemals erzählen, wie schrecklich es für uns gewesen ist. Nach dem Krieg gab es in Batavia so viel Armut. Manche Menschen waren völlig ausgemergelt und liefen nackt herum. Einmal war ich mit meinem Vater in einem chinesischen Schuhgeschäft, als ein nackter Bettler einfach durch die Schaufensterscheibe lief. Es regnete Glas, ein paar Kunden brüllten den Mann an. Mein Vater hat sich im Lager des Ladens ausgezogen und dem Bettler seine Unterhose gegeben.

Synne öffnet die Augen. Aus diesem Winkel sieht sie eine blinde Mauer und das Abluftrohr des griechischen Restaurants. Sie wirft wieder einen Blick auf die Lehrbücher. Totes Wissen, Prüfungsstoff, der es mit Frau Storms Geschichte nicht aufnehmen kann. Höchstwahrscheinlich ist sie längst tot, aber ihr zuzuhören gibt Synne das Gefühl, etwas von Bedeutung zu erleben.

Sie greift nach einem Stift und einem leeren Heft. Die Therapeutin hat ihr als Hausaufgabe gestellt, jeden Tag ihre Gefühle zu notieren. Meine heftigsten Erinnerungen sind die von jemand anderem, schreibt Synne. Wann fangen meine Erinnerungen an? Wann fange ich an?

Synne geht die beiden Treppen hinunter und versucht, den Geruch der Griechen nicht einzuatmen. Draußen schließt sie ihr Fahrrad los, während sie Frau Storm zuhört. Die Sonne strahlt, in der Stadt herrscht Hochbetrieb. Sie fährt an den voll besetzten Caféterrassen am Grote Markt vorbei. Gelächter, aufgeregte Stimmen. Synne liebt leere Straßen, öffentliche Fröhlichkeit ruft bei ihr düstere Gedanken wach. Als ob ihr etwas Entscheidendes fehlt. Sie ignoriert, was sie ringsum hört, und konzentriert sich auf Frau Storms Stimme.

Man sah es als meine Pflicht, möglichst schnell schwanger zu werden. Dass ich seelisch und körperlich am Ende war, darüber verlor niemand ein Wort. Ein Jahr nach der Kapitulation Japans brachte ich Zwillinge zur Welt. Sie waren voll ausgetragen, aber angeblich wogen sie zu wenig und mussten in den Brutkasten. Der Brutkasten war wie ein Aquarium. Nachts war es darin viel zu kalt, tagsüber glühend heiß.

»Pass auf, wo du hinfährst, blöde Kuh!«

Vor Synne, auf dem Zebrastreifen, stehen ein Mann und ein kleiner Junge. Sie hat die beiden nicht gesehen. Anscheinend hat sie mit dem Vorderrad den Jungen berührt, dessen Schälchen mit Fritten auf der Straße liegt. Zum Glück ist es schon fast leer.

»Hat man dir nicht beigebracht, dass man vor einem Zebrastreifen anhalten muss?« Die Augen des Mannes funkeln böse.

»Tut mir leid«, murmelt Synne und schaltet den Walkman aus. »Alles in Ordnung?« Sie schaut den Jungen an.

»Blöde Kuh«, wiederholt der Mann, bevor er mit dem Jungen weitergeht.

Aus dem Augenwinkel sieht sie, dass Passanten sie beobachten. Beschämt stellt sie das Fahrrad auf dem Gehweg ab, hebt das Plastikschälchen auf und bringt es zu einem Abfalleimer. Opa hat ihr sonst alles erlaubt, aber »Latsch-Essen« war verboten, das war für ihn das Letzte. Bevor Synne wieder aufs Rad steigt, drückt sie auf PLAY.

Ich habe zu Hause Milch abgepumpt und sie dreimal täglich zum Krankenhaus gebracht. Ich durfte sie den Babys nicht selbst geben, dafür war eine Krankenschwester zuständig. Ich hatte nicht den Mut zu widersprechen, ich war erst zwanzig Jahre alt. Nach einer Woche wurden die Babys krank, sie bekamen Durchfall, waren unterernährt. In den Unterlagen des Arztes stand, dass sie keine Muttermilch, sondern Ersatzmilch aus dem Krankenhaus bekämen. Mein Mann ging der Sache nach. Die Fläschchen, die ich ins Krankenhaus brachte, ließ man stundenlang auf dem Geländer der Veranda stehen, weil es keinen Kühlschrank gab. Bis es so weit war, dass die Babys ihre Fläschchen bekommen sollten, war die Milch sauer und wurde weggegossen. Der Kühlschrank stand einen Kilometer entfernt, auf dem Geländes des Carolus-Krankenhauses, im Ärztezimmer, damit die Ärzte kaltes Bier hatten. Alle Aquarienbabys starben. Durchfall und Ungeziefer haben meine Kinder umgebracht, im Brutkasten waren Ameisen und Kakerlaken. Mein Mann hat die Babys angezogen und begraben. Ich war nicht dabei. Ich wollte nichts mehr davon hören.

Frau Storm war damals so alt wie Synne jetzt. Zwanzig, und sie hatte die niederländische Kolonialherrschaft, die Besetzung durch die Japaner und zwei tote Babys überlebt. Sie hatte gesehen, wie indonesische Freiheitskämpfer gezwungen wurden, die rot-weißen Anstecknadeln von ihren Uniformen zu schlucken. Sie hatte gelacht, wenn sie an den Fähnchen erstickten. Es war das dumpfe Lachen der Angst, denn sie lebte in großer Angst vor ihrem eigenen Volk. Der Hass der indonesischen Freiheitskämpfer richtete sich gerade gegen Menschen wie sie, die gemischter Abstammung waren. Später, in den Niederlanden, bereute Frau Storm ihre Schadenfreude. Ich schäme mich bis zum heutigen Tag, hört Synne sie sagen, als sie in die Ladenstraße hinter dem Bahnhof einbiegt. Sie brauchen sich für nichts zu schämen, entgegnet Opa Hardy verständnisvoll.

Synne schließt das Fahrrad an einem Laternenpfahl an und betritt den Toko. Hinter den Regalen hört sie ihren Opa. Er spricht in singendem Tonfall, ein wenig schleppend, wie bei einer leicht verlangsamt abgespielten Aufnahme. Synne liebt diesen Klang. Sie steckt Frau Storm in ihre Tasche und geht in den hinteren Teil des Tokos. Opa sitzt auf dem Sofa, in seinem Sessel ein unbekannter Mann. Sobald Hardy sie sieht, ruft er ihren Namen und wirft die Arme hoch, als würde er ein Tor bejubeln. Sie küsst ihn auf die Wange und gibt seinem Besucher die Hand.

»Synne, das ist Bruder Anton Meijer, von den Freimaurern«, erklärt Hardy.

Bruder Anton muss jünger sein als Opa, aber der Bart macht ihn alt. In seinem Schnurrbart hängen Blätterteigkrümel. In einer Schale auf dem niedrigen Tisch zwischen den beiden liegt noch eins von den berühmten Hühnerragout-Pastetchen ihres Opas. Dafür fahren manche Toko-Kunden kilometerweite Umwege.

Synne kennt keinen Mann, der sich so gut kleidet wie Opa. Heute trägt er ein weit geschnittenes Hawaiihemd mit blauem Muster und orangefarbenen Glücksklee-Stickereien, an den Füßen schwarze Cowboystiefel mit Steppnähten. Er trägt aber nicht etwa deshalb auffällige Kleidung, um einen Mangel an Persönlichkeit zu verdecken – das hat er nicht nötig. Von solchen Leuten wimmelt es an der philosophischen Fakultät, Jungs mit teuren Sonnenbrillen als Ersatz für Charisma. Synne kennt keinen Mann, der so viel Persönlichkeit besitzt wie Opa.

»Neues Hemd?«, fragt Synne, nachdem Anton Meijer ihre Hand losgelassen hat. Sie setzt sich neben Opa Hardy.

»Original Reyn Spooner«, antwortet er stolz. Guten Hemden kann er einfach nicht widerstehen.

»Seit wir Bekanntschaft geschlossen haben, sehe ich Hawaiihemden mit ganz anderen Augen«, bemerkt Bruder Anton. »Ich kannte eigentlich nur diese Schlotterhemden mit Blüten in schreienden Farben.«

»Hibiskusblüten«, präzisiert Hardy. »Schlimm. Dieses Zeug stammt auch nicht aus Hawaii, sondern aus asiatischen Fabriken, in denen Kinder bis zur Taille in irgendeiner chemischen Brühe stehen. Meine Hemden kommen direkt aus Hawaii, wo man sie noch aus Tahiti-Baumwolle macht.«

»Man muss sie aber auch tragen können«, meint Bruder Anton und schlägt die Beine in der beigefarbenen Cordhose übereinander. »Mir würde so ein Hemd nicht stehen.«

Synne kichert. Dieser holländische Bruder in einem Hawaiihemd, das würde wirklich unmöglich aussehen. Sein Körper erinnert sie an ein labberiges Weißbrot, das man aus einer Regenpfütze gefischt hat.

»Anton hilft mir bei meinem Baustück«, sagt Hardy. »Das ist ein Vortrag über ein bestimmtes Thema, den ich vor den Brüdern der Loge halten muss.«

Er schaut unsicher seinen Besucher an, der Hardy zunickt, als würde er ihm die Erlaubnis zum Weitersprechen erteilen.

»Es soll ein Baustück zu einem Thema sein, das mich beschäftigt.«

»Dann kannst du doch einen Vortrag über Hawaiimusik halten«, sagt Synne. »Darüber weißt du alles.« Sie nimmt seine Hand, die sich kühl anfühlt. Schlechte Durchblutung, meint Opa. Sie wendet sich an den Bruder. »Mein Opa weiß wirklich alles über diese Musik. Er kann stundenlang davon erzählen.«

Bruder Anton hat die Hände gefaltet und die Zeigefinger an die Lippen gelegt, die Daumen massieren das Kinn mit dem braunen Bart. Synne begreift immer noch nicht, warum Opa vor einem Jahr der örtlichen Freimaurerloge Proprio Motu beigetreten ist. Zahlreiche Vorbereitungsgespräche gingen dem voraus, über Monate hinweg. Sie hatte angenommen, die Freimaurerei wäre ein Geheimbund für Politiker, hohe Verwaltungsbeamte, Chefärzte, Anwälte, aber das stimmt angeblich nicht. Opa hat ihr gesagt, dass es in seiner Loge auch Lehrer, Polizeibeamte und Krankenpfleger gibt. Allerdings ist er der einzige Indo.

»Nein, Synne, ich werde nicht über Hawaiimusik sprechen«, sagt Hardy mit verschämtem Lächeln. »Es muss mehr Tiefgang haben, mehr Geist, quasi … Wir reden doch von einem Baustück. Und es muss etwas über mich aussagen. Es geht darum, dass meine neuen Brüder mich besser kennenlernen.« Wieder sucht er Bestätigung bei Bruder Anton, der ermutigend nickt.

So unsicher wie jetzt hat Synne ihren Opa nur erlebt, wenn Oma nicht nach Hause kam, weil sie den Weg nicht mehr fand.

»Du kannst doch über den Aloha Spirit sprechen. Das ist auch etwas Geistiges.« Synne schaut Bruder Anton an. »Der Aloha Spirit ist eine unvorstellbare Kraft in einem selbst, er ist das Geheimnis hinter Gesundheit, Glück oder Erfolg. Man muss diese Kraft aber erst entdecken.« Während sie ihren Opa zitiert, wird ihr bewusst, dass sie ihren eigenen Aloha Spirit nie gesucht hat, geschweige denn gefunden.

Bruder Anton entfaltet die Hände, wischt einen Blätterteigkrümel von seiner Cordhose und ergreift das Wort. »Man höre und staune, Synne, dann haben dieser Aloha Spirit und die Freimaurerei vieles gemeinsam. Auch wir gehen vom Gedanken eines fortwährend wachsenden Selbst aus. Wir sehen das Leben als eine einzige lange Reise zur Selbsterkenntnis. Gnothi seauton.« Bruder Anton legt eine ehrerbietige Pause ein. »Erkenne dich selbst. Nicht von ungefähr steht dieser altgriechische Aphorismus über dem Eingang zu unserem Tempel. Erkenne dich selbst.«

»Wovon handelte Ihr Baustück?«, fragt Synne und verschränkt die Arme.

»Ach, ich habe im Laufe der Jahre mehrere Baustücke erarbeitet. Über Licht und Dunkelheit, über die heilende Kraft von Ritualen, über unseren Platz innerhalb des Sonnensystems. Worüber noch … über Freikörperkultur als humanistische Bewegung und die Reintegration von Natur und Natürlichkeit ins menschliche Leben. Aber mein letztes Baustück«, sein Bärtchen federt auf und ab, »handelte von Pierre Teilhard de Chardin. Einem französischen Paläontologen, Jesuitenpater und Theologen. Geboren 1881.«

»Und was soll an dem interessant sein?« Synne wundert sich über ihren herausfordernden Ton. Sie ist zur Höflichkeit erzogen worden. Aber sie hat Mitleid mit ihrem Opa. Abgesehen von Büchern über Musik und Kochen hat er noch nie ein Buch gelesen. Schon gar nicht über irgendeinen toten Franzosen. Ehrfürchtig starrt er den Bruder an.

Bruder Anton rutscht ein Stückchen nach vorn und nimmt sich das letzte Pastetchen. »Man könnte süchtig werden, Bruder Hardy.« Er beißt ein großes Stück ab. »Wirklich unglaublich! Noch nie so leckere«, er schmatzt, »Pastetchen gegessen. Wo war ich stehengeblieben? De Chardin! Aber nicht wie Jardin, Garten«, er schmatzt wieder, »sondern C-H-A-R-D-I-N.«

Hardy nickt unsicher.

»Sein Leben«, fährt Bruder Anton fort und wischt sich mit dem Handrücken die Lippen ab, »war von dem innigen Wunsch geprägt, den christlichen Glauben in Übereinstimmung mit der Evolutionstheorie zu bringen. Er wollte also, wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, ihn zu deuten, eine Brücke zwischen Glauben und Wissen schlagen.«

Synnes Blick wandert vom fettigen Mund des Bruders abwärts über seinen braunen Pullunder und die Cordhose zu seinem Schuhwerk. Ledersandalen, darin eingezwängt Zehen, die sie an Chipito-Käsechips erinnern.

»In De Chardins Philosophie dreht sich alles um das Wachstum. Wachstum des Individuums«, doziert Bruder Anton und hebt begeistert den Arm. »Wachstum der Menschheit! Des Wissens! Der Selbsterkenntnis! Die Fähigkeit, aus dem Leben ein Kunstwerk zu machen. Deshalb interessieren sich viele Freimaurer für sein Werk. Wenn du möchtest, Bruder Hardy, bringe ich dir das nächste Mal ein Buch von ihm mit. Ich besitze alle zehn Bände der Werkausgabe.«

»Das klingt interessant«, antwortet ihr Opa. Verärgert steht Synne auf, um in die Küche zu gehen. »Ich fange schon mal an.« Sie schließt die Tür, und die Stimme des Bruders ist nur noch das gedämpfte Summen einer Hummel in einem Marmeladenglas. Synne stellt die benötigten Zutaten zusammen. Zwiebeln, Knoblauch, Galgant, Chilipaste, Garnelenpaste, ein paar Blätter Salam, Kokosmilch, getrocknete Garnelen, Tahu. Wo ist der Tahu? Warum liegen die Sachen nicht an ihrem Platz? Warum bleiben die Sohlen ihrer Chucks an den Fliesen kleben? Wo ist Opa mit seinen Gedanken? Fucking Pierre De Chardin.

Wütend beginnt sie mit dem Schneiden der Spargelbohnen. Vom Toko her hört sie ein Poltern. Das muss dieser Bruder sein, Opa poltert nie, er bewegt sich lautlos. Natürlich hat Bruder Anton die Motorik eines Truthahns. Etwas fällt zu Boden und zerbricht, ein Glas oder ein Fläschchen, es folgen weitere Geräusche, die seine Tollpatschigkeit verraten. Etwa zehn Minuten später sind die Klänge einer Steel-Gitarre zu hören. Synne weiß, welche Platte Opa Hardy aufgelegt hat: »Tomi-Tomi« von Rudi Wairata. Das war ein Virtuose, der wie nur wenige Steel-Gitarristen in den Niederlanden authentische Hawaiimusik spielen konnte, meint Opa. Authentizität, das war es, worauf es ankam. Sie weiß nicht, wie oft Opa davon gesprochen hat. Einerseits gab es Hunderte von Bands, deren schmalziges Gedudel und Gesinge gar nichts mit Hawaii zu tun hatte. Niederländische Stümper, denen die Steel-Gitarre ihr Image eines weinerlichen Gitarrenklons verdankte. Um ihr zu demonstrieren, wie recht er hatte, spielte er ihr Platten mit Pseudo-Hawaiimusik vor, während sie auf dem Esstisch saß und mit den kurzen Beinchen baumelte. In theatralischem Ton rief er: »Hörst du das, Synne? Abscheulich! Halt dir bloß schnell die Ohren zu!«

Dann steckte sie wie Onkel George und Onkel Cok die Finger in die Ohren und rief, das sei schreckliche Musik, obwohl sie keine Ahnung hatte, was Opa meinte. Ganz besonders regte er sich auf, wenn diese Pseudo-Hawaii-Musiker mit Namen wie Waikiki, Wailana oder Mena Murias käsebleiche holländische Tänzerinnen auftreten ließen, die unter ihren Leis T-Shirts trugen. T-Shirts!

Andererseits gab es am entgegengesetzten Ende der Welt, auf einem anderen Kontinent, so erzählten Opa und seine Freunde ihr immer wieder, die wahren Hawaiimusiker. Junge Indonesier und Molukker, die sich die polynesische Musik liebevoll aneigneten, sie in die Niederlande mitbrachten und das niederländische Volk damit vertraut machten. Dass die meisten von ihnen kein Wort Hawaiianisch sprachen, sondern die Texte auf gut Glück brabbelten, hörte fast niemand.

Opa kommt in die Küche. Hochgezogene Schultern, unsicherer Schritt. Es ist noch nicht lange her, da schien er mit seiner Anwesenheit die ganze Küche auszufüllen, doch jetzt bleibt beunruhigend viel Platz.

»So, Synne«, sagt er mit schwachem Lächeln, »dann sorge ich mal für Nachschub an Pastetchen. Bruder Anton hat sie alle aufgegessen.«

Hardy sucht ein paar Zutaten zusammen und stellt sich neben Synne. Aus Mehl, Wasser und Eiern formt er eine elastische Teigkugel. Vor der kleinen Arbeitsplatte stehen sie nah beieinander. Hardy summt Wairatas Lied mit. Synne schaut auf seine mageren, aber kräftigen Hände, die den Teig kneten. Sie würde ihn gern fragen, ob er einsam ist. Aber sie sprechen die Dinge nie direkt an. Wie ihre griechischen Mitbewohner anscheinend auf dem Umweg über die Decke in die Toilette pinkeln, so sagen Synne und ihr Opa nur auf Umwegen, was sie sagen wollen.

»Soll ich morgen mit dir zu Oma fahren?«

»Das wäre schön«, antwortet Hardy und wischt die Hände an einem Tuch ab. Aus dem Kühlschrank holt er einen Plastikbeutel mit Hühnerschenkeln. Er füllt einen Topf mit Wasser, dreht an einem Schalter des Gasherds und hält ein Streichholz an den Brenner. Flammen flackern auf. Als der Topf mit den Hühnerschenkeln auf dem Herd steht, stellt er den Brenner auf die höchste Stufe. Synne verfolgt seine Bewegungen und sieht, dass der Herd schmutzig ist. Bestimmt grübelt Opa über das Baustück nach. Sie würde ihm gern sagen, dass er nicht so ehrfürchtig zu den Brüdern aufblicken soll.

Schon immer hat Synne sich wohl gefühlt, wenn sie nichts sagen musste, aber jetzt ärgert sie sich über ihre Schweigsamkeit. Die Lehrerinnen an der Grundschule suchten die Ursache ihrer Introvertiertheit in ihrer asiatischen Herkunft. Synne ist bescheiden und sagt in der Klasse nicht viel, aber stille Wasser sind tief, stand in ihrem Zeugnis am Ende des vierten Schuljahres.

Sie fragt sich, ob sie wirklich ein tiefes Wasser ist. Oder liegt es an der Geschichte ihrer indonesischen Urahnen, dass sie zu Angepasstheit und Schweigsamkeit neigt? Opa Hardy hat ihr einmal erzählt, dass die Vorfahren seiner Mutter von javanischen Sklaven abstammten, die auf den Teeplantagen geschunden wurden oder als Haussklaven der weißen Herren schuften mussten. Als die Sklaverei 1859 abgeschafft wurde, ging das Schinden und Schuften einfach weiter. Im Sklavendasein von Opa Hardys Vorfahren trat erst eine entscheidende Wende ein, als seine indonesische Großmutter in Batavia von einem aus Edam stammenden Volksschullehrer geschwängert wurde und eine Tochter bekam. Der Lehrer heiratete die Indonesierin, erkannte seine Tochter an und beendete dadurch die generationenlange Unterdrückung. So einfach war das. Dank eines einzigen, unsichtbaren »weißen« Spermiums stiegen seine »eingeborene« Oma und seine »Mischlings«-Mutter auf der gesellschaftlichen Leiter aufwärts. Von nun an hatten sie ihr eigenes eingeborenes Personal, über das sie bestimmen konnten.

»Bruder Anton ist Meister, und ich bin Lehrling«, sagt Hardy plötzlich und schaut Synne schuldbewusst an. »Man fängt als Lehrling an, dann wird man Geselle und am Ende Meister. Bruder Anton hilft mir auf diesem Weg, er ist eine Art Pate. Er hat mir auch bei den Vorbereitungsgesprächen und der Einweihung geholfen.«

Hardy hält eine Wintermöhre in der Hand. »In manchen Großlogen gibt es sogar insgesamt dreiunddreißig Grade, die man erlangen kann. Je höher man steigt, desto mehr Geheimnisse werden einem offenbart.«

»Was denn für Geheimnisse?«, fragt Synne, während sie die Spargelbohnen aufsetzt.

»Tja, das weiß ich auch nicht so genau.« Die Schultern in dem fröhlichen Hemd heben sich etwas. »Auf jeden Fall werden einem nach und nach die Bedeutungen all der Zeichen und Symbole erklärt. Und wenn einem ein höherer Grad verliehen wird, gehören dazu Einweihungsrituale im Tempel.«

»Im Tempel«, echot Synne und greift nach einer Knoblauchzwiebel. »Einweihungsrituale. Hört sich an, als ob du in eine Sekte eingetreten wärst.«

Opa Hardy lacht, während er die Wintermöhre schrappt. »Nein, nein. Eine Sekte ist etwas ganz anderes. Hier geht es vor allem um Brüderlichkeit, um Gleichheit. In der Freimaurerei sucht man nach dem, was Menschen verbindet, nicht nach dem, was sie trennt.«

Die Ladenklingel bimmelt. Hardy wischt sich die Hände ab und geht nach vorn. Gleich darauf kommt er zurück. »Jemand fragt nach dir«, sagt er überrascht.

Noch nie hat jemand sie im Toko besucht. Die Knoblauchzwiebel in der Hand, verlässt Synne die Küche. Groß, raumfüllend steht Olaf vor der Vitrinentheke. Er macht einen Schritt nach vorn, um sie zu küssen, aber sie hält Abstand.

»Hi«, sagt sie kühl. Er hat sich umgezogen. Als er heute Morgen wegging, trug er eine Jeans, jetzt sieht er in seinen leuchtend grünen Shorts wie ein Surfgott aus, obwohl sie ihn noch nie vom Surfen hat sprechen hören. Besonders viel Interesse an ihm hat sie bisher auch nicht gezeigt.

Hardy steht jetzt neben ihr und schaut Olaf neugierig an, so dass sie sich genötigt fühlt, ihn vorzustellen. »Das ist Olaf. Wir kennen uns vom Studium.«

Die beiden geben sich die Hand. »Hardy Hardy«, sagt Opa. Er schaut an Olaf hinauf wie an einem Standbild.

»Hardy Hardy?«, fragt Olaf.

»Hmhm, richtig. Mein Vater war ein Witzbold. Er hat mir seinen Nachnamen als Vornamen gegeben … Früher war ich auch so groß. Aber wenn man älter wird, schrumpft man.«

Olaf lacht höflich, während Synne verlegen an der Knoblauchzwiebel herumpult und es vermeidet, ihn anzusehen. Heute Morgen beim Weggehen hat Olaf gesagt, dass er gern mehr Zeit mit ihr verbringen möchte. Synne schreckt davor zurück. Er ist schön anzusehen, hat aber wenig zu sagen. Sie hört lieber Opas Kassetten. Außerdem hat sie den Verdacht, dass Olaf sich hauptsächlich ihres asiatischen Aussehens wegen für sie interessiert. Obwohl sie nicht einmal zu einem Viertel indonesisch ist, dominieren ihre javanischen Gene. Sie hat dichtes schwarzes Haar und ein hellbraunes, rundes Gesicht. Nur ihre blauen Augen sind europäisch. Er stehe auf dunkle, kleine Frauen, hat er gesagt, als sie sich zum ersten Mal geküsst haben. Synne musste sich auf die Zehenspitzen stellen.

»Möchtest du was essen?«, fragt Hardy. »Pastetchen sind keine mehr da, aber ich hätte noch Spekuk oder Hühner-Saté. Du kannst auch Nasi rames haben, du siehst aus wie jemand, der allerhand verdrücken kann …«

»Opa«, unterbricht ihn Synne. »Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Wir haben noch tausend Dinge zu erledigen.«

Sie weiß, wie schroff das klingt, aber sie kann es nicht ändern. Die Wörter sind schneller als ihre Gedanken.

Olaf scheint die Signale richtig zu deuten. Er lässt den Rucksack von den Schultern gleiten und holt etwas heraus.

»Ich bin nur vorbeigekommen, um dir das hier zu geben.« Er hält ihr eine weiße Schachtel hin, die einer Schmuckschachtel verdächtig ähnlich sieht. »Nur eine Kleinigkeit.«

Synne spürt, wie ihr das Blut zu Kopf steigt. Sogar Opa scheint die Luft anzuhalten. Die Schachtel ist zu groß für einen Ring, aber ein Armband oder eine Halskette würden gut hineinpassen.

Zögernd reicht Synne ihrem Opa die Knoblauchzwiebel und nimmt die Schachtel. Sie hebt den Deckel so langsam an, als könnte darunter eine scharfe Handgranate verborgen sein. Ihr Herz hämmert. Kann er wirklich so bescheuert sein, ihr in Gegenwart ihres Großvaters Schmuck zu schenken? Sie schaut in die Schachtel und atmet auf.

»Es ist mein alter iPod, aber er ist noch völlig in Ordnung«, sagt Olaf. »Ich dachte, na ja, ich hab gesehen, dass du noch so einen altmodischen Walkman hast, und diesen iPod benutze ich doch nie mehr. Deshalb.«

4

Hardy steht unter der Dusche. Der Duschvorhang klebt an seinen Beinen, aber er lässt es so. Er starrt nach unten, ohne seinen Körper anzusehen. Der faltige Bauch, die knochigen Hüften, die mageren Beine, sie gehören ihm und kommen ihm doch fremd vor. Sein Körper, mit Ausnahme des Kopfes, erinnert ihn an das sehr lange gekochte Fleisch, das seine Schwiegermutter sonntags auf den Tisch brachte. Er war ganz wild darauf, aber jetzt selbst so auszusehen, ist doch etwas anderes.

Im Schlafzimmer stellt er sich vor den Kleiderschrank und wählt ein Hemd mit einem Muster aus blauen Kreisen und beigefarbenen Spiralen. Manche Kunden behaupten, dass man Halluzinationen bekommt, wenn man diese Hemden zu lange anschaut. Immer Holländer, die sind nichts gewohnt. Überhaupt sind die Leute heute nichts mehr gewohnt. Hardy zieht sein Kreis- und Spiralhemd an. Zweiundsechzig Batikhemden und fünfundvierzig Hawaiihemden besitzt er. Seine Enkelin hat sie neulich gezählt und ihre Top Five auf dem Bett ausgebreitet. Als Nummer eins ein Hemd, das an eine Ansichtskarte aus Honolulu erinnert. Surfer, Ananasfrüchte, Blumen und Ukulelen machen sich gegenseitig den Platz auf dem Seidenstoff streitig. Es ist mindestens sechzig Jahre alt und ein kleines Vermögen wert. Hardy schätzt das klassische Hemd mit den Original-Bambusknöpfen auf um die tausend Euro. Seine Enkelin glaubte ihm nicht, bis er ihr im Internet Auktionen mit Hawaiihemden zeigte. Sie war beeindruckt. Das tat ihm gut. Er beeindruckt sonst niemanden mehr.

Nach dem Anziehen geht er zur Waschmaschine im Badezimmer. Die Tasche mit Christinas Wäsche steht auf dem Boden. Er drückt die Nase in ihre hellblaue Weste und riecht ihren Körper. In ihren getragenen Sachen findet Hardy seine Frau wieder. Er lässt eine Bluse durch seine Hände gleiten. Auf dem Kragen sind winzige Schuppen. Im Nachthemd entdeckt er ein verirrtes Haar. »Schmutzige Wäsche« nennt das Personal die Sachen. Nehmen Sie die schmutzige Wäsche Ihrer Frau mit, Herr Hardy?

Hardy kann Christinas Körpergeruch unmöglich schmutzig nennen. Ihr Geruch ist sorgsam aus vierundfünfzig gemeinsamen Jahren zusammengesetzt. Er riecht ihre erste Zeit, Christinas süßen Duft, wenn sie miteinander geschlafen hatten. Mit dem Zeigefinger streicht er über das Wäscheetikett mit ihren Initialen, das er innen im Nachthemd aufgebügelt hat. Als sie ins Hotel zog, wurde ihm dringend geraten, ihre Kleidungsstücke durch Etiketten zu markieren, damit in der Wäscherei nichts durcheinandergeriete. Man hatte ihn schief angeschaut, als er sagte, dass er die Sachen seiner Frau selbst waschen wollte. Getragene Kleidung ist etwas so Persönliches, man sollte sie nicht Fremden überlassen. Außerdem wollte er Christina nicht auf C. H. reduzieren, das fand er ihrer unwürdig. Aber auch wenn er die Verantwortung für ihre Wäsche übernahm, mussten die Sachen markiert werden. Denn es kam vor, dass Gäste Kleidungsstücke aus den Schränken anderer mitnahmen.

Hardy stopft Christinas Sachen in die Trommel, vom Hocken werden seine Beine steif. Anscheinend werden auch die Füße nicht mehr richtig durchblutet. Beim Aufstehen wird ihm schwindelig, das Badezimmer scheint sich in ein Fahrgeschäft in einem Freizeitpark zu verwandeln, in dem er einmal mit seiner Enkelin gewesen ist. Ein Mad House, in dem die Illusion hervorgerufen wurde, dass sie sich überschlugen, während es in Wirklichkeit der Raum war, der sich wie eine Waschmaschinentrommel um sie drehte. Als das Schwindelgefühl nachlässt, legt Hardy die gebügelten Blusen und Röcke in eine Reisetasche. Er schnuppert kurz an dem Stapel, aber ihr Geruch ist verschwunden – wie ihr Gedächtnis.

Er hängt sich die Tasche über die Schulter und geht die Treppe zum Toko hinunter.

»Guten Morgen, Hardy.«

Überrascht schaut Hardy zur Seite. Am Esstisch sitzt sein Freund Cok und raucht, vor sich einen Behälter mit Kokos-Curry.

»Ich hab dich gar nicht reinkommen hören«, sagt Hardy.

»Frau Carels holt heute Nachmittag ihren Curry ab. Ich dachte, ich fange schon mal an«, erklärt Cok und zieht an seiner Nelkenzigarette.

Wieder fällt Hardy auf, dass Cok mit seiner irrsinnigen Zahnprothese einem Hai ähnelt. Er mag seinen Freund sehr, aber nicht Haie. Er hasst sie. Seit seiner Jugend verfolgen ihn Haivisionen. Mit seinem Vater fing es an. John Hardy, Kriegsgefangener der Japse, endete vor der Küste Sumatras als Haifutter. Hardy war noch ein Kind, als die Todesnachricht sie erreichte. Als er seine Mutter hoffnungsvoll fragte, ob sein Vater eines Tages an den Strand gespült werden würde, antwortete sie, wahrscheinlich hätten ihn die Fische gefressen.

Danach hatte ihn zum ersten Mal eine Vision von einem Hai heimgesucht. Es war ein vier Meter langes Exemplar mit Knopfaugen in einem grauen, kegelförmigen Kopf. Der weiße Bauch blutverschmiert, im Magen Überreste von Hardys Vater. Seine unverdaute rechte Hand, die der Steel-Gitarre wundervolle Klänge entlockt hatte. Die Füße noch ganz unversehrt. Die Füße, auf denen der kleine Hardy mit seinen Füßchen gestanden und tanzen gelernt hatte, wie so viele Kinder.

»Hardy? Hardy?!« Cok schaut ihn fragend an. »Ich sagte: Fahr du ruhig zu Christina. Ich komme schon allein zurecht. Und bestell ihr herzliche Grüße.«

Hardy zieht die Tür hinter sich zu und betrachtet das Gebäude gegenüber. Die Fassade ist mit einer weißen Plane verhängt, hinter der Bohrlärm und schwere Hammerschläge zu hören sind. Bis vor einer Woche war dort eine Pizzeria. Davor ein China-Imbiss, davor ein kroatisches Restaurant, davor eine holländische Imbissstube, davor ein Tapasrestaurant – hier verlässt ihn die Erinnerung. Die Restaurants oder Imbisse gegenüber machen schneller Pleite, als er sich neue Stiefel kauft. Warum, ist ihm ein Rätsel, in dieser Gegend mit ihren vielen Läden sind genug Leute unterwegs. Inzwischen ist sein Toko, überlegt er zufrieden auf dem Weg zur Bushaltestelle, das einzig Beständige hier.

Die Fahrtroute der Linie 5 führt durch das Stadtviertel, in das es Hardy als jungen Mann verschlagen hat. Am 17. November 1955, um genau zu sein. Drei Wochen hatte das Passagierschiff Willem Ruys gebraucht, um Hardys Zukunft von Tanjung Priok, dem Hafen Jakartas, nach Rotterdam zu verlegen. Ein entfernter Verwandter, älter als Hardy, holte ihn direkt am Kai ab und bot ihm vorübergehend das Sofa in seiner Wohnung unweit der Haarlemer Innenstadt als Schlafplatz an.

Der Gedanke an jenen Tag lässt ihn frösteln. Nie zuvor hatte er eine so bittere Kälte erlebt. Die Reling des Schiffs, die Tür des Fiat, mit dem er abgeholt wurde … Sein Verwandter sagte kaum etwas, nur dass Hardy bei Minusgraden nie an Gegenständen aus Metall lecken dürfe, zum Beispiel an einem Brückengeländer. Oder einem Laternenpfahl oder Fahrradlenker. Sonst würde seine Zunge daran festkleben, erfrieren und abbrechen wie ein Stück getrocknetes Obst. Hardy dankte seinem Verwandten für den Rat, erklärte ihn aber im Stillen für verrückt. Welcher Idiot leckte denn an Geländern oder Fahrrädern? Vielleicht war das ja eine niederländische Eigenart. Hardy ist aber in all den Jahrzehnten niemals Niederländern begegnet, die in der Öffentlichkeit an etwas anderem als an einem Eis oder Lolli geleckt hätten.

Zusammen mit einer jungen Frau steigt Hardy in den Bus. Sie trägt ein Baby vor dem Bauch. Er versucht sich vorzustellen, wie das Baby riecht. Auch der Geruch von kleinen Kindern ist etwas unverwechselbar Persönliches. Hätte man Hardy vor sechsundvierzig Jahren die Augen verbunden, ihn in einen Raum mit Hunderten von Babys geführt und ihm die Aufgabe gestellt, seine Tochter zu finden, hätte er sie mühelos aufgespürt. Er setzt sich der jungen Mutter schräg gegenüber, damit er einen Blick auf das schlafende Baby werfen kann.

Sein Verwandter hauste mit einer herrschsüchtigen Frau und fünf Kindern in einer kleinen Wohnung, für Hardy war dort kein Platz. Nachts schlief er auf dem Sofa. Sobald er aufwachte, floh er auf den Balkon, wo er ununterbrochen Zigaretten rauchte. Trotz der Kälte war er lieber draußen als unter seinen lauten, unbekannten Verwandten, die ihn nicht beachteten. Die herrschsüchtige Ehefrau richtete an ihn nur die tägliche Frage, ob er schon eine Stelle und ein Zimmer gefunden habe, sonst kein Wort.

Eines Abends hörte Hardy vom begrünten Innenhof des Häuserblocks her leise Musik. Als er genauer hinhörte, wurde ihm klar, dass es sich um eine Steel-Gitarre handelte. In diesem feuchtkalten, feindseligen Klima plötzlich den warmen Klang des Instruments zu hören, das sein Vater so geliebt hatte, war eine geradezu religiöse Erfahrung, obwohl er an keinen Gott glaubte. Dank dieser reinen hawaiianischen Klänge wechselte das Leben plötzlich in eine hellere Tonart. Es war, als würde ihn eine Riesenhand von dem holländischen Balkon auf die Veranda ihres Hauses in Malang versetzen.

Er war fünf Jahre alt, und auf seinen Oberschenkeln lag eine Gitarre. Sein Vater schob ihm metallene Fingerpicks auf seine schmalen Finger – Daumen, Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand –, gab ihm in die linke Hand einen Metallstab und führte seine Hände auf den sechs Saiten. Betörende Klänge stiegen von seinem Schoß auf; das Gefühl, etwas Außergewöhnliches zu erleben, überwältigte Hardy. So klein, und er brachte die herrlichsten Klänge hervor.

Später wurde ihm klar, dass die Finger seines Vaters das Entscheidende taten, aber in jenem Moment konnte er wirklich spielen. Die Liebe zur Steel-Gitarre hatte ihn gepackt. Sein Vater erzählte ihm, dass dieses Instrument aus Hawaii stammte. Er zeigte ihm ein Foto von Mädchen in kurzen Baströcken, deren Brüste nur von Blumenkränzen bedeckt waren. Sie tanzten den Hula, erklärte sein Vater grinsend, und sie hätten kaum etwas an, weil die süßen Klänge der Steel-Gitarre sie hypnotisiert hätten. Wenn Hardy später sehr gut spielen könnte, würden die Mädchen für ihn ganz von selbst Blumenkränze und Baströcke anziehen, versprach er. Diese Aussicht gefiel Hardy, obwohl er sich nicht sicher war, ob sein Vater ihn mit den Hulamädchen nicht auf den Arm nahm. Er machte gern Scherze.

Mit einem Ruck kommt der Bus zum Stillstand. Zwei dunkelhäutige Jungen mit aufwändigen Frisuren steigen ein. Antillaner, vermutet Hardy. Er will niemanden diskriminieren, aber er hat es nicht so mit Antillanern. Mit ihnen gibt es immer Probleme, sie sind laut, und am meisten stört ihn, dass sie sich nicht anpassen wollen. Das findet er inakzeptabel. Menschen indonesischer Herkunft aus seiner Generation sind teilweise niederländischer als die Niederländer. Sie beherrschen die Grammatik besser als die meisten Lehrer und kennen die Nationalhymne von der ersten bis zur fünfzehnten Strophe auswendig. Das ist dann auch wieder übertrieben. Schon auf Java hat er sich über Indos geärgert, die den lieben langen Tag den Holländer mimten. Wie fromm sie doch waren, und wie schön sie klassische Klaviermusik spielen konnten, und wie abschätzig sie über die einheimischen Keroncong-Musiker sprachen!

Aber sich gar nicht anpassen, sich nicht assimilieren wollen? Die »eigene« Kultur verherrlichen, wie die Antillaner da vorne, mit diesen Knüpfteppichen auf den Schädeln, obwohl ihre Wiege hier stand? Das begreift er nicht. Missbilligend blickt Hardy auf ihre Hinterköpfe und dann auf seine Armbanduhr. Elf. Jungen in diesem Alter haben jetzt in der Schule zu sein und sich nicht herumzutreiben. Er gibt sich die größte Mühe, das Gedudel zu überhören, das aus ihren Mobiltelefonen kommt und anscheinend Musik sein soll.