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Es ist Sommer in Hamburg, viel zu heiß, doch Sankt Pauli leuchtet warm – da schwimmen plötzlich auffällig viele Füße in der Elbe. Männerfüße, und von den Körpern dazu keine Spur. Nach und nach tauchen weitere Körperteile auf, fein säuberlich abgetrennt und gut verpackt.
Kripo-Chef Calabretta macht Urlaub in Italien, und sein frühpensionierter Vorgänger Faller schlägt die Zeit beim Angeln tot. Also muss Staatsanwältin Chastity Riley die »Soko Knochensäge« erst mal alleine wuppen.
Da die Männerteile anscheinend von niemandem vermisst werden, stellt sich für Riley allerdings die Frage, ob sie der Welt wirklich einen Gefallen tut, wenn sie die Täter dingfest macht. Außerdem hat sie eigentlich ganz andere Probleme, als sich mit in die Elbe geworfenen Männerteilen zu beschäftigen. Sie will die beiden Typen finden, die ihre Freundin Carla vergewaltigt haben.
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Seitenzahl: 198
Simone Buchholz
Knastpralinen
Kriminalroman
Suhrkamp
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Der vorliegende Text ist eine von der Autorin überarbeitete Version des 2010 bei Droemer/Knaur, München erschienenen gleichnamigen Titels.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5315.
Revidierte Neuausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023
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Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln
Umschlagfoto: Achim Multhaupt
eISBN 978-3-518-77579-0
www.suhrkamp.de
Knastpralinen
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Leichenteile, wir wissen noch nichts Genaues
Sommerfrische Rothenburgsort
Was stimmt nicht mit Ihnen
Liebe in Zeiten drückender Hitze
Wo Szenepärchen sind
,
will ich nicht sein
Im Haus der tausend Eier
Doppelpack
Das kommt nie wieder
Das kann halt auch schiefgehen
Profis nicht bei der Arbeit stören
Neunzig-Grad-Grenze
Die verdammte Angel
Den Michel läuten hören
Am Ellenbogen
Was soll
’
s
Mein Mann hat ja so viel getrunken
Sommerfußball
Bossanova
Zick dich doch
Kennen wir uns?
Hören Sie bitte auf
,
das schmutzig zu machen
Stichwort Knochensäge
Vaffanculo
Stadtguerilla
Im Hintergrund Musik
Zehn Freier pro Tag
Tschabo
Trenchcoatwetter
Spekulationsobjekte
Kein guter Kontakt
Hier bei uns in Norddeutschland
Hafengeräusche
Bei Klatsche brennt noch Licht
Typ essen gehen
Diskorestaurant
Die eine Kippe noch
Wohnt in der Hafencity und hasst es
Grüsse aus Hamburg-Saigon
Sauberes Werkzeug
Nichts
,
wieso
Lammhackbierkuss
Reklamesendung
Offizierin im Köchinnenkostüm
Gefühle
,
schon wieder
Nach einem Stein aussehen oder auch nicht
Den ganzen Laden anzünden
Sie kennen ja sicher die aktuelle Gesetzeslage
Stinksauer
The Keller-Situation
Was keine Miete zahlt
,
muss raus
Tatsächlich
Rosen und Leuchttürme
Kein Durchgang
Verdammt
Das Bier und die Zigaretten
Informationen zum Buch
Und jetzt sag mir:
Wie weit würdest du für deine Freundinnen gehen?
Der Raum ist komplett gefliest, in einem hellen, matten Grau. Kühl. Modern. Die Schränke und die Arbeitsflächen, die Töpfe, die Pfannen und die Schüsseln sind aus Edelstahl. In der Mitte steht ein Block aus zwei massiven Gasherden, mit jeweils vier Flammen. Links im Fußboden: ein Abfluss.
Da sind zwei Frauen, etwa Mitte dreißig. Die eine hat dunkelblonde Locken, wirr hochgesteckt. Sie trägt ein knielanges, offensives Kleid. Die andere wirkt eher nüchtern. Sie ist groß und schlank, hat ihre hellblonden, halblangen Haare im Nacken zu einem strengen Zopf gebunden, trägt gut geschnittene Jeans und ein enges dunkles T-Shirt. Sie macht die Ansagen.
Sie scheint die zu sein, die sich auskennt.
Die Frau mit den Locken gießt Rotwein in einen großen Topf, in dem Topf liegen zigarettenschachtelgroße Stücke Fleisch. Die Chefin mariniert Koteletts in Öl und Kräutern und schichtet sie in eine Schale. Aus einer Maschine läuft durch zwei Löcher frisches Hackfleisch in eine große Wanne.
Außer den Frauen ist niemand in der Küche. Die digitale Uhr an der Wand zeigt 3.37.
»Was glaubst du?«, fragt die mit den Locken.
»Um sechs sind wir durch«, sagt die andere und wischt sich mit einem dünnen grauen Handtuch den Schweiß von der Stirn.
Die Luft in meinem verdammten Büro ist so dick, man könnte ein Schiffstau daraus stricken. Es ist heiß in Hamburg, seit einer knappen Woche sprengt die Temperatur täglich die Dreißig-Grad-Marke. Und jetzt, über Mittag, legt die Stadt nochmal ein paar Grad drauf.
Ich streiche mir die Haare aus der Stirn und binde sie am Hinterkopf zu einem Knoten. Ich knöpfe mein Hemd ein bisschen weiter auf, schiebe die Ärmel hoch und stelle meinen Tischventilator von zwei auf drei. Dann trinke ich einen Schluck Wasser, zünde mir eine frische Zigarette an und mache weiter. Nächste Woche wird drei Frauenhändlern der Prozess gemacht, ich fresse Akten. Die Typen haben Mädchen aus rumänischen Dörfern einen vom Pferd erzählt, von tollen Jobs im Ausland, als Tänzerinnen, Kellnerinnen, Kindermädchen. Als die jungen Frauen dann in Hamburg ankamen, waren sie ihre Pässe los und mussten auf dem Kiez in schäbigen Hinterhofbordellen anschaffen gehen. Über Jahre haben die Säcke das durchgezogen, bevor wir Wind davon bekommen haben. Das Übliche halt. Irgendwie merken das alle immer viel zu spät, wenn Frauen oder Kinder gequält werden.
Das merkt nie einer rechtzeitig.
Ich kann nicht wiedergutmachen, dass wir die Frauen so lange haben hängen lassen. Aber ich werde auf den Prozess vorbereitet sein, wie ich noch nie auf einen Prozess vorbereitet war. Vor diesen miesen Arschlöchern wird die unbarmherzigste Staatsanwältin stehen, die je vor ein paar miesen Arschlöchern gestanden hat. Wenn ich mit denen fertig bin, werden sie den Tag verfluchen, an dem sie die Idee hatten, Menschen zu verschachern.
Die Frauen, die wir in einer dunklen Wohnung in der Kastanienallee gefunden haben, waren wie Sklavinnen gehalten worden. Sie waren alle krank. Die Freier hatten ohne Gummis rangedurft, für dreißig Euro pro Nummer, und jeder hat was Nettes dagelassen. Zusätzlich hatten vier von den fünf Frauen entzündete Wunden am Körper und im Gesicht. Und zwei hatten Kinder, die lebten mit in der Hölle.
Manchmal verfolgen mich die Gesichter der Toten, aber das hört üblicherweise nach zwei, drei Nächten auf. Die Gesichter dieser jungen Frauen besuchen mich inzwischen seit sechs Wochen in meinen Träumen. Die Angst, die sie alle in den Augen hatten. Verzweifelt. Entwürdigt. Geprügelt. Und wie die Kinder geschaut haben. Als würden sie nichts von alldem begreifen und dann doch wieder alles. Soll das jetzt das Leben sein? Dieses schäbige, dustere Kabuff hier?
Mein Telefon klingelt. Der Brückner ist dran.
»Rothenburgsort, Chef«, sagt er, »wir machen uns gerade auf den Weg. Kommen Sie?«
Er klingt gehetzt. Der Calabretta ist noch im Urlaub, und die Stelle vom Faller ist bisher nicht neu besetzt worden. Die Kommissare Brückner und Schulle sind alleine. Stress am Arsch, die ganze Zeit.
»Klar komm ich mit«, sage ich. »Was ist da denn los?«
»Leichenteile«, sagt er, »wir wissen noch nichts Genaues.«
»Wo?«
»Sperrwerk Billwerder Bucht. Sollen wir Sie mitnehmen?«
»Ich bin in fünf Minuten vor der Tür.«
Ich mache den Ventilator aus, schnappe mir meine Zigaretten, mein Feuerzeug und meine Sonnenbrille und gehe raus. Ich denke darüber nach, ob ich den Calabretta anrufen soll. Leichenteile sind eventuell ein dicker Brocken. Wenn ich ihn anrufe, bricht er seine Ferien ab. Wenn ich ihn nicht anrufe, bin ich erstmal der zuständige Oberbulle.
Ich rufe ihn nicht an.
Brückner hat das Kommando am Tatort übernommen, er stellt die Fragen. Ich rede ja nicht so gerne. Der Kollege Schulle ist kurz hinter einem Streifenwagen verschwunden und wird offenbar gerade sein Frühstück wieder los. Ich zünde mir eine Zigarette an.
Die Spurensicherung ist noch dabei, den Fundort abzusperren. Gleich scheuchen sie mich weg. Ich stehe auf einem Grünstreifen rum, der zum Wasser führt, hinter mir steht ein einsames Herrenhaus. Das Haus ist gut in Schuss, in einem hellen Gelb gestrichen, die neuen Fenster glänzen in der Sonne. Der Garten ist eher ein kleiner Park. Ich wusste nicht, dass es in der Ecke hier Leute mit Geld gibt. Ein Stück weiter links steht noch eine kleine Villa, nicht ganz so herrschaftlich, eher zierlich, wie eine Sommerfrische. Aber auch die hat vor nicht allzu langer Zeit einen frischen weißen Anstrich bekommen. Gegenüber liegt eine verrottende alte Werft, überall Gerümpel, rechts knallt das Sperrwerk in den blauen Himmel. Das Ding sieht ein bisschen aus wie eine Raffinerie, wie eine kleine Fabrik. Es überrascht mich, aber ich finde das alles ganz schön. Vielleicht sollte man öfter mal nach Rothenburgsort fahren. Ich muss das mit Klatsche und Carla besprechen.
Mir ist heiß.
Auf einer Kaimauer ungefähr zwei Meter von mir entfernt liegt der schwarze Müllsack, wegen dem wir hier sind. Ich hatte gehofft, dass der Rauch meiner Zigarette den Geruch ein bisschen überlagern würde. Funktioniert leider nicht. Der Sack war wohl eine Weile im Wasser, und der Inhalt hat in Ruhe vor sich hin gefault.
»Tschuldigung, Frau Riley, wir müssen hier mal eben absperren. Können Sie da hinten weiterrauchen?«
Ja, ja, ist ja gut.
Ich hab mich von zwei uniformierten Kollegen an der Speicherstadt rausschmeißen lassen. Am Tatort war ordentlich Aufruhr, und dann kamen noch die Taucher, und dann immer diese Hitze. Da geht man den Leuten schnell auf die Nerven, wenn man unnötig wo rumhängt. Und irgendjemand muss ja auch nach dem Faller sehen.
Der Faller sitzt da, wo er immer sitzt, seit er sich vor drei Monaten hat pensionieren lassen: unterm Leuchtturm. Der Leuchtturm steht an der Spitze einer kleinen Landzunge im Hafen. Der Faller behauptet, dass er da von morgens bis abends sitzt, weil es Spaß macht. Ich glaube ihm kein Wort. Der sitzt da doch nicht freiwillig. Der Faller hat nie gerne irgendwo rumgesessen.
Calabretta sagt, der Faller sitzt da, weil er versucht, die letzten dreißig Jahre klarzukriegen, und ich denke, er hat recht, der alte Mann muss da sitzen. Sonst würde er nämlich gemütlich zu Hause rumlaufen, in Ruhe Zeitung lesen und den Sachen in seinem Garten beim Wachsen zuschauen. Wie man das eben so macht als Frührentner, wenn man die Schnauze gestrichen voll hat.
Ich gehe links am Kaispeicher vorbei. Den kleinen, rot-weiß geringelten Leuchtturm sieht man schon von weitem. Er wirkt immer, als wäre er aus Lego, wie er da so klein und niedlich und vollkommen sinnlos über dem mächtigen Hafenbecken steht, vor all den Containerschiffen, Kränen und fetten Backsteinbauten. Den braucht eigentlich kein Mensch, außer dem Faller natürlich, es ist ganz offensichtlich, dass er ihn braucht.
Der Weg zum Leuchtturm ist nicht asphaltiert, und die Hitze hat den Weg staubig gemacht. Gut, dass ich Stiefel anhabe. Fühle mich wie Clint Eastwood persönlich.
Vor zwei Wochen, als es tagelang geschüttet hat, war das hier eine hässliche Sumpflandschaft. Da hab ich mich genauso gefühlt, also wie Eastwood natürlich, nicht wie die Sumpflandschaft.
Der Faller sitzt auf einem Klappstuhl, er trägt ein weißes Hemd und eine graue Anzughose. Das Sakko hängt über der Stuhllehne, und seinen alten Borsalino hat er gegen einen Strohhut getauscht, wegen der Sonne.
In der Hand hält er eine Angel.
Das ist neu.
»Faller?«
Er dreht den Kopf, sieht mich an und schiebt mit dem Zeigefinger seinen Hut nach oben, nur ein paar Zentimeter.
»Was soll der Scheiß mit der Angel?«, frage ich.
Er schaut wieder aufs Wasser.
»Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie hier Fische fangen, alter Mann.«
Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und seufzt.
»Und wenn Sie was fangen?«, frage ich. »Wo wollen Sie das dann reintun? Ich seh hier keinen Eimer oder so was.«
Der Faller schaut aufs Wasser.
»Soll ich Ihnen wenigstens ein paar Köder besorgen?«
Er sieht mich an, als hätte ich ihn gefragt, ob ich ihm wenigstens ein paar Teenienutten auf Koks besorgen soll.
»Das war eine ernst gemeinte Frage«, sage ich, »so wird das nichts mit dem Abendessen.«
Er streckt seine Hand aus, ich setze mich neben ihn auf den Staubboden, und er legt mir den Arm um die Schultern. Mein Gott, ist das heiß hier, warum hat der Faller nicht längst einen Hitzschlag. Vor unserer Nase fährt ein Raddampfer vorbei. Ich muss an Belhaven denken, die Heimat meines Vaters in den Südstaaten.
»Das ist hier schon alles so, wie es sein soll«, sagt der Faller.
»Warum glaube ich Ihnen das nicht?«
Statt zu antworten holt er zwei Roth-Händle aus der Brusttasche seines Hemds. Die Tasche sitzt genau da, wo damals die Kugel durchging. Er hat so ein Glück gehabt. Manchmal wache ich morgens auf und habe das Gefühl, dass er doch nicht mehr da ist. Dass sein Herz es doch nicht geschafft hat. Ich versuche dann, ihn nicht anzurufen, ich will ihn ja nicht gleich morgens mit seinem eigenen Tod belästigen.
Er steckt sich beide Zigaretten in den Mund, holt ein Feuerzeug aus der Hosentasche, zündet die Kippen an, gibt mir eine davon und sagt: »Sie sollten wieder mehr rauchen.«
Ich ziehe an der Roth-Händle und muss husten.
Wir starren eine Weile aufs Wasser und qualmen.
»Und, mein Mädchen«, sagt er, »was gibt’s?«
»Wir haben einen Kopf gefunden«, sage ich.
»Oh.«
»Füße und Hände auch.«
»Oh, oh. Mann oder Frau?«
»Mann«, sage ich.
»Lag das einfach so rum?«
»Nein, lag alles ordentlich verschnürt in einem Müllsack in der Billwerder Bucht. Und damit der Sack nicht schwimmt, waren ein paar schwere Steine mit reingepackt.«
»Wie kam das Paket denn ans Tageslicht?«
»Baggerschiff«, sage ich. »Schlickbeseitigung. Der Baggerführer hat sich gewundert und den Müllsack aufgemacht.«
»Unglücklich. Wie geht’s dem Mann?«
»Ich glaub, den hat das überhaupt nicht beeindruckt. Der hockte da auf dem Streifenwagen rum, hat seinen Bauch in die Sonne gehalten und Witze übers Wetter gerissen. Schien ein robuster Kollege zu sein. Er hat erzählt, dass er vor ein paar Jahren schon mal eine Frau aus dem Wasser gezogen hat, gleich ums Eck, am Moorfleeter Deich.«
»Und wie haben meine Jungs das weggesteckt?«
»Geht so«, sage ich. »Der Schulle hat erstmal hinters Auto gekotzt.«
»Calabretta?«
»Ist noch in Neapel«, sage ich, »der kommt erst am Sonntag zurück.«
»Ah«, sagt er, nimmt seinen Strohhut ab, wischt sich mit dem Handrücken die Schweißperlen weg und setzt ihn wieder auf.
»Ist Ihnen das eigentlich nicht zu heiß hier, Faller?«
»Nö.«
Ich will mich nicht schon wieder mit ihm anlegen, halte die Schnauze und warte einfach, bis ich fertig gegrillt bin.
»Leichenteile also. Und sonst?«
»Nichts«, sage ich.
»Sicher?«
»Sicher.«
»Hm«, sagt er. »Ich hab manchmal so ein komisches Gefühl, dass irgendwas nicht stimmt mit Ihnen.«
Ach nee, denke ich.
»Hauptsache, mit Ihnen stimmt alles«, sage ich.
Ich sehe ihn an und versuche, was zu finden, einen Hinweis auf das, was ihn die ganze Zeit genau hier sitzen lässt. Aber dieses Gesicht, das ich so gut kenne, diese furchige, freundliche Vatervisage mit der großen Nase und den müden Augen unter der Hutkrempe, das ganze liebevolle Arrangement, das lässt nichts raus, nicht für zwei Cent.
Ich schaue wieder aufs Wasser, und er macht das ja sowieso andauernd, und so schauen wir da hin, wo die Elbe breiter wird und irgendwann bei Cuxhaven ins Meer fließt, und während am Horizont zwischen der dunkelroten großen Elbstraße und den dunkelgrauen Docks ein paar Möwen der Nachmittagssonne entgegensegeln, schiebt sich von links ein Frachter durch die Fahrrinne, fast lautlos, und so groß wie ein Parkhaus.
Das ist das Besondere am Hamburger Sommer: Die Nacht fällt so gut wie aus. Bis auf ein paar Stunden zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens wird es gar nicht richtig dunkel, das ist von Mai bis August einfach Standard, da kann man sich drauf verlassen.
Und dann gibt es auch noch Abende wie diesen. Die sind so speziell, dass man echt auf der Hut sein muss. Man könnte das alles hier sonst nämlich ganz schnell mit einer Stadt im Süden verwechseln, vielleicht sogar mit einer Stadt im Süden am Meer, und dann ist der Schreck groß, wenn es schon morgen früh wieder regnet und die Stadt doch nur Hamburg ist.
Ein Abend wie dieser legt sich einem wie warme Milch um den Körper, ohne all das, was das Wetter hier sonst manchmal so anstrengend macht. Es ist halb zehn.
Nachdem ich beim Faller war, bin ich nochmal zurück in die Staatsanwaltschaft, um mir die Opferaussagen für meinen Prozess ins Hirn zu fräsen. Ich will sie bis Montag jederzeit abrufbar in meinem Inneren tragen. So halte ich die Wut am Kochen.
Wegen der Leichenteile lasse ich Schulle und Brückner erstmal machen. Die gehen jetzt unsere Vermisstendateien durch, wir treffen uns dann morgen früh im Präsidium.
Auf Sankt Pauli riecht es inzwischen nicht mehr nur nach Seeluft und warmer Elbe und dunklen Ecken, sondern auch nach Grillkohle und kühlem Bier. Es ist ja so, dass es hier im Viertel nicht besonders viele Gärten gibt, also wird einfach die Straße zum Garten, und da sitzen sie dann an den Abenden wie heute, die Sankt Paulianer, und schwitzen und feiern den Sommer und die Tatsache, dass sie auf der Welt sind, und zwar genau hier. Manche sitzen offiziell vor den Kneipen auf ordentlichen Sitzmöbeln mit bezahlter Konzession. Die meisten sitzen aber inoffiziell vor den Kneipen, auf ein paar rausgetragenen Sesseln, ohne dass irgendwer dafür bezahlt hätte. Oder die Menschen sitzen einfach so auf dem Asphalt, vor den Bars und den Häusern, und da wird dann eben gegrillt und getrunken und gesabbelt. Dazu passt auch irgendwie, dass die Elbe bei diesen Temperaturen immer kurz vorm Umkippen ist. Der schwere Geruch macht alles noch einen Tick schwüler.
Ich kaufe mir im Kiosk noch ein Päckchen Zigaretten und ein Bier. Von der Straße aus kann ich meinen Balkon sehen, das vermüllte Ding daneben ist Klatsches Balkon. Meiner macht jetzt auch nicht wahnsinnig viel her, abgesehen von einer verschlissenen Piratenflagge, einem vernachlässigten Weinstock und einem mürbe gesessenen alten Stuhl ist da nichts los. Aber Klatsches Balkon ist ein Desaster. Der sieht fast noch mitgenommener aus als sein armer alter Volvo, und schon der hat es nicht leicht. Allerdings muss der Volvo nur einfach Hausmüll transportieren, der Balkon bleibt auf dem Sperrmüll sitzen. Zweieinhalb Fahrräder, eine Schaufensterpuppe ohne Kopf, fünf Bierkisten, ein fettiger Grill vom Sommer 2003, ein kaputter Fernseher. Vor zwei Monaten, an einem der ersten schönen Abende im Mai, wollte Klatsche mich auf seinen Balkon einladen. Ich hab mich gefragt, wie das gehen soll, und auch ihm ist dann im letzten Moment doch noch aufgefallen, dass es vielleicht ein bisschen schwierig werden könnte, als er mit zwei Flaschen Bier unterm Arm die Balkontür aufmachen wollte.
»Oh«, hat er gesagt, »da hab ich jetzt gar nicht mehr dran gedacht.«
Ich hab nichts gesagt und ihn auf meinen Balkon bugsiert, und da saßen wir dann, bis der Morgen um die Ecke geschlichen kam. Wir machen das ja selten, solche Pärchengeschichten wie irgendwo rumsitzen und in die Nacht starren, weil wir einfach nur zwei Leute sind, die immer wieder aneinander kleben bleiben. Nachteulen, Verbündete. Ab und zu kriegt uns halt die Romantik zu fassen. Aber dann wächst sie uns schnell über den Kopf, und wir wissen nicht mehr, was wir damit anfangen sollen, und dann kippt das fast zwangsläufig um und schmeckt schal, und wir stehen dumm in der Gegend rum. Deshalb machen wir meistens eher so Kneipentouren und besiegeln unsere Freundschaft immer wieder neu und stolpern für ein paar Wochen nicht beim anderen ins Bett. Klatsche stolpert in solchen Zeiten dafür gern in andere Betten, er sagt, das sei ein Versehen und nicht so gemeint. Dass er es nicht so meint, glaube ich ihm gern, dass es sich um ein Versehen handelt, nicht. Aber ich versuche, es nicht zu persönlich zu nehmen.
Ich schließe die Haustür auf, gehe die Treppen hoch in den dritten Stock, und statt gleich meine Tür aufzuschließen, klopfe ich erstmal an seiner. Es dauert ein bisschen, dann höre ich ein Schlurfen, dann ein Gähnen, dann geht die Tür auf. Klatsche trägt hellblaue Boxershorts und ein zu kleines dunkelgrünes T-Shirt, das um den Kragen etwas abgewohnt aussieht. Die Kippe in seiner Hand muss schon vor einer Weile ausgegangen sein. Er sieht aus wie ein Räuber.
»Hey, Frau Staatsanwältin.«
»Hey«, sage ich. »Was machst du?«
»Ich liege vorm offenen Kühlschrank.«
»Kann ich mitmachen?«, frage ich.
»Klar, ich werd doch mein Mädchen nicht in dieser Hitze krepieren lassen.«
Er zieht mich durch die Tür und gibt mir einen Kuss auf den Scheitel.
»Ich bin nicht dein Mädchen«, sage ich.
»Ich weiß, Baby, ich weiß.«
Brückner und Schulle sehen aus, als kämen sie gerade vom Spielplatz. Der eine trägt ein dünnes T-Shirt, der andere sein abgewetztes -Liverpool-Trikot, die Haare sind bei beiden ungekämmt und irgendwie aus der Stirn gestrichen, beim Brückner mehr nach hinten, beim Schulle mehr nach oben, und aus ihren Gesichtern strahlt die helle, nordeuropäische Sonne. Als hätten sie Ferien auf Saltkrokan gemacht. Ich hab die beiden inzwischen richtig gern, ungefähr so, wie ich früher in der Schule die Jungs aus der letzten Reihe gernhatte.
»Moin, Chef«, sagt Schulle und hebt die Hand, Brückner grinst und bohrt in der Nase, merkt das aber vermutlich eher nicht.
Ich frage mich oft, was die Vögel eigentlich machen würden, wenn sie Uniform tragen müssten.
»Moin, die Herren«, sage ich. »Wie laufen die Geschäfte?«
»Sauber«, sagt Brückner. »Wir wissen, wen wir gestern aus dem Wasser gezogen haben.«
»Oh, das ging aber zackig. Wen denn?«
»Dejan Pantelic«, sagt er. »Einunddreißig Jahre alt, Berufsmusiker. Kam Mitte der Neunziger aus Belgrad nach Hamburg. Hat keine Familie mehr hier. Seine Freundin hat ihn am Montag dieser Woche als vermisst gemeldet.«
An der Wand hinter seinem Schreibtisch hängen die Fotografien, die in der Pathologie von dem Kopf aus der Billwerder Bucht gemacht wurden. Daneben klebt ein leicht angegammeltes Bild von einem Typen in Shorts und Hawaiihemd. Der Typ steht neben einer Palme, hat einen Cocktail in der Hand und einen Ausdruck im Gesicht, als fände er selbst, dass er ziemlich gut aussieht. Ich kann beim besten Willen keine große Ähnlichkeit zwischen dem und unserem Kopf erkennen.
»Ein und derselbe Typ?«, frage ich. »Sind Sie sicher?«
»Er ist nur ein bisschen aufgequollen«, sagt Brückner. »Seine Freundin hat ihn heute morgen zweifelsfrei identifiziert.«
»Oh«, sage ich, »das war unschön, oder?«
»Hat der Schulle gemacht«, sagt er.
»Oh«, sage ich noch mal.
Und Schulle sagt: »Muss ich durch. War halt meine erste Wasserleiche, und das nicht mal in einem Stück. Aber das wird schon.«
Brückner gähnt und bohrt wieder in der Nase. Irgendwas ist da.
»Die wievielte war es denn bei Ihnen?«, frage ich ihn.
»Keine Ahnung«, sagt er , er klingt nasal. »Ich war in der Ausbildung bei den Langzeitvermissten. Da haben wir andauernd Leute aus dem Wasser gezogen. War quasi Standard. Mein Gott, wie die alle aussahen. Da war das gestern Pillefick gegen, echt.«
Ach so.
»Was wissen wir noch über diesen, wie war noch mal der Name?«, frage ich.
»Pantelic«, sagt er. »Er wurde am vergangenen Freitag zum letzten Mal gesehen, in der Nacht zum Samstag, auf dem Kiez. War mit zwei Kumpels im Silbersack, und die meinen, dass er sich so gegen zwei auf den Weg nach Hause gemacht hätte. So haben sie das zumindest seiner Freundin erzählt. Wir haben uns die beiden Kumpels aber noch nicht zur Brust genommen. Mach ich dann gleich.«
»Okay«, sage ich. »Was haben wir sonst?«
»Die Taucher haben nichts gefunden«, sagt Schulle und packt ein paar Sachen zusammen. »Die Elbe ist wegen der Hitze im Moment undurchsichtig. Die Spurensicherung hat auf dem Grünstreifen vor dem Fundort zwar jede Menge Kippen und Haare und Reifenspuren sichergestellt, aber das wird uns nicht groß weiterhelfen. Die ganze Billwerder Bucht ist am Wochenende so ne Art Ausflugsecke für Szenepärchen.«
Schade. Also eher doch nicht öfter mal nach Rothenburgsort fahren. Wo Szenepärchen sind, will ich nicht sein.
»Okay«, sage ich, »dann knöpfen Sie beide sich jetzt die Kumpels von unserem Toten vor?«
»Macht der Brückner alleine«, sagt Schulle, »ich will gleich im Haus der tausend Eier vorbeischauen, vielleicht hat das ein oder andere Ei ja was gesehen.«
»Kann ich mitkommen?«, frage ich.
»Klar«, sagt Schulle.