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Notwehr oder Mord?
Ein Mann liegt erschossen in der Küche eines abgelegenen Bauernhofs in Oxford. Die anwesenden Hofbewohner behaupten, die Tat sei Selbstverteidigung gewesen. Aber irgendetwas an diesem Tatort stimmt nicht. DI Adam Fawley vermutet, dass viel mehr hinter der Geschichte steckt. Wenn das Opfer die Bewohner ausrauben wollte, warum trug er dann keine Handschuhe oder hatte Werkzeug dabei? Warum hat der Hauseigentümer nicht sofort nach der Schießerei die Polizei gerufen? Warum hat seine Frau die blutbespritzte Kleidung sofort gewaschen?
Im Laufe der Untersuchungen stellt die Polizei fest, dass es sich um keinen gewöhnlichen Einbruch handelt, der schief gelaufen ist. Es gibt eine eindeutige Verbindung zu einem mysteriösen Cold Case, bei dem es um den Mord an einem Kind und einen angeblichen Justizirrtum ging.
Als die Presse davon Wind bekommt, steht Fawleys Team unter enormem Druck den Fall zu lösen - und einen skrupellosen Verbrecher vor Gericht zu bringen ...
Für Fans von Shari Lapena, Claire Douglas und Lisa Jewell.
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Seitenzahl: 511
Notwehr oder Mord?
Ein Mann liegt erschossen in der Küche eines abgelegenen Bauernhofs in Oxford. Die anwesenden Hofbewohner behaupten, die Tat sei Selbstverteidigung gewesen. Aber irgendetwas an diesem Tatort stimmt nicht. DI Adam Fawley vermutet, dass viel mehr hinter der Geschichte steckt. Wenn das Opfer die Bewohner ausrauben wollte, warum trug er dann keine Handschuhe oder hatte Werkzeug dabei? Warum hat der Hauseigentümer nicht sofort nach der Schießerei die Polizei gerufen? Warum hat seine Frau die blutbespritzte Kleidung sofort gewaschen?
Im Laufe der Untersuchungen stellt die Polizei fest, dass es sich um keinen gewöhnlichen Einbruch handelt, der schief gelaufen ist. Es gibt eine eindeutige Verbindung zu einem mysteriösen Cold Case, bei dem es um den Mord an einem Kind und einen angeblichen Justizirrtum ging.
Als die Presse davon Wind bekommt, steht Fawleys Team unter enormem Druck den Fall zu lösen - und einen skrupellosen Verbrecher vor Gericht zu bringen ...
Für Fans von Shari Lapena, Claire Douglas und Lisa Jewell.
Cara Hunter hat Englische Literaturwissenschaft studiert und lebt in Oxford. Im Aufbau Taschenbuch sind außerdem ihre anderen Kriminalromane mit DI Adam Fawley, „Sie finden dich nie“ und „In the Dark – Keiner weiß, wer sie sind“, lieferbar.
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Die Nacht ist perfekt, keine Wolke am Himmel, kaum Mondschein. Obwohl klare Nächte um diese Jahreszeit Kälte begünstigen; im Wetterbericht hieß es, dass es Frost geben könnte. Aber das hier ist nicht neu für ihn, er hat sich darauf vorbereitet.
Der Rucksack schneidet ihm in eine Schulter, und er hievt ihn etwas höher, ehe er sich wieder in Bewegung setzt. Trotz der Dunkelheit geht er zielsicher und zuversichtlich. Vor zwei Tagen hat er alles genau erkundet, er weiß, wohin er will. Dass er – vor allem mit der Ausrüstung – dennoch nur langsam vorankommt, hat er berücksichtigt, zumal es sich hierbei ohnehin um ein Geduldsspiel handelt. Die richtige Zeit, der richtige Ort, die richtigen Bedingungen.
Der Weg schlängelt sich nun aufwärts durch den Wald, und der Boden unter seinen Füßen gibt nach wie eine Matratze – Generationen von Herbstlaub, schwammartig verdichtet. Unsichtbar in den Baumkronen über seinem Kopf rufen Eulen einander, und kleines Getier raschelt im Unterholz, aber am lautesten hämmert sein Herz. Endlich tritt er wieder aus dem Wald hinaus, bleibt auf dem Kamm stehen und atmet tief die feuchte, kalte Luft ein, die mit einem Hauch Holzfeuer aus dem Haus unten im Tal gewürzt ist. Meilenweit gibt es hier sonst nichts und niemanden, und der einzige Verweis auf Zivilisation sind ein paar verstreute Lichter an den fernen Hängen, die die Sternbilder zu spiegeln scheinen. Es ist vollkommen still hier oben. Kein Windhauch geht, nur das Atmen der Erde.
Einen Moment lang sucht er den Himmel ab, dann stellt er den Rucksack auf den Boden, geht davor in die Hocke und schaltet die Taschenlampe an. Er nimmt die Halterung mit dem Stativ sowie das Nachtsichtgerät heraus und steckt sie mit wachsender Aufregung zusammen.
»Also – was denkst du? Ich weiß, dass Ben als Pate etwas zu jung ist, aber wäre er nicht gewesen …«
Ich räume die letzten Teller in die Spülmaschine und richte mich auf. Alex beobachtet mich vom anderen Ende der Küche. Sie wirkt ein bisschen verunsichert, obwohl ich keine Ahnung habe, wieso: Sie kann nicht ernsthaft befürchten, dass ich Nein sage.
»Na klar. Ich finde die Idee gut.«
Am Kühlschrank hinter mir hängt ein Foto von Ben und Lily. Ben schafft es, begeistert und gleichzeitig nervös auszusehen, weil er noch nie zuvor ein Baby auf dem Arm gehabt hat und sich eindeutig fürchtet, alles falsch zu machen. Es war Ben, unser elfjähriger Neffe, der den Rettungswagen rief, als Alex’ Wehen verfrüht einsetzten und niemand anderes im Haus war. Ich vor allem nicht. Ich wusste nicht einmal, wie es stand, da ich in einer Zelle in Newbury saß und auf meine Anklage wegen Mordes und Vergewaltigung wartete.
Ich werde jetzt nicht wieder davon anfangen – ich nehme an, Sie wissen es ohnehin, und falls nicht, dann tut es mir leid, aber ich habe in den vergangenen Wochen wirklich viel Energie darauf verwandt, die Sache hinter mir zu lassen. Sagen wir einfach, ich habe es zwei Personen zu verdanken, dass ich meine Spülmaschine einräumen darf, anstatt einen Zellenboden wischen zu müssen. Die eine ist meine Frau, die andere Chris Gislingham. Gis, der im Wörterbuch unter »verlässlich« steht; Gis, der es zwar noch nicht weiß, aber der seinen Hochzeitsanzug in die Reinigung bringen muss, da er als Pate Nummer zwei neben Ben stehen wird, wenn Lily in ein paar Wochen getauft wird.
Wie aufs Stichwort knistert es im Babyphon, und ich höre die zarten Schnaufgeräusche meiner Tochter, die gerade erwacht. Sie ist ein unglaublich freundliches Kind. Sie schreit fast nie, nicht einmal, wenn die Windel gewechselt werden muss – dann blickt sie meist nur etwas irritiert, als sollte die Welt doch sicher etwas anders funktionieren. Den Rest der Zeit liegt sie in der Wiege, lächelt mich an, strampelt mit den Füßchen und bringt mein Herz zum Überquellen. Sie hat die dunkelblauen Augen ihrer Mutter und einen kastanienbraunen Flaum auf dem Kopf, und obwohl ich natürlich genauso voreingenommen bin wie jeder andere frischgebackene Dad auch, denke ich immer, wenn die Leute uns sagen, wie wunderschön unsere Tochter ist: Ja, da hast du verdammt recht, das ist sie. Wunderschön, kerngesund und vor allem hier, bei uns. Und das trotz aller Widrigkeiten, trotz Jakes Tod und obwohl wir geglaubt hatten, dass wir nie wieder eine Chance hierzu haben würden.
»Ich geh schon«, sagt Alex. »Sie hat bestimmt nur Hunger.«
Was übersetzt bedeutet, dass ich wahrscheinlich von keinerlei Nutzen sein werde. Sie berührt mich leicht am Arm, als sie an mir vorbeigeht, und ich erhasche einen Hauch ihres Dufts. Shampoo und Milch und das Butterkeksaroma ihrer Haut. In den letzten Wochen der Schwangerschaft wirkte Alex getrieben wie jemand, der stets das Schlimmste erwartet, doch am letzten Tag – am Tag, an dem Lily geboren wurde – änderte sich etwas. Sie fand sich selbst wieder. Vielleicht waren es die Hormone, vielleicht war es das Adrenalin, wer weiß? Alex kann es bis heute selbst nicht erklären. Aber es war die alte Alex, die herausfand, woher die Beweise gegen mich stammten, und die außerdem, noch während man sie in den Krankenwagen hob, dafür sorgte, dass Gislingham informiert wurde. Die alte Alex, die ich immer geliebt habe, die so viel lachte, die spontan war, für ihre Meinung einstand und mit ihrem blitzschnellen Verstand so gut wie jedem überlegen war – mich eingeschlossen. Mir wurde es erst sehr viel später klar, aber meine Tochter war nicht das einzige Geschenk, das mir an jenem Tag gewährt wurde: Ich habe auch meine Frau zurückbekommen.
***
Eingehender 999-Notruf (Zentrale)
21.10.2018, 21:52:08
Telefonist 1: Notrufzentrale, welchen Dienst benötigen Sie?
Anrufer: Polizei, bitte.
Telefonist 1: Ich verbinde.
[Klingelzeichen]
Telefonist 2: Was möchten Sie melden?
Anrufer: Ich bin in Wytham [UNVERSTÄNDLICH 00.09] in Schwierigkeiten sein.
Telefonist 2: Verzeihung, ich habe nicht alles verstanden – können Sie das wiederholen?
Anrufer: Das große Haus an der Ock Lane [UNVERSTÄNDLICH 00.12] was gehört.
Telefonist 2: Sie sind in der Ock Lane, Wytham?
Anrufer: Na ja, eigentlich nicht. Es ist vielmehr [UNVERSTÄNDLICH 00.15] hörte sich definitiv danach an.
Telefonist 2: Die Verbindung bricht ab, Sir …
Anrufer: Mein Akku wird [UNVERSTÄNDLICH 00.17]
Telefonist 2: Sollen wir einen Streifenwagen schicken – zur Ock Lane, Wytham?
Anrufer: Ja. Ja –
[Wählton]
Telefonist 2: Hallo? Hallo?
***
»Laut Google Maps sind wir hier richtig.«
PC Puttergill zieht die Handbremse, und beide spähen durchs Fenster. Es mag »Manor« im Namen tragen, ist aber eigentlich kein Guts-, sondern nur ein Bauernhaus, wenn auch ein ziemlich großes: gekieste Auffahrt, ein breites Tor, ein schlammbespritzter SUV vor einer offenen Scheune. Es wirkt still, privat und ein wenig heruntergekommen, wie es bei einem Besitz von altem Geld öfter vorkommt. Ganz sicher sieht es nicht nach einem Ort aus, wo Schlimmes geschieht.
»Was hat die Zentrale noch mal gesagt?«
Puttergill zieht ein Gesicht. »Nicht viel, Sarge. Die Verbindung war schlecht, die konnten kaum was verstehen. Und ein Rückruf hat auch nicht geklappt; er ging direkt auf die Mailbox.«
»Und wer wohnt da – wissen wir das?«
»Die Swanns. Rentner, beide. Aber sie gehen auch nicht ans Telefon. Obwohl sie uns erwarten dürften. Die Zentrale hat eine Nachricht hinterlassen.«
Sergeant Barnetson seufzt schwer und greift nach hinten, um seine Mütze vom Rücksitz zu nehmen.
»Okay«, sagt er, eine Hand am Türgriff. »Dann schauen wir es uns mal an.«
Der Kies knirscht unter ihren Schuhen, als sie die Auffahrt hinauftrotten; ihr Atem produziert weiße Wölkchen in der kalten Luft. Beinahe spürt man, wie die Temperatur fällt. Beim SUV wird man morgen früh Eis kratzen müssen.
Über der Haustür hängt eine schmiedeeiserne Kutscherlampe und eine auf alt getrimmte Glocke, die man mit einer Zugkette wie bei einer alten Klospülung betätigt.
Barnetson schneidet eine Grimasse. Was kommt als Nächstes – Messingplaketten für Pferdegeschirre?
Sie hören die Klingel im Haus ertönen, aber obwohl oben in einem Fenster Licht zu sehen ist, regt sich nichts. Puttergill stampft mit den Füßen, um sich zu wärmen. Barnetson klingelt erneut und wartet. Noch immer nichts. Er tritt ein paar Schritte zurück, blickt hinauf in den ersten Stock und winkt Puttergill.
»Können Sie mal hinten schauen? Ich warte hier.«
Es ist so still, dass er Puttergills Stiefel die ganze Zeit auf dem Kies hören kann. Ein gedämpftes Klopfen, ein »Hallo? Ist jemand da?«, eine Pause. Und dann plötzlich schnelle Schritte, und Puttergill rennt um die Ecke auf ihn zu und kommt schlitternd vor ihm zum Stehen.
»Ich glaube, da liegt einer drinnen auf dem Boden. Es ist zu dunkel, um viel zu erkennen, aber vielleicht ist die Person verletzt.«
Barnetson setzt sich in Bewegung, doch er hat noch nicht einmal ganz den Arm zum Klopfen ausgestreckt, als innen ein Riegel zurückgeschoben wird und die Eingangstür sich öffnet. Vor ihnen steht, leicht gebückt, ein Mann um die siebzig mit einem kantigen, knochigen Gesicht. Er trägt eine fadenscheinige Strickjacke von jener Art, die sich dreißig Jahre hält, wenn man sie pfleglich behandelt, was er offensichtlich getan hat. Ganz sicher sieht auch er nicht aus wie jemand, dem schlimme Dinge zustoßen. Tatsächlich kommt Barnetson schon zu dem Schluss, dass Puttergill die Lage falsch eingeschätzt hat: Niemand mit einem Verletzten auf dem Küchenboden kann so gefasst aussehen.
»Ja?«
»Mr. Swann, nehme ich an?«
Der Mann runzelt die Stirn. »Ja?«, wiederholt er.
»Sergeant Barnetson und PC Puttergill, Thames Valley Police. Ein besorgter Bürger hat uns angerufen. Man ist offenbar davon ausgegangen, dass Sie Hilfe benötigen.«
Etwas zeichnet sich in der Miene des Mannes ab. Verärgerung? Überraschung? Sein Blick driftet zur Seite. Barnetson fällt auf, dass er nicht fragt, was der Anrufer genau gesagt hat oder wie er auf die Idee gekommen ist, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte. »Ich denke«, sagt er nun, »Sie kommen besser rein.«
Er kehrt ins Haus zurück, und die beiden Polizisten sehen einander an. Na schön, es scheint etwas zu geben, aber wohl nichts Wildes; ganz sicher geht es hier nicht um einen Todesfall. Was ist es also? Ein Einbruch? Mindere häusliche Gewalt?
Der Flur ist mit Bruchstein gefliest. Ein Schuhregal mit Gummistiefeln, an den Haken Wachsjacken und Tweedmützen, an den Wänden muffige Gemälde, die meisten hängen schief. Irgendwo oben geht eine Klospülung. Barnetson wirft Puttergill einen Blick zu, der die Achseln zuckt. Vielleicht sollten sie später an der Tanke an der Umgehungsstraße für ein Heißgetränk haltmachen; im Haus ist es nicht viel wärmer als draußen.
»Hier drin«, sagt Swann und deutet voraus. Sie biegen nach ihm um die Ecke und gelangen über zwei Stufen abwärts in die Küche.
Dreißig Sekunden später stolpert Puttergill blindlings aus der Hintertür und erbricht die Reste seines Mittagessens auf den gepflasterten Weg.
***
»Es soll also gut gelaufen sein?«
Everett versucht, Somers Blick einzufangen, aber die starrt nur auf ihre Hände.
Um sie herum das übliche weiße Rauschen einer Krankenhausstation: helle Schwesternstimmen, ratternde Wägelchen, das Klirren von Vorhangösen, die über Metallstangen gezogen werden.
»Erica?«
Somer blickt auf und holt tief Luft. »Soweit ich weiß.«
»Aber es war noch früh genug, richtig? Das hat man dir doch gesagt, bevor du … als du …«
Als Somer erfahren hatte, dass in einem Eierstock ein bösartiger Tumor wuchs. Sie antwortet Everett nicht und lässt all die nicht gestellten Fragen in der Luft schwären.
Geistesabwesend befingert sie das Plastikarmband an ihrem Handgelenk. Ihre Lippen zittern unter der Anstrengung, nicht in Tränen auszubrechen.
Ev greift nach ihrer Hand. »Was ist mit deinen Eltern? Sind sie schon hier gewesen?«
Somer beißt sich auf die Unterlippe und schüttelt den Kopf. »Ich kann mich jetzt nicht mit ihnen auseinandersetzen. Es ist auch so schon schlimm genug …«
Der Satz läuft ins Leere. Ev hat es sich schon gedacht. Und sie kann es verstehen. Somer braucht jetzt ganz gewiss keinen Erguss elterlichen Mitleids, so aufrichtig es auch gemeint sein mag. Aber Sommer hat auch eine Schwester – und einen Freund. Wo sind die beiden?
Somer blickt auf und liest ihre Gedanken.
»Kath ist in Washington.«
Stille. Eine Stille, die mit Giles gefüllt ist.
Giles, der Somer liebt. Giles, der aus unerfindlichen Gründen schon vor Somers Diagnose außen vor geblieben ist. Ev hat es damals nicht verstanden, und sie versteht es jetzt nicht.
Sie seufzt. »Tut mir leid, aber ich muss einfach fragen. Warum rufst du Giles nicht an? Er weiß nicht einmal, dass du hier bist, richtig?«
Nun laufen die Tränen, doch Somer macht sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen.
Ev hat ein schlechtes Gewissen, dass sie überhaupt einen Gedanken für ihn übrig hat – Somers Lage ist so viel schlimmer. Und es ist nicht nur das hier; ihr droht ein Disziplinarverfahren, das vorübergehend ausgesetzt wurde, jedoch nicht einfach in der Versenkung verschwinden wird. Dennoch hat Giles etwas Mitgefühl verdient. Der arme Bursche muss sich doch fragen, was er falsch gemacht hat.
Ev nimmt ihren Mut zusammen und öffnet den Mund.
Doch genau in diesem Augenblick gibt ihr Handy einen Laut von sich.
***
Die Küche füllt sich langsam mit dem Team der Spurensicherung, angeführt von Alan Challow, der von seinem sonntäglichen Fernsehabend weggeholt wurde und darüber spürbar verärgert ist.
»Mindhunter«, erklärt er, obwohl ihn niemand danach gefragt hat. »Lustigerweise habe ich in der Serie zum ersten Mal ein Opfer wie das hier richtig dargestellt gesehen.« Er deutet mit dem Kopf auf die Leiche. »Die meisten Fernsehleute haben nicht die Eier dafür.«
Nina Mukerjee blickt von der anderen Seite des Küchentischs auf, wo sie gerade ihre Ausrüstung auspackt. »Na ja, das kann man ihnen nicht verübeln, oder? Sehen Sie ihn sich doch an.«
Denn es sind nicht die Eier, die dem Opfer fehlen. Es liegt mit verdrehten Beinen auf dem Rücken, die Wand hinter ihm eine einzige Schweinerei aus Blut, Knochen und Hirnmasse, und eine dunkle Lache breitet sich von seinen ausgestreckten Armen aus, so dass es wie ein makabrer Schneeengel aussieht.
Aus Richtung der Eingangstür sind Stimmen zu hören. Barnetson verzieht den Mund. »Die Herren im Anzug«, murmelt er. »Genau aufs Stichwort.«
Dem Sergeant gefällt es vielleicht nicht, an die Kripo zu übergeben, aber Puttergill wirkt nur erleichtert. Er hat die vergangene halbe Stunde am offenen Fenster verbracht, tief ein- und ausgeatmet und einsilbige Antworten gegeben.
»Okay, was haben wir?«
Gareth Quinn steht im niedrigen Türsturz. Barnetson stößt ein unbestimmtes Grunzen aus. Quinn ist nicht bloß einer von den Anzugträgern, er ist einer von den Hugo-Boss-Anzugträgern. Schickimicki, oberschlau, immer bereit, die Dinge passend zu machen. Außerdem hat niemand das Recht, so spät an einem Sonntagabend noch so quietschfidel aufzutreten. Und an einem Tatort wie diesem schon gar nicht.
Andererseits weiß Barnetson sehr gut, dass Quinn erst vor zwei Wochen seine Streifen zurückerhalten hat – das hier ist also sein erster Mord als wiederhergestellter Detective Sergeant, deshalb wundert es ihn nicht, dass er so eifrig ist. Der Detective Constable, der hinter ihm eintritt, wirkt ein gutes Stück verhaltener. Barnetson hat ihn noch nie gesehen, er muss ein Neuzugang sein. Wahrscheinlich sein erster Einsatz in Zivilklamotten, denkt er. Noch grün hinter den Ohren, wenn auch nicht ganz so grün wie Puttergill, der aussieht, als würde er gleich erneut kotzen.
»Das ist DC Hansen«, verkündet Quinn für die Allgemeinheit. »Der Ersatz für Asante.«
Jetzt fällt es Barnetson wieder ein. Im Sommer, als Fawley unter Mordverdacht stand, war es Gesprächsthema auf der Wache gewesen. Irgendetwas mit Beweisen gegen Fawley, die Asante herangeschafft hat, woraufhin Gislingham nicht mehr mit ihm arbeiten wollte. Anscheinend hat Gis seinen Willen durchgesetzt, obwohl Asante sich in Anbetracht der Tatsache, dass er nun bei Major Crimes ist, wohl kaum beschweren wird. Und nach dem, was Barnetson so mitbekommt, gibt Fawley alles, um klarzustellen, dass er keine Animositäten gegen Asante hegt. Nun, jedenfalls befinden sich in Fawleys Team jetzt zwei Sergeants, was grundsätzlich schon eine Herausforderung ist, aber mit einem Gareth Quinn, der ständig darauf aus ist, sich und anderen etwas zu beweisen, nicht einfacher wird.
Hansen sieht sich im Raum um und nimmt mit jedem, der aufblickt, diskret Augenkontakt auf.
Barnetson deutet auf die Leiche. »Ich hoffe, Sie haben sich auf dem Hinweg nicht noch was zu essen geholt.«
Hansen grinst schief. »Keine Chance.«
»Also – was haben wir hier?«, fragt Quinn erneut und tritt näher an das Opfer.
Challow mustert ihn von Kopf bis Fuß. »Wie jeder fähige Detective weiß, DS Quinn, hat ein Schutzanzug absolut keinen Sinn, solange man die Kapuze nicht aufsetzt.«
Quinn errötet leicht, dann glättet er sich mit einer Hand das Haar, ehe er die Kapuze über den Kopf zieht. Barnetson entgeht nicht, dass Hansen sich ein Grinsen verkneift. Scheint ein helles Köpfchen zu sein, der Junge.
»Und um Ihre Frage zu beantworten, was wir hier haben: ein Schuss aus einer Schrotflinte aus nächster Nähe ins Gesicht. Obwohl ein cleverer Bursche wie Sie das aus dem verräterischen Fehlen des Kopfes vermutlich längst selbst gefolgert hat.«
»Irgendetwas zur Identifizierung?«
»Nichts in seinen Taschen, keine Brieftasche, kein Handy. Immerhin müssen wir nicht über die Mordwaffe rätseln.«
Auf dem Küchentisch liegt ein Gewehr, ein altmodisches Ding mit poliertem Holzschaft. Aber da ist noch etwas. Mukerjee hat noch nicht damit begonnen, die Beweisstücke zu nummerieren, doch Quinn braucht kein Plastikschildchen, um zu wissen, dass es wichtig ist. Ein Messer in der Hand des Toten. Ein Messer mit blutiger Klinge.
»Der alte Mann muss es sofort zugegeben haben.«
Ich höre Stimmen im Hintergrund, was Quinns extrakompetenten »Ich mach das schon«-Tonfall erklärt. Ich hätte selbst zum Tatort fahren können, habe aber beschlossen, ihn machen zu lassen. Nur frage ich mich jetzt, ob das nicht ein Fehler war.
Ich kann mich nicht erinnern, wann in Oxford das letzte Mal jemand erschossen wurde. Doch es ist nicht nur das: Quinn hat mir die Fotos geschickt, und irgendetwas stimmt da nicht.
Ich blicke zu Alex auf und weiß, was sie in meiner Miene liest. Sie sieht mir an, dass ich auf die Wache muss, und sie sieht mir an, dass es durchaus die ganze Nacht dauern kann. Das kennt sie schon. Aber sie lächelt nur.
»Schon okay, mach dir keine Gedanken. Das gehört dazu.«
Das gehört dazu, wenn ich dieses Jahr Chief Inspector werden will. Wir reden seit einer Ewigkeit immer wieder darüber. Doch dann gab es Jake und das Baby und den Gavin-Parrie-Fall, der wieder aufgerollt wurde, und nie war der richtige Zeitpunkt dazu. Bis jetzt – vielleicht. Dadurch würde sich allerdings viel verändern. Vielleicht müsste ich sogar noch mal zurück zur Uniform. Es gäbe nicht viel mehr Geld, dafür aber mehr Bürokratie und weniger praktisches Arbeiten, selbst wenn ich bei der CID bleiben könnte. Doch nach über zwanzig Jahren im Polizeidienst – und in meinem Alter – muss ich mich sehr bald entscheiden, ob ich mit meiner jetzigen Position zufrieden bin oder den Ehrgeiz – und, ehrlich gesagt, genug Energie – besitze, um die Karriereleiter emporzusteigen. Wobei Harrison, der mich hin und wieder an seiner unendlichen Weisheit teilhaben lässt, einmal meinte: »Der Chief Inspector ist ein Sprungbrett, Adam, kein Endpunkt.« Wenn ich mich also für den Chief Inspector bewerbe, dann strebe ich den Superintendent an. Und das, glauben Sie mir, ist eine große Sache.
Alex berührt mich leicht am Arm; sie weiß, was ich denke. Wie immer. »Wie ich schon sagte, es ist okay. Weck mich nur nicht auf, wenn du zurückkommst.«
Ich ziehe sie in meine Arme und küsse ihr Haar. Sie schmiegt sich an mich. »Dafür kann ich nicht garantieren.«
»Versprich nichts, was du nicht halten kannst«, murmelt sie, ihre Lippen an meinen.
***
Man hat Ev gewarnt, dass Gantry Manor schwer zu finden sei, aber das war, bevor die halbe Thames Valley Police ausgerückt ist und davor geparkt hat. Als sie eintrifft, ist das Haus ausgeleuchtet wie ein Filmset, und die unmittelbare Umgebung pulst im Blaulicht. Die Nachbarn würden ihren Spaß haben, wenn es denn welche gäbe.
Quinn ist an der Fahrertür, noch ehe sie sie öffnen kann.
»’n Abend, Sarge«, sagt sie mit einem Lächeln.
Quinn verengt die Augen. Bestimmt nimmt er an, dass sie sich über ihn lustig macht (was sie tut), aber wenn er will, dass der Rest der Welt seinen Rang anerkennt, kann er sie deswegen schlecht zur Rede stellen.
»Du kommst gerade rechtzeitig – ich wollte den Verdächtigen zur Wache bringen. Wir treffen Fawley dort.«
Sie entdeckt zwei uniformierte Polizisten, die einem großen älteren Mann auf die Rückbank eines Streifenwagens helfen. Seine Hände stecken in zugeklebten Plastiktüten.
»Worum geht’s?«
»Gewehrschuss mit Todesfolge.«
Sie nickt. Daher die Tüten.
»Der Hausbesitzer behauptet, es sei Notwehr gewesen.« Quinn deutet mit dem Kopf auf den Mann. »Angeblich sei das Opfer eingebrochen und hätte sie bedroht.«
Ev runzelt die Stirn. »Aber das glaubst du ihm nicht?«
Quinn zieht eine Braue hoch. »Sagen wir einfach, da sind noch ein paar Fragen offen. Zum Beispiel die, warum er nicht die Polizei gerufen hat.«
***
Somer dreht sich auf die Seite und zieht die Decke fester um sich. Sie hat noch nie ein Talent zum Schlafen gehabt, und ungünstigere Bedingungen kann es nicht geben. Das kratzige Bett, die Geräuschkulisse, die einfach zu laut ist, um sie zu ignorieren, und – schlimmer noch – das Dröhnen in ihrem Kopf. Die Fragen, die, wie sie sehr gut weiß, Ev hat stellen wollen – Fragen, die sie auch gestellt hätte, wenn die Rollen vertauscht gewesen wären. Wird sie eine Chemo brauchen? Hat der Krebs gestreut? Kann sie noch Kinder bekommen? Wahrscheinlich, wahrscheinlich nicht, noch unklar, in dieser Reihenfolge. Die Aussicht auf eine Chemotherapie macht ihr Angst, und der Gedanke, dass sie in irgendeiner glücklichen Zukunft tatsächlich ein Baby in die Welt setzen könnte, kommt ihr wie ein schlechter Witz vor.
Sie macht sich unter der Decke kleiner und versucht, den Schmerz zu verdrängen. Den echten und den Giles-Schmerz. Sie hat ihm geschrieben, den Zettel zerrissen, wieder geschrieben, und sich auch sechs oder sieben Versionen später noch nicht dazu durchringen können, die kurze, hingekritzelte, wahrscheinlich kaum verständliche Nachricht, die schließlich dabei herausgekommen ist, abzuschicken. Sie hat sich vorgenommen, Ev darum zu bitten – sie hat sich geschworen, dass sie Ev bitten würde –, aber irgendwie ist es dann doch nicht dazu gekommen. Plötzlich war alles zu hektisch; Ev musste zurück zu ihrem ereignisreichen Polizeileben. Sie wirkte verlegen, als sie ging, als befürchtete sie, dass Somer sie beneiden würde, doch das hat sie nicht. Sie weiß nicht genau, was sie gefühlt hat, aber Neid war es nicht. Der Job und alles, was er je bedeutet hat, scheint weit weg und lange her. Wie ein längst abgeschlossenes Leben, in dem sie präsent und wach und ehrgeizig und professionell war und vielleicht in irgendeiner Parallelwelt auch noch ist. Plötzlich bedrückt sie der Gedanke, dass die unbekümmerte, krebsfreie Erica sie für den Rest ihres Lebens verfolgt und all das tut, was sie hätte tun können und tun sollen und vermutlich auch getan hätte. Wobei ihre neue Taubheit wenigstens einen Vorteil hat: Das Disziplinarverfahren, das wie ein Damoklesschwert über ihr hängt, hat seinen Schrecken verloren. Ein Mistkerl hat sie wie Dreck behandelt, und sie hat sich gewehrt. Wenn die Thames Valley sie dafür entlassen will, dann – Scheiß drauf! – macht sie eben etwas anderes. Obwohl was und wie und wann weitere Fragen sind, für deren Beantwortung ihr ebenfalls die Energie und das Interesse fehlen.
***
Margaret Swann befindet sich mit einer Polizistin in Zivil in dem Zimmer, das sie als »Salon« bezeichnet hat. Dieser Teil von Gantry Manor muss älter sein als der Rest: Die Decken sind niedriger, die Fenster kleiner. Es gibt eine Kaminecke, ein Klavier, das mit Tischdecke dekoriert ist, Trockenblumengestecke und zu viele Möbel. Alles zusammen erzeugt das Flair eines heruntergekommenen Landgasthofs, was durch die Messingplaketten über dem Ofen noch verstärkt wird. Schmuck für Pferdegeschirre. So was hat Ev seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gesehen.
Swann sitzt in der Ecke. Sie ist klein und dürr, nur Haut und Knochen. Ihre unnatürlich orangebraunen Haare werden an einer Seite mit einer Spange zurückgehalten, was ihr das Aussehen einer verwitterten Achtjährigen verleiht. Sie hat die Arme um sich geschlungen, als friere sie, obwohl der Ofen brennt und es im Zimmer warm ist. Wahrscheinlich der Schock, denkt Ev. Und dazu muss man nicht einmal die Leiche gesehen haben. Allein das Wissen, dass so etwas in der eigenen Küche passiert ist … Himmel! Zumindest wird man den Boden ersetzen müssen; die Flecken kriegt man nie im Leben wieder raus.
»Kann ich Ihnen etwas bringen?«, fragt Ev. »Tee?«
Die alte Frau schnaubt und schüttelt den Kopf, sieht jedoch nicht auf. Die Polizistin bedenkt Ev mit einem Blick, der besagt, dass sie auch nicht viel weitergekommen ist.
Ev tritt näher und nimmt auf dem Sofa Platz. »Könnte ich Ihnen ein paar Fragen stellen, Mrs Swann? Mir ist klar, dass Sie eine schlimme Erfahrung gemacht haben, aber es ist wichtig, die Zeugen so bald wie möglich zu befragen.«
Nun schaut die Frau auf. »Wo ist Ihr Vorgesetzter? Ich vergeude meine Zeit nicht mit irgendeiner WPC.«
»Ich bin Detective Constable, Mrs Swann. Es gibt keine extra Frauenbezeichnung mehr. Und DS Quinn hat mit Ihrem Mann zu tun.«
»Wo ist er? Was haben Sie mit ihm gemacht?«
Ev setzt sich etwas auf. »Er wird zur St. Aldate’s gebracht.«
Sie reißt die Augen auf. »Zur Wache? Wozu denn das? Er hat doch nichts getan. Dieser Mann – diese Person … er hat Richard angegriffen. In unserem eigenen Haus!«
Whoa, denkt Ev. Eins nach dem anderen.
»Kein Grund zur Sorge, Mrs Swann. In Situationen wie diesen müssen wir ein gewisses Prozedere einhalten, das ist alles.«
Trotzig hebt sie das Kinn. »Wir sind hier die Opfer, junge Dame.«
Dass jemand Ev so genannt hat, ist auch gute zehn Jahre her. Sie holt tief Luft. »Ich verstehe, dass Sie aufgebracht sind, bitte glauben Sie mir, aber solange wir Ihren Mann nicht befragt haben –«
»Er ist doch eingebrochen. Er hat eine Straftat begangen.«
»Mrs Swann, der Mann ist tot.«
Stille. Ev hält den Blick der Frau fest, bis sie sich abwendet. Sie räuspert sich. »Vielleicht würden Sie mir jetzt erzählen, was genau heute Abend hier geschehen ist.«
Als ich auf den Parkplatz der Wache einbiege, steht Quinn schon draußen und tritt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Er schafft es tatsächlich, sich davon abzuhalten, auf die Uhr zu blicken, auch wenn es ihn allergrößte Anstrengung kosten muss.
»Tut mir leid. Ich bin aufgehalten worden.«
Er nickt unverbindlich. »Der Mann ist bereits erkennungsdienstlich erfasst worden. Wir wären also so weit.«
»Anwalt?«
»Nein. Wir haben ihm natürlich einen angeboten, aber er hat abgelehnt. Wir können.«
»Okay, Sergeant, lassen Sie ihn raufbringen.«
Das Licht in Verhörraum eins ist immer unbarmherzig, aber zu dieser Nachtzeit erzeugt es eine regelrechte Begräbnisatmosphäre. Vielleicht ist das der Grund, warum mir als Erstes das Wort »Tod« in den Sinn kommt, als Swann hereingeführt wird. Er ist nicht gerade der Sensenmann, doch mit seinem Äußeren kommt er schon nah dran. Ich schätze, in seinen jungen Jahren war er mindestens eins fünfundneunzig groß – trotz seiner leicht gebückten Haltung überragt er mich auch jetzt noch. Er hat eine Hakennase, stechende Augen und einen unsicheren Gang, obwohl dafür auch der Gewahrsamsoverall verantwortlich sein kann. Und dann wäre da noch der Schnitt in seiner rechten Handfläche.
Er setzt sich, lehnt sich langsam zurück, hebt den Kopf und bedenkt mich mit einem langen, kalten Blick.
»Und wer sind Sie?«
***
Margaret Swann atmet tief durch. »Wir haben unten ein Geräusch gehört. Als ob jemand herumlief.«
»Ist die Alarmanlage nicht angesprungen? Sie haben doch eine, nicht wahr?« Ev hat vorhin den Kasten neben der Haustür und das blinkende rote Licht gesehen.
Margaret Swann schnieft. »Wir schalten sie normalerweise nicht ein. Nur, wenn wir wegfahren. Sie geht immer bei der kleinsten Störung versehentlich los und macht einen furchtbaren Lärm. Richard meint, dass das Warnlicht ausreichen würde, um Leute abzuschrecken.«
Diesmal offensichtlich nicht. Obwohl Ev sich eine Notiz macht, denn der Mann hat recht: Einbrecher nutzen so gut wie immer eine günstige Gelegenheit und sind erstaunlich leicht zu entmutigen. In all ihrer Zeit bei der Polizei hat Ev noch keinen Einbruch in ein Haus mit geschlossenem Tor oder funktionierender Alarmanlage untersuchen müssen.
»Und um wie viel Uhr war das?«
Ein Achselzucken. »Halb zehn? Um diese Zeit jedenfalls. Ich lese im Winter gerne im Bett.«
Also muss mindestens in einem Fenster oben Licht zu sehen gewesen sein. Und welcher Einbrecher würde überhaupt das Risiko eingehen, sich schon so früh am Abend ans Werk zu machen? Ev zieht die Stirn in Falten. Quinn hat recht. Irgendwas stimmt hier nicht.
»Und Ihr Mann? War er auch schon im Bett?«
»Ja. Er hat ferngesehen.«
»Sie haben also ein Geräusch gehört. Und dann?«
***
Vernehmung von Richard Swann, St. Aldate’s Police Station, Oxford
22. Oktober 2018, 00.37 Uhr
Anwesend: DI A. Fawley, DS G. Quinn
GQ: Für die Aufnahme: Mr Swann wurde nach der Abgabe eines Schusses mit Todesfolge am Abend des 21. Oktober 2018 in seinem Haus, Gantry Manor, Ock Lane, Wytham wegen Mordverdachts verhaftet. Mr Swann ist über seine Rechte belehrt worden und hat zunächst einen Rechtsbeistand abgelehnt. Er ist sich bewusst, dass er jederzeit einen Anwalt dazuholen kann.
Okay, Mr Swann. Erzählen Sie uns bitte Ihre Version der Ereignisse.
RS: Meine Frau und ich waren schon im Bett, als wir ein Geräusch unten hörten. Es muss kurz nach halb zehn gewesen sein, weil die Fernsehsendung, die ich sehen wollte, gerade angefangen hatte.
GQ: Und was für ein Geräusch haben Sie gehört? Splitterndes Glas? Etwas in der Art?
RS: Nein. Eher, dass jemand rumlief. Wenn man so lange in einem Haus lebt, kennt man die Geräusche. Es war klar, dass unten jemand im Haus war.
GQ: Warum haben Sie nicht den Notruf gewählt? Das wäre doch naheliegend gewesen.
RS: Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist – wir sind ein gutes Stück von der nächsten Wache entfernt. Der Täter wäre längst wieder auf und davon gewesen, bis Ihre Leute bei uns eingetroffen wären. Immer vorausgesetzt, dass Sie sich überhaupt die Mühe gemacht hätten. Und weil Sie garantiert gleich nachhaken werden: Ich hätte die Polizei gerufen. Ich hatte es gerade vor, als Ihre beiden Burschen in Uniform hier aufkreuzten.
GQ: Schön. Um zum Verlauf der Ereignisse zurückzukehren, Sie haben also den Eindringling gehört und beschlossen, nicht die Polizei zu rufen, sondern hinunterzugehen und ihn eigenhändig zu stellen, obwohl Sie – wie alt sind? Mitte siebzig?
RS: Vierundsiebzig. Und es steht mir zu, mich und meinen Besitz zu verteidigen. Ich kenne meine Rechte.
AF: Was Ihnen zusteht, Mr Swann, ist die Anwendung von »angemessener Gewalt«. Was »angemessen« ist und was nicht, hängt von dem Grad der Bedrohung ab, mit der Sie zu diesem Zeitpunkt konfrontiert waren. Das ist es, was wir herauszufinden versuchen. Vor allem angesichts der Tatsache, dass der Mann, den Sie erschossen haben, nicht nur tot aufgefunden wurde, sondern – im wahrsten Sinne des Wortes – mit dem Rücken zur Wand stand. Das scheint mir nicht die Haltung eines Aggressors zu sein.
RS: [Schweigen]
Wie ich schon sagte, ich hörte ein Geräusch, meinte zu Margaret, sie sollte oben bleiben, und ging runter.
GQ: Zu dem Zeitpunkt war unten kein Licht, nehme ich an?
RS: Nein. Aber ich konnte ihn hören – er war in der Küche.
GQ: Er war in der Küche, obwohl die Chancen, dort etwas Wertvolles zu finden, gegen null gehen, wie ihm klar gewesen sein muss?
RS: Wir bewahren Geld in einer Teedose auf. Das machen viele Leute in unserem Alter, und ich nehme an, danach hat er gesucht.
GQ: Okay, möglich. Sie sind also in die Küche gegangen und haben was gemacht? Ihn zur Rede gestellt?
RS: Genau.
AF: Was haben Sie gesagt?
RS: [wendet sich an DI Fawley]
Dass er verschwinden soll. Dass er sich gefälligst verziehen und nie wiederkommen soll. Ich hatte mein Gewehr auf ihn gerichtet.
GQ: Und was passierte dann?
RS: Er hat gelacht und mich Opa genannt. Ich würde ihm keine Angst einjagen, und das wäre bestimmt nur ein Luftgewehr. Dann kam er mit dem Messer in der Hand auf mich zu, und ich habe geschossen.
AF: Und er stand dabei vor der Wand?
RS: Offensichtlich. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Es ging alles sehr schnell.
AF: Aber Sie bleiben dabei, dass Sie um Ihr Leben gefürchtet haben?
RS: Er stand nur einen Meter vor mir, er war mindestens vierzig Jahre jünger als ich, und er hatte ein Messer in der Hand. Natürlich hatte ich Angst um mein Leben.
AF: Sie konnten sein Alter schätzen? Sie haben eben gesagt, dass es im Erdgeschoss dunkel war.
RS: Hinten im Haus gibt es ein Notlicht, und die Jalousien in der Küche waren nicht zugezogen. Es war genug Licht, um zu erkennen, dass es sich um einen jungen Mann handelte.
AF: Haben Sie ihn erkannt?
RS: Ich habe den Mann noch nie gesehen.
AF: Und es gab niemanden, der in letzter Zeit bei Ihnen aufgekreuzt ist, um sich vielleicht auf dem Grundstück oder im Hause umzusehen?
RS: Natürlich nicht – sonst hätten wir die Polizei schon angerufen. Das soll man dann doch, richtig?
GQ: Ihrer Ansicht nach haben Sie also in Notwehr gehandelt?
RS: Nicht »meiner Ansicht nach«. Es war so.
[hält die Hände hoch]
Das können Sie doch selbst sehen. Und das Messer haben Sie auch. Was brauchen Sie noch?
AF: Danke, Mr Swann. Sie haben sich klar ausgedrückt.
[Schweigen]
RS: Dann war’s das? Kann ich gehen?
AF: Wo bewahren Sie das Gewehr auf?
RS: Was?
AF: Bitte beantworten Sie die Frage, Mr Swann.
***
»Ihr Mann geht also runter und lässt Sie im Schlafzimmer allein. Dürfte ich fragen, warum Sie nicht die Polizei gerufen haben? Oder jemand anderen, der hätte helfen können? Jemand aus der Familie? Einen Nachbarn?«
Sie zieht eine Braue hoch. »Im Schlafzimmer gibt es kein Telefon. Und diese mobilen Geräte haben wir nicht. Ich will ja nicht verstrahlt werden.«
»Sie sind also oben geblieben? Sie haben nichts gesehen?«
Margaret Swann schüttelt den Kopf. »Nein. Nichts.«
»Und was haben Sie gehört?«
Sie runzelt die Stirn. »Wie bitte?«
»Sie hatten bisher keinerlei Schwierigkeiten, mich zu verstehen, Mrs Swann. Ein Gewehrschuss in einem stillen Haus wird Ihnen sicher nicht entgangen sein.«
***
RS: Mein Gewehr steht in einem vorschriftsmäßig abgeschlossenen Waffenschrank. Und ehe Sie fragen: Ich besitze eine Erlaubnis, die regelmäßig erneuert wird.
GQ: Ja, wir haben es überprüft.
[schiebt einen Zettel über den Tisch]
Das ist der Grundriss vom Erdgeschoss Ihres Hauses, richtig?
RS: [zögert]
Ja … obwohl ich nicht weiß, woher Sie das haben …
GQ: Ich habe einen unserer Forensiker gebeten, mir einen Plan zu entwerfen. Könnten Sie mir zeigen, wo genau sich besagter Waffenschrank befindet?
***
Margaret Swann blickt Ev an, als hätte sie es mit einer Schwachsinnigen zu tun. »Natürlich habe ich den Schuss gehört.«
»Und noch etwas anderes? Stimmen?«
Eine Pause. »Ich glaube, vor dem Knall habe ich Richard etwas rufen hören. Aber was, konnte ich nicht verstehen.«
»Was passierte dann?«
»Ich bin zur Treppe gegangen und habe nach Richard gerufen. Ich hatte Angst, dass ihm was passiert sein könnte. Aber er kam sofort aus der Küche und sagte mir, dass ich oben bleiben soll. Und das habe ich getan, bis Ihre Leute hier waren.«
»Wie sah er aus – Ihr Mann?«
Die Frage überrascht sie eindeutig. »Schockiert«, antwortet sie nach einem Moment. »Wie man wohl erwarten kann.«
»Sie haben ihn also ziemlich deutlich gesehen – wenn Sie sogar seinen Gesichtsausdruck erkennen konnten?«
Sie setzt sich anders hin. »Deutlich genug.«
Doch keine Bemerkung über Blut. Weder in seinem Gesicht noch auf der Kleidung, obwohl die Küche wie ein Schlachthaus aussieht.
Ev zieht das Schweigen ein wenig in die Länge, notiert sich erneut etwas und blickt dann wieder auf. »Wo ist die Nachtwäsche Ihres Mannes, Mrs Swann?«
***
GQ: Danke für die Bestätigung, Mr Swann. Der Waffenschrank ist tatsächlich im Keller. Und genau damit haben wir ein Problem, wissen Sie?
RS: [Schweigen]
GQ: Wir haben es nämlich ausprobiert. Sie hätten nicht runtergehen können, ohne Licht zu machen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die Kellertür verdammt viel Lärm verursacht.
RS: [Schweigen]
GQ: Sie wollen uns also glauben machen, dass Sie es geschafft haben, die Tür zu öffnen, das Licht einzuschalten, in den Keller zu gehen, das Gewehr zu holen und die Treppe wieder hinaufzukommen, ohne dass der Eindringling bemerkt hat, was Sie vorhaben?
RS: [Schweigen]
AF: Sie verstehen sicher, warum wir uns damit ein wenig schwertun.
RS: Ich denke, ich möchte jetzt mit meinem Anwalt sprechen.
GQ: Wir lassen Sie in die Zelle zurückbringen. Sie sollten sich außerdem im Klaren darüber sein, dass wir angesichts der Art der möglichen Anklage beantragen werden, Sie bis zu sechsundneunzig Stunden festzuhalten, bis weitere Untersuchungen durchgeführt wurden. Die Vernehmung wird um 00.57 Uhr beendet.
***
Margaret Swann blinzelt nicht. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Als unsere uniformierten Kollegen hier eintrafen, öffnete Mr Swann die Tür in Hemd, Strickjacke und einer Stoffhose. Sie haben eben gesagt, er lag im Bett und hat ferngesehen. Wo also ist seine Nachtwäsche jetzt?«
»Was macht das für einen Unterschied?«
Oh, um Himmels willen, denkt Ev. Dass du so blöd bist, nehme ich dir nicht ab. Aber wenn du willst, dass ich es ausspreche, dann mache ich es eben.
»Wenn jemand aus so geringer Entfernung erschossen wird, ist der erzeugte Schaden gewaltig. Und explosiv. Die Körpermaterie wird in alle Richtungen geschleudert.«
Swann verzieht angewidert das Gesicht.
»Sie verstehen also, warum wir nach der Kleidung Ihres Mannes fragen. Schlafanzug, Morgenrock, was immer er anhatte. Denn dass er nicht mit Slacks und Strickjacke ins Bett geht, dürfte wohl klar sein.« Ev beugt sich vor, um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »Die Sachen müssen buchstäblich von Blut und Hirnmasse durchweicht gewesen sein.«
Swann wendet sich ab und strafft die Schultern. »Ich habe sie in die Waschmaschine gesteckt.«
Ev hört, wie die Polizistin hinter ihr nach Luft schnappt, und beinahe tut sie es auch.
»Sie haben die Sachen gewaschen? Obwohl Ihnen klar sein musste, dass sie entscheidende Beweisstücke in der Untersuchung sein würden?«
Swann gibt einen unbestimmten Laut von sich, mit dem sie es schafft, gleichzeitig gleichgültig und verächtlich zu klingen.
Ev sieht zur Polizistin. »Könnten Sie nach der Waschmaschine sehen und alles eintüten, was drin ist? Sofern die Spurensicherung das nicht schon getan hat.«
Die Frau nickt und verschwindet, und Ev wendet sich wieder Swann zu. »Noch etwas, was Sie mir nicht gesagt haben, Mrs Swann?«
Swann presst sich eine Hand auf die Brust, ihr Atem rasselt. Sie macht keine Anstalten, Ev zu antworten.
»Nur damit ich das richtig verstehe. Ihr Mann hat jemanden erschossen, und Sie haben sich weder vor noch nach der Tat die Mühe gemacht, etwas bei der Polizei zu melden, wohingegen Sie alles getan haben, um wichtige Spuren zu beseitigen. Ist Ihnen eigentlich klar, dass das allein eine Straftat ist?«
Swann wendet sich ihr zu. Ihre Wangen sind gerötet. »Rufen Sie bitte meinen Arzt an. Ich glaube, ich fühle mich nicht gut.«
***
Oxford Mail online
Montag, 22. Oktober 2018, zuletzt aktualisiert um 07:24 Uhr
Eilmeldung:
Todesopfer nach »ernsthaftem Vorfall« in Wytham
Die Thames Valley Police hat bestätigt, dass eine noch nicht namentlich genannte Person gestern Nacht in Wytham bei einem »ernsthaften Vorfall« ums Leben gekommen ist, nachdem Anwohner gegen 22.30 Uhr eine hohe Polizeipräsenz in der Gegend gemeldet hatten. Noch immer befinden sich Einsatzfahrzeuge und Beamte auf dem abgelegenen Grundstück an der Ock Lane am Ortsrand.
Die genaue Art des Vorfalls wurde nicht bekannt gegeben. Die Thames Valley Police bestätigte lediglich, dass »Beamte am Abend des 21. Oktober ein Anwesen in Wytham aufgesucht haben, nachdem es zu einem schweren Vorfall gekommen war, der bedauerlicherweise ein Todesopfer gefordert hat.«
Jeder, der Informationen zu diesem Vorfall hat, möchte sich bitte mit der Kriminalabteilung der Thames Valley Police unter 01865 0966552 in Verbindung setzen oder sich vertraulich unter 0800 555 111 bei Crimestoppers melden.
Wir halten Sie auf dem Laufenden.
»Okay, kommen Sie bitte zur Ruhe. Wir haben einiges zu besprechen.«
Es ist eigentlich kein Wunder, dass heute Morgen hier ein solcher Aufruhr herrscht. Wie ich schon sagte, in dieser Stadt wird man nicht erschossen. Und schon gar nicht von der Siebzig-plus-Generation.
Quinn hat den Job am Whiteboard übernommen. Er war gestern Abend schon aufgedreht genug und strahlt nun so viel Energie aus, dass er wie ein Ready-Brek-Kid wirkt. Sorry, da kommt mein Alter durch. Googeln Sie’s, dann wissen Sie, was ich meine. Gis ist jetzt auch anwesend, weswegen das nun unser erster echter Praxistest in Bezug auf die Aufteilung der Verantwortlichkeiten ist, die wir – höchst erwachsen und in gegenseitiger Rücksichtnahme – besprochen haben, als Quinn wieder in den Rang des DS eingesetzt wurde. Seitdem hat er sich alle Mühe gegeben, zugewandt und vernünftig zu sein. Nur ging es bisher bloß um ein paar kleinere Überfälle und Drogendelikte. Jetzt aber haben wir es mit einer Leiche und einer potenziellen Mordanklage zu tun, und Quinn wird an sich raffen, was immer er bekommen kann. Ich weiß das, und Gis weiß das auch, und im Augenblick ist es Gis, dem ich etwas schuldig bin.
Ich blicke mich erneut im Raum um und warte darauf, dass die Unruhe sich legt. Es gibt drei neue Gesichter bei uns: eins, das Asante ersetzt, eins als Vertretung für Somer und eins, das erst heute von der Abteilung PVP zu uns abgestellt wurde (und ehe Sie jetzt maulen, dass ich Ihnen mit dem unsäglich taktischen Abkürzungsgefasel von Line of Duty komme: PVP steht für Protecting Vulnerable People, worunter alles von häuslicher Gewalt über Kindesmissbrauch bis zur modernen Sklaverei fällt. Das kann ein verdammt harter Job sein, und man braucht einen robusten Charakter, um ihn zu bewältigen.)
Wir sind in den vergangenen Jahren eine ziemlich eingeschworene Truppe gewesen, deshalb ist das jetzt viel frisches Blut auf einmal, aber hey, vielleicht ist das gar nicht so schlecht.
»So. Ehe wir anfangen, für die, die noch nicht mit mir gearbeitet haben: Wir haben zwei Sergeants im Team, DS Quinn und DS Gislingham. Bei großen Ermittlungen wie dieser hier arbeiten wir nach dem Standardmodell eines Receiving DS, der Beweise sammelt und auswertet, und eines Resourcing DS, der die Aufgaben auf der Grundlage der Erkenntnisse verteilt. In diesem Fall ist es sinnvoll, DS Quinn, der gestern Abend am Tatort war, die erste Rolle zuzuweisen, während DS Gislingham die andere übernimmt. Ist das verstanden? Wer Einwände hat, möge jetzt sprechen oder für immer schweigen.«
Ein, zwei Leute (von den Neuen) lachen nervös, während andere (alte Hasen wie Ev) Quinn gespannte Seitenblicke zuwerfen.
»Okay«, beginnt Quinn, als ich mich wieder setze. »Fassen wir zunächst die bisher bekannten Fakten zusammen. Der Vorfall ereignete sich gestern Abend um ungefähr einundzwanzig Uhr fünfundvierzig im Gantry Manor, Wytham, das im Besitz des Ehepaars Richard und Margaret Swann ist. Um einundzwanzig Uhr zweiundfünfzig ging ein Bürgernotruf in der Zentrale ein, aber die Verbindung war problematisch, so dass die Vermittlung nicht genau wusste, womit wir es zu tun hatten. Nun, wie sich herausstellte, war es das.«
Er deutet auf die Fotos, die an der Tafel hängen. Die nichts für schwache Mägen sind. Ich zumindest bin froh, dass ich nie groß frühstücke.
»Wie Sie alle sehen, ist dem Opfer aus kurzer Distanz ins Gesicht geschossen worden, und bisher wissen wir noch nicht, wer diese Person ist. Sie hatte nichts bei sich, und dass Gesichtserkennung hier nicht möglich ist, muss vermutlich nicht extra erwähnt werden. Beide Swanns haben ausgesagt, dass der Mann in ihr Haus eingebrochen ist, und laut Richard Swann hat er ihn mit einem Messer bedroht, als Swann hinunterging, um den Eindringling zu stellen. Die Hintertür ist beschädigt, Richard Swann hat einen tiefen Schnitt in der Handinnenfläche, und der Tote hatte noch ein blutiges Messer in der Hand.«
Quinn hält inne und sieht sich im Raum um. »Vordergründig passen also Tatort und Geschichte zusammen. Doch das ist nicht alles. Bei Weitem nicht. Wir haben die Fingerabdrücke im Eilverfahren überprüfen lassen, und sie sind nicht – ich wiederhole: nicht – im System.«
Murmeln setzt ein.
»Wie wir alle wissen, ist es extrem unwahrscheinlich, dass ein Gewohnheitseinbrecher noch nicht erfasst ist. Also haben wir es hier mit einem Anfänger zu tun oder mit jemandem –«
»Der so gut ist, dass er noch nie erwischt wurde«, beendet Baxter grimmig den Satz.
Quinn wirft ihm einen Blick zu. »Was ich nicht glauben kann. Er hat nicht einmal Handschuhe getragen, das muss man sich mal vorstellen. Und nichts deutet darauf hin, dass er nach Wertsachen gesucht hat, selbst wenn wir Swanns Ammenmärchen vom Räuber, der auf das Geld in der Teedose aus ist, glauben wollten. Nirgendwo sonst im Erdgeschoss finden sich seine Fingerabdrücke.«
»Und was in diesem Zusammenhang noch auffälliger ist«, fügt Gis hinzu, »auch keine auf der Hintertür, obwohl, wie DS Quinn gerade erwähnte, der Eindringling keine Handschuhe trug. Ja, es ist möglich, dass er die Klinke abgewischt hat, sobald er im Haus war – aber Hand hoch, wer das für ein realistisches Szenario hält.«
Keiner regt sich.
»Wodurch wir uns einen Haufen Fragen stellen müssen«, fährt Quinn fort.
Mit zwei Schritten tritt er zum Flipchart und legt das oberste Blatt um. Er war eindeutig früher im Büro, als ich gedacht habe. Ich beobachte, wie Ev grinsend Baxter anstupst und lautlos »Ich hab da mal was vorbereitet« mit den Lippen bildet.
Fragen
1. Warum haben die Swanns nicht die 999 gerufen – wenn nicht vor der vermeintlichen Notwehr, dann wenigstens danach?
Zwischen dem Anruf des Zeugen und dem Eintreffen der Polizei lagen 35 min – jede Menge Zeit für die Swanns, selbst den Notruf zu wählen.
2. Warum hat RS sich umgezogen? (Sachen befanden sich in der Waschmaschine)
3.Wie hat er sein Gewehr aus dem Schrank im Keller holen können, ohne dass der Eindringling es mitbekommen hat? (siehe Grundriss)
War das Gewehr gar nicht im Schrank? ← Warum es nicht sofort sagen?
4.Wenn der Eindringling Swann bedroht hat, wieso befand er sich mit dem Rücken zur Wand?
Quinn wendet sich um und blickt in die Runde. »Der Boss und ich haben Swann noch in der Nacht verhört, aber keine befriedigende Antwort auf auch nur eine der Fragen erhalten. Sobald wir bei dem Gewehr nachgehakt haben, ist er verstummt und wollte seinen Anwalt.«
Quinn beißt sich eindeutig daran fest – und er hat nicht unrecht damit. Da stimmt etwas nicht. Doch wir können uns keinen Tunnelblick leisten.
Ehe ich noch etwas sagen kann, kommt mir Chloe Sargent zuvor. Sie ist diejenige, die uns von PVP ausgeliehen wurde. Sie ist klein und blond und wirkt sanftmütig, aber sie ist vor allem auch clever und viel zäher, als sie aussieht. Das muss sie auch, wenn sie mit einem solchen Nachnamen in diesem Job arbeiten will.
»Ich weiß, dass es nicht gut aussieht«, beginnt sie, »und von uns würde wohl keiner so agieren wie die Swanns. Aber die beiden sind keine Polizisten. Sie sind alt, und es war dunkel, und sie hatten einen Fremden im Haus.«
»Ich fand sie außerdem ein bisschen seltsam«, stärkt Ev ihr den Rücken. »Jedenfalls kamen sie mir gestern so vor. Und ausgesprochen zurückhaltend. Sie haben bestimmt nicht oft Besuch.«
»Wahrscheinlich nicht«, erwidert Sargent. »Man kann sich leicht vorstellen, wie jemand wie Mr Swann in solch einer Situation in Panik gerät, die Dinge aus dem Ruder laufen und er alles nur noch schlimmer macht, indem er es zu vertuschen versucht.«
Es gefällt mir, wie sie denkt. Es ist fast, als wäre Somer hier. Fast.
»Wir wissen nicht, wie es gelaufen ist, DC Sargent«, melde ich mich zu Wort. Sie errötet, als ich ihren Namen nenne; anscheinend hat sie nicht damit gerechnet, dass ich ihn weiß. »Und ich gebe zu, dass ich momentan genauso skeptisch bin wie DS Quinn. Aber – und das ist wichtig, Leute – die Swanns könnten die Wahrheit sagen, auch wenn sie selbst ihre größten Feinde sind. Wie DC Sargent schon meinte: Es sind alte Leute, die weit draußen in der Einsamkeit leben, und plötzlich steht ein Unbekannter in der Küche und ist vielleicht bewaffnet.«
»Sie hören sich an wie ein Verteidiger«, bemerkt Ev trocken.
Ich wende mich ihr zu. »Genau. Und so müssen wir hier auch denken. Bis die Beweise uns eines Besseren belehren.« Ich nicke Quinn zu. »Aber ich habe Sie unterbrochen, Sergeant. Entschuldigen Sie.«
Er blickt auf, dann auf sein Tablet. »Ähm, ja, okay. Als Nächstes also Mrs Swann. Sie wurde noch vor Ort von DC Everett befragt. Kernaussage war, dass sie die ganze Zeit oben geblieben ist, doch als Ev sie fragte, wieso sie den Schlafanzug ihres Mannes in die Waschmaschine gestopft hat, hat sie einen auf Schwächeanfall gemacht, und wir mussten sie in die Notaufnahme fahren. Vorsicht ist besser als Nachsicht und bla, bla, bla.« Er wendet sich Ev zu. »Noch was hinzuzufügen?«
»Ich habe eben auf der Station angerufen, wo man sie zur Beobachtung dabehalten hat«, erklärt Ev. »Nicht zum ersten Mal anscheinend. In den letzten achtzehn Monaten war sie mindestens viermal dort, obwohl man mir ohne eine Befugnis nicht sagen wollte, warum. Aber ich fahre später noch mal vorbei; vielleicht ist sie ja dann gesprächiger. Wenn man allerdings bedenkt, wie sie gestern auf mich reagiert hat, wäre es wahrscheinlich vorteilhaft, jemand anderen zu schicken. Im Idealfall einen Mann, und einen mit einer Dienstmarke. Je größer, desto besser.« Sie bricht ab und grinst. »Die Marke, versteht sich.«
Allgemeines Gelächter, und Gis grinst, aber Quinns Miene bleibt ungerührt.
»Na schön«, setzt er wieder an. »Nun zu den nächsten Schritten. Die Obduktion findet heute Morgen statt, und wir hoffen bis zum frühen Nachmittag auf erste Ergebnisse. Außerdem müssen wir mit –«
Okay, Zeit zum Eingreifen. Es ist Gis hoch anzurechnen, dass seine Miene vollkommen unbewegt bleibt, doch wir wissen beide, dass wir uns jetzt bereits auf seinem Gebiet befinden.
»Vielen Dank, DS Quinn«, sage ich und komme auf die Füße. »Eine exzellente Zusammenfassung. DS Gislingham wird nun die Aufgaben für den Tag verteilen.«