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Keiner weiß, wer sie sind ...
Bei Renovierungsarbeiten finden Handwerker in einem Kellerraum eine junge Frau und einen zweijährigen Jungen, kaum noch am Leben. Niemand hat sie als vermisst gemeldet, und der ältere Mann, dem das Haus gehört, behauptet, die beiden nie zuvor gesehen zu haben. DI Adam Fawley übernimmt die Ermittlungen und stößt auf den Fall einer jungen Frau, die vor zwei Jahren mit ihrem Sohn verschwunden ist. Das Kind wurde schließlich in einem Kinderwagen gefunden, doch von der Mutter fehlt seither jede Spur. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Frauen?
»Twist folgt auf Twist, und das in einem atemberaubenden Tempo.« Daily Mail.
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Seitenzahl: 514
Cara Hunter hat Englische Literaturwissenschaft studiert und lebt in Oxford. Im Aufbau Taschenbuch ist auch ihr erster Kriminalroman mit DI Adam Fawley, „Sie finden dich nie“, lieferbar.
Teja Schwaner, Studium in Hamburg, Frankfurt und London. Arbeitete als Musik- und Filmjournalist. Übertrug neben Hunter S. Thompson Daniel Woodrell und Daniel Friedmann ins Deutsche.
Iris Hansen lebt nach Aufenthalten in Kanada und Spanien als Übersetzerin in Hamburg.
Keiner weiß, wer sie sind.
Bei Renovierungsarbeiten finden Handwerker in einem Kellerraum eine junge Frau und einen zweijährigen Jungen, kaum noch am Leben. Niemand hat sie als vermisst gemeldet, und der ältere Mann, dem das Haus gehört, behauptet, die beiden nie zuvor gesehen zu haben. DI Adam Fawley übernimmt die Ermittlungen und stößt auf den Fall einer jungen Frau, die vor zwei Jahren mit ihrem Sohn verschwunden ist. Das Kind wurde schließlich in einem Kinderwagen gefunden, doch von der Mutter fehlt seither jede Spur. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Frauen?
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Cara Hunter
In the Dark
Keiner weiß, wer sie sind
Kriminalroman
Aus dem Englischen vonvon Teja Schwaner und Iris Hansen
Inhaltsübersicht
Über Cara Hunter
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Prolog
Epilog
Danksagung
Impressum
Für »Burke and Heath« Für die vielen glücklichen Tage
Als sie die Augen öffnet, ist um sie herum nur Dunkelheit, als trüge sie eine Augenbinde. Die feuchte Luft riecht muffig, als hätte hier schon seit langem niemand mehr geatmet.
Ihre übrigen Sinne regen sich. Die Stille, die Kälte, der Geruch. Moder und noch etwas, das sie nicht einordnen kann, etwas Animalisches, Übelriechendes. Sie bewegt die Finger, ertastet Split und Feuchtigkeit unter den Jeans. Jetzt dämmert es ihr – wie sie hierher gelangt ist, warum das hier passiert ist.
Wie hatte sie nur so dumm sein können.
Sie unterdrückt die aufkommende Panik und will sich aufsetzen, aber es misslingt ihr. Sie atmet tief ein und schreit, dass Echolaute von den Mauern widerhallen. Sie schreit und schreit und schreit, bis ihre Kehle wund ist.
Aber niemand kommt. Weil niemand sie hören kann. Wieder schließt sie die Augen, spürt heiße Zornestränen über ihr Gesicht rinnen. Sie ist erstarrt und unfähig, etwas anderes als Wut und Verzweiflung wahrzunehmen, bis sie zu ihrem Entsetzen spürt, dass winzig kleine Füße über ihre Haut kratzen.
Hat nicht jemand mal gesagt, der April sei der grausamste Monat? Nun, wer immer es gewesen sein mag, Detective war er bestimmt nicht. Etwas Grausames kann jederzeit passieren – das weiß ich, denn ich habe es erlebt. Aber Kälte und Dunkelheit nehmen dem Ganzen irgendwie die Schärfe. Sonnenschein, Vogelzwitschern und blauer Himmel dagegen können sich bei diesem Job als brutal erweisen. Vielleicht liegt es am Kontrast. Tod und Hoffnung.
Diese Geschichte beginnt mit Hoffnung. Erster Mai, der erste Frühlingstag. Wer je in Oxford war, der weiß: Hier gibt es nur alles oder nichts – wenn es regnet, haben die Steine die Farbe von Pisse, aber im Licht, wenn die Colleges aussehen, als wären sie aus Wolken geschnitzt, gibt es keinen schöneren Platz auf Erden. Und ich bin nur ein zynischer alter Kriminaler.
Früh am Morgen des ersten Mai findet in Oxford jährlich ein Fest statt, um den Frühling zu begrüßen, bei dem alle zusammenkommen, gemeinsam tanzen und singen. Die Menschen feiern ausgelassen, es gibt Food Trucks, die sogar über Nacht geöffnet hatten. Die Pubs öffnen schon um sechs Uhr früh, und die halbe Studentenschaft ist noch bezecht von der Nacht zuvor. Sogar die gediegenen Bürger aus North Oxford lassen sich sehen, mit Blumen in den Haaren (kein Scherz). Letztes Jahr feierten hier über fünfundzwanzigtausend Menschen zusammen. Darunter etwa ein Kerl, der sich als Baum verkleidet hatte. Ich denke, man hat einen kleinen Eindruck bekommen.
Jedenfalls ist der erste Mai auch für die Polizei ein wichtiger Tag. Der frühe Dienstbeginn mag zwar mörderisch sein, aber es gibt nur selten Ärger, und man verwöhnt uns mit Kaffee und Sandwiches mit Bacon. Zumindest war das so, als ich das letzte Mal dabei war. Doch damals trug ich auch noch Uniform. Bevor ich Detective Inspector wurde.
Aber dieses Jahr ist es anders. Und diesmal ist es nicht nur der frühe Beginn, der den Tag mörderisch macht.
* * *
Als Mark Sexton am Haus ankommt, ist er beinahe eine Stunde zu spät. Zu dieser frühen Zeit hätte er glatt durchkommen müssen, aber auf der M40 fuhren die Autos Stoßstange an Stoßstange, und die Schlange reichte ganz hinunter bis zur Banbury Road. Und als er nun in die Frampton Road einbiegt, blockiert ein Baulaster seine Zufahrt. Sexton flucht, legt wütend den Rückwärtsgang ein und setzt den Cayenne mit quietschenden Reifen zurück. Er stößt die Tür auf und tritt auf die Straße, verfehlt nur um ein Haar die Spritzer von Erbrochenem auf dem Asphalt. Angewidert sieht er nach unten und wirft einen prüfenden Blick auf seine Schuhe. Was ist heute Morgen mit dieser verdammten Stadt los? Er schließt den Wagen ab, geht mit großen Schritten zur Eingangstür und wühlt in den Taschen nach seinen Schlüsseln. Wenigstens stehen inzwischen die Baugerüste. Der Verkauf dauerte viel länger als erwartet, sollte aber hoffentlich bis Weihnachten abgeschlossen sein. Bei der Auktion einer Immobilie auf der anderen Seite der Woodstock Road hatte er kein Glück gehabt und musste für diese hier tiefer in die Tasche greifen. Aber sobald alles fertig ist, wird das Haus eine verdammte Goldgrube sein. Der übrige Immobilienmarkt mag vielleicht vor sich hin dümpeln, aber dank der Chinesen und Russen sinken die Preise in Oxford scheinbar nie. Nur eine Stunde von London entfernt und mit einer erstklassigen Privatschule für Jungs drei Straßen weiter. Seiner Frau gefiel die Idee nicht, eine Doppelhaushälfte zu bewohnen, aber er sagte ihr: Sieh es dir nur an – es ist doch verdammt riesig. Echt viktorianisch, vier Stockwerke und ein Untergeschoss, aus dem er einen Weinkeller und ein Heimkino machen will (nicht, dass er seiner Frau schon davon erzählt hätte). Nebenan wohnt nur ein alter Schwachkopf – der wohl nicht viele Partynächte veranstalten dürfte, oder? Und ja, der Garten ist in keinem besonders guten Zustand, aber man könnte leicht ein paar Rankgitter aufstellen. Der Landschaftsarchitekt hatte etwas von Flechthecken erwähnt. Ein Tausender das Stück, aber auf einen Schlag ist alles grün begrenzt. Doch das Problem auf der Frontseite wäre dadurch nicht gelöst.
Er sieht hinüber zu dem rostigen Ford Cortina, der vor der Nummer 33 auf Backsteinen aufgebockt steht, und zu den drei Fahrrädern, die jemand an einen Baum gekettet hat. Daneben der Haufen verrottender Paletten und die schwarzen Plastiksäcke, aus denen sich leere Bierdosen aufs Pflaster ergießen. Der Unrat lag schon da, als er vor zwei Wochen das letzte Mal hier war. Er hat eine Nachricht unter der Tür des Nachbarhauses durchgeschoben und den alten Kerl aufgefordert, den Müll zu entfernen. Was er offensichtlich nicht gemacht hat.
In dem Moment geht die Tür auf. Sein Architekt Tim Knight steht vor ihm mit ein paar aufgerollten Plänen unter dem Arm. Er lächelt breit und winkt ihn herein.
»Mr. Sexton – schön, Sie wiederzusehen! Sie werden zufrieden sein, wie wir mit den Arbeiten vorangekommen sind.«
»Das will ich doch mal hoffen«, sagt Sexton ironisch. »Der Morgen kann eigentlich nur besser werden.«
»Fangen wir oben an.«
Die zwei gehen die Treppe nach oben, ihre Schritte poltern schwer über die Holzdielen. Oben dröhnt Musik in voller Lautstärke aus einem Radio, und in den meisten Räumen sind Handwerker bei der Arbeit. Zwei Verputzer, im Bad ein Klempner, und ein anderer beschäftigt sich gerade mit den Fensterrahmen. Ein paar von ihnen werfen Sexton verstohlen Blicke zu, aber er ignoriert sie.
Sie gelangen zum kleinen Anbau an der Hinterseite des Hauses, wo eine Wand aus alten Backsteinen eingerissen wurde, die nun durch Glas und Metall ersetzt werden soll. Hinter den Bäumen am Fuß des abfallenden Gartens ist die ganze Pracht des Crescent Square zu erkennen. Sexton wünschte, er hätte dort ein Haus kaufen können, aber die Immobilienpreise sind schon um fünf Prozent angestiegen, seit er dieses Haus hier gekauft hat, also will er sich nicht beschweren.
Er bittet den Architekten, die Pläne für die Küche mit ihm durchzugehen (»Großer Gott, für sechzigtausend bekommt man nicht viel, oder? Nicht mal einen dämlichen Geschirrspüler spendieren die obendrauf.«). Dann dreht er sich um und sucht die Tür zur Kellertreppe.
Knight wirkt etwas besorgt.
»Ja, dazu wollte ich gleich kommen. Die Sache mit dem Keller hat einen Haken.«
Sextons Augen werden schmal. »Was meinen Sie damit?«
»Trevor rief mich gestern an. Es gibt da ein Problem mit der Zwischenmauer. Wir werden wohl eine rechtswirksame Vereinbarung benötigen, bevor wir dort renovieren können – unsere Arbeiten betreffen nämlich auch das Nebenhaus.«
Sexton verzieht das Gesicht. »Mist, wir können es uns nicht leisten, Scheißanwälte zu beschäftigen. Was für ein Problem gibt es denn nun schon wieder?«
»Die Arbeiter haben angefangen, den Putz abzuschlagen, um die neuen Kabel zu verlegen, aber ein Teil des Mauerwerks war in ziemlich schlechtem Zustand. Gott weiß, wie lange es her ist, dass Mrs. Pardew mal dort unten war.«
»Die blöde alte Vogelscheuche«, murmelt Sexton, was Knight geflissentlich überhört. Dieser Job ist zu lukrativ.
»Jedenfalls«, sagt er, »fürchte ich, dass einer der Jungs nicht früh genug begriffen hat, womit er es zu tun bekommt. Aber seien Sie unbesorgt, wir erwarten den Statiker schon morgen …«
Sexton drängt sich jedoch bereits an ihm vorbei. »Lassen Sie mich mal selbst sehen.«
Die Glühbirne über der Kellertreppe flackert, als die beiden nach unten steigen. Es riecht modrig.
»Geben Sie acht, wo Sie hintreten«, sagt Knight. »Ein paar von den Stufen sind baufällig. Hier unten im Dunkeln bricht man sich leicht den Hals.«
»Haben Sie denn keine Taschenlampe?«, ruft Sexton, der schon ein paar Meter voraus ist. »Ich kann absolut nichts erkennen.«
Knight reicht ihm eine Lampe, und Sexton schaltet sie ein. Im selben Moment erkennt er auch schon das Problem. Farbe platzt vom alten vergilbten Putz ab, und darunter zerbröckeln die vermoderten Steine. Ein fingerbreiter Riss, der vorher noch nicht zu sehen war, verläuft vom Boden bis zur Decke.
»Scheiße, müssen wir etwa das ganze Misthaus untermauern? Wieso hat denn der Sachverständige das hier übersehen?«
Knight hat einen Blick aufgesetzt, als wolle er um Verständnis bitten. »Mrs. Pardew hatte diese Wand mit Schränken zugestellt, und er hätte niemals wissen können, was sich dahinter befindet.«
»Viel schlimmer finde ich es, dass niemand den dämlichen kleinen Wichser davon abgehalten hat, Brocken aus meiner Scheißwand zu brechen …«
Sexton hebt ein Maurerwerkzeug vom Boden auf und kratzt damit an den Steinen. Der Architekt tritt an seine Seite. »Ganz im Ernst, das würde ich nicht machen …«
Ein Stein fällt, kurz darauf noch einer, und dann bricht ein Stück Mauerwerk ab und fällt in einer Staubwolke zu ihren Füßen auf den Boden. Diesmal werden Sextons Schuhe in Mitleidenschaft gezogen, aber er bemerkt es nicht. Er starrt mit offenem Mund auf die Mauer.
Dort gähnt ein Loch, ungefähr fünf Zentimeter breit.
Und in der Finsternis dahinter – ein Gesicht.
* * *
Auf dem Polizeirevier St. Aldate’s ist der erst kürzlich zum Detective Sergeant beförderte Gareth Quinn bei seiner zweiten Tasse Kaffee und dem dritten Toast angelangt. Seine Krawatte hat er über die Schulter geworfen, damit sie nicht zwischen die Krümel gerät. Sie passt zu dem teuren Anzug und dem allgemeinen Eindruck, dass er sich für einen 08/15-Polizisten für ein bisschen zu elegant und schlau hält. Ansonsten ist das Büro der Kriminalpolizei CID halbleer. Nur Chris Gislingham und Verity Everett sind schon eingetroffen. Das Team hat zurzeit keinen besonders schwierigen Fall zu bearbeiten, und DI Fawley ist heute bei einer Tagung. Also gönnt man sich ausnahmsweise einen späten Arbeitsbeginn und freut sich auf die willkommene Aussicht, liegengebliebenen Papierkram zu erledigen.
Staubpartikel schweben in den schräg hereinfallenden Sonnenstrahlen, die durch die Jalousien dringen, Quinns Zeitung raschelt, es riecht nach Kaffee. Und dann läutet das Telefon. Es ist neun Uhr siebzehn.
Quinn streckt die Hand aus und nimmt ab.
»CID.« Dann: »Scheiße, sind Sie sicher?«
Gislingham und Everett blicken auf. Gislingham, der immer als »stämmig« und »untersetzt« beschrieben wird, und das nicht nur, weil er um die Leibesmitte zugelegt hat, ist – anders als Quinn – noch nicht zum DS befördert worden und wird es in seinem Alter wohl auch nicht mehr. Aber jedes CID-Team braucht einen Gislingham, und wenn man zu ertrinken droht, ist er derjenige, den man sich am Ende der Rettungsleine wünscht. Everett sollte man ebenfalls nicht nach dem Äußeren beurteilen: Sie sieht aus, wie Miss Marple mit fünfunddreißig ausgesehen haben muss, und ist genauso unerbittlich. Oder wie Gislingham es immer ausdrückt: In einem früheren Leben war sie zweifellos ein Bluthund.
Quinn telefoniert noch immer. »Und nebenan macht wirklich niemand auf? Okay. Nein, wir kümmern uns darum. Sagen Sie den Uniformierten, wir treffen uns dort, und sorgen Sie dafür, dass mindestens eine weibliche Kraft dabei ist.«
Gislingham greift bereits nach seiner Jacke. Quinn legt auf und beißt noch einmal von seinem Toast ab, bevor er aufsteht. »Das war die Zentrale. Jemand aus der Frampton Road hat angerufen und behauptet, im Keller des Nachbarhauses sei ein Mädchen.«
»Im Keller?«, sagt Everett. Ihre Augen sind weit aufgerissen.
»Jemand hat aus Versehen ein Loch in die Mauer geschlagen. Anscheinen wohnt in dem Haus so ein alter Kerl, aber der ist nicht aufzufinden.«
»Scheiße auch!«
»Tja. Kann man wohl sagen.«
Als sie an dem Haus ankommen, hat sich davor bereits eine Menschenmenge gebildet. Darunter sind auch die Handwerker aus der Nummer 31, dankbar für einen Vorwand, die Arbeit zu unterbrechen, ohne dafür noch mehr von Sexton angeschissen zu werden; andere sind wahrscheinlich Nachbarn, und dann ist da noch eine Gruppe Nachtschwärmer mit Blumen am Hut und Bierdosen in der Hand, die wohl vom Feiern kommen. Sie sehen ziemlich angeschlagen aus. Am Bordstein steht aus irgendeinem Grund eine lebensgroße Plastikkuh, die jemand mit Narzissen und einer geblümten Tischdecke geschmückt hat.
»Mist«, sagt Gislingham zu Quinn, der den Motor abstellt. »Meinst du, wir könnten die wegen unerlaubten Parkens drankriegen?«
Sie steigen aus und gehen über die Straße, als zwei Streifenwagen auf der anderen Seite halten. Eine Frau aus der Menge pfeift Quinn hinterher und kann vor Lachen kaum an sich halten, als er sich umdreht. Drei Polizisten steigen aus und gesellen sich zu ihnen. Einer von ihnen hat einen Rammbock dabei, die Polizistin ist Erica Somer. Gislingham bemerkt den Blick, den sie und Quinn austauschen, und sieht, dass sie wegen Quinns offensichtlicher Verlegenheit schmunzelt. So ist das also, denkt er. Den Verdacht, dass zwischen den beiden etwas läuft, hegt er schon länger. Erst neulich Abend hat er Janet gegenüber erwähnt, dass er die beiden zu oft zusammen an der Kaffeemaschine erwischt, um es als Zufall abzutun. Nicht, dass er es Quinn verdenken könnte: Erica Somer macht auf jeden Fall was her, selbst in Uniform und mit Arbeitsschuhen. Er hofft nur, dass sie nicht zu viel erwartet – Quinn ist nicht gerade für seine Treue bekannt.
»Kennen wir den Namen des alten Mannes, der hier wohnt?«, fragt Quinn.
»Ein gewisser William Harper, Sarge«, sagt Somer. »Für den Fall, dass sich tatsächlich ein Mädchen dort drinnen befindet, haben wir die Sanitäter angefordert.«
»Ich weiß verdammt genau, was ich gesehen habe.«
Quinn dreht sich um. Vor ihm steht ein Mann in einem Anzug von der Art, die er sich anschaffen würde, wenn er das Geld hätte. Schmal geschnitten, mit Seidentuch und einem bordeauxroten Satinfutter, das zusammen mit dem lila Karohemd und der rosa gepunkteten Krawatte ins Auge fällt. Alles an ihm sieht nach Großstadt aus. Und nach äußerst angepisst.
»Hören Sie«, sagt der Mann, »wie lange soll das hier denn noch dauern? Ich habe um drei eine Verabredung mit meinem Anwalt, und wenn der Verkehr auf der Rückfahrt genauso schlimm ist –«
»Sorry, Sir, wer sind Sie?«
»Mark Sexton. Nebenan – das Haus gehört mir.«
»Sie waren also derjenige, der uns gerufen hat?«
»Ja, das war ich. Ich befand mich zusammen mit meinem Architekten im Keller, als ein Teil der Mauer wegbrach. Dort unten befindet sich ein Mädchen. Ich weiß, was ich gesehen habe, und im Gegensatz zu dem Gesindel hier bin ich noch nüchtern. Fragen Sie Knight – er hat das Mädchen auch gesehen.«
»Gut«, sagt Quinn und gibt dem Polizisten mit dem Rammbock zu verstehen, er möge sich zur Tür begeben. »Legen wir los. Und bringt die Bande auf der Straße unter Kontrolle. Ist ja das reinste Affentheater.«
Als er sich entfernt, ruft Sexton ihn zurück. »He – was ist denn jetzt mit meinen Handwerkern? Wann dürfen die wieder rein, zum Teufel?«
Quinn schenkt ihm keine Beachtung, aber als Gislingham an ihm vorbeikommt, tippt er ihm an die Schulter. »Tut mir leid, Kumpel«, sagt er gutgelaunt. »Die Renovierung Ihrer schicken Bude muss noch ein bisschen warten.«
Oben auf der Eingangstreppe hämmert Quinn gegen die Tür. »Mr. Harper! Thames Valley Police. Wenn Sie da sind, öffnen Sie bitte die Tür, oder wir sehen uns gezwungen, sie aufzubrechen.«
Stille.
»Okay«, sagt Quinn und nickt dem uniformierten Polizisten zu. »Los geht’s.«
Die Tür ist widerstandsfähiger, als der Zustand des restlichen Hauses es vermuten ließ. Doch beim dritten Schlag splittert das Holz an den Angeln. In der Menge fängt ein Betrunkener zu jubeln an, andere drängen neugierig nach vorn.
Quinn und Gislingham treten ein und schließen die Tür hinter sich.
Im Inneren ist alles still. Sie können noch immer das Geschrei der Menge hören, und irgendwo in der abgestandenen Luft summen Fliegen. Hier ist augenscheinlich seit Jahrzehnten nicht mehr renoviert worden. Die Tapeten lösen sich von den Wänden, die Decken voller brauner Flecken hängen durch, und Zeitungen bedecken den Boden.
Quinn bewegt sich langsam durch den Flur. Die alten Dielen knarren, seine Schuhe rascheln durch das Papier. »Ist da jemand? Mr. Harper? Die Polizei ist hier.«
Und dann hört er es. Ein Wimmern, ganz in der Nähe. Er bleibt einen Moment lang stehen, versucht herauszufinden, woher das Geräusch kommt, schnellt vor und stößt eine Tür unter den Treppen auf.
Da sitzt ein alter Mann auf der Toilette, nur mit einer Weste bekleidet. Büschel aus widerspenstigen schwarzen Haaren haften an seiner Kopfhaut und unter den Achseln. Seine Unterhose hängt ihm um die Knöchel. Penis und Hoden baumeln schlaff zwischen seinen Beinen. Er duckt sich vor Quinn, wimmert weiter. Seine knochigen Finger umklammern die Toilettenbrille. Er ist schmutzig, und der Boden ist voller Scheiße.
Somer ruft von der Türschwelle. »DS Quinn? Die Sanitäter sind da. Für den Fall, dass sie gebraucht werden.«
»Gott sei Dank – schicken Sie sie bitte her.«
Somer tritt zurück, um zwei Männer in grünen Overalls durch die Tür zu lassen. Einer hockt sich vor den alten Mann. »Mr. Harper, Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir wollen nur nach Ihnen sehen.«
Quinn gibt Gislingham einen Wink, und sie ziehen sich in Richtung Küche zurück.
Gislingham pfeift, als die Tür aufgeht. »Jemand sollte sofort das Victoria and Albert Museum anrufen.«
Ein uralter Gasherd, braune und orangefarbene Kacheln, wie sie in den Siebzigern beliebt waren. Ein Resopaltisch mit vier ungleichen Stühlen. Sämtliche Oberflächen sind zugestellt mit schmutzigem Geschirr, leeren Bierflaschen und halbvollen Konservendosen, die von Fliegen umschwirrt werden. Alle Fenster sind geschlossen, und ihre Schuhsohlen bleiben am Linoleum kleben. Hinter einer Glastür mit Perlenvorhang liegt ein Wintergarten, und dann ist da noch eine weitere Tür, die wohl hinunter in den Keller führt. Sie ist verschlossen, doch an einem Nagel hängt ein Schlüsselbund. Gislingham nimmt es und braucht drei Versuche, bis er den richtigen Schlüssel gefunden hat. Obwohl er schlimm verrostet ist, lässt er sich leicht drehen. Gislingham zieht die Tür auf und schaltet das Licht ein. Dann tritt er zur Seite und lässt Quinn vorgehen. Langsam tasten sie sich nach unten vor, Schritt für Schritt. Über ihren Köpfen flimmert die Neonröhre.
»Hallo? Ist hier unten jemand?«
Das Licht ist spärlich, aber sie können in den Keller sehen. Er ist so gut wie leer bis auf ein paar Pappkartons, schwarze Plastiksäcke, einen alten Leuchter und eine Zinkwanne voller Krempel.
Sie stehen da und sehen einander an. Außer ihrem eigenen Atem ist alles still. Aber dann: »Was war das?«, flüstert Gislingham. »Hört sich an wie Gekratze. Ratten?«
Unwillkürlich schreckt Quinn zusammen, lässt den Blick über den Boden zu seinen Füßen streifen. Wenn es etwas gibt, das er nicht erträgt, sind es verdammte Ratten.
Gislingham sieht sich wieder um. Seine Augen gewöhnen sich langsam an das schummrige Licht, aber er hätte doch besser die Taschenlampe aus dem Auto mitbringen sollen. »Was ist das da drüben?«
Er bahnt sich den Weg zwischen den Kartons und stellt plötzlich fest, dass der Keller viel größer ist, als sie angenommen haben.
»Quinn, hier ist noch eine Tür. Hilfst du mir?«
Er rüttelt an der Tür, aber sie bewegt sich nicht. Oben befindet sich ein Riegel, und schließlich gelingt es Quinn, ihn beiseite zu stoßen. Doch die verdammte Tür will immer noch nicht nachgeben.
»Sie ist bestimmt verschlossen«, sagt Gislingham. »Hast du noch die Schlüssel?«
Im Halbdunkel ist es schwierig, den richtigen zu finden, aber es gelingt ihnen. Mit der Schulter stemmen sie sich gegen die Tür, die langsam nachgibt, bis ihnen ein Schwall übelriechender Luft entgegenschlägt. Sie müssen Mund und Nase mit der Hand bedecken, um den Gestank auszuhalten.
Zu ihren Füßen liegt eine junge Frau auf dem Betonboden. Sie trägt ein Paar Jeans, die an den Knien zerrissen sind, und eine zerlumpte Strickjacke, die wahrscheinlich irgendwann einmal gelb war. Der Mund der Frau steht offen, und ihre Augen sind geschlossen. Ihre Haut schimmert fahl.
Aber da ist noch etwas, was sie völlig unerwartet trifft:
Neben ihr sitzt ein Kind und zieht an ihren Haaren.
* * *
Und wo war ich, als all das geschah? Wie gerne würde ich sagen, ich sei mit einer besonders mutigen, beeindruckenden Aufgabe beschäftigt gewesen, wie zum Beispiel Terrorismusabwehr, aber in Wahrheit war ich bei einer Fortbildung in Warwick zum Thema: »Gemeindebezogene Polizeiarbeit«. Für Inspectors und höhere Dienstgrade. Haben wir ein Glück! Zu Tode gelangweilt von PowerPoint und dem viel zu frühen Morgen, hatte ich allmählich den Eindruck, dass die Uniformierten, die am ersten Mai Dienst hatten, weitaus besser dran waren. Aber dann kam der Anruf, auf der Stelle gefolgt vom verärgerten Stirnrunzeln einer der Organisatorinnen, die darauf bestanden hatte, dass wir unsere Telefone abstellten. Als ich mich mit dem Handy nach draußen auf den Flur zurückzog, fürchtete sie wahrscheinlich, sie würde mich nie wiedersehen.
»Man hat das Mädchen ins John Rad gebracht«, sagt Quinn. »Ihr Zustand ist ziemlich schlecht – hat offenbar seit einiger Zeit nichts gegessen und ist extrem dehydriert. Es war noch eine Flasche Wasser im Raum, aber ich nehme an, dass sie das meiste dem Kind gegeben hat. Die Mediziner werden uns mehr sagen können, sobald sie sie gründlich untersucht haben.«
»Und der Junge?«
»Sagt immer noch nichts. Du lieber Gott, er kann kaum älter sein als zwei – was soll er uns schon erzählen können? Der arme Knirps ließ weder mich noch Gis in seine Nähe, daher ist Somer mit ihm in den Krankenwagen gestiegen. Wir haben Harper an Ort und Stelle in Gewahrsam genommen, aber als wir versuchten, ihn aus dem Haus zu holen, trat er um sich und beschimpfte uns. Ich vermute mal Alzheimer.«
»Hören Sie, ich muss das wohl nicht extra erwähnen, aber wenn es sich bei Harper um einen schutzbedürftigen Erwachsenen handelt, müssen wir uns streng an die Richtlinien halten.«
»Ich weiß, darum haben wir uns schon gekümmert. Ich habe beim Sozialamt angerufen. Nicht nur für ihn, der Kleine braucht doch ebenfalls Hilfe.«
Es folgt Stille, und ich nehme an, wir denken beide dasselbe. Es ist durchaus möglich, dass wir es mit einem Kind zu tun haben, das nichts anderes kennt – das dort unten geboren wurde. In der Dunkelheit.
»Okay«, sage ich. »Ich fahre jetzt hier los. Um die Mittagszeit bin ich bei euch.«
BBC Midlands Today
Montag, 1. Mai 2017 | Letzte Aktualisierung um 11:21 Uhr
EILMELDUNG: Junge Frau und Kleinkind in einem Keller in North Oxford gefunden
Berichten zufolge wurden eine junge Frau und ein kleines Kind, möglicherweise ihr Sohn, im Keller eines Hauses in der Frampton Road, North Oxford, aufgefunden. Bei Bauarbeiten im Haus nebenan wurde die junge Frau heute Morgen entdeckt. Offenbar war sie im Keller eingesperrt. Die junge Frau konnte bisher noch nicht identifiziert werden, und die Thames Valley Police hat noch keine Verlautbarung herausgegeben.
Sobald wir mehr erfahren, werden wir Sie informieren.
* * *
Elf Uhr siebenundzwanzig. Im Zeugenbefragungsraum von Kidlington betrachtet Gislingham Harper über Video. Der alte Mann trägt jetzt Hemd und Hose und sitzt zusammengekauert auf dem Sofa. Ein Sozialarbeiter sitzt neben ihm auf einem normalen Stuhl mit Rückenlehne und redet vehement auf ihn ein. Eine Psychotherapeutin sieht aus kurzer Entfernung zu. Harper wirkt ruhelos – er bewegt sich nervös, schlägt immerfort ein Bein über das andere –, aber auch ohne Ton ist zu erkennen, dass er nicht geistig verwirrt wirkt. Noch nicht zumindest. Gereizt beäugt er den Sozialarbeiter und winkt dessen Worte mit einer Handbewegung ab.
Die Tür geht auf, und als Gislingham sich umdreht, sieht er Quinn hereinkommen. Er legt eine Akte auf den Schreibtisch und lehnt sich dagegen. »Everett ist direkt ins Krankenhaus gefahren, um mit dem Mädchen zu sprechen, sobald man es erlaubt. Eric …« Er unterbricht sich und wird rot. »PC Somer ist zurück in die Frampton Road gefahren, um die Haus-zu-Haus-Befragung zu koordinieren. Und Challow ist mit den Kriminaltechnikern unterwegs.«
Er macht eine Notiz im Aktenhefter und steckt sich den Stift hinters Ohr, wie es seine Art ist. Dann nickt er in Richtung Videobildschirm. »Irgendwas Neues?«
Gislingham schüttelt den Kopf. »Sein Sozialarbeiter ist schon eine halbe Stunde bei ihm. Er heißt Ross, Derek Ross. Ich bin sicher, dass ich ihm schon mal begegnet bin. Weiß man inzwischen, wann Fawley wiederkommt?«
Quinn sieht auf seine Armbanduhr. »So um zwölf. Aber er hat gesagt, wir sollen schon mal anfangen, wenn der Arzt und der Sozialarbeiter einverstanden sind. Eine Anwältin ist auch auf dem Weg. Der Sozialarbeiter will sich absichern, und das kann man ihm nicht vorwerfen, finde ich.«
»Doppelt hält besser«, sagt Gislingham trocken. »Aber du bist sicher, dass es okay ist, ihn zu befragen?«
»Offenbar hat er lichte Momente, in denen wir mit ihm sprechen können. Wenn er aber wieder ausrastet, müssen wir uns zurückhalten.«
Gislingham starrt einen Moment lang auf den Bildschirm. Am Kinn des alten Mannes hängt seit mindestens zehn Minuten ein Speichelfaden, und er hat ihn noch nicht weggewischt. »Meinst du, er war es – dass er dazu überhaupt in der Lage gewesen sein könnte?«
Quinn macht ein finsteres Gesicht. »Ich weiß, Harper sieht jetzt jämmerlich aus, aber vor zwei, drei Jahren? Da könnte es ganz anders gewesen sein. Und dann wäre es jener Mann, der dieses Verbrechen begangen hat, nicht der arme alte Tropf da drinnen.«
Gislingham erschauert, obwohl es im Raum stickig heiß ist, und Quinn sieht zu ihm hinüber. »Gänsehaut?«
»Ich dachte nur gerade, er kann ja nicht über Nacht so geworden sein, oder? Das muss doch seit Monaten so gegangen sein. Vielleicht sogar seit Jahren. Und sie hat es wahrscheinlich gar nicht mitbekommen. Dass er langsam den Verstand verlor, meine ich. Sie ist da unten gefangen, niemand weiß davon – ich wette, selbst er hat irgendwann vergessen, dass sie da war. Irgendwann gab es nichts mehr zu essen, dann das Wasser – sie musste doch auch an ihr Kind denken. Und selbst wenn sie schreit, kann der Alte sie doch gar nicht hören …«
Quinn schüttelt den Kopf. »Oh, Mann. Wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen.
Auf dem Bildschirm sehen sie Derek Ross aufstehen und seitlich verschwinden. Kurz darauf wird die Tür geöffnet, und er betritt den Raum.
Gislingham steht auf. »Sie sind sein Sozialarbeiter?«
Ross nickt. »Schon seit ein paar Jahren.«
»Sie wussten also von der Demenz?«
»Vor ein paar Monaten wurde die offizielle Diagnose gestellt, doch ich nehme an, dass er schon viel, viel länger darunter leidet. Aber Sie wissen genauso wie ich, wie wenig sich voraussagen lässt … die Ausfälle kommen sporadisch. In letzter Zeit habe ich mir Sorgen gemacht, dass der Krankheitsverlauf sich womöglich beschleunigt hat. Er ist ein paarmal gestürzt und hat sich vor einem Jahr oder so am Herd verbrannt.«
»Und er trinkt, nicht wahr? Er riecht jedenfalls danach.«
Ross atmet tief durch. »Ja. Das ist seit einer Weile ein ziemliches Problem. Aber ich kann einfach nicht glauben, dass er in der Lage wäre, so was zu tun – so etwas Schreckliches …«
Quinn ist nicht überzeugt. »Keiner von uns weiß, wozu wir tatsächlich in der Lage wären.«
»Aber in seinem Zustand …«
»Hören Sie«, sagt Quinn, und seine Stimme klingt streng. »Die Ärztin sagt, es sei okay, ihn jetzt zu vernehmen. Was eine mögliche Anklage betrifft, das hat die Staatsanwaltschaft zu entscheiden. Aber es waren eine junge Frau und ein Kind in seinem Keller eingesperrt, und wir müssen herausfinden, wie das geschehen konnte. Das verstehen Sie doch, Mr. Ross, oder?«
Ross zögert und nickt dann. »Darf ich dabei sein? Er kennt mich. Vielleicht ist das hilfreich. Er kann ein bisschen … schwierig sein, wie Sie herausfinden werden.«
»Gut«, sagt Quinn und sammelt seine Papiere zusammen.
Die drei Männer bewegen sich zur Tür, aber Ross bleibt plötzlich stehen und legt die Hand auf Quinns Arm. »Gehen Sie schonend mit ihm um, ja?«
Quinn sieht ihn an und hebt eine Augenbraue. »So wie er mit dem Mädchen?«
* * *
Gespräch mit Isabel Fielding,
geführt in 17 Frampton Road, Oxford
1. Mai 2017, 11:15 Uhr
Anwesend: PC E. Somer
ES: Wie lange wohnen Sie schon hier, Mrs. Fielding?
IF: Erst seit ein paar Jahren. Das Haus gehört zum College. Mein Mann ist Dozent in Wadham.
ES: Sie kennen also Mr. Harper, den Herrn aus der Nummer 33?
IF: Na ja, nur oberflächlich. Kurz nachdem wir hier eingezogen waren, kam er mal ziemlich aufgelöst zu uns herüber und fragte, ob wir die Abdeckplane für sein Auto gesehen hätten. Offenbar hatte er sie verloren. Alles ein bisschen eigenartig, da er seinen Wagen so gut wie gar nicht benutzt. Aber wir dachten, er sei eben ein wenig, sagen wir mal, exzentrisch. Solche Leute trifft man ja immer mal. Hier in der Gegend, meine ich. Ziemlich viele ›Sonderlinge‹. Manche von ihnen waren mal Akademiker und wohnen hier schon ewige Zeiten. Ich denke, die meisten von ihnen sind in einem Alter, in dem ihnen ohnehin alles egal ist.
ES: Und Mr. Harper – war er einer von denen?
IF: Man sieht ihn umherlaufen, mit sich selbst reden. In alten Kleidungsstücken. Mal trug er Handschuhe im Juli oder Pyjamas auf der Straße. Solche Sachen. Aber im Grunde ist er harmlos. (Pause) Tut mir leid, das kam jetzt wahrscheinlich falsch rüber – ich meine …
ES: Alles in Ordnung, Mrs. Fielding. Ich weiß, was Sie meinen.
* * *
»Ich bin Detective Sergeant Gareth Quinn, und das ist mein Kollege Detective Constable Chris Gislingham. Derek Ross kennen Sie bereits, und die Dame hier ist wohl Ihre Anwältin.«
Die Frau am anderen Ende des Tisches sieht kurz auf, aber Harper reagiert nicht darauf. Er scheint ihre Anwesenheit überhaupt nicht registriert zu haben.
»Also, Mr. Harper, Sie wurden heute Morgen um zehn Uhr fünfzehn wegen des Verdachts der Entführung und Freiheitsberaubung festgenommen. Sie wurden belehrt und über ihre Rechte aufgeklärt, die Sie, so sagten Sie, verstanden haben. Wir werden jetzt eine offizielle Vernehmung durchführen, die zudem aufgezeichnet wird.«
»Das heißt, sie filmen dich, Bill«, sagt Ross. »Verstehst du?«
Die Augen des alten Mannes werden schmal. »Und ob ich das verstehe. Bin ja kein verdammter Idiot. Und für Sie, Junge, bin ich immer noch Dr. Harper.«
Quinn wirft Ross einen Blick zu. Der nickt. »Dr. Harper hat bis 1998 an der Birmingham University Soziologie gelehrt.«
Gislingham sieht Quinn leicht erröten. Dreimal an einem einzigen Morgen – das dürfte Rekord sein.
Quinn schlägt seine Akte auf. »Ich nehme an, dass Sie seit 1976 unter der gegenwärtigen Adresse wohnhaft sind? Obwohl Sie in Birmingham gearbeitet haben?«
Harper sieht ihn an, als würde er sich absichtlich dumm stellen. »Birmingham ist ein Drecksloch.«
»Und 1976 sind Sie hierhergezogen?«
»Schwachsinn. Am 11. Dezember 1975«, sagt Harper. »Am Geburtstag meiner Frau.«
»Dr. Harpers erste Frau verstarb 1999«, wirft Ross hastig ein. »2001 heiratete er dann nochmals, aber unglücklicherweise kam Mrs. Harper 2010 bei einem Unfall ums Leben.«
»Dumme Kuh«, sagte Harper laut. »Besoffen. Stinkbesoffen.«
Ross sieht die Anwältin an und wirkt peinlich berührt. »Der Rechtsmediziner stellte fest, dass Mrs. Harper zur Zeit des Unfalls einen erhöhten Alkoholspiegel hatte.«
»Hat Dr. Harper Kinder?«
Harper streckt die Hand aus und klopft vor Quinn auf den Tisch. »Rede mit mir, Junge. Rede mit mir. Nicht mit dem Idioten.«
Quinn spricht ihn an. »Nun, haben Sie Kinder?«
Harper schneidet eine Grimasse. »Annie. Fette Kuh.«
Quinn nimmt seinen Stift zur Hand. »Ihre Tochter heißt Annie?«
»Nein«, unterbricht Ross. »Bill ist etwas verwirrt. Annie war seine Nachbarin in der Nummer 48. Anscheinend eine sehr nette Frau. Sie kam immer mal vorbei, um sicherzugehen, dass es Bill gutging. Aber 2014 ist sie nach Kanada gezogen, um näher bei ihrem Sohn zu sein.«
»Will skräpen, die dumme Kuh. Hab ihr gesagt, dass ich so ’n Ding nicht im Haus will.«
Quinn sieht zu Ross hinüber.
»Er meint ›skypen‹. Aber er will keinen Computer benutzen.«
»Sonst hat er keine Familie?«
Ross sieht ihn ausdruckslos an. »Nicht, dass ich wüsste.«
* * *
»Da gibt es auf jeden Fall einen Sohn – wenn ich mich nur verflixt noch mal an seinen Namen erinnern könnte!«
Somer steht auf der Treppe von Nummer 7, und zwar bereits seit fünfzehn Minuten. Inzwischen wünscht sie, sie hätte die Einladung auf eine Tasse Tee angenommen, doch dann wäre sie womöglich den ganzen Tag hier festgehalten worden – Mrs. Gibsons Redeschwall kennt keine Pause.
»Einen Sohn, meinen Sie?«, sagt Somer und geht noch einmal ihre Notizen durch. »Davon hat bisher niemand gesprochen.«
»Nun, das überrascht mich nicht. Die Leute hier mischen sich nicht gerne ein, anders als zu meiner Jugendzeit. Damals kümmerte man sich umeinander – jeder kannte seine Nachbarn. Heutzutage habe ich bei der Hälfte dieser Yuppies keine Ahnung, wer sie sind.«
»Aber Sie sind sich sicher, dass es einen Sohn gibt?«
»John – so heißt er. Ich wusste doch, dass es mir einfallen würde. Hab ihn schon eine ganze Weile nicht hier gesehen. Mittleres Alter. Graues Haar.«
Somer macht sich eine Notiz. »Und was meinen Sie, wann Sie ihn zuletzt gesehen haben?«
Im Flur hinter ihnen ertönt ein Laut. Mrs. Gibson dreht sich um, macht ein Geräusch, als wolle sie jemanden verscheuchen, und zieht die Tür weiter an sich heran. »Tut mir leid. Verdammte Katze, will immer vorne raus. Hinten hat sie ihre Katzenklappe, aber Sie wissen ja, wie Katzen sind – wollen immer das tun, was sie nicht sollen, und Siamkatzen sind besonders schlimm …«
»Mr. Harpers Sohn, Mrs. Gibson?«
»Ach ja, jetzt, wo Sie danach fragen, kommt es mir so vor, als könnte es ein paar Jahre her sein, seit ich ihn zuletzt gesehen habe.«
»Und hat Mr. Harper auch noch andere Besucher?«
Mrs. Gibson schneidet eine Grimasse. »Na, da ist noch dieser Sozialarbeiter. Er hilft ihm wirklich sehr.«
* * *
Quinn holt tief Luft. Harper sieht ihn an.
»Was ist, Junge? Spuck schon aus, verflucht, und sitz nicht nur so da.«
Selbst die Anwältin ist jetzt peinlich berührt.
»Dr. Harper, wissen Sie, warum die Polizei heute Morgen bei Ihnen aufgetaucht ist?«
Harper lehnt sich zurück. »Hab keinen blassen Schimmer. Wahrscheinlich wegen dem Arschloch nebenan, der sich über die Mülltonnen beschwert. Wichser.«
»Mr. Sexton hat uns angerufen, aber es ging nicht um die Mülltonnen. Er war heute Morgen unten in seinem Keller, und ein Teil der Mauer ist eingebrochen.«
Harper blickt von Quinn zu Gislingham und dann wieder zurück. »Na und? Wichser.«
Quinn und Gislingham tauschen Blicke aus. Sie haben genügend Vernehmungen durchgeführt, um zu wissen, dass dies der entscheidende Augenblick ist. Nur wenige schuldige Menschen – nicht einmal die besten Lügner – vermögen ihre Körper so unter Kontrolle zu halten, dass sie sich nicht verraten. Ein Flackern in den Augen, ein plötzliches Zucken der Hände, fast immer ist da eine kaum wahrnehmbare Reaktion. Doch nichts geschieht. Harpers Miene ist ausdruckslos.
»Und ich habe gar keinen verfluchten Fernseher.«
Quinn starrt ihn an. »Wie bitte?«
Harper lehnt sich vor. »Dummkopf. Ich habe keinen verfluchten Fernseher.«
Ross blickt nervös hinüber zu Quinn. »Ich glaube, Dr. Harper möchte sagen, dass er keine Fernsehgebühren bezahlen muss. Er denkt nämlich, dass Sie ihn deswegen hergebracht haben.«
Harper wendet sich an Ross. »Erzähl mir nicht, was ich denke. Dumpfbacke. Kannst doch nicht mal deinen Arsch von deinem Gesicht unterscheiden.«
»Dr. Harper«, sagt Gislingham, »in Ihrem Keller befand sich eine junge Frau. Und deswegen sind wir hier. Es hat nichts mit Fernsehgebühren zu tun.«
Harper beugt sich mit einem Ruck nach vorn und stößt Gislingham den Zeigefinger ins Gesicht. »Ich habe keinen verfluchten Fernseher.«
Quinn sieht Ross an, dass er beunruhigt ist. Die Vernehmung gerät langsam außer Kontrolle. »Dr. Harper«, sagt er. »Es befand sich eine junge Frau in Ihrem Keller. Was hat sie dort gemacht?«
Harper lehnt sich wieder zurück. Er sieht von einem Officer zum anderen. Zum ersten Mal wirkt er arglistig. Gislingham öffnet seine Akte und nimmt ein Foto von der jungen Frau heraus. Er dreht es so, dass Harper es sehen kann. »Das hier ist das Mädchen. Wie heißt sie?«
Harper grinst ihn an. »Annie. Fette Kuh.«
Ross schüttelt den Kopf. »Das ist nicht Annie, Bill. Das weißt du genau.«
Harper blickt nicht auf das Foto.
»Dr. Harper«, beharrt Gislingham, »wir müssen darauf bestehen, dass Sie sich das Foto ansehen.«
»Priscilla«, sagt Harper. Ein Speicheltropfen landet auf seinem Kinn. »War schon immer schön anzusehen. Miese Kuh. Läuft immer mit nackten Titten durchs Haus.«
Ross wirkt inzwischen etwas verzweifelt. »Es ist auch nicht Priscilla.«
Harper wischt mit einer heftigen Bewegung, ohne den Blick von Gislinghams Gesicht zu wenden, das Bild vom Tisch. Dabei fliegt auch Gislinghams Telefon gegen die Wand und fällt zertrümmert zu Boden.
»Was zum Teufel soll das denn werden?«, faucht Gislingham und springt schon halb vom Stuhl auf.
»Dr. Harper,« sagt Quinn zwischen zusammengebissenen Zähnen, »diese junge Frau befindet sich gegenwärtig im John-Radcliffe-Krankenhaus, wo sie gründlich untersucht wird. Sobald sie reden kann, stellen wir fest, wer sie ist und wieso sie im Keller Ihres Hauses eingesperrt war. Sie haben jetzt die Chance, uns zu sagen, was geschehen ist. Verstehen Sie das? Verstehen Sie den Ernst der Angelegenheit?«
Harper beugt sich vor und spuckt ihm ins Gesicht. »Fick dich. Hast du gehört? Fick dich!«
Es breitet sich eine unangenehme Stille aus. Gislingham wagt es nicht, Quinn anzusehen. Er hört, dass sein Kollege etwas aus der Tasche zieht, und als er den Blick hebt, sieht er, dass er sich das Gesicht abwischt.
»Ich denke, wir sollten jetzt aufhören, Officer«, sagt die Anwältin. »Meinen Sie nicht?«
»Vernehmung beendet um elf Uhr siebenunddreißig«, sagt Quinn mit eisiger Stimme, offenbar um Selbstbeherrschung bemüht. »Dr. Harper wird jetzt in U-Haft genommen, und dann …«
»Um Himmels willen«, sagt Ross, »Sie müssen doch sehen, dass sein Zustand das nicht erlaubt?«
»Mr. Harper«, sagt Quinn kühl, sammelt seine Papiere zusammen und stapelt sie mit übertriebener Sorgfalt, »dürfte durchaus eine Gefahr für die Öffentlichkeit und auch für sich selbst sein. Und sein Haus ist jetzt ein Tatort. Dorthin kann er nicht zurück.«
Quinn steht auf und geht zur Tür, aber Ross folgt ihm bis hinaus auf den Korridor.
»Ich werde für eine Unterbringung sorgen«, sagt er. »Ein Pflegeheim – einen Ort, der uns erlaubt, ein Auge auf ihn zu haben …«
Quinn dreht sich so abrupt um, dass die beiden zentimeterdicht voreinanderstehen. »Ein Auge auf ihn haben?«, zischt er. »Ist es das, womit Sie all diese Monate beschäftigt waren – ein Auge auf ihn zu haben?«
Ross weicht zurück. Sein Gesicht ist kalkweiß. »Hören Sie …«
Aber Quinn unterbricht ihn. »Was meinen Sie, wie lange sie dort unten war, hm? Sie und das Kind? Zwei Jahre, drei? Und die ganze Zeit über gingen Sie im Haus ein und aus und hatten ein Auge auf ihn, Woche für Woche. Sie sind die einzige Person, die regelmäßig dort war. Und Sie wollen mir im Ernst weismachen, dass Sie nichts wussten?« Er bohrt Ross den Finger in die Brust. »Wenn Sie mich fragen, ist es nicht nur Harper, den wir in Gewahrsam nehmen sollten. Auch Sie haben einige sehr ernste Fragen zu beantworten, Mr. Ross. Über nachlässiges Verhalten geht das hier weit hinaus.«
Ross hat die Hände erhoben und wehrt Quinn ab. »Haben Sie die geringste Ahnung, wie viele Menschen ich betreue? Wie viel Papierkram ich erledigen muss? Dazu noch der dichte Straßenverkehr … ich bin schon froh, wenn mir für einen Besuch fünfzehn Minuten bleiben. Ich kann kaum mehr tun, als zu prüfen, ob er gegessen hat und dass er nicht in seiner eigenen Scheiße sitzt. Und wenn Sie meinen, ich hätte dann noch die Zeit, das Haus zu inspizieren, dann irren Sie sich gewaltig.«
»Sie haben nie etwas gehört, nie etwas gesehen?«
»Quinn«, sagt Gislingham, der jetzt in der Tür steht.
»Ich war noch nie in diesem verfluchten Keller«, beharrt Ross. »Ich wusste ja noch nicht einmal, dass er einen hatte …«
Quinns Gesicht ist jetzt rot angelaufen. »Sie verlangen ernsthaft von mir, dass ich Ihnen das glaube?«
»Quinn«, sagt Gislingham mit Nachdruck. Als er ihn nicht beachtet, greift er nach dessen Schulter und zwingt ihn, sich umzudrehen. Jemand kommt über den Korridor auf sie zu.
Es ist Fawley.
* * *
In der Frampton Road folgt Alan Challow dem Weg, der zur Eingangstür führt. Er wartet kurz, bis der uniformierte Polizist das Absperrband hebt, das den Eingang abriegelt. Es ist der bisher heißeste Tag des Jahres, und er schwitzt in seinem Schutzanzug. Die Menschenmenge am Ende der Einfahrt hat sich verdoppelt. Die Feiernden sind fort, und auch die Bauhandwerker sind nach Hause gegangen. Von ein oder zwei neugierigen Nachbarn einmal abgesehen, dürften die meisten Menschen, die noch dort stehen, auf eine gute Geschichte aus sein.
Hinten in der Küche untersuchen zwei von Challows Forensikern den Raum auf Fingerabdrücke. Eine von ihnen nickt ihm zu und zieht ihre Maske herunter. Auf ihrer Oberlippe haben sich Schweißperlen gebildet. »Ausnahmsweise kann man für diesen Schutz wirklich dankbar sein. Weiß der Himmel, wann hier zum letzten Mal vernünftig saubergemacht wurde.«
»Wo ist der Keller?«
Sie weist hinter sich. »Wir haben besseres Licht organisiert. Was dazu führt, dass alles nur noch viel schlimmer aussieht.« Mit düsterer Miene zuckt sie die Achseln. »Aber das kennen Sie ja.«
Challow verzieht das Gesicht; er macht diesen Job seit fünfundzwanzig Jahren. Er bückt sich, um nicht gegen die Lampe zu stoßen, die man über der Kellertreppe installiert hat, und steigt dann die Stufen hinunter. Dabei wirft er riesige zuckende Schatten an die bloßen Backsteinmauern. Unten erwarten ihn zwei weitere Forensiker, die all den Kram betrachten, der sich hier angesammelt hat.
»Okay«, sagt Challow. »Ich weiß, dass es eine Scheißarbeit wird, aber wir müssen all das Zeug hier zur Zentrale bringen. Wo war das Mädchen?«
»Hier durch.«
Challow folgt ihm in einen zweiten Raum. Eine Bogenlampe wirft grelles Licht auf den verschmutzten Fußboden, das dreckige Bettzeug und das Toilettenbecken in einer übelriechenden Pfütze. Weitere Kartons voller Kram liegen herum. Irgendwo steht eine Kiste für Wasserflaschen, in der nur noch eine übrig ist, und daneben liegt ein Plastikbeutel, zum Bersten gefüllt mit Verpackungen und leeren Blechdosen. Aber nirgends auch nur eine Spur von Nahrungsmitteln. In der entfernten Ecke steht ein Kinderbett, die Decke zusammengeknautscht wie ein Mäusenest.
»Alles klar«, sagt Challow schließlich in die Stille hinein. »Das Zeug hier müssen wir auch mitnehmen.«
Eine der Polizistinnen geht hinüber zum Riss in der Mauer. Einige Steine sind zerbrochen, und der Mörtel ist herausgekratzt worden.
»Alan«, sagt sie kurz darauf und wendet sich wieder an Challow, »sehen Sie hier.«
Challow geht zu ihr und beugt sich näher zu der Stelle, auf die sie zeigt. Auf dem feuchten Gips sind rote Streifen zu erkennen.
»Mein Gott«, sagt er schließlich. »Sie hat versucht, einen Fluchtweg freizukratzen.«
* * *
Seit dem Fall Daisy Mason bin ich Derek Ross nicht mehr begegnet. Er unterstützte damals ihren Bruder, als wir ihn vernahmen, und ich hatte ziemlich viel mit ihm zu tun. Seither ist noch kein Jahr vergangen, aber wenn man Ross ansieht, hat man den Eindruck, er wäre fünf Jahre älter. Er hat noch mehr Haar verloren, an Gewicht zugenommen und leidet an einem Zucken unter dem rechten Auge. Aber ich habe den Verdacht, damit könnte Quinn etwas zu tun haben.
»DS Quinn«, sagte ich zu ihm. »Warum gehen Sie nicht und holen uns allen einen Kaffee? Und ich meine nicht den aus der Maschine.«
Quinn sieht mich an, öffnet den Mund und schließt ihn wieder.
»Sir, ich …«, beginnt er, aber Gislingham berührt ihn am Ellbogen.
»Komm schon, ich helfe dir.«
Besser könnte man das Wesen der beiden nicht auf den Punkt bringen: Gis, der schon immer ein hervorragendes Gespür dafür hatte, wann er mit dem Nachbohren aufhören musste; und Quinn, der immer noch einen draufsetzen wollte.
Ich nehme Ross mit ins benachbarte Büro. Der Bildschirm ist an, wenn auch ohne Ton, und zeigt noch immer den Verhörraum. Die Anwältin ist aufgestanden und will offenbar gehen. Harper kauert seitwärts auf dem Stuhl und hält die Knie gegen die Brust gepresst. Er sieht klein aus, sehr alt und sehr ängstlich.
Ich stelle einen Becher Wasser vor Ross. Dann setze ich mich ihm gegenüber auf einen Stuhl und schiebe ihn etwas zurück. Ross hat große dunkle Schweißflecken unter den Achseln, und ein scharfer Geruch geht von ihm aus. Glauben Sie mir, Sie wollen ihm nicht zu nahe kommen.
»Wie ist es Ihnen ergangen?«
Er sieht zu mir auf. »Mal so, mal so«, antwortet er misstrauisch.
Ich lehne mich zurück. »Erzählen Sie mir von Harper.«
Er verkrampft sich ein wenig. »Stehe ich hier irgendwie in Verdacht?«
»Sie sind ein wichtiger Zeuge. Das müsste Ihnen doch klar sein.«
Er seufzt. »Ja, vermutlich. Was wollen Sie denn wissen?«
»Sie haben den Polizisten gesagt, Sie seien nur einmal die Woche zu Harper gekommen. Wie lange geht das schon so?«
»Zwei Jahre. Vielleicht etwas länger. Da müsste ich in meiner Akte nachsehen.«
»Und Sie bleiben nie lange?«
Er trinkt einen Schluck Wasser und verschüttet dabei etwas auf seine Hose, was er jedoch nicht zu bemerken scheint. »Ich kann nicht. Weil mir die verdammte Zeit nicht reicht. Sie können mir glauben, ich würde nichts lieber tun, als eine Stunde dazusitzen und übers Wetter zu plaudern, aber bei den Etatkürzungen, die man uns zumutet …«
»Ich habe Ihnen doch gar nichts vorgeworfen.«
»Ihr DS hat es aber getan.«
»Das tut mir leid. Aber Sie dürfen nicht vergessen, dass er gesehen hat, in welchem Zustand sich das Mädchen befand. Von dem kleinen Jungen gar nicht zu reden. Er hatte eben Zweifel an der Geschichte, dass Sie Harper regelmäßig besucht haben, aber von dem Mädchen nichts wussten. Um ehrlich zu sein, ich bin mir da auch nicht ganz sicher.«
Denn unabhängig davon, was ich ihm eben gesagt habe, bin auch ich kurz davor, ihn als Verdächtigen zu vernehmen. Und bis ich absolut von seiner Unschuld überzeugt bin, sollte jemand anderes sich um Harper kümmern.
Ross fährt sich mit der Hand durchs Haar. Durch das, was davon noch übrig ist. »Hören Sie, diese Häuser haben dicke Mauern. Es überrascht mich nicht, dass ich nichts gehört habe.«
»Und Sie sind nie hinuntergegangen?«
Er sieht mir direkt in die Augen. »Wie ich schon sagte, ich wusste ja nicht einmal, dass es dort einen Keller gab. Die Tür hab ich für eine Schranktür gehalten.«
»Und was war mit dem Obergeschoss?«
Er schüttelt den Kopf. »Bill hat, seit ich ihn kenne, eigentlich so gut wie immer im Erdgeschoss gewohnt.«
»Aber er kann auch die Treppen rauf- und runtergehen?«
»Wenn er muss – aber oft tut er es nicht. Annie hat ihm ein Bett im vorderen Zimmer aufgestellt, bevor sie fortging, und hinten im Anbau hat er Bad und Toilette. Es ist ziemlich einfach, erfüllt aber seinen Zweck. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es oben aussieht. Es müssen Jahre vergangen sein, seit jemand dort war. Wahrscheinlich niemand mehr seit Priscillas Tod.«
»Keine Reinigungskraft? Schickt die Gemeinde denn niemanden?«
»Das haben wir versucht, aber Bill hat die Frau angepöbelt. Deswegen hat sie sich geweigert, noch mal zu kommen. Ich wische ein wenig Staub und schütte Bleichmittel ins Klo. Aber bei der wenigen Zeit, die ich habe, sind mir Grenzen gesetzt.«
»Was ist mit Lebensmitteln, Einkaufen? Machen Sie das auch?«
»Als man ihm den Führerschein wegnahm, habe ich dafür gesorgt, dass eine Wohlfahrtsorganisation im Ort für ihn eine regelmäßige Supermarktlieferung veranlasst. Das war vor ungefähr achtzehn Monaten. Ein Dauerauftrag, die Bezahlung läuft per Lastschrift von seinem Konto. Er hat eine Menge Geld. Na ja, vielleicht keine ›Menge‹, aber doch genug.«
»Warum zieht er nicht aus? Das Haus muss doch ein Vermögen wert sein, selbst in diesem Zustand.«
Ross verzieht das Gesicht. »Der Idiot nebenan hat über drei Millionen bezahlt. Aber Bill weigert sich, in ein Heim zu ziehen. Obwohl sich seine Arthritis im Laufe des letzten Monats sehr verschlechtert hat und der Arzt ihm Medikamente gegen Alzheimer geben will. Aber dazu müsste die Einnahme kontrolliert werden, und das kann ich beim besten Willen nicht leisten. Wenn er allein in dem Haus bleibt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis irgendein Unfall geschieht. Wie ich schon sagte, einmal hat er sich ja bereits verbrannt.«
»Wusste er, dass Sie ihn umquartieren wollten?«
Derek atmet tief durch. »Ja, das wusste er. Vor sechs Wochen habe ich mich mit ihm zusammengesetzt und alles zu erklären versucht. Leider konnte er sich ganz und gar nicht damit anfreunden. Er ist ausgerastet – schrie mich an, warf mit Dingen um sich. Also habe ich ihn erst mal in Ruhe gelassen. Ich wollte diese Woche noch mal mit ihm reden. Im Newstead House in Witney ist gerade ein Platz frei geworden. Das ist eines der besseren Heime. Aber Gott weiß, wie es jetzt mit ihm weitergeht.«
Es folgt eine Pause. Er trinkt sein Wasser. Ich schenke nach.
»Ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen«, frage ich vorsichtig, »dass er wegen der jungen Frau nicht wegziehen wollte?«
Das Blut weicht aus Ross’ Gesicht, und er stellt sein Glas ab.
»Er hätte das Haus nicht verlassen können, solange sie noch da war, denn man hätte sie gefunden. Und er konnte sie auch nicht gehen lassen.«
»Was sollte er also tun?«
Ich zucke die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich habe gehofft, Sie könnten …«
Plötzlich wird es draußen auf dem Korridor laut, und Gislingham stößt die Tür auf.
»Boss«, sagt er, »ich glaube …«
Aber ich dränge mich schon an ihm vorbei nach draußen.
Im Nebenraum versuchen zwei Constables, Harper im Zaum zu halten. Es ist kaum zu glauben, dass es sich um denselben Mann handelt, den wir vorhin befragt haben – er schlägt nach den Gesichtern der Constables, tritt um sich, beschimpft lautstark eine Polizistin.
»Fotze!«
Die Frau wirkt verstört. Ich kenne sie – sie ist keine Anfängerin. Auf ihrer Wange ist ein Kratzer zu sehen, und die Vorderseite ihrer Uniform ist durchnässt.
»Ich habe ihm doch nur eine Tasse Tee gegeben«, stammelt sie. »Er sagte, der Tee sei zu heiß – dass ich versuchen würde, ihn zu verbrühen – so war es aber nicht – wirklich, es war keine Absicht …«
»Ich weiß. Hören Sie, setzen Sie sich eine Weile hin, und lassen Sie jemanden nach der Wunde sehen.«
Ihre Hand wandert zum Gesicht. »Ich habe es nicht einmal gemerkt …«
»Ich glaube, es ist nur ein Kratzer. Aber lassen Sie ihn trotzdem untersuchen.«
Sie nickt, und als ich ihr aus dem Raum folge, geht Harper wieder auf sie los. »Fotze! Die sollten Sie einbuchten, Sie Dummkopf – hat verdammt noch mal versucht, mich zu verbrühen. Hinterlistige Kuh!«
Als ich wieder nach nebenan komme, starrt Ross auf den Bildschirm. Ich halte einen Augenblick inne, um ihn zu beobachten.
»Wer ist also der wahre Bill Harper?«, frage ich schließlich. »Derjenige, der sich zusammenkauert wie ein ängstliches Kind, oder derjenige, der eben eine meiner Polizistinnen angegriffen hat?«
Ross schüttelt den Kopf. »Es ist die Krankheit. Sie ist schuld.«
»Vielleicht. Oder zerstört sie nur die Selbstkontrolle, die er früher besaß? Vielleicht war er immer so aggressiv, aber hat derartige Ausbrüche nicht zugelassen oder wusste sie zu verbergen.«
Ross hat sich umgedreht, um mich anzusehen, aber plötzlich weicht er meinem Blick aus. Irgendetwas stimmt hier nicht.
Ich lasse das Schweigen andauern und trete einen Schritt auf ihn zu. »Was ist los, Derek?«
Er sieht mich kurz an, wendet dann den Blick ab. Sein Gesicht ist rot.
»Was verheimlicht William Harper sonst noch?«
* * *
Im John-Radcliffe-Krankenhaus wartet Verity Everett schon seit zwei Stunden. Die meisten Menschen hassen Krankenhäuser, aber sie war zur Krankenschwester ausgebildet worden, bevor sie zur Polizei ging, und Orte wie dieser machen sie nicht nervös. Sie empfindet die Atmosphäre sogar als beruhigend – selbst in einem Notfall wissen die Menschen hier, was zu tun ist, wie sie sich verhalten müssen. Die weiße Kleidung, der Geräuschpegel, all das ist auf eigenartige Weise wohltuend. Und im leicht überheizten Flur und weil sie in letzter Zeit so schlecht schläft, ist es kein Wunder, dass sie sich trotz des harten Plastikstuhls, auf dem sie sitzt, nur mit Mühe wachhalten kann. Sie muss eingenickt sein, denn als jemand ihren Arm berührt, richtet sie sich mit einem Ruck auf.
»DC Everett?« Sie öffnet die Augen. Der Arzt macht ein freundliches, aber auch besorgtes Gesicht. »Geht es Ihnen gut?«
Sie schüttelt sich kurz. Ihr Nacken schmerzt.
»Ja, alles gut. Tut mir leid, ich muss wohl einen Augenblick geschlafen haben.«
Der Arzt lächelt. Er sieht gut aus. Idris Elba mit Stethoskop.
»Etwas länger als einen Augenblick, glaube ich. Aber es gab keinen Grund, Sie zu stören.«
»Wie geht es ihr?«
»Es gibt leider keine Neuigkeiten. Wie die Sanitäter schon vermuteten, ist sie stark dehydriert und unterernährt. Ich glaube nicht, dass ihr darüber hinaus etwas fehlt, aber sie wirkte vorhin so erschöpft, dass wir uns entschieden haben, die Untersuchung noch etwas zu verschieben. Könnte sein, dass wir in ihrem Zustand sonst eher Schaden anrichten. Wir haben sie ruhiggestellt, damit sie schlafen kann.«
Everett rappelt sich mühsam aus ihrem Plastikstuhl auf und geht die paar Schritte zu dem kleinen Fenster, durch das man ins Zimmer der jungen Frau sehen kann. Sie liegt ruhig auf dem Bett, das lange dunkle Haar in verknoteten Strähnen auf dem Kissen ausgebreitet und die Faust fest um ein Stück Decke geschlossen. Dunkle Schatten zeichnen sich unter ihren Augen ab, und ihre Haut spannt sich über den Knochen, aber Everett sieht, dass sie hübsch war. Hübsch ist.
»Und der Junge?«, fragt sie den Arzt und wendet sich ihm wieder zu.
»Der Kinderarzt ist jetzt bei ihm. Er scheint in überraschend gutem Zustand zu sein. Unter diesen Umständen.«
Everett sieht wieder zu der jungen Frau. »Hat sie irgendetwas gesagt? Einen Namen? Wie lange sie dort gewesen ist?«
Er schüttelt den Kopf. »Tut mir leid.«
»Wann werde ich mit ihr sprechen können? Es ist wirklich wichtig.«
»Ich weiß. Aber die Gesundheit meiner Patientin hat Priorität. Wir müssen einfach abwarten.«
»Aber sie wird wieder in Ordnung kommen?«
Er tritt zu ihr an die Scheibe und mustert ihr besorgtes Gesicht. »Ehrlich gesagt ist es ihre mentale Gesundheit, die mir größere Sorgen macht. Nach all dem, was das Mädchen durchgemacht, ist Schlaf für sie jetzt das Allerbeste. Danach, na ja … wir werden sehen.«
* * *
»Derek, reden Sie mit mir. Haben Sie irgendetwas gesehen, etwas, das uns helfen könnte …«
Er sieht zu mir auf und drückt den Plastikbecher so fest zusammen, dass er plötzlich nachgibt und zerbricht. Wasser rinnt über seine Hände und sickert sein Hosenbein hinunter.
»Also schön«, sagt er schließlich und wischt sich über die Hose. »Es war vor sechs Monaten, im Dezember, glaube ich. Eine Nachbarin gab Bescheid, dass er nur mit Hausschuhen an den Füßen auf die Straße gegangen war. Ich hab also nach seinen Schuhen gesucht. In letzter Zeit verlor er immer häufiger Sachen, stellte sie irgendwohin und vergaß, wo sie waren – ich nahm also an, dass die Schuhe wahrscheinlich unter dem Bett standen.«
»Und?«
Er schüttelt den Kopf. »Stattdessen fand ich einen Karton. Hauptsächlich Magazine.«
Ich brauche keinen weiteren Hinweis. »Pornos?«
Er zögert und nickt dann. »Hartes Zeug. Bondage, SM, Folter. Zumindest sah alles danach aus. Ich hab mich nicht weiter darin vertieft.«
Im Gegensatz zu Harper.
Schweigen. Es überrascht mich nicht, dass er gezögert hat, mir davon zu erzählen.
»Wo, meinen Sie, hat er das Zeug her?«, frage ich schließlich.
Er zuckt mit den Achseln. »Nicht aus dem Netz, so viel steht fest. Aber man kann so was wahrscheinlich über Kleinanzeigen in Männermagazinen finden. Er ging damals auch noch hin und wieder in die entsprechenden Läden.«
»Ist der Karton noch dort?«
»Wahrscheinlich. Ich hab ihn einfach wieder an seinen Platz geschoben. Wenn er etwas bemerkt haben sollte, hat er es nicht erwähnt. Aber selbst wenn er an – an solchen Sachen Geschmack findet, ist es doch ein verdammt weiter Weg von solch unappetitlichen Magazinen bis zur Entführung einer jungen Frau, um sie anschließend in einen Scheißkeller einzusperren.«
Da bin ich mir nicht so sicher. Ich habe mit angesehen, was Demenz anrichten kann. Ich denke wieder an die Monate, als die Krankheit ausbrach und niemand, nicht einmal Harper, von ihr wusste. Als er immer noch seine Willenskraft besaß, seine physische Kraft, seine Persönlichkeit, während er gleichzeitig langsam in sich zerfiel. Hatte er sich wirklich in einen völlig anderen Menschen verwandelt, oder war er nur zu einer gefühlskälteren und grausameren Version seines früheren Selbst geworden?
Ich stehe auf und gehe nach draußen auf den Flur. Ross lasse ich allein zurück. Gis steht am Wasserspender und kommt mir entgegen, als er mich sieht.
»Irgendwas Neues?«, fragt er.
»Nicht viel. Ross sagt, er hat vor ein paar Monaten einen Stapel harter Pornos in Harpers Haus gefunden. Also gehen Sie zu Challow, und stellen Sie sicher, dass das ganze Gebäude und das Erdgeschoss gründlich durchsucht werden, nicht nur der Keller. Möglich, dass sich noch anderes Zeug findet.«
»In Ordnung.«
»Und schauen wir uns Harpers Vergangenheit mal etwas genauer an. Sprechen Sie mit Leuten an der Universität, wo er gearbeitet hat – 1998 ist noch nicht so lange her. Da müsste sich noch jemand an ihn erinnern.«
* * *
Telefonische Befragung von Louise Foley, Personalreferentin, Birmingham University
1. Mai 2017, 13:47 Uhr
Am Telefon: DC C. Gislingham
CG: Tut mir leid, Sie an einem Feiertag zu stören, aber wir hoffen, dass Sie uns mit Informationen über William Harper weiterhelfen können. Ich glaube, er hat bis in die späten Neunziger an der Birmingham University unterrichtet?
LF: Das stimmt. Ich selbst war zu der Zeit noch nicht hier, aber ich weiß, dass Dr. Harper zur Sozialwissenschaftlichen Fakultät gehörte. Sein Spezialgebiet war die Spieltheorie. Offenbar hat er einen recht berühmten Artikel über Rollenspiele geschrieben. Soweit ich weiß, war er damit seiner Zeit ziemlich weit voraus.
CG: Was können Sie uns denn außer dem, was er bei Mastermind machte, noch von ihm erzählen?
LF: 1998 ging er in den Ruhestand. Das ist lange her, Constable.
CG: Ich weiß, aber auch nicht so lange, dass man sich an nichts mehr erinnert, oder? Sie hatten doch damals schon Computer. Da müsste es irgendwelche Aufzeichnungen geben.
LF: Selbstverständlich, aber ich darf Ihnen aus Datenschutzgründen nicht alles erzählen. Gerade Sie müssten das doch verstehen. Hat Dr. Harper denn einer Offenlegung seiner persönlichen Informationen zugestimmt?
CG: Nein, aber Sie wissen sicherlich, dass ich seine Zustimmung nicht brauche, wenn die eingesehenen Informationen zur Festnahme eines Täters führen.
LF: Was hat er getan? Sie würden sich doch nicht wegen eines Strafzettels solche Mühe machen, oder? (Pause) Moment mal – es geht doch nicht etwa um diesen Fall, über den in den Nachrichten berichtet wurde – dieses Mädchen im Keller? Der Typ muss ungefähr gleich alt sein …
CG: Leider darf ich darüber nicht mit Ihnen sprechen, Miss Foley. Vielleicht könnten Sie die in Frage kommenden Akten per E-Mail schicken – das würde allen eine Menge Zeit sparen.
LF: Das geht nicht. Dafür bräuchte ich die Erlaubnis des Personalleiters der Universität. Aber wenn Sie mir konkrete Fragen stellen würden, könnte ich versuchen, sie zu beantworten.
CG: (Pause) Vielleicht erzählen Sie mir erst mal, warum er damals die Universität verließ.
LF: Wie bitte?
CB: Nun, wenn meine Schulkenntnisse in Mathematik ausreichen, müsste er 1998 siebenundfünfzig Jahre alt gewesen sein. Was ist das durchschnittliche Ruhestandsalter des Universitätspersonals – fünfundsechzig, siebzig?
LF: