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Beschreibung

Nach dem erfolgreichen Titel "Jedes Verhalten hat seinen Sinn" folgt nun ein weiterer nifbe-Band zum Thema "Verhalten". In diesem Buch wird aus der Perspektive pädagogischer Fachkräfte in Kitas und auf der Grundlage der Kinderrechte einerseits verletzendes sowie andererseits achtsames bzw. bedürfnisorientiertes Verhalten thematisiert. Es wird sowohl auf theoretischer als auch auf praktischer Ebene gezeigt, woraus verletzendes Verhalten resultieren kann und wie man auf Team- bzw. Leitungsebene oder aber auch durch externe Unterstützung damit umgehen kann. Abschließend wird ganz konkret gezeigt wie man der Kita eine Kultur der Wertschätzung, des Respekts und der Achtsamkeit schaffen kann.

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»Im Dialog«

herausgegeben vom

Hör auf damit!

Zwischen verletzendem und achtsamem Verhalten in der KiTa

Zitierhinweis:

nifbe (Hg.) (2023). Hör auf damit!. Zwischen verletzendem und achtsamem Verhalten in der KiTa.

Freiburg: Herder Verlag.

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Redaktion: Dr. Karsten Herrmann

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Coverbild: © Gajus – istockphoto.com

Fotos innen: S. 6: © altmodern - GettyImages.com; S. 30: © pondsaksit - GettyImages.com; S. 102: © triloks - GettyImages.com; S. 146: © Umesh Negi - GettyImages.com

Innengestaltung: Daniel Förster, Belgern

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN Print: 978-3-451-39427-0

ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-82859-1

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-82864-5

Inhalt

EINFÜHRUNG UND BESTANDSAUFNAHME

Einführung

Karsten Herrmann & Bettina Lamm

Verletzendes Verhalten in KiTas – Aktuelle Forschungslage

Astrid Boll & Regina Remsperger-Kehm

IKINDERRECHTE UND KINDERSCHUTZ

Kinderrechte als Fixstern in der Arbeit mit Kindern

Jörg Maywald

Kinderschutz und Kindeswohl – Eine kulturelle Perspektive

Bettina Lamm

Intervenierender Kinderschutz in der KiTa

Kaarina Meyn

Fachberatung als neuralgische Stelle im institutionellen Kinderschutz

Iris Hofmann

»Auf schmalem Grat wandern« Gesprächsführung mit Eltern im Kinderschutz

Anja Thürnau

Kinderschutz und Beschwerdemanagement aus Praxissicht

Heike Oklitz

IIVERLETZENDES VERHALTEN VERHINDERN – STELLSCHRAUBEN FÜR FACHKRÄFTE, TEAM UND ORGANISATION

Früher an später denken?!

Katrin Lattner

Wenn Gewalt passiert – Eine Darstellung aus Sicht der Neurowissenschaften

Carmen Deffner

Biografie, Werte und Haltung in der pädagogischen Arbeit

Iris Hofmann & Michaela Kruse

Alle tragen Verantwortung!

Suzanne von Melle

IIIANSÄTZE EINER ACHTSAMEN UND WERTSCHÄTZENDEN PÄDAGOGIK

Was kann eine Ethik pädagogischer Beziehungen in der Praxis leisten?

Anke König

Interaktionen in der KiTa zwischen Verantwortung und Macht: Professionelle Responsivität als Anspruch und Herausforderung

Dorothee Gutknecht

Achtsame Beziehungsgestaltung

Kathrin Hohmann & Lea Wedewardt

Auf dem Weg zu einer bedürfnisorientierten Pädagogik

Svenja Rastedt

VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN

Einführung und Bestandsaufnahme

Einführung

Karsten Herrmann & Bettina Lamm

»Die Kinder lernen nur von denen, die sie lieben« – mit diesem Zitat brachte schon Johann Wolfgang von Goethe auf den Punkt, was heute in der frühkindlichen Bildung unbestritten ist: Keine Bildung ohne Beziehung. Gelingende Bildungsprozesse von Kindern in der KiTa sind auf eine verlässliche und liebevolle Beziehung zu den Fachkräften angewiesen. Fachkräfte sollten den Kindern daher wertschätzend, respektvoll und empathisch begegnen und ihre Signale sensibel wahrnehmen und beantworten. Eine solche Beziehung ist der Kern von entwicklungsfördernden Interaktionsprozessen, an denen sich die Kinder voller Lust und Freude aktiv beteiligen können. Hier spüren sie ihre Selbstwirksamkeit und stärken ihr Selbstvertrauen und ihre Resilienz – und können so das Fundament für eine gelingende Bildungsbiographie legen. In diesem Sinne konstatieren Boll und Remsperger-Kehm: »Heute ist es wissenschaftlich belegt, dass Kinder dann Wohlbefinden und ein Selbstwertgefühl entwickeln, wenn sie Geborgenheit durch vertraute Bezugspersonen erhalten, die sie kontinuierlich betreuen, die ihre körperlichen und psychischen Grundbedürfnisse erfüllen und die voraussagbar und angemessen auf Kinder reagieren« (2021, S. 17).

Die Beziehungs- und Interaktionsqualität ist auch zentraler Bestandteil der Prozessqualität in KiTas, die wiederum als entscheidend für die gesamte Qualitätsentwicklung in KiTas gilt. Nach Tietze beschreibt Prozessqualität »die realisierte Pädagogik, die Anregungen, die die Kinder in den einzelnen Bildungs- und Entwicklungsbereichen erhalten, die Art der Interaktionen zwischen dem pädagogischen Personal und den Kindern wie auch den Kindern untereinander. Es geht um einen Umgang mit dem Kind, der seiner Sicherheit und Gesundheit verpflichtet ist, um Interaktionen, die für entwicklungsgemäße Anregungen sorgen, abgestellt auf den individuellen Entwicklungs- und Interessenshorizont des Kindes, um Aktivitäten, die seine emotionale Sicherheit und sein Lernen unterstützen«. Eine hohe Interaktionsqualität wird beispielsweise didaktischen Ansätzen wie dem »Sustained Shared Thinking« – also dem langen gemeinsamen Denken und Sprechen von Fachkräften und Kindern – oder auch dem Dialogischen Bilderbuchlesen zugesprochen.

In den letzten Jahren hat sich herauskristallisiert, dass KiTas ihre Stärken insbesondere in der Beziehungsqualität und emotionalen Unterstützung haben. Dies scheint häufig ein integraler Bestandteil der professionellen Haltung von Fachkräften in der KiTa zu sein und hat seine Ursprünge sicherlich auch in der Geschichte des Kindergartens und der Betonung der »Mütterlichkeit«. Ihre Schwächen haben KiTas aber aktuell noch in der konkreten adaptiven Lernunterstützung in nicht vorstrukturierten Settings und im entsprechenden Aufgreifen von Bildungsgelegenheiten im KiTa-Alltag (vgl. Mackowiak 2021, S. 14).

Insgesamt liegen die deutschen KiTas laut der NUBBEK-Studien hinsichtlich der pädagogischen Prozessqualität so insgesamt eher in der Zone mittlerer Qualität. Gute pädagogische Prozessqualität kommt in weniger als zehn Prozent der Fälle vor; unzureichende Qualität dagegen in zum Teil deutlich mehr als zehn Prozent der Fälle – und in diesen zehn Prozent dürften sich auch die KiTas wiederfinden, in denen immer wieder verletzendes Verhalten von Fachkräften gegenüber den Kindern vorkommt.

Vom Tabu-Thema an das Licht der Öffentlichkeit

Lange Zeit waren verletzendes Verhalten und Gewalt in der KiTa ein riesiges Tabuthema und es gelangten als Spitze des Eisbergs nur die schlimmsten Fälle von Missbrauch, Körperverletzung oder sogar Totschlag in die Schlagzeilen von Funk und Fernsehen. In den letzten Jahren wurde dann aber deutlich, dass verletzendes Verhalten von Fachkräften in der KiTa ein ungeahntes Ausmaß hat. In Fachkreisen ließ Annedore Prengel mit einer empirischen Beobachtungsstudie im Rahmen des Projektnetzwerks »INTAKT« aufhorchen. Für die Studie wurden 1.590 Feldvignetten ausgewertet, die zwischen 2015 und 2017 an 56 Beobachtungstagen mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung erhoben wurden (vgl. Tellisch & Prengel 2019, S. 38). Im Ergebnis zeigten fast drei Viertel der Szenen anerkennende oder neutrale Handlungsweisen, aber gut ein Viertel auch verletzende oder sehr ambivalente Handlungsweisen der pädagogischen Fachkräfte auf. In einigen Einrichtungen wurden fast zwei Drittel der beobachteten Interaktionen als verletzend oder sehr ambivalent eingestuft. In diesen KiTas scheint sich also eine regelrechte Kultur der Missachtung der Kinderrechte und der Gewalt entwickelt zu haben (vgl. ebd., S. 39). Die in der Studie beobachteten verletzenden Interaktionsformen reichen von destruktiven Kommentaren, Ignorieren und Anbrüllen des Kindes bis zu negativem Körperkontakt (vgl. ebd., S. 41) und haben in diesem Sinne sowohl psychische als auch physische Dimensionen. Um solche verletzenden Interaktionsformen zu verhindern, hat Annedore Prengel mit einem interdisziplinären Team aus Expertinnen und Experten auch die »Reckahner Reflexionen« als ethische Leitlinie für pädagogische Fachkräfte in KiTa und Schule entwickelt (s. dazu den Beitrag ab S. 147).

Für Aufsehen nicht nur in Fachkreisen, sondern in der breiten Öffentlichkeit sorgte Elisabeth Ballmann 2019 mit ihrem Buch »Seelenprügel – Was Kindern in Kitas wirklich passiert«. Darin schildert sie auf teils drastische Art ihre Eindrücke aus rund 500 KiTas, die sie in ihrem beruflichen Kontext als Weiterbildnerin, Pädagogin und Psychologin kennengelernt hat. Sie berichtet hier von einer »institutionalisierten« psychischen Gewalt in KiTas, durch die Kinder eingeschüchtert, gedemütigt, zurückgewiesen, beleidigt, erpresst, feindselig behandelt, geängstigt, ausgegrenzt, lächerlich gemacht, bedroht, isoliert und ignoriert werden. »Ihre kindlichen Bedürfnisse und Rechte werden damit massiv missachtet. Sie bekommen dadurch nicht das emotionale Gerüst, das sie für ein rundum gesundes und emotional stabiles Aufwachsen brauchen« (Ballmann 2020, S. 32).

In jüngster Vergangenheit haben Astrid Boll und Regina Remsperger-Kehm eine Explorationsstudie zu den Formen und Ursachen von verletzendem Verhalten und auch von Handlungserfordernissen aus der Sicht der Praxis durchgeführt und das Thema breit kontextualisiert (s. a. den Beitrag ab S. 26). Sie unterscheiden in ihrer Studie zwischen (unterschwelliger) »Mikrogewalt«, (sichtbarer) »Makrogewalt« und (situativ eskalierender) »Spiralgewalt«. Im Ergebnis gaben 96 Prozent der 58 befragten Fachkräfte in der Studie Beispiele für verletzendes Verhalten an – und zwar 117 Beispiele für Makrogewalt, 93 zur Mikrogewalt und 6 für Spiralgewalt (vgl. Boll & Remsperger Kehm 2021, S. 55). (s. a. den Beitrag von Boll & Remsperger-Kehm ab S. 16)

Nach wie vor scheint es so zu sein, dass verletzendes Verhalten von Fachkräften in der KiTa unter Kolleginnen und Kollegen oder im Team nicht offen thematisiert wird. Es scheint auch tabuisiert, verdrängt und verschwiegen oder heruntergespielt zu werden (vgl. ebd., S. 16) – hier herrscht offenbar dringender Handlungsbedarf in der Team- und Organisationsentwicklung und die KiTa-Leitung nimmt hierbei eine zentrale Rolle ein. Sie muss dabei durch Fachberatung, Supervision oder Coaching unterstützt werden.

Ein erster Blick auf mögliche Ursachen

Mögliche Ursachen von verletzendem Verhalten in der KiTa können ebenso in den übergreifenden Rahmenbedingungen wie auf der persönlichen Ebene der Fachkräfte liegen und dazwischen ist noch die Team-Kultur als vermittelnder Faktor anzuführen.

Wie u. a. die »AQUA«- und die »STEGE«-Studie gezeigt haben, führen die vielerorts unzureichenden Rahmenbedingungen in den KiTas bei Fachkräften zu Stress, (Über-)Belastung und Burnout (vgl. Schreyer et al. 2014; Viernickel & Voss 2013). Dies kann dazu führen, dass Fachkräfte die Signale und Bedürfnisse der Kinder insbesondere in großen Gruppen nicht mehr wahrnehmen und/oder aufgreifen können und die Beziehungs- und Interaktionsqualität insgesamt sinkt. Seit den beiden Studien hat sich die Situation der Fachkräfte durch den Fachkräftemangel sowie weitere Herausforderungen durch die Aufnahme von geflüchteten Familien (2015–2016/2022) und durch die Corona-Pandemie weiter verschärft. Das System KiTa befindet sich so seit Jahren im Krisen-Modus und unter Dauerbelastung und die Fachkräfte sind häufig am absoluten Limit – mit der Folge, dass Fachkräfte in Situationen der Erschöpfung, Überforderung und Hilflosigkeit die Grenzen zum verletzenden Verhalten überschreiten.

Neben den Rahmenbedingungen sowie der jeweiligen Team- und KiTa-Kultur spielt beim verletzenden Verhalten sicherlich auch die individuelle Ebene der Fachkraft eine zentrale Rolle. Hier sind ihre biografischen Erfahrungen und die sich (u.a. daraus speisende) aktuelle Einstellung, Werte-Orientierung und Haltung ebenso in den Blick zu nehmen wie die Professionalität, Reflexionsfähigkeit und individuelle Stressbewältigungs- und Selbstkontrollfähigkeiten. Nur noch bei einigen (wenigen) Fachkräften scheinen der berühmt-berüchtigte »Klaps auf den Po«, der kleine Stupser oder das Festhalten als probate pädagogische Mittel zu gelten – aber bei vielen Fachkräften gibt es offenbar keine genügende Sensibilisierung für das weite Spektrum des unterschwelligen oder offensichtlichen verletzenden Verhaltens auf der psychischen Ebene. Die Herausforderung liegt daher darin, bereits in der Ausbildung, aber gleichermaßen in der Weiterbildung und Teamentwicklung professionelle Selbstreflexion anzuregen und zu unterstützen. Es gilt, in der KiTa eine kinderrechtsbasierte Kultur zu entwickeln, in der die Grenzen für verletzendes Verhalten ebenso klar definiert sind wie die Verfahren beim Überschreiten derselben.

Exkurs: Was ist Gewalt?

Der Begriff Gewalt ist sowohl in der Wissenschaft mit ihren verschiedenen Disziplinen als auch in der alltäglichen Praxis noch weit von einer eindeutigen Definition entfernt und eröffnet einen weiten Interpretationsspielraum. Die WHO weist in ihrem »Weltbericht Gewalt und Gesundheit« darauf hin, dass sich Gewalt auf die unterschiedlichste Weise definieren lässt und es immer darauf ankommt, wer den Begriff definiert, für welchen Zweck dies geschieht und aus welcher Perspektive. Sie unterstreicht aber gleichzeitig, dass der Versuch unternommen werden muss, »zu einem einvernehmlichen Verständnis der Problematik zu gelangen und durch die gründliche Auseinandersetzung mit dem Stellenwert der Menschenrechte globale Verhaltensstandards festzulegen« (2003, S. 5).

Juristisch wird unter dem Begriff Gewalt der körperlich oder auch psychisch wirkende Zwang verstanden, der durch (physische) Kraft oder ein sonstiges (verbales, gestisches, mimisches oder körpersprachliches) Verhalten entsteht. Ziel ist es dabei, die freie Willensbildung und -betätigung der anderen Person unmöglich zu machen oder zumindest zu beeinträchtigen (vgl. Juraforum).

Etwas abstrakter, aber in der gleichen Intention, hat der Gewalt- und Friedensforscher Johann Galtung (1975, S. 9) den Begriff definiert:

»Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potenzielle Verwirklichung ... Gewalt ist das, was den Abstand zwischen dem Potenziellen und dem Aktuellen vergrößert oder die Verringerung dieses Abstandes erschwert.«

Johann Galtung bezieht den Gewaltbegriff dabei nicht nur auf die personale Gewalt, sondern erweitert ihn um eine strukturelle und kulturelle Dimension. Demnach können insbesondere auch institutionelle oder gesellschaftliche Strukturen Gewalt ausüben und Menschen schädigen. Zudem können Eigenschaften einer Kultur (sowohl in religiöser als auch ideologischer Hinsicht) die Anwendung von Gewalt befördern und rechtfertigen. Alle drei Formen der Gewalt stehen dabei in einem dynamischen interdependenten Verhältnis.

Konkret in Bezug auf pädagogische Einrichtungen unterscheidet Jörg Maywald neben der Vernachlässigung der Aufsichtspflicht fünf verschiedene Formen der Gewalt durch Fachkräfte (vgl. Maywald 2019, S. 12):

• seelische Vernachlässigung (z. B. mangelnde Anregung, emotionale Zuwendung verweigern, ignorieren)

• seelische Gewalt (z. B. beschämen, bloßstellen, isolieren, abwerten, anschreien);

• körperliche Vernachlässigung (z. B. unzureichende Körperpflege/Bekleidung oder mangelhafte Ernährung)

• körperliche Gewalt (z. B. festbinden, einsperren, zerren, Zwang zum Essen, Schlafen oder Toilettengang)

• sexualisierte Gewalt (z. B. Zwang zu körperlicher Nähe, streicheln/liebkosen ohne Einverständnis, küssen).

Grenzen von Gewalt und verletzendem Verhalten

Die Frage, wo die Grenzen zur Gewalt und zum verletzenden Verhalten liegen, ist keine einfache. Die Antwort darauf unterliegt historischem Wandel und ist von den jeweiligen gesellschaftlichen Normen und moralischen Bewertungen, aber auch vom Wissensstand über kindliche Entwicklung abhängig. Lange Zeit war die »Prügelstrafe« von Eltern oder Lehrerinnen und Lehrern ein weithin akzeptiertes Mittel in der Kindererziehung. In Deutschland wurden so beispielsweise erst im Jahr 2000 das »elterliche Züchtigungsrecht« und damit die Ohrfeige, der Klaps auf den Po und weitergehende »Prügelstrafen« verboten. Auch in Bezug auf mangelnde soziale und kognitive Anregung und emotionale Zuwendung lassen sich solche Interpretationen des jeweiligen Zeitgeistes beschreiben. So beeinflusste die Vorstellung vom »dummen« ersten Vierteljahr den Umgang mit Säuglingen noch weit bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts. Demnach würden Babys in den ersten Lebenswochen ohne Sinneswahrnehmungen und Bewusstsein dahinvegetieren und müssten nur satt, sauber, trocken und warm gehalten werden. Soziale Ansprache und emotionale Nähe seien nicht notwendig.

Die Frage, wo Gewalt anfängt, ist aber auch gegenwärtig nicht immer eindeutig zu beantworten und hängt von gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Normen sowie der jeweiligen konkreten Situation und ihrem Kontext ab. Hier tun sich insbesondere im Hinblick auf die psychische Gewalt und entsprechendes verletzendes Verhalten, beispielsweise durch unterschwellige Bemerkungen, noch häufig eine Grauzone und ein Interpretationsspielraum auf.

Wichtige Leitplanken stellen jedoch die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« von 1948, das deutsche Grundgesetz von 1949 und die 1992 von Deutschland ratifizierte UN-Kinderrechtskonvention dar.

Im Grundgesetz heißt es in Artikel 1.1 ebenso schlicht wie schön: »Die Würde des Menschen ist unantastbar« und in Artikel 2.1 und 2.2 dann:

»Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt […].«

»Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. […]«

In der 1992 von Deutschland ratifizierten UN-Kinderrechtskonvention wird dann – was lange nicht als selbstverständlich angesehen wurde und bis heute nicht ganz unumstritten ist – das Kind als Subjekt und Träger eigener, unveräußerlicher Grundrechte beschrieben. Menschen- und Kinderrechte müssen nicht erworben oder verdient werden, sondern sind von vornherein gegeben. Der Artikel 19 führt dabei unter der Überschrift »Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung, Verwahrlosung« Folgendes aus:

»(1) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Missbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut.«

Eindeutig festgehalten ist hier der Anspruch, das Kind vor jeder Form sowohl körperlicher als auch geistiger Gewaltanwendung zu Hause und in Bildungs-/Betreuungseinrichtungen zu schützen. In Deutschland wurde so im Jahr 2000 auch das Recht auf gewaltfreie Erziehung im BGB im § 1631 festgehalten:

»(1) Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung.

(2) Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.«

Kinderschutz in der KiTa

In der KiTa sollen Kinderschutzkonzepte und die entsprechende Verankerung von Teilhabe- und Beschwerdemöglichkeiten für Kinder und Eltern dazu dienen, Gewalt an Kindern möglichst von vornherein zu unterbinden und bei Vorfällen schnell und geregelt reagieren zu können. Das gilt sowohl für die KiTa selbst als auch für das häusliche Umfeld. Gesetzlich ist der Kinderschutzauftrag für Kindertageseinrichtungen in den §§ 1 Abs. 3 und 8a des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG/SGB VIII) festgeschrieben. (s. a. den folgenden Beitrag von Jörg Maywald ab S. 31). Das Recht jedes Kindes auf Schutz gilt uneingeschränkt – auch im Verhältnis zu den eigenen Eltern und anderen sorgeberechtigten Personen.

Beschwerdemöglichkeiten für Kinder in der KiTa sind zunächst als Schutz vor körperlicher, sexueller und verbaler Gewalt gedacht. Sie sind aber auch ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu einer insgesamt demokratischen und partizipativen Einrichtung, in der Kinder die ersten Schritte zu mündigen, kritischen und sozial verantwortlichen Bürgerinnen und Bürgern machen können. Beschwerde- und Mitwirkungsmöglichkeiten gehen so Hand in Hand.

Der Artikel 12 der Kinderrechtskonvention sichert grundsätzlich jedem Kind, »das fähig ist, sich seine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern« und »die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife zu berücksichtigen.« Entsprechend wird in § 45 des SGB VIII die Erteilung einer Betriebserlaubnis für KiTas davon abhängig gemacht, dass neben einem Konzept zum Schutz vor Gewalt auch »geeignete Verfahren der Selbstvertretung und Beteiligung sowie der Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten innerhalb und außerhalb der Einrichtung gewährleistet werden.«

Die tatsächliche Gewährleistung dieser Voraussetzung im KiTa-Alltag wird umso herausfordernder, je jünger die Kinder oder je mehr Kinder – z. B. körperlich, geistig oder sprachlich – beeinträchtigt sind. Sie können ihre Wünsche oder Beschwerden unter Umständen nicht klar sprachlich formulieren und die Gefahr ist groß, dass ihre Beschwerde- und Mitwirkungsmöglichkeiten stark eingeschränkt bleiben oder ignoriert werden. Hier gilt es, inklusive Beschwerde- und Teilhabemöglichkeiten in der KiTa zu etablieren.

Die strukturelle Verankerung von Beschwerdeverfahren und Mitwirkungsmöglichkeiten für alle Kinder ist jedoch nur eine zu berücksichtigende Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist die Beziehungs-Kultur oder die von Dorothee Gutknecht ausgeführte »professionelle Responsivität« in der Einrichtung (s. dazu auch ihren Beitrag ab S. 160). Die Qualität der Beziehung und eine gelebte Kultur der Wertschätzung, Achtsamkeit und Empathie sind in der KiTa entscheidend dafür, ob ein Kind sich beteiligen kann oder sich traut und ermuntert fühlt, sich zu beschweren. Es ist für Fachkräfte daher notwendig, genau zu beobachten, die Signale des Kindes aufzunehmen und zu interpretieren – und bei Bedarf zielgerichtet zu unterstützen.

Selbstfürsorge von Fachkräften und Team

Damit die Grenzen zum verletzenden Verhalten nicht durch Überlastung und Stress überschritten werden, müssen Fachkräfte und Teams mehr als bisher auf ihre psychische Balance und Selbstfürsorge achten. Hier sind sowohl individuelle Strategien – von bewussten Aus- und Ruhezeiten über meditative Ansätze bis zu Sport und Spaziergängen in der Natur – als auch entsprechende Organisationsstrukturen und Maßnahmen in der KiTa zu entwickeln (s. dazu auch die Beiträge von Lattner und Deffner ab S. 103 bzw. S. 112). Dabei spielt die Einhaltung von Pausen und Ruhezeiten eine ebenso wichtige Rolle wie Angebote der Gesundheitsvorsorge für Körper und Geist. Grundsätzlich ist eine offene, wertschätzende und sich gegenseitig unterstützende Teamkultur ein entscheidender Faktor, um Stress im Berufsalltag zu mindern und Übergriffe zu verhindern. Im Sinne der Selbstfürsorge von Fachkraft und Team darf es in Zeiten der Überlastung keine Scheu vor Überlastungsanzeigen geben und gemeinsam mit dem Träger müssen auch verstärkt Maßnahmen wie Gruppenschließungen oder Verkürzung der Öffnungszeiten ins Auge gefasst werden.

Literatur

Ballmann, A. E. (2020): SEELENPRÜGEL – Was Kindern in Kitas wirklich passiert. Und was wir dagegen tun können. In: frühe kindheit 01/2020, 32–39. https://www.nifbe.de/component/themensammlung?view=item&id=940:seelenpruegel&catid=273:kinderschutz.

Boll, A. & Remsperger-Kehm, R. (2021): Verletzendes Verhalten in Kitas. Eine Explorationsstudie zu Formen, Umgangsweisen, Ursachen und Handlungserfordernissen aus der Perspektive der Fachkräfte. Opladen, Berlin und Toronto: Verlag Barbara Budrich.

Galtung, J. (1975): Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Juraforum: Was ist Gewalt und welche Formen gibt es? https://www.juraforum.de/lexikon/gewalt.

Mackowiak, K.; Wadepohl, H. & Beckerle, C. (2021): Entwicklungsförderliche Fachkraft-Kind-Interaktionen in Kindertageseinrichtungen. In: K. Mackowiak et al. (Hrsg.): Interaktionen im Kita-Alltag gestalten. Grundlagen und Anregungen für die Praxis. Stuttgart: Kohlhammer, S. 11–18.

Maywald, J.: Gewalt durch pädagogische Fachkräfte verhindern. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder.

Schreyer, I.; Krause, M.; Brandl, M.; Nicko, O. (2014): AQUA. Arbeitsplatz und Qualität in Kitas. Ergebnisse einer bundesweiten Befragung. http://www.aqua-studie.de/Dokumente/AQUA_Endbericht.pdf.

Tellisch, C. & Prengel, A. (2019): Pädagogische Beziehungen im Kindergarten. Wie inklusive Prozesse gestärkt und geschwächt werden. In: nifbe (Hrsg.): Inklusive Haltung und Beziehungsgestaltung. Kompetenter Umgang mit Vielfalt in der KiTa. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder, S. 35–52.

Tietze, W. (2008): Qualitätssicherung im Elementarbereich. In: Zeitschrift für Pädagogik, 53. Beiheft Qualitätssicherung im Bildungswesen. Eine aktuelle Zwischenbilanz, 16–34.

Viernickel, S. & Voss, A. (2013): STEGE Strukturqualität und Erzieher_ innengesundheit in Kindertageseinrichtungen. https://www.gew.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=20674&token=9d0413d1612a043e64cd74e9e71d51fccefd13ec&sdownload=.

Weltgesundheitsorganisation Europa (2003): Weltbericht Gewalt und Gesundheit. https://www.gewaltinfo.at/uploads/pdf/WHO_summary_ge.pdf.

Verletzendes Verhalten in KiTas – Aktuelle Forschungslage

Astrid Boll & Regina Remsperger-Kehm

Seit einigen wenigen Jahren ist es kein Tabu mehr, über verletzendes Verhalten von Fachkräften gegenüber Kindern in Kindertageseinrichtungen zu sprechen. Immer mehr Studien, Fachbücher und Tagungen bieten ein Forum, sich mit der brisanten Thematik auseinanderzusetzen. Mit großem Respekt beobachten wir die Offenheit und das Verantwortungsbewusstsein der pädagogisch Tätigen, sich der Problematik zu stellen – und dies vor dem Hintergrund der sich immer mehr zuspitzenden und prekärer werdenden Rahmenbedingungen in deutschen KiTas. Mit den Herausforderungen, die mit der Corona-Pandemie einhergingen, sind die Belastungen der Fachkräfte nochmals deutlich gestiegen. Im Austausch mit der Fachpraxis spüren wir den hohen Erschöpfungsgrad und auch die zunehmende Verzweiflung der Beschäftigten. Zugleich hat die pandemische Lage bei Kindern und Familien sichtbare Spuren hinterlassen. Das Wohl von Kindern gilt es daher umso mehr zu schützen.

Vor diesem Hintergrund möchten wir in diesem Beitrag das Wissen um verletzendes Verhalten in KiTas bündeln und die aktuelle Forschungslage möglichst breit ausleuchten. Nach einer kurzen Einführung und Verortung fassen wir zunächst die Ergebnisse unserer Explorationsstudie zu verletzendem Verhalten aus der Perspektive pädagogischer Fachkräfte zusammen. Anschließend gehen wir auf die Ergebnisse einer bundesweiten Leitungsbefragung ein. Erweitert und vertieft werden diese Erkenntnisse durch eine Studie zu Interventionsstrategien von Leitungskräften bei verletzendem Verhalten. Ein Ausblick auf die Herausforderungen für Praxis und Fachpolitik schließt diesen Beitrag ab.

Einführung und Verortung

Verletzendes Verhalten in pädagogischen Einrichtungen wurde lange Zeit – wenn überhaupt – meist nur in informellen Gesprächen thematisiert (vgl. Prengel 2020; Nürnberg 2018). Trotz der Einführung von Kinderrechten und des Gewaltverbots in der Erziehung herrschte über den »Mangel an ethischer Orientierung« in Teilen des Bildungswesens, der »eklatant die Beziehungsebene« betrifft (Prengel 2020, S. 101), bislang eine »Kultur des Verschweigens« (vgl. Maywald zit. in Burger & Schaaf 2020, S. 18). Der aktuell immer lebhafter werdende Diskurs zielt darauf, »Gewalt durch pädagogische Fachkräfte [zu] verhindern« (Maywald 2019), eine »Ethische Pädagogik« zu entwickeln (Prengel 2020) und in KiTas gemeinsam »verantwortlich [zu] handeln« (Boll & Remsperger-Kehm 2022b).

Wie notwendig diese Debatte ist, zeigen die Forschungsergebnisse, die zu verletzendem Verhalten in Kindertageseinrichtungen vorliegen. Auch wenn es sich nicht um eine repräsentative Studie handelt, gibt die Umfrage von ZEIT ONLINE aus dem Jahr 2016 Anhaltspunkte zur Verbreitung und zu Arten von Fehlverhalten in KiTas. Die subjektiven Schilderungen von 2.034 Elternteilen und 244 Fachkräften aus allen Bundesländern wurden der Deutschen Liga für das Kind zur Auswertung zur Verfügung gestellt (vgl. Maywald 2019). Dabei wird deutlich, dass strukturelle Missstände wie ein unzureichender Fachkraft-Kind-Schlüssel ein Fehlverhalten von Fachkräften begünstigen. Berichtet wurde von lautem Schreien und Schimpfen, vom groben Ton der Fachkräfte, einer fehlenden Aufsicht und ausbleibenden Hilfestellungen, vom Bloßstellen, Androhen von Strafmaßnahmen sowie vom Zwang zum Mittagsschlaf und Aufessen (vgl. ebd., S. 17f.). Maywald (2019) spricht in diesem Kontext von Fehlverhalten und Gewalt und unterscheidet seelische Gewalt, seelische Vernachlässigung, körperliche Vernachlässigung, Vernachlässigung der Aufsichtspflicht sowie sexualisierter Gewalt. Ähnlich wie bei Maywald zeigten sich in der Videostudie von Remsperger (2011) verletzende Interaktionsformen wie das Abwerten kindlicher Gefühle, das Bloßstellen sowie das laute Maßregeln von Kindern.

In den breit angelegten Forschungsarbeiten des Projektnetzes INTAKT (Soziale Interaktionen in pädagogischen Arbeitsfeldern) wurde explizit der Frage nachgegangen, »[w]ie und wie oft […] Kinder in pädagogischen Interaktionen anerkannt oder verletzt« werden (Prengel 2019, S. 96). Bei der Analyse von 1.590 Feldvignetten in Krippen und Kindergärten wurden 73,3 Prozent der beobachteten Interaktionen als anerkennend und neutral, jedoch 26,7 Prozent als verletzend und ambivalent kategorisiert. »Verletzende frühpädagogische Handlungsmuster sind destruktive Kommentare und Anweisungen, das Ignorieren bedürftiger Kinder, negative Zuschreibungen, Anbrüllen, Verweigerung einer notwendigen Hilfe. Seltener kommen aggressiver Körperkontakt, Ausgrenzung, Drohung und Spott vor« (ebd., S. 118).

Schließlich bringt auch die Studie zur Beteiligung von Kindern im KiTa-Alltag Erkenntnisse zu einem pädagogischen Verhalten hervor, das für Kinder verletzend sein kann (Hildebrandt et al. 2021). Die Autorinnen sprechen von partizipationshemmenden Verhaltensweisen, die sich inhaltlich gruppieren lassen in ungünstige Reaktionen auf kindliche Emotions- und Bedürfnisäußerungen, verbale oder körperliche Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten des Kindes, grenzüberschreitendes (nonverbales) Verhalten wie z. B. ein ungefragtes Tätscheln sowie selbstwertmindernde Verhaltensweisen wie sarkastische, ironische, verspottende oder diskriminierende Kommentare (vgl. ebd., S. 50 f.).

Verletzendes Verhalten in KiTas aus Perspektive pädagogischer Fachkräfte – Resultate einer Explorationsstudie

Bis zum Jahr 2020 war die Forschungslage zu Studien, »die dezidiert verletzendes Handeln durch Pädagoginnen und Pädagogen untersuchen, außerordentlich rar« (Prengel 2019, S. 79). Zugleich nahmen wir in Seminaren und Fortbildungen die Belastung und Not der Fachkräfte immer deutlicher wahr, wenn sie zunächst sehr zaghaft, dann aber immer offener davon berichteten, dass Interaktionen mit Kindern im KiTa-Alltag nicht feinfühlig verlaufen. Ausgehend von den Berichten der Fachkräfte rückten wir daher in unserer qualitativen Studie die Perspektive von Akteurinnen und Akteuren in den Mittelpunkt und untersuchten Formen, Umgangsweisen, Ursachen und Handlungserfordernisse zur Vermeidung eines verletzenden Verhaltens (Boll & Remsperger-Kehm 2021a). Die Studie wurde mithilfe schriftlicher, offener und asynchroner Interviews mit Expertinnen und Experten in vier Seminargruppen aus unterschiedlichen Studiengängen an der Hochschule Koblenz konzipiert. Insgesamt konnten 58 Interviews mithilfe der strukturierenden Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2016) ausgewertet werden. Im Folgenden werden zentrale Ergebnisse skizziert.

Formen verletzenden Verhaltens

In der Auswertung ließen sich drei Formen des verletzenden Verhaltens gegenüber KiTa-Kindern ermitteln, deren Übergänge jedoch fließend sein können. Verletzendes Verhalten kann sehr subtil beginnen, beispielsweise mit der Untätigkeit von Fachkräften, die einem verletzenden Verhalten ihrer Kolleginnen und Kollegen zusehen. Dieses »nicht wahrnehmen wollen« und Ignorieren wird von einer Befragten als Anfang eines verletzenden Verhaltens markiert: »Diese unterschwelligen Übergriffe, die verbal vorführen und diskriminieren, würde ich an dieser Stelle als -Mikrogewalt- beschreiben. Alles findet an einer Stelle seinen Anfang und es ist für mich denkbar, dass die Kinder diese erlebte Ignoranz seitens der erwachsenen Bezugspersonen in ihrem Heranwachsen deutlich speichern und für sich verarbeiten.«

In Abgrenzung zu Mikrogewalt ist die Subkategorie Makrogewalt nie unterschwellig, sondern deutlich nach außen sichtbar und als Form der Machtausübung mit dem bewussten Angstmachen-wollen und Anschreien verbunden: »Ein Kind wurde genommen und fest auf den Kinderstuhl gesetzt. Dabei wurde es angeschrien: Bleib endlich sitzen!« In dem Beispiel scheint dem Handeln der Fachkraft eine sich zuspitzende Situation vorausgegangen zu sein, die darin mündet, dass sich die Fachkraft ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr zu helfen weiß. Die Eskalation einer Situation haben wir in der Subkategorie der Spiralgewalt gefasst. Während ein verletzendes Verhalten also zum einen in Momenten der Überforderung beginnen kann und der Herstellung von Ordnung dient, schilderten die Fachkräfte zum anderen, dass sich Kolleginnen und Kollegen verletzend verhalten, um den Kindern zu zeigen, wer die oder der Stärkere ist. Ziel scheint es manchmal zu sein, den Willen eines Kindes zu brechen und es gefügig zu machen: »Es muss einmal richtig weh tun, dann lernen sie es.«

Umgang mit verletzendem Verhalten

In der Studie wurden die aktiven Umgangsweisen beinahe doppelt so häufig benannt wie die passiven Verhaltensweisen. So wählen einzelne Fachkräfte die zeitnahe Ansprache, um Kinder zu schützen und eine Situation zu deeskalieren: »Ich versuchte mit der Kollegin zu sprechen und wollte das Kind aus dem Schlafraum nehmen, um es zu beruhigen.« Einige Fachkräfte berichten davon, nicht nur schnell zu intervenieren, sondern die Kolleginnen und Kollegen auch in bewusst gewählten Momenten im Nachgang der Situation anzusprechen.

Ein weiterführendes Handeln liegt laut der Befragten in den Händen einer starken und kompetenten Leitung, die klare Strukturen schafft, um verletzendes Verhalten beispielsweise mithilfe von Supervisionen sowie Fort- und Weiterbildungen im Team aufzuarbeiten. Leider bleiben viele der angesprochenen Situationen offenbar ungelöst: »In einem Gespräch mit der Leitung des Hauses vertraute ich ihr meine Beobachtungen an. Daraufhin geschah gar nichts.« Einzelne Fachkräfte wählen deshalb einen eigenen Weg und machen immer wieder auf das verletzende Verhalten aufmerksam. Wird die eigene Belastung aufgrund der Erfolglosigkeit der Interventionen jedoch zu groß, verlassen manche Fachkräfte die Einrichtung.

Schweigen, Nichtstun, Wegsehen und Weghören gehören ebenfalls zu den Umgangsformen mit verletzendem Verhalten. Nach den Angaben der Fachkräfte wird Schweigen durch Hierarchie- und Abhängigkeitsverhältnisse, eine fehlende offene Kommunikationskultur in den Teams und einen zu geringen Mut begünstigt. Ebenso führen Gleichgültigkeit, zeitliche Engpässe, das Schützen-wollen von Kolleginnen und Kollegen und die Angst, selbst angegriffen oder ausgeschlossen zu werden, dazu, dass verletzendes Verhalten ausgehalten, versteckt, heruntergespielt und verschwiegen wird: »Jeden betrifft es und keiner findet es akzeptabel, jedoch wird nichts unternommen.« Als problematisch erweist sich auch das Einzelkämpfertum der Fachkräfte: »Ich könnte bei vielen meiner Kolleginnen und Kollegen einschreiten und ihnen in der Situation aufzeigen, dass sie sich gerade fehl verhalten haben, dann allerdings wäre ich die Einzige, die das macht.« Offenbar wird verletzendes Verhalten von Kolleginnen und Kollegen auch bewusst ausgeblendet: »Oft sind FK abgestumpft, sie hören nicht mehr das Verletzende heraus, oder wollen es nicht hören, weil es zu viel Anstrengung mit sich bringen würde, wenn sie Kolleginnen und Kollegen auf ihr Verhalten ansprechen. Dann müssten sie sich auseinandersetzen und hinterfragen, reflektieren. Es ist im Alltag einfacher, nichts zu hören, nichts zu sehen.«

Schließlich zeigt die Analyse, dass einige Fachkräfte verletzendes Verhalten verteidigen, verharmlosen und somit forcieren. Verletzendes Verhalten wird »oft von anderen belächelt und abgetan.« Es kommt zu Koalitionen und Spaltungen im Team, weil auf tradierten Erziehungsvorstellungen beharrt wird: »… denn es sind eingefahrene Verhaltensweisen, die als ›Tradition‹ empfunden werden und mit ›das hat uns früher auch nicht geschadet‹ argumentiert werden.«

Gefühle bei verletzendem Verhalten

Mit welch vielfältigen Gefühlen das Erleben eines verletzenden Verhaltens im KiTa-Alltag verbunden ist, zeichnete sich im Forschungsverlauf deutlich ab. Die Befragten berichteten davon, schockiert und hilflos zu sein: »Das Schlimmste aber ist das Gefühl, dass ich weiß, was gerade hier passiert, dass ich weiß, was es auslösen kann, und ich fühle mich, als seien meine Hände gebunden – weil ich ›nur‹ eine Praktikantin bin ohne professionelle Einsicht und Meinung.« Jedoch verspüren Fachkräfte den starken Drang, die Kinder schützen zu müssen und Verantwortung zu übernehmen. Sie beziehen deutlich Position, treten bewusst für die Bedürfnisse und Rechte eines Kindes ein und gehen vor allem auf die Kinder zu, um das Fehlverhalten einer Kollegin/eines Kollegen zu kompensieren.

Andere Fachkräfte erläutern, wie schwierig es ist, beobachtete Verletzungen anzusprechen: »Während dieser Situation befand ich mich auf einerGratwanderung. Greife ich ein oder schaue ich weg?« Offenbar sind die Fachkräfte hin- und hergerissen: Einerseits besteht der starke Wunsch, beobachtete Verletzungen anzusprechen und damit Wut und Unverständnis Raum zu geben. Andererseits sind sie sich nicht sicher, ob sie ihrer Einschätzung trauen können. Die Fachkräfte berichten von Scham, wenn sie das Verhalten ihrer Kolleginnen und Kollegen miterleben, wollen diese jedoch auch nicht beschämen. Ebenso schämen sie sich, wenn sie nichts gegen das verletzende Verhalten ihrer Kolleginnen und Kollegen unternommen haben. Das schlechte Gewissen begleitet die Fachkräfte dabei manchmal über Jahre.

Ursachen für verletzendes Verhalten

Die Ursachen eines verletzenden Verhaltens sind laut der Fachkräfte vielfältig und verwoben: »Ich denke, dass viele Fachkräfte ermüdet sind, in ihrem Beruf nicht mehr das sehen, was sie sehen sollten bzw. könnten, weil die Sensibilisierung für die Wertschätzung des Kindes verloren gegangen ist oder vielleicht nie vorhanden war.« Die aufgeführten Gründe können jedoch wie folgt geordnet werden:

Persönliche und berufsbiografische Ursachen

• Eigene negative Erfahrungen (z. B. Kindheitserlebnisse, Gewalterfahrung)

• Unzureichende Professionalität (z. B. fehlendes Fachwissen, Empathie, Reflexionsbereitschaft)

• Persönliche Überzeugungen (z. B. Rechtfertigung von Machtausübung und Adultismus)

Strukturelle Ursachen

• Stress und Überforderung (z. B. Zeitdruck, fehlende Erholungspausen, Personalmangel)

• Mangelnde Qualität der Leitung (z. B. fehlende Durchsetzungsfähigkeit, falsche Loyalität, ausbleibendes Handeln, eigenes verletzendes Verhalten)

• Mangelnde Qualität des Teams (z. B. Tolerierung verletzenden Verhaltens, Konkurrenzkämpfe)

• Unzureichende Rahmenbedingungen (z. B. Unterbesetzung, übervolle Gruppen, fehlende zeitliche Ressourcen, fehlende konzeptionelle Grundlagen, fehlende Unterstützung des Trägers)

Handlungserfordernisse

Nach Meinung der befragten Fachkräfte sind vier Faktoren besonders bedeutsam, um verletzende Verhaltensweisen zu verhindern. Dabei wird der Leitung die führende Rolle zugewiesen.

1.Entlastung (u. a. mehr Personal, kleinere Gruppen, Stärkung der Leitung, betriebliches Gesundheitsmanagement)

2.Kinder stärken (u. a. Umsetzung der Kinderrechte, Einrichtung einer Beschwerdestelle, Präventionsmaßnahmen zur Stärkung des Selbstbewusstseins)

3.Bildung (u. a. Selbstreflexion, Fortbildungen, Austausch über Erziehungswerte, Sensibilisierung für verletzendes Verhalten, Wahrnehmung der Bedürfnisse von Kindern)

4.Kultur der gegenseitigen Rückmeldung und Unterstützung (u. a. Wertschätzung, Fehlerfreundlichkeit, strukturelle Verankerung von Besprechungen und Schutzkonzepten)

Verletzendes Verhalten in deutschen KiTas – Einblicke in eine bundesweite Leitungsbefragung

Anknüpfend an die Resultate der Explorationsstudie von Boll & Remsperger-Kehm (2021a) führte das Institut für empirische Soziologie (IfeS) im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft Mehr Sicherheit für Kinder e. V. (BAG) und dem Verband der Privaten Krankenversicherung e. V. (PKV) im Frühjahr 2021 eine deutschlandweite Untersuchung zum Thema »Verletzendes Verhalten von Fachkräften in Kindertagesstätten« durch. Leitungskräfte wurden um ihre Einschätzung nach der Häufigkeit verletzenden Verhaltens von Fachkräften, dem Umgang damit im Team sowie zu Unterstützungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten befragt. Hierbei bedurfte es einer behutsamen Ansprache der Leitungskräfte und einer sorgfältigen Auswahl und Formulierung der Fragestellungen. Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse im Rahmen der Explorationsstudie entwickelten Astrid Boll und Regina Remsperger-Kehm den Fragebogen der Leitungsstudie gemeinschaftlich mit den Verantwortlichen der Online-Studie und erprobten den Bogen in einem mehrstufigen Verfahren (vgl. Schrauth 2021). Die Rohdaten der Befragung stehen den Autorinnen dieses Beitrags zur Verfügung und werden von ihnen weiter analysiert. In der repräsentativen Studie konnten 1.099 Fragebögen ausgewertet werden, wofür 7.069 Kindertagesstätten nach dem vorgesehenen Verfahren zufällig aus der Grundgesamtheit gezogen und angeschrieben wurden (vgl. ebd.).

Betrachtet man die Resultate der Onlinebefragung, so »berichten 1,9 % der befragten Leitungspersonen, verletzendes Verhalten in ihrer Einrichtung noch nicht erlebt zu haben. Demgegenüber halten 79,0 % der Befragten fest, Situationen verletzenden Verhaltens zumindest selten erlebt zu haben. Weitere 17,3 % der Kita-Leitungen äußern, Situationen verletzenden Verhaltens häufig zu erleben. Von einer täglichen Beobachtung verletzenden Verhaltens in ihrer Einrichtung berichten 1,9 % der befragten Leitungspersonen« (ebd., S. 7).

Die Frage danach, wie Leitungen die Reaktionen von Fachkräften einschätzen, die sich verletzend gegenüber einem Kind verhalten haben, ergab folgendes Bild: Die häufigste Reaktion, die Leitungskräfte beobachten, ist eine Entschuldigung beim Kind (Abb. 1). Es beruhigt, dass insgesamt 67,4 Prozent ihr Fehlverhalten dem Kind gegenüber zugeben und sich entschuldigen. Andererseits gibt es zu denken, dass ein Drittel der Fachkräfte dies nur selten praktiziert.

Abbildung 1: Entschuldigung beim Kind (eigene Darstellung)

Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Reaktion des »Erschrockenseins« über das eigene Verhalten, die insgesamt 59,2 Prozent der Leitungen häufig bzw. immer beobachten (Abb. 2).

Abbildung 2: Erschrockensein (eigene Darstellung)

Im Gegensatz zum Erschrockensein wird ein Gefühl des Beschämtseins nur von weniger als der Hälfte der befragten Leitungen beobachtet (Abb. 3).

Abbildung 3: Beschämtsein (eigene Darstellung)