Hotel Cartagena - Simone Buchholz - E-Book

Hotel Cartagena E-Book

Simone Buchholz

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Beschreibung

Eine unterkühlte Hotelbar am Hamburger Hafen. Unten an den Docks glitzern die Lichter, oben sind die Tische eher dünn besetzt. Plötzlich gehen die Türen auf, zwölf schwerbewaffnete Männer kapern die Bar, nehmen Gäste und Personal in Geiselhaft. Mittendrin: Chastity Riley, die sich eigentlich auf ein schmerzhaftes Wiedersehen mit alten Freunden eingestellt hatte, jetzt aber gemeinsam mit allen anderen Geiseln lernen muss, dass es Verletzungen gibt, die sich einfach nicht mehr reparieren lassen …

Der Kiez in den 80ern, ein junger Mann will raus. Er nimmt ein Schiff nach Kolumbien und lernt am Strand von Cartagena, was passiert, wenn man mit den falschen Leuten feiert. Auf die große Party folgt die Hölle. Erst das ganz große Drogengeschäft, dann Verrat, Flucht, Untertauchen. Später dann: die Chance auf Vergeltung. Der inzwischen gar nicht mehr so junge Mann beschließt, sie zu ergreifen.
Und so wird St. Pauli von einer spektakulären Geiselnahme erschüttert. Die Polizei steht draußen und scheint zum Zuschauen verdammt, während Staatsanwältin Chastity Riley ihren inneren John McClane aktivieren muss.

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Simone Buchholz

Hotel Cartagena

Kriminalroman

Suhrkamp

für Alan Rickman

I make myself hold out

Cause if it kills me

I don’t care

Millie Jackson

OB ES DAS JETZT WAR, HAB ICH GEFRAGT

Wir fahren durch die Stadt, an jeder Ecke tun sich schwarze Löcher auf, sie ziehen am Blech des Krankenwagens, Stepanovic kniet neben der verschissenen Pritsche, auf der ich liege, er hält mich, er hält meine Hand, und er singt mir was vor, ich mag die Melodie, aber den Text finde ich zum Kotzen.

zwei Tage zuvor, ein Hotel am Hamburger Hafen:

»Guten Tag, schöne Frau.«

»Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«

»Firma Unimax. Wegen der Sprinkleranlage.«

»Ja …?«

»Wartungsarbeiten.«

»Ah, verstehe. Die Schlüsselkarten für den Kellerraum, richtig?«

»Richtig.«

»Warten Sie … beide Karten?«

»Zwei Karten wären natürlich perfekt.«

»Okay … hier, bitte.«

»Super, danke. Wir legen die dann wie immer einfach auf den Tresen, wenn wir fertig sind, ja?«

»Ja, klar, wie immer.«

»Spitze. Schönen Tag Ihnen noch, und, äh, Sie sehen übrigens wirklich toll aus.«

»Oh, danke, wie nett von Ihnen.«

»Unternehmensphilosophie.«

Zwinker, zwinker.

Lächeln.

Hin und her.

Abgang.

AUFMACHEN, POLIZEI

Stepanovic nimmt den Fuß vom Gas, er fährt rechts ran und macht den Motor aus. Es ist November, es ist dunkel, es ist kalt.

Es ist still.

Kein Wind.

Er steigt aus, lehnt sich ans Auto und zündet eine Zigarette an, der Himmel schimmert orange.

Seit einer guten halben Stunde sollte er im zwanzigsten Stock dieses Hotels an der Hafenkante sein, er sollte dort sitzen und mit dem Kollegen Faller feiern, der ist nämlich seit heute fünfundsechzig.

Und das muss doch verdammt nochmal gefeiert werden. Wenn man das alles so lange geschafft hat, ohne komplett am Arsch zu sein.

Stepanovic zieht an seiner Zigarette und beobachtet eine Frau im Haus gegenüber, im dritten Stock, die Frau hat nicht auffällig wenig an, aber auch nicht besonders viel, er kann eine nackte Schulter sehen, ein verrutschtes Hemd, hochgesteckte helle Haare. Sie hält sich mit der rechten Hand ein Telefon ans Ohr, mit der linken Hand rührt sie in einem Topf.

Stepanovic raucht weiter, die Zigarette hilft gegen diesen Druck auf der Brust, den er immer hat, wenn er etwas soll, das er nicht kann. Endlich in dieser Hotelbar aufschlagen zum Beispiel.

Er könnte aber bei der Frau klingeln und »aufmachen, Polizei« sagen, und dann würde er da oben im Türrahmen stehen und sie anlächeln und einen Moment produzieren, eine Situation, etwas Lustiges, Charmantes, Umwerfendes, irgendwas eben, und sie würde ihn reinlassen, und er würde nicht lange brauchen, um sie dazu zu bringen, sich in ihn zu verlieben, zumindest für ein paar Minuten oder für eine Nacht, und dann dürfte er mit ihr essen, was auch immer sie da gerade kocht, und er dürfte die Nacht über bei ihr bleiben, Hauptsache, nicht nach Hause, und Hauptsache, nicht in dieses verschissene Hotel zu dieser sogenannten Party.

Es geht nicht um Partys an sich, eine Party ist schon ganz in Ordnung. Aber nicht, wenn zwei Lover beziehungsweise Ex-Lover einer Frau da sind, die er mit allem liebt, was ihm zur Verfügung steht, auch wenn das eher wenig beeindruckend ist, aber hey, jeder so, wie er kann.

Was redest du denn da, hört er sie sagen.

Ja, mein Gott, fuck off.

Er schmeißt die Zigarette in eine Pfütze, schließt den Mercedes ab, geht über die Straße und drückt auf die Klingel, die zur Wohnung im dritten Stock links gehört.

Der Druck auf seinen Brustkorb lässt etwas nach.

Er atmet tief durch, und die Nachtluft schraubt sein Herz auf, damit der Augenblick, der gleich kommt, da auch reinkann.

WOZU GENAU BRAUCHEN WIR NOCHMAL DEN GANZEN SPRENGSTOFF?

Eine leerstehende Halle am Hamburger Oberhafen. In der Halle sitzen dreizehn Männer auf Kisten, einer steht an einem Tisch, er beugt sich über etwas, das nach einem Bauplan aussieht. Der Mann hat die Ausstrahlung eines Anführers, er ist nicht übermäßig groß, aber schrankig. Auffällig gut trainiert, geradezu frisch trainiert. Er trägt eine dunkle Bomberjacke, darunter einen schwarzen Kapuzenpulli, auf dem Kopf eine graue Strickmütze. Seine Haut ist gegerbt, als würde er am Meer leben, unter der Sonne, als wäre er hier falsch. Die anderen Männer beobachten ihn dabei, wie er den Bauplan studiert, niemand sagt etwas. Der jüngste ist vielleicht Mitte zwanzig, der älteste so um die fünfzig, die Männer kommen in allen Farben und Formen. Manche sind etwas nervös, denn so eine Versammlung, der Geruch einer bevorstehenden Aktion, das schreit ja nach Nervosität. Aber weil jeder von ihnen im Laufe der Jahre gelernt hat, Gefühle hinter Zementgesichtern zu verstecken, kommt eine betont gelassene Gemengelage dabei heraus.

Manche zünden sich Zigaretten an, auch der Anführer holt ein Päckchen aus der Jackentasche und raucht, und als er den Bauplan fertig begutachtet hat, sagt er: »Okay, Männer.«

Die Männer nicken, ein paar von ihnen brummen.

»Waffen?«, fragt der Anführer.

»Waffen sind da«, sagt einer und steht auf, »und Munition ist auch am Start. Ihr könnt es euch aussuchen – wir haben Uzis, wir haben schöne, elegante 45er. Außerdem zwei Pumpguns und eine abgesägte Schrotflinte. Für die unter euch, die es gern ein bisschen größer haben.«

Er setzt sich wieder hin.

Gemurmel.

»Plastiksprengstoff?«, fragt der Anführer.

»Sprengstoff geht klar«, sagt der Waffenmann, »haben wir auch genug.«

»Wozu genau brauchen wir nochmal den Plastiksprengstoff, ich dachte, wir haben einen Tunnel für den Exit …«, sagt ein anderer, hört aber auf zu reden, als der Anführer ihn ansieht.

»Tunnel läuft«, sagt ein kleiner, drahtiger Typ mit Bart, der am Nagel seines rechten Zeigefingers kaut.

Der Anführer fragt nach den Schlüsselkarten.

Einer, der am linken Rand sitzt, sagt: »Geregelt.«

»Und was ist mit den Klamotten?«

»Die Anzüge hab ich gestern aus verschiedenen Reinigungen in der ganzen Stadt geholt«, sagt jemand aus der letzten Reihe.

»SEK-Uniformen, Helme, Ausrüstung?«, fragt der Anführer.

»Warten auf ihren Einsatz, Mann.«

»Brechstangen, Kletterseile, Schuttrutsche?«

Der Blick des Anführers fliegt durch den Raum und bleibt an einem Mann mit Baseballcap hängen.

»Liegt alles da, wo es liegen soll, Chef.«

»Und den Plan kann jeder im Schlaf auswendig aufsagen?«

Kollektives Nicken.

»Gut. Dann gehen wir das Ding jetzt nochmal durch.«

MEIN HERZ MACHT EIN UNGESUNDES GERÄUSCH

Die Wände sind aus Glas, von der schwarzen Decke baumeln ein paar gedimmte Kugellampen, zu unseren Füßen liegt der Hamburger Hafen in seinem gleißenden Nachtlicht. Diese Bar hier macht so sehr einen auf Ausblick, dass ich eigentlich keinem Drink, den ich nicht selbst gemixt habe, über den Weg trauen sollte. Zu viel aufdringliche Schönheit, zu viele Sieh-mich-an-Sachen, zu viel Ablenkung. Da kann sich doch keiner auf seinen Alkohol konzentrieren.

Meine Leute sitzen im hinteren Teil an einem großen Tisch.

Davor sehr viele Stehtische und Barhocker, ein Gewirr aus Stelzen, daneben ein langer, eleganter Tresen. Eine dunkle Flucht, und an jedem Ende steht ein spektakuläres Bild dieser Stadt.

Es ist mir ein Rätsel, warum der Faller seinen Geburtstag ausgerechnet hier feiern muss, wir passen doch schlechter an so einen Ort als ein Rudel Straßenköter in eine Plastiktüte, warum stehen wir nicht im Silbersack am klebrigen Tresen und trinken Flaschenbier, warum sitzen wir nicht in einer dunklen Pizzeria und sind laut, und wo ist eigentlich die gottverdammte Jukebox, ach, gibt’s hier nicht, verstehe, hier gibt’s nur genau die beiden Männer, deren Anblick sofort etwas in mir zerdrückt, es reicht meistens schon, wenn ich sie aus dem Augenwinkel sehe.

Jetzt schaue ich sie für eine Sekunde jeweils frontal an, erst Klatsche, dann Inceman.

Mein Herz macht ein ungesundes Geräusch.

»Hallo«, sage ich in die Runde, auch um von diesem Geräusch abzulenken.

Und alle so: »Hallo?«

Ja, ich weiß, ich bin ein bisschen spät.

»Entschuldigung, Leute, ich bin zu spät.«

»Nicht der Rede wert, mein Mädchen«, sagt der Faller, greift nach meinen Händen und lächelt mich an.

Er sieht gut aus.

Er trägt einen schwarzen Rollkragenpullover, Hut und Mantel hat er an der Garderobe abgegeben, so wie auch alle anderen ihre Sachen an der Garderobe abgegeben haben. Faller lässt meine Hände los, und ich stecke sie in die Taschen meiner dunkelblauen Bomberjacke. Niemals würde ich eine Jacke oder einen Mantel an einer Garderobe abgeben. Das ist doch wie eine Rüstung an der Garderobe abgeben, das kann man doch nicht machen, da ist man dann doch komplett ohne Security.

»Suchen Sie sich einen schönen Platz«, sagt der Faller.

Das sagt der jetzt so.

Es ist nur noch ein Stuhl frei. Zwischen Brückner und Calabretta, also schon ein sehr schöner Platz, aber gleichzeitig schräg gegenüber von Klatsche, also auch ein sehr komplizierter Platz.

Ich setze mich trotzdem, versuche einfach, nirgendwohin zu sehen, und frage: »Wo ist denn Stepanovic, lassen die hier keine Cowboys rein oder was?«

»Dann wäre die Hälfte von uns nicht hier«, sagt Faller.

Und Carla sagt: »Wir dachten, dass du das vielleicht weißt.« Da ist dieser Unterton. »Wir dachten, ihr kommt vielleicht zusammen hier an.«

Ich weiß, was sie meint, und ich versuche, ihr mit einem unauffälligen Lächeln mitzuteilen, dass ich das weiß, und ja, ich hätte genau genommen auch damit gerechnet, zusammen mit ihm hier aufzutauchen, weil wir einfach ziemlich gut zusammen wo auftauchen können, aber in den letzten Monaten ist es in manchen Momenten etwas schwierig geworden zwischen uns.

Ich habe ihm in einer Bierlaune, okay, eher in einer Art Bierbad gesagt, dass ich immer noch und immer wieder mit Inceman ins Bett gehe, und das fand er nicht nur ein bisschen scheiße.

Es kam mir so vor, als würde es ihm richtig zu schaffen machen.

Aber ich kann ihm da nicht helfen. Ich bin nun mal der eher unübersichtliche Typ Frau.

Ich schüttele den Kopf und sage: »Seit Tagen nichts von ihm gehört. Er hat aber letzte Woche gesagt, dass er kommen wird.«

»Dann kommt er auch«, sagt der Faller, entschlossen, sich die Laune durch nichts und niemanden verderben zu lassen, schon gar nicht durch seine Freunde.

Vermutlich ist er der einzige im Raum, der mit jeder Faser seines Herzens weiß, wie unübersichtlich nicht nur ich bin, sondern wir alle sind, ja sogar alle Menschen auf der ganzen verdammten Welt. Der Faller weiß um den großen Knoten, den wir bilden und den ich manchmal nur erahnen kann, wenn ich an jemandem vorbeistolpere und dabei eine Hand zu fassen kriege und die kleinen Risse, die Beschädigungen in der Oberfläche spüre und denke: wow, du auch?

Stepanovics Hände sind voll davon, und wie ich so über seine Hände nachdenke, fällt mir auf, dass ein Stuhl für ihn fehlt, falls er wirklich noch kommen sollte, und das ist wohl auch Rocco aufgefallen, denn er sagt: »Leute, wir haben einen Stuhl zu wenig.«

Faller lächelt in die Runde.

»Ich hab nicht damit gerechnet, dass ihr tatsächlich alle aufkreuzt.«

»Ich hab da total mit gerechnet«, sagt Klatsche und schaut mich an, mit diesem gewissen Mhm-Blick, und vielleicht ist es erwähnenswert, dass der Inceman mich mit einem ähnlichen Ich-schau-dir-in-die-letzte-Ecke-Blick ansieht.

Nun.

Wir haben hier eine Situation.

Ich habe eine Situation mit meinem Ex-Lover und meinem Ab-und-an-Lover, aber alle anderen haben auch jede Menge Situationen miteinander. Calabretta, Carla und Rocco zum Beispiel, ja, jeder hier hat eine Vergangenheit mit jedem, und die Situation, die sich daraus ergibt, befindet sich vollständig und vollzählig genug an diesem Tisch. Vielleicht ist es ganz gut, dass Stepanovic nicht da ist, vielleicht wäre es sogar eine Erleichterung, wenn er gar nicht mehr kommt, denn schon jetzt scheint unsere Situation wie dafür gemacht, überzulaufen. Als müsste nur noch einer kommen und sich zu uns in die Wanne setzen und dann auch noch seine Hand da reintauchen, in all die Verflechtungen, die wir miteinander haben, und schon wäre es überall nass.

Ich wäre wahrscheinlich die Erste, die heult.

Warum, kann ich nicht sagen, ich fühle mich einfach etwas wackelig. Auch deshalb bin ich definitiv nicht die, die sich darum kümmern wird, dass Stepanovic zusteigt, da könnt ihr euch mal alle gehackt legen.

Ich versuche stattdessen, ein bisschen zu sortieren. Die Situation und mich.

Am einen Ende des Tischs sitzt der Faller und will seinen Geburtstag feiern.

Links von ihm sitzen Inceman, Schulle, Brückner, dann ich.

Dem Faller gegenüber sitzt der Calabretta.

Ums Eck daneben Anne Stanislawski, Klatsche, Rocco.

Dann Carla, die dem Faller gerade eine Hand auf den linken Unterarm legt und ihn fragt, ob es ihm gut geht.

Er nickt.

Frage und Nicken machen mir von einer Sekunde auf die andere klar, dass wir nicht unseretwegen hier sind, dass wir jetzt mal einfach scheißunwichtig sind. Freundschaft bedeutet ja auch, aus den jeweiligen egozentrischen Kreisen zu springen.

Wir sind wegen Faller hier, und es ist vollkommen irrelevant, was da in den letzten Jahren so alles zertrampelt wurde an Rasen und Blumen zwischen uns, und Carlas Frage ist die einzige, die zählt: Wie geht es dem alten Mann?

Wenn ich den Ausdruck auf seinem Gesicht richtig interpretiere, ist er ganz zufrieden. Nach allem, was er durch hat in seinem Leben. Da sind immerhin zwei tote Frauen, zwei tote Prostituierte, Frauen also, deren Leben sich sowieso nicht auf der Sonnenseite abgespielt hat, und dann kam der Faller. Die erste, Minou, hat er geliebt, und weil er das getan hat und dachte, es sei so einfach, weil er dachte, er dürfte lieben, wen er will, und er dürfte retten, wen er will, musste sie sterben. Die zweite kannte er gar nicht. Es war gar nicht nötig gewesen, sie kennenzulernen, um mit ihrem Tod zu tun zu haben. Es hatte gereicht, sich mit der albanischen Mafia anzulegen. Und schon war die Kleine tot. Lag in blutiger Unterwäsche neben dem ausgeknockten Faller im Bett. Manchmal frage ich mich heute noch, wie eine Männerseele sowas eigentlich überstehen kann. Na ja. Die Beschädigungen sind ja weithin sichtbar, zumindest für die Menschen, die sich ein bisschen mit Beschädigungen auskennen. Dann war da noch der glatte Durchschuss in der Schulter, der bestimmt auch ein paar Splitter im Gedächtnis hinterlassen hat und an dem ich die Schuld trage. Nach all dem hat er vor ein paar Jahren nochmal angefangen zu kämpfen, um Gerechtigkeit, um seine Seele, um Vergeltung für seine Toten. Und jetzt sitzt er hier und hat Menschen um sich, die ihn gernhaben. Teilweise grenzt das Gernhaben sogar an Liebe, aber da kann ich natürlich nur für mich sprechen, und vielleicht noch für den Calabretta. Das Licht in der Bar legt einen dunkelgoldenen Filter über Fallers Gesicht, zeichnet die tiefen Furchen um seinen Mund, um seine Nase, um seine Augen weich. Er sieht uns einen nach dem anderen an.

Der Kellner kommt und fragt mich, was ich trinken will. Auf dem Tisch stehen alle möglichen Getränke, jeder hat was anderes bestellt, boah, schon wieder so ein unübersichtliches Fass, kann das bitte mal aufhören.

»Ist das ein Negroni?«, frage ich Carla, die mit dem Glas in ihrer Hand spielt.

»Aber hallo«, sagt sie, und ihre Stimme klingt, als hätte sie gerade die Formel für flüssiges Glück gefunden.

Davon möchte ich gern was abhaben.

»Für mich auch einen, bitte«, sage ich.

Klatsche grinst mich an, und wie der schon wieder grinst. Unverschämt und sexy ist dieses Grinsen, es ist kaum auszuhalten, mein Gott, wie ich dieses Grinsen vermisst habe.

»Ich dachte, Alkohol muss durchsichtig sein«, sagt er und nimmt einen Schluck von seinem Bier.

»Dinge ändern sich«, sage ich und sehe ihm in die Augen, zum ersten Mal, seit er an diesem einen Abend vor gut zwei Jahren nur nochmal kurz in meiner Wohnung war und dann für immer gegangen ist. Sein Blick fällt mir mitten ins Herz und explodiert, oh wow, was für eine Sauerei, jetzt muss man da schon wieder alles aufräumen.

Vor einem halben Jahr hatte er mal versucht, mich anzurufen.

Ich bin nicht rangegangen.

Der Kollege Brückner lehnt sich zu mir rüber und fragt mich leise, ob er mit dem Kollegen Inceman die Plätze tauschen soll. Damit wir nebeneinander sitzen können.

»Ach«, sage ich, und ich finde, das muss als Antwort reichen.

Inceman und ich sitzen ja andauernd nebeneinander, mindestens dreimal die Woche sitzen wir sogar sehr ausführlich nebeneinander. Erst gehen wir ewig nebeneinander her durch die Straßen, nachts, ich gehe immer an seiner rechten Seite, vielleicht weil ich glaube, so seinen rechten Arm ersetzen zu können, und wenn wir dann an einem Ort angekommen sind, an dem wir nebeneinander sitzen können, also an einem ernstzunehmenden Tresen, an einem stabilen Stück Holz, das uns trägt wie ein Schiff, trinken wir genau den einen Tick zu viel, der es uns erlaubt, Geschichten, Sätze, Momente zu vergessen, und am Ende, wenn wir das so lange gemacht haben, dass auch das letzte bisschen Verstand ins Wasser gefallen ist, liegen wir aufeinander in einem Bett, meistens in meinem.

Er hat sich nie um eine Wohnung gekümmert, er sagt, die ganze Stadt sei seine Wohnung, und dass es so besser sei, vom Gefühl her.

Also liegen wir dann halt aufeinander rum, und wie nebenbei passieren ein paar Erdbeben.

Mein Drink kommt.

Klatsche schüttelt den Kopf, schiebt sein Bier zur Seite und bestellt sich eine Piña Colada.

Verstehe: Was du kannst, kann ich auch, Bitch.

Wobei ich eine Piña Colada dann doch etwas übertrieben finde für eine Retourkutsche. Ein Mai Tai hätte wirklich gereicht.

Ich hebe mein Glas und proste dem Faller zu, die anderen machen es mir nach.

»Auf Sie, Faller«, sage ich.

»Na ja«, sagt er, »auf euch alle.« Und dann steht er auf.

Carla klatscht in die Hände.

»Eine Rede!«

Sie liebt Reden.

»Nur ein kleiner Toast«, sagt der Faller und reibt sich über seinen weißen Dreitagebart.

Er steht gerade und sieht uns an.

Er könnte sagen, dass es ein Wunder ist, wir hier zusammen an diesem Tisch. Und dass jedem von uns großer Respekt dafür gebührt, den Weg bis zu diesem Tag überlebt zu haben.

Er könnte sagen, dass Carla mit jedem Jahr, das ins Land geht, schöner wird, dass ihr dunkles Leuchten intensiver wird, ihr Gesicht klarer und ihre Locken wilder, in ihrem Blick spiegelt sich die ganze Welt, und wenn man nicht schnell genug an diesem Blick vorübergeht, stolpert man rein.

Er könnte sagen, dass Rocco das Jungenhafte verloren hat, dass er plötzlich unverkennbar auf die vierzig zugeht, dass die Secondhand-Anzüge, die er so gern trägt, gar nicht mehr nach zweiter Hand aussehen, sondern so, als würde er sie einfach seit über zwanzig Jahren tragen. Und dass in seinen Augen nicht mehr ausschließlich Abenteuerlust tobt und dass es deshalb inzwischen manchmal fast beruhigend ist, ihn anzusehen, wo er bis vor ein paar Jahren doch immer so beunruhigend war für alle in seiner Nähe, aber auf eine gute Art.

Er könnte sagen, dass Klatsche im Gegensatz zu Rocco nie ein Junge war, sondern immer schon ein erwachsener Mann, dem die Gen-Lotterie nun mal dieses Jungsgesicht verpasst hat, das er auch in zehn Jahren noch haben wird, egal wie sehr er den Vater spielt. Aber ach, er spielt den Vater ja gar nicht, er ist jetzt ein Vater, man sieht es an seinen Schultern, an seiner Haltung, an der leichten, von Zärtlichkeit getragenen Müdigkeit in seinen Augen, an der etwas breiter gewordenen Taille. Er ist stabiler denn je, und das steht ihm so gut, dass ich jetzt und hier in Stücke zerfallen sollte, wie ein Kirchenfenster, das in Zeitlupe explodiert, aber ich reiß mich zusammen und sehe ihn einfach weiter unauffällig an, und immer wieder auch den Faller.

Der könnte jetzt sagen, dass Anne Stanislawski die Zukunft ist, dass sie aussieht wie eine Füchsin, schlau und schnell und verwildert und königlich zugleich, brennend und doch beherrscht. Heute trägt sie ihre rotblonden Haare offen, was sie sehr selten tut, warum eigentlich, mein Gott, sie ist eine Erdbeerkönigin, und ob sie ihre Sommersprossen gezählt hat, als sie ein Kind war?

Faller könnte sagen, dass Calabrettas Silberstreifen in seinem schwarzen Haar sehr schön zu ihm passen, wie sie sich vermehren und immer ausufernder werden, wie sie Besitz ergreifen von seinem Kopf, und dass er endlich auf den zurückweichenden Haaransatz pfeifen soll, weil die freie Stirn alle Aufmerksamkeit auf sein fein gezeichnetes Gesicht lenkt, auf seine unaufdringliche Klugheit, auf die Tatsache, dass er ein Mann ist, der nie, aber auch wirklich nie mit irgendwas angibt, der immer ist, wie er ist, was natürlich ein Wahnsinn ist, sowas wird ja gar nicht mehr gebaut.

Er könnte sagen, dass Brückner und Schulle ihn an seine Töchter erinnern, dieser lässige Optimismus, diese unbedingte Zugewandtheit, dieser Respekt vor allem Lebendigen, dieser etwas schlichte, aber dabei überhaupt nicht dümmliche Humor, ja, sie könnten Brüder sein, oder auch Fallers Töchter und sowieso sind sie wohl einfach die Söhne des Nordwinds.

Er könnte sagen, dass Incemans verloren gegangener rechter Arm genau genommen auf sein Konto geht, weil er damals zu früh in Pension geschickt wurde, weil deshalb ein Nachfolger benötigt wurde, der dann der Calabretta geworden ist, weil es also einen neuen vierten Mann für sein ehemaliges Team im Morddezernat gebraucht hat, und weil dieser vierte Mann dann eben Bülent Inceman war, bis dahin heißester aller Drogenermittler. Erst flogen die Tassen hoch und mein Herz in die Luft, dann regneten Feuerbomben durch ein Fenster, und dann war der Arm weg.

Manchmal frage ich mich, ob Inceman sich wünscht, er wäre einfach im Drogendezernat geblieben, es gäbe noch einen rechten Arm in seinem Leben, dafür aber weder mich noch die Blicke, die zwischen ihm und Klatsche ununterbrochen hin und her wandern.

Manchmal frage ich mich das.

Er hätte so sehr seine Ruhe haben können, seine Unversehrtheit, eine Frau, eine Familie vielleicht, all das, was er sich mal gewünscht hat, bevor er mir begegnet ist.

Der Faller könnte sagen, dass er mit dem Abend hier eigentlich nicht anfangen wollte, bevor Stepanovic endlich auftaucht, aber bei dem weiß man eben nie, und am Ende ist er ja immer zuverlässig da, wenn er gebraucht wird.

Oder?

Ist er?

Wo bleibt die Knalltüte eigentlich?

Der kann mich hier doch nicht allein lassen, ey.

Andererseits ist die Wanne halt auch schon voll.

Insofern.

Jetzt wäre natürlich der Moment, in dem Faller etwas zu mir sagen könnte, oder über mich oder für mich oder durch mich durch, aber auch das tut er nicht.

Er sagt nichts von alldem.

Er versucht, es mit einer hilflosen, aber wirklich niedlichen Handbewegung zu fassen, mit einer Art Kreis, den er in die Luft schreibt, dann macht er noch ein paar Spiralen dran, bläst die Backen auf und lässt die Luft durch die Zähne wieder raus, dann kriegt er feuchte Augen und sagt sowas wie: »Ja, denn, schön, also, prost, nä.«

Das schwebt jetzt als Leuchtschrift über dem Tisch, und wenn ich uns alle so ansehe, hätte man es gar nicht besser sagen können.

Er setzt sich wieder hin.

Carla redet mit Rocco, Anne Stanislawski redet mit Calabretta, Faller, Inceman, Schulle und Brückner machen eine Viererkette auf, Klatsche und ich schauen uns in die Augen. Hilfe.

»Na?«, sagt er.

»Na?«, sage ich.

»Was machst du so?«

»Ich versuche, mit dem Rauchen aufzuhören.«

»Seit wann?«

»Seit fünf Minuten.«

Er schüttelt den Kopf.

»Kannst du nicht ernsthaft mit mir reden?«

Seine Piña Colada kommt, am Rand stecken ein Stück von einer Kokosnuss und eine beeindruckende Ananasscheibe.

»Ich soll ernsthaft mit jemandem reden, der einen Salat in seinem Getränk hat?«

Er atmet ein und wieder aus, er reibt sich mit der Hand über die Stirn, und ich weiß, dass ich gemein war. Der Kellner wirft mir einen eisgekühlten Blick zu.

»Okay, lass mich das Gemüse da rausnehmen«, sage ich, »und dann versuchen wir’s nochmal.«

Er lächelt mich an, wie er mich früher immer angelächelt hat, mit dieser Mischung aus Frechheit und Liebe, er schiebt mir sein Glas rüber, aber er macht es etwas zu schnell, ich renne mit meiner linken Hand quasi gegen die Ananas, die drachenzahnscharfen Blätter oder Dornen oder was auch immer das ist reißen die Innenseite meines Daumens auf, ich sage »wow, tief«, Klatsche sagt »oh«, Anne Stanislawski zieht die Augenbrauen nach oben und sagt »fuck«, Carla sagt, dass man das vielleicht besser desinfizieren sollte, und steht auf, um zur Bar zu gehen, und genau das ist der Moment, in dem die ersten Schüsse fallen.

St. Pauli, im Sommer 1984

Henning stand am Hafen, gerade war ihm die Nacht zerbrochen. Von Osten schlichen sich das Licht und die Elbe an, sie versanken fast in den Geräuschen, die der Morgen durch die Stadt schickte, und auch Henning hätte nichts dagegen gehabt, einfach irgendwo zu versinken.

Er schaute aufs Wasser und den Schiffen hinterher, der warme Wind kitzelte seinen Nacken, er hatte die Hände in den Hosentaschen, er hatte Hunger. Ein bisschen Kleingeld war da noch, aber es reichte nicht mal für ein Fischbrötchen.

Er hatte sein ganzes Geld für das Mädchen ausgegeben.

Elisabeth oder wie sie hieß.

Er hatte sie in der Markthalle kennengelernt, auf dem Black-Flag-Konzert, auf das er sich wochenlang gefreut hatte. Als sie ihn so von der Seite angelächelt hat, wusste er für ein paar Sekunden nicht, in wen er mehr verknallt war, in Henry Rollins oder in sie. Dann haben sie getanzt, sie war wild und hat gelacht, das hat ihm Glück in die Blutbahn gespült, nach dem Konzert hat er sie nach St. Pauli eingeladen, mit der ganzen lauten Musik in den Knochen, sie hat sich erst nicht so richtig getraut, aber er hat ihre drei Freundinnen bequatscht, und dann sind sie alle zusammen auf den Kiez.

Sie sind zu Fuß gegangen, es war ja warm.

Er hat die Ladys ins Lehmitz ausgeführt, diesen abgeranzten Laden, mit der winzigen, abgeranzten Dachterrasse zum Hinterhof, auf der nur ein Maschendrahtzaun die Menschen vom Himmel trennte. Keiner wusste so recht, warum der Zaun gespannt worden war. Vielleicht um die Betrunkenen, von denen es im Lehmitz reichlich gab, davon abzuhalten, einfach in die Nacht zu springen.

Sie hatten dicht gedrängt unter dem Maschendraht gestanden, Henning hatte Wodka Shots ausgegeben, einen nach dem anderen, dazwischen haben sie Bier getrunken, das Bier haben die Mädels bezahlt. Es lag nicht unbedingt Romantik in der Luft, aber Henning hatte Elisabeth oder wie sie hieß den Arm um die Taille gelegt, und wenn sie lachte, ließ sie sich immer so reinfallen, in seinen Arm, sie lehnte sich mit Sturm in den Hüften an ihn, ihr Hintern war dann an seinem Oberschenkel, und so kam er ihr näher und näher.

Ob sie noch zu zweit woandershin wollten, fragte er sie leise. Sie sah ihn an und nickte, und fast hätte er sie da schon geküsst, aber vor ihren Freundinnen traute er sich nicht. Das waren Ladys von der Alster, das sah man an den Klamotten, sie trugen scharfe Zungen mit sich rum, da musste man aufpassen, dass man sich keinen Spruch fing.

Okay, komm, sagte sie eine halbe Stunde später, als die Freundinnen nach Hause wollten, und so verdrückten sich Henning und Elisabeth oder wie sie hieß unauffällig.

Er nahm ihre Hand, als sie in die Davidstraße einbogen, und oben an der Ecke, mit Blick auf den Hafen, blieben sie kurz stehen, und sie sagte: »Immer wieder schön, das Ding.«

»Du bist schön«, sagte Henning, und wieder lachte sie, und dann gab sie ihm einen schnellen Kuss und zog ihn weiter.

Verdammt, er hatte den Moment verpasst.

Aber dieser Sekundenkuss hatte Blitze auf seinen Lippen zurückgelassen.

In der Washington Bar saßen Freunde von ihr am Tresen. Zusammen Abi gemacht. Klar, dachte Henning, Abi. Cool für euch. Er kam sich dumm und grob und vollkommen bescheuert vor, und da erst merkte er, dass er auch noch pleite war.

Er kramte in seinen Hosentaschen und zog den Rest Geld hervor.

Hm.

Na ja.

Schwierig.

Elisabeth oder wie sie hieß saß schon zwischen zwei der Typen, und jetzt lachte sie einen anderen an, sie sah Henning nicht mal mehr.

»Ich muss eben nach Hause, Geld holen«, sagte er, nicht laut, aber eigentlich laut genug.