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Who wants to live forever?
Drei Männer verschwinden spurlos auf der MS Rjúkandi, einer Nordatlantikfähre. Zwei Frauen machen sich auf den Weg, um nach ihren verschollenen Freunden zu suchen – und sie besteigen das Schiff nach Island in der festen Überzeugung, bald wieder zu Hause zu sein. Aber schon in den ersten Tagen an Bord fallen ihnen merkwürdige Dinge und die seltsame Atmosphäre auf: Die Crew ist überirdisch gutaussehend, der Kapitän scheint bei aller Erhabenheit und Coolness stets einen Sack voll Schuld mit sich herumzuschleppen, und was zur Hölle ist eigentlich mit der Barfrau los?
In unnachahmlicher Lakonie erzählt Simone Buchholz von Freundschaft und Liebe, von der Endlichkeit des Lebens und der Unendlichkeit des Ozeans, und von Iva und Malin, die sich plötzlich in einer Parallelwelt ohne Ausgang wiederfinden, in der alles, was sie im Leben für wichtig hielten, plötzlich nicht mehr zählt.
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Seitenzahl: 232
Simone Buchholz
Unsterblich sind nur die anderen
Roman
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der 3. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5276.
suhrkamp taschenbuch 5276Originalausgabe © Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022
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Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln
Umschlagfotos: Gerald von Foris (Himmel und Meer), Daniel Harwardt/Getty Images (Schiff)
eISBN 978-3-518-77429-8
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Unsterblich sind nur die anderen
Lichtinstallationen
17. Oktober 2014
And all men will be sailors then
15. November 2014
Was soll schon schiefgehen
Rauschen im Kopf
16. November 2014
Klick
5. August 1938
Lichterloh
17. November 2014
Es wird jetzt gleich ein bisschen weh tun
18. November 2014, abends
Wie viel
23. Juli 1938
Klick
Die Aufzüge finden Sie gleich hier links
So würde es sein
Fischsuppe
3. September 1941
(63°22'42.1" Nord, 20°04'50.0" West, südwestlich von Vestmannaeyjabær)
Das geflüsterte Wort Offiziersmesse
Wir sollten gehen
10. März 1972
Eine Stunde
Klick Klick
Cuba Libre
Vielleicht rennen und klettern
22. November 2014
Rückwärtsgang
22. November 2014
Nordic Suite
Hast du dein Gehirn aufgegessen?
Segeln
Ein Gefühl von liebevoller Unschärfe
Immerhin kartografieren sie ihn
Das ist der Zustand
Atmen
26. November 2014
Man kann sich mit denen nicht unterhalten!
27. November 2014
Mitten im Licht
Noch ein anderer Gott, von dem wir gar nichts wissen
Wegen der Liebe
1. Akt
2. Akt
3. Akt
28. November 2014
Aurora borealis
Vermutlich war er gestorben, es war nur noch nicht offiziell
Hundertachtunddreißig Jahre und drei Tage
Der Donner in ihren Knochen, das Licht in ihrem Bauch
Mehr Skelett-Apokalypse als Mensch
Danke
Informationen zum Buch
Unsterblich sind nur die anderen
für meine Mutter Romy, hier hast du deinen historischen Roman
und für Nonno Stefano, den großen Abenteuerreisenden, Captain of our hearts
Zum Beispiel wenn wir fahren in die Nacht hineinDeine Hand liegt in meiner Hand ganz sanftUnd beim nächsten Gang liegt sie immer noch daSpätestens dann wird mir klarWenn du leise die Lieder summst, die wir beide liebenIch habe nichts erreicht außer dirIch habe nichts erreicht außer dirIch habe nichts erreicht außer dirBitte bleib bei mir, denn das Beste an mir sind wir
Bernd Begemann, Ich habe nichts erreicht außer dir
Also bin ich viel spazieren gegangen. Wochen, Monate, fast ein ganzes Jahr lang. Zuvor hatte ich tagelang einfach nur die Luft angehalten, so wie ich es immer mache, wenn mir alles zu viel wird. Ich halte die Luft an, wenn ich zu lang am Schreibtisch sitze, ich halte die Luft an, wenn ich mir weh getan habe, oder dir. Ich halte die Luft an, wenn etwas schiefgeht, wenn irgendwo da draußen jemand weint, wenn jemand stirbt, dann besonders lang.
Ich halte die Luft an, in dem kindlichen Glauben, dass nichts Schlimmes passiert, wenn ich nur nicht atme.
Mein Trick hat natürlich keine Auswirkungen aufs Weltgeschehen, aber er hat Auswirkungen auf mich, denn wenn ich nicht atme, wird meine linke Seite hart. Es beginnt knapp unterhalb des Scheitels, gleich über der Schläfe, und es endet kurz vor der Sohle, links vom Spann. Wenn die linke Seite so hart ist, dass ich es endlich mal merke, gehe ich spazieren. Lockerungsübungen in den Straßen.
Eines Tages bog ich unten am Hafen links ab, vielleicht weil ich halt diese Schlagseite habe, vielleicht lief ich aber auch einfach nur einem anderen Spaziergänger hinterher, und dann bog ich nochmal links ab und nochmal, und es wurde dunkel, und es wurde hell, bald kamen der Sommer, der Herbst und der Winter, es war ein langer Winter mit kaltem Regen und Blitzeis, aber eines Morgens zeigte sich das ganze Licht, der Frühling fiel über die Stadt her, da lief ich gerade durch den Tunnel unterm Fluss, und auf der Südseite angekommen, am Ende der endlos langen Treppe zurück nach oben, bog ich ein letztes Mal links ab, und so stand ich vor diesem Laden.
Er klebte klein und quadratisch über einem alten Fährkanal. Unter der blau-weißen Markise, auf zwei Metern Beton direkt am Wasser, stand eine eiserne Bank. Im Schaufenster hingen ein paar nautische Instrumente aus Messing und ein gutes Dutzend Buddelschiffe. Mit dicker, weißer Farbe hatte jemand »täglicher Bedarf« auf die Scheibe geschrieben.
Ich setzte mich auf die harte Bank, meine linke Seite fühlte sich ganz okay an. Meine Füße baumelten über dem Kanal. Ich war erschöpft, aber ich atmete gleichmäßig. Die Tür des Ladens ging auf, eine zarte Glocke bimmelte.
»Guten Tag.«
Vor mir stand eine Frau in Jeans und hellgrauem T-Shirt, ihre dicken schwarzen Locken waren mit silbernen Fäden durchzogen und zu einem festen Knoten gebunden, an den Füßen trug sie Clogs aus hellem Holz und braunem Leder. Sie war ungefähr in meinem Alter, vielleicht ein paar Jahre jünger als ich, vielleicht hatte sie aber auch einfach nur Glück mit ihrem Gesicht. Um ihre Augen lagen die Geschichten ihres Lebens, die schönen und die weniger schönen.
»Guten Tag«, sagte ich.
Sie sah mich an und lächelte.
»Darf ich hier kurz sitzen?«, fragte ich. »Vor Ihrem Laden? Ich bin so weit gelaufen.«
»Natürlich«, sagte sie und schaute für einen Moment aufs Wasser. Dann sah sie wieder mich an. »Möchten Sie Kaffee? Ich habe eben eine Kanne auf den Herd gestellt.«
»Ehrlich gesagt hätte ich lieber ein Glas Wasser.«
»Aber zum Kaffee, oder?«, fragte sie.
Der Kanal plätscherte friedlich vor sich hin, die Sonne ließ ihn glitzern.
»Ach, warum nicht«, sagte ich.
Die Frau verschwand durch die Ladentür, dabei summte sie irgendein Lied, die Glocke klingelte ihr hinterher, und wenige Minuten später war sie wieder da und setzte sich zu mir, das Tablett mit zwei Tassen Kaffee und zwei Gläsern Wasser stellte sie zwischen uns auf die Bank.
»Danke«, sagte ich.
»Bitte«, sagte sie.
Ich kippte Milch in meinen Kaffee. Und Zucker.
»Und Sie verkaufen also Buddelschiffe.«
Seit ich klein war und mit meinem Großvater viel in nautischen Zusammenhängen unterwegs, wollte ich so ein Ding haben, eine Flasche, in der ein Segelschiff wohnt, ich hatte aber über all die Jahre nie die Gelegenheit gehabt, eine zu kaufen, beziehungsweise: Irgendwas war wohl immer wichtiger gewesen.
»Ja«, sagte sie, »Buddelschiffe für den täglichen Bedarf«, und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, sie trank ihn schwarz.
»Buddelschiffe sind täglicher Bedarf?«
»Für manche Leute schon.«
»Interessant«, sagte ich, »und davon können Sie leben?«
»Nein«, sagte sie, »ist nur ein Hobby. Eigentlich bin ich Professorin.«
Sie sah mir in die Augen.
»Prof. Dr. Schneider, Lehrstuhl für Buddelschiffologie an der Uni Kiel.«
»Die Uni Kiel hat einen Lehrstuhl für Buddelschiffologie? Sowas gibt’s?«
»Na ja«, sagte sie, »das hab ich jetzt nur so gesagt.«
»Ach so.«
»Ja, ach so.«
Wir tranken Kaffee, und ich dachte kurz darüber nach, was für eine Idiotin ich doch bin. Professor Schneider zündete sich eine Zigarette an.
»Sie können ruhig reingehen und sich die Schiffe mal ansehen.«
»Das würde ich wirklich gern«, sagte ich, »danke.«
Sie drehte den Kopf zur Tür.
»Na dann, viel Vergnügen, und passen Sie auf sich auf.«
Ich wusste nicht genau, wie sie das meinte, aber ich stellte meine Tasse zurück aufs Tablett und ging rein. Professor Schneider blieb draußen auf ihrer Bank.
Die Schiffe standen dicht gedrängt in den Regalen, sie hingen von den Decken und stapelten sich auf Tischen. Dreimaster, Viermaster, Jollen und Fischerboote, Dschunken und Piratenschiffe, Raddampfer und Ozeanriesen. Das Licht schimmerte sepiafarben in all dem Glas und den alten Materialien. Der Raum war nicht groß, er roch nach Holz, nach Leim und nach Salzwasser. Alles schien in Bewegung zu sein. Am hinteren Fenster, das nicht viel größer war als ein Bullauge, stand eine bauchige Flasche. Das Schiff darin wirkte merkwürdig aus der Sammlung gefallen. Es hatte nichts Historisches oder so, es sah eher aus wie ein zeitgenössisches Kreuzfahrtdings, wenn auch viel weniger luxuriös, und insgesamt vielleicht ein bisschen kleiner.
Ich passte auf mich auf, so wie sie es gesagt hatte, aber ich nahm die Flasche in die Hand, und ich verlor mich dort an Deck und in dem, was hinter den kleinen Fenstern lag, auf der Brücke, in den Kabinen, in einer Art Bar. Das Schiff war weiß, hatte einen flachen, doch langen, fast übers halbe Oberdeck gezogenen Schornstein, der Schornstein war dunkelblau, die Reling schimmerte in mattem Gold.
Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass ich wieder rausgelaufen war, mit dem Buddelschiff in der Hand, und so fand ich mich bei Professor Schneider auf der Bank.
»Das haben Sie sich ausgesucht? Echt jetzt?«
Ich verstand nicht so recht.
Sie zündete sich eine neue Zigarette an.
»Möchten Sie auch eine?«
»Danke«, sagte ich, »ich hab aufgehört.«
Wir sahen uns in die Augen.
»Jetzt machen Sie es schon auf«, sagte sie.
»Aufmachen?«
»Na klar, deshalb sind Sie doch hier, oder?«
»Keine Ahnung, warum ich hier bin«, sagte ich.
»Meine Schiffe sind für den täglichen Bedarf«, sagte sie, »es ist Tag, und Sie haben offenbar Bedarf. Also machen Sie’s auf, verdammt.«
Ich legte das Buddelschiff auf meinen Schoß und hielt – was sonst – die Luft an.
»Aber nicht gleich die ganze Flasche auf einmal, ja?«
»Okay«, sagte ich, dann zog ich den Korken.
Sie waren so gut wie allein auf der Straße nach Norden, in der Ferne glühten die Rücklichter des einzigen anderen Autos. Gleich hinter der dänischen Grenze war links und rechts der Autobahn Nebel über die Landschaft gekrochen, inzwischen deckte er alles zu, die Welt dahinter war wie verschluckt.
Das Wetter legte sich um Ivas Gedanken, sie steckte sich noch einen Keks in den Mund.
Malin saß neben ihr, hielt das Lenkrad mit beiden Händen fest und bewegte den Kopf zur Musik. Zu Ivas Füßen stand die Tasche mit dem Proviant. Chips, Nüsse, Kekse, Obst, Schokolade, Gummizeug. Bier und Wein für später.
Freitagabend, Mitte November.
»Da«, sagte Malin, »Aalborg.«
Für ein paar Sekunden war im Nebel ein Schild aufgetaucht, jetzt war es schon wieder verschwunden.
»Dreiviertelstunde noch.«
Iva sah ihre Freundin an, und eine warme Welle flutete ihren Bauch. Malin liebte es, die Zeit einzuteilen, statt sie einfach nur laufen zu lassen. Vielleicht weil es ihr das Gefühl gab, diejenige zu sein, die entscheidet. Sie sang eine halbe Songzeile aus dem Radio mit, während sie freundlich, aber bestimmt auf die weiße Wand aus Nebel zufuhr.
»Hier«, sagte Iva und hielt Malin die Kekspackung unter die Nase. »Nimm noch einen.«
Die blaue Leuchtreklame des Hotels war exakt genauso hoch wie der zweistöckige Bau, dem sie aus dem Kopf wuchs. Das Teil schüttete kaltes Licht über den Strand und über die erste Reihe der Wellen. Der Nebel hatte sich verzogen, die Luft war klar und knisterte auf den Lippen.
»Desperate Rooms.« Iva zog an ihrer Zigarette und tippte mit dem Mittelfinger an Malins Stirn. »Ernsthaft?«
»Die anderen Hotels hier in dem Kaff hatten alle so schlimme Bewertungen«, sagte Malin. »Und das war das Einzige, zu dem niemand irgendwas geschrieben hatte.« Sie zog nochmal an ihrer Zigarette, trat sie aus und nahm ihren Rucksack in die Hand. »Außerdem stand da einfach nur Hotel. Das fand ich gut.«
»Da steht Hotel Desperate Rooms«, sagte Iva.
»Na ja, das haben die da halt so hingeschrieben«, sagte Malin. »Aber komm, es sieht doch echt okay aus, oder?«
Iva fand, dass es sogar mehr als okay aussah. Ein hellgraues, pragmatisches und nicht zu großes Quadrat mit zweimal vier weißgerahmten Fenstern, vier im Erdgeschoss, vier im oberen Stockwerk. Warmes, gelbes Leuchten an der Rezeption gleich hinter der Glastür. Dann noch die eisige Schrift auf dem Dach und der Sternenhimmel.
Überall lag Seegras herum, und der Wind spielte ein bisschen damit, als hätte er es höchstpersönlich von den Dünen herübergeweht. Iva spürte den Sand unter den Stiefeln und ließ ihre Zigarette fallen.
Der Mann an der Rezeption war der Typ argentinischer Pilot, hart geschnittenes Gesicht, bisschen angeknackste Nase, dichtes, dunkles Haar, er hatte es mit glänzendem Zeug aus der Stirn gestrichen. Seine braunen Augen waren enorm wach, sie zerschnitten die Luft, gleichzeitig schien in seinen Wimpern eine große Traurigkeit hängenzubleiben und ihm die Lider schwer zu machen. Das war ein Blick der Kategorie 1A, der immer ins Schwarze traf, in jedes Herz, das er vor sich hatte, ob es offen war oder verschlossen. Er kriegte sie alle mit seinem Blick, das war offensichtlich.
Iva und Malin zahlten im Voraus, der Typ gab ihnen die Schlüssel zu ihrem Zimmer, dann gingen sie an der kleinen Bar vorbei, sein Blick in Ivas Nacken baute Druck auf, aber das Gefühl ließ auch schnell wieder nach.
Die Bar wirkte behelfsmäßig. Als wäre sie gerade erst gebaut worden. Am Tresen saß eine Frau mittleren Alters, ihr Gesicht war nicht unbedingt schön, aber doch anziehend, sie trank Flaschenbier und sah ihnen hinterher. Sie trug Jeans, goldene Stiefeletten, ein weißes Hemd und einen Trenchcoat. Ihr schulterlanges Haar hatte die Farbe von Kastanien. Sie wirkte, als wäre sie die Chefin von allem.
Das Zimmer lag im ersten Stock, mit Blick aufs Meer. Iva saß am Fenster, draußen waren die Dünen und das blaue Licht, die schwarze Nordsee griff nach dem Himmel. Malin lag auf dem Bett und krümmte sich ein bisschen.
»Ich hab Eisprung.«
»Ich auch«, sagt Iva und stellte ihr Wasserglas aufs Fensterbrett. »Rutsch rüber.«
Malin rutschte, Iva legte sich hinter sie auf die frei gewordene Hälfte des Betts und legte die Arme um ihre Freundin, die Naturwissenschaftlerin, die allein war auf der Welt, ohne Eltern, ohne Geschwister, ohne Kinder. Auf den ersten Blick so zerbrechlich, in Wahrheit aber kraftvoll und stabil. Malins glatte, weizenblonde Haare flossen übers Kissen und ein paar Strähnen auch in Ivas Gesicht. Iva, die ihre dunklen, störrischen Locken seit Ewigkeiten zu einem festen Knoten band, der eigentlich unlösbar war, fand es faszinierend, wie offen Malin ihre Haare mit sich herumtrug, ohne dass sie Probleme machten.
»Arschlöcher«, sagte Malin, »verdammte Arschlöcher.«
Iva war gedanklich noch bei Malins Haaren und wusste nicht so recht.
»Was?«
»Na, die.«
»Wer die?«
»Na, weil die sich einfach so verpisst haben.«
»Ach die.«
»Am Ende hängen sie kiffend an irgendeinem Fjord rum. Und Tarik hat mich vergessen.«
»Das ist Quatsch, Malin, das weißt du.«
»Weiß nicht.«
»Das haben wir auch schon tausendmal besprochen, dass das ganz bestimmt nicht so ist.«
Malin stöhnte.
»Und wenn du mir jetzt nochmal damit kommst«, sagte Iva, »pack ich meine Klamotten und nehm den nächsten Zug nach Hause.«
»Mach das nicht.«
»Natürlich mach ich das nicht.«
Sie strich ihrer Freundin über die Haare. Klar, dass sie lieber wütend war auf Tarik, als sich Sorgen um ihn zu machen. Aber dass er sich abgesetzt haben könnte, war Bullshit. Iva kannte Tarik nicht halb so gut, wie Malin ihn kannte, doch er war keiner, der sich verpisste. Er war nicht der Typ, der die Dinge mal eben so hinschmiss. Er hatte über Jahre gekämpft und geackert, um da hinzukommen, wo er war, er war stolz auf seinen festen Job bei dieser Zeitung. Er war inzwischen stellvertretender Irgendwas, er bezahlte die Miete für die Wohnung seiner Eltern, und nebenbei kümmerte er sich um seinen Bruder, der Probleme hatte, in der Welt klarzukommen. Wie oft er von dem schon angerufen worden war, mitten in der Nacht, wenn sie in Malins Küche saßen oder in einer Kneipe, und wie er dann tatsächlich jedes Mal gesagt hat: Sorry, ich muss los. Iva war da manchmal fast ein bisschen beleidigt gewesen, weil sie sich versetzt gefühlt hatte, obwohl es ja überhaupt nicht um sie gegangen war.
Tarik ließ niemanden hängen, und schon gar nicht Malin. Sie waren wie Geschwister und gleichzeitig ein Liebespaar – wenn es eben gerade mal passte, manchmal passte es monatelang.
Sie kannten sich aus der Schule, aus der Zehnten oder so, auf jeden Fall ewig.
In Malins Küche hing ein Foto von ihr und Tarik, es zeigte sie im Garten von Malins Eltern, ein paar Jahre vor dem beschissenen Verkehrsunfall, Malin und Tarik mit Pfirsichhaut, Teenager halt, fast noch Kinder. Malins Vater im Hintergrund am Grill, die Mutter das Foto von der Seite mit einer Grimasse bombend, aufgeblasene Wangen und Kulleraugen.
»Das passt echt überhaupt nicht zu ihm«, sagte Iva, »dass er sich nicht mehr meldet. Es muss irgendwas passiert sein, der kann sich nicht melden.«
Da fiel es ihr auf.
Sie schluckte.
»Aber tot ist er nicht, Malin.«
»Ich weiß, dass er nicht tot ist«, sagte Malin und setzte sich auf. »Wir sind zwei in eins. Wenn er tot wäre, Alter, das wüsste ich aber.«
Die blonden Haare fielen ihr über die Schultern. Iva hatte Lust auf eine Zigarette, aber keine Lust, sich ans Fenster in die kalte Luft zu stellen. Sie atmete tief ein und wieder aus.
»Dann würdest du es auch spüren, wenn ich tot wäre?«
»Hallo«, sagte Malin, »meine Welt würde zerbröseln, wenn du tot wärst.«
»Come on«, sagte Iva.
»Ich hab nur dich. Dich und Tarik.«
Iva zog Malin wieder zu sich auf die Matratze und nahm sie fest in den Arm.
»Wir finden ihn.«
Vielleicht hielt sie ihre körperlich so zarte Freundin jetzt etwas zu fest, aber das passierte ihr mit ihrer Tochter auch hin und wieder, und es tat nicht wirklich weh, man konnte das schon aushalten, sie war eher einfach nur sehr da in diesen Momenten. Und so schliefen sie ein, ohne das Bier oder den Wein auch nur angerührt zu haben.
Im Bad brannte noch Licht.
Gegen Mitternacht standen der Mann von der Rezeption und die Kastanienhaarfrau am Wasser. Sie schauten aufs Meer, der Mond erhellte den Himmel, die Leuchtreklame auf dem Dach war ausgeschaltet, alle Lichter des Hotels waren erloschen, auch die in den Zimmern.
Es war ja eh nur das eine belegt, wie immer.
Die Frau hielt die linke Hand des Mannes, der rechte Arm hing irgendwie leblos an ihm herunter.
im Licht der Schiffscomputer
schlafen sie mit mir
umgeben von Navigationsinstrumenten
und draußen liegt die schwere See, und sie erzählen mir, dass jetzt drei mehr an Bord sind.
ich sage: okay okay, ich merke es mir, später, aber mich stört das nicht, sollen ruhig alle herkommen, solange sie keine Nazis sind.
oh wow
was macht ihr da
was immer du willst, sagen sie, du bist der Kapitän
und dann hab ich schon wieder die roten, glänzenden Locken in meinen Händen, ich hab den Sturm in den Lungenflügeln und die Wellen im Herzen
dann die Blitze im Bauch
und irgendwo ist
wie immer
ein Fischschwanz im Weg
Vor ein paar Minuten erst war es richtig hell geworden, das Morgenlicht kam spät in dieser Jahreszeit und auf diesem Breitengrad. Iva goss Malin nochmal Kaffee nach, sie selbst holte sich einen Ingwer-Zitronen-Tee. Mit Koffein kam sie morgens nicht gut klar, Kaffee fühlte sich zu dicht an, so kurz nach dem Aufstehen, da brauchte sie eher etwas, das den Tag verdünnte.
Sie war der Nachmittagskaffeetyp.
Die Frau mit dem kastanienbraunen Haar hingegen schüttete sich einen Espresso nach dem nächsten rein. Sie saß schon wieder an der Bar, statt des Trenchcoats trug sie einen schwarzen Rollkragenpullover, und sie hatte jede Menge Zettel vor sich, einen Taschenrechner und ein Buch.
Der Mann von der Rezeption saß neben ihr und schaute sie an.
»Ich find die beiden ja ganz nett«, sagte Iva leise, als sie sich wieder an den Tisch gesetzt hatte, »aber irgendwie sind sie auch merkwürdig. Die reden überhaupt nicht miteinander.«
»Die sind voll daneben«, sagte Malin.
Iva nahm einen Schluck von ihrem heißen Tee. »Das finde ich jetzt ein bisschen hart, Malin.«
»Ich mein das ja nicht böse«, sagte Malin, »aber schau sie dir doch an, die gehören überhaupt nicht hierher. Die gehören ganz woanders hin.«
»Ist mir zu esoterisch.«
»Mir auch, aber ich bleib dabei.«
»Wie du drauf bist gerade, Frau Wissenschaftlerin …«
»Ja, ich weiß auch nicht«, sagte Malin und kippte ihren Kaffee. »Sollen wir?«
Iva sah aus dem Fenster, das Licht hatte sich schon wieder verzogen, es war von den Wolken aufgegessen worden. »Ja, lass packen, und dann steigen wir auf das beknackte Schiff.«
»Das Schiff heißt MS Rjúkandi«, sagte Malin.
»Das Schiff kann heißen, wie es will«, sagte Iva, »solange ich in genau einer Woche wieder hier bin, und spätestens morgen in einer Woche wieder zu Hause.«
Malin griff über den Tisch hinweg nach Ivas Händen.
»Er passt gut auf sie auf, Iva.«
»Natürlich tut er das.«
»Und sie ist gern bei ihrem Papa.«
»Natürlich ist sie das.«
Iva wusste, dass es anders war.
Sie entzog sich Malins Griff und stand auf.
Der Tee war zu heiß.
Irgendwie stimmte gar nichts an diesem Tag.
»Packen?«
»Packen.«
Zwanzig Minuten später warfen sie ihr Gepäck ins Auto, stiegen ein und fuhren los Richtung Hafen.
Der Typ an der Rezeption sah die Kastanienhaarfrau an, sie atmeten zeitgleich ein und wieder aus, und im nächsten Augenblick war das Hotel verschwunden.
Iva stellte ihre Reisetasche ab. Die MS Rjúkandi lag sachte schwankend am Kai.
»Das Ding ist größer, als ich es mir vorgestellt hatte.«
»So riesig ist sie doch gar nicht«, sagte Malin, »also, im Vergleich zu den Kreuzfahrtmonstern, die bei uns im Hafen liegen.«
»Na ja, hat was von einem Parkhaus«, sagte Iva und legte den Kopf schief.
Das Schiff war weiß, die Farbe wirkte, als könne sie jederzeit abblättern, und schien trotzdem unerhört sauber zu sein, für so ein Allwetterschlachtross, das sich Woche für Woche über die Nordsee und den Atlantik und wieder zurück arbeitete.
Die Schiffslampen der Rjúkandi verströmten ein warmes, goldenes Licht, und auch der Name der Fähre, oben am Bug über den Fenstern der Außenkabinen, leuchtete in Gold, was dem geradlinigen Schriftzug ein etwas aufdringliches Weihnachtsbaumgefühl gab. Vielleicht lag das ganze zarte Leuchten aber auch am Nebel, der über Nacht die Autobahn hochgekrochen war und sich jetzt hier am Wasser festgesetzt hatte. Als hätte das Wetter einen gigantischen Weichzeichner im Schlepptau. Iva zündete sich eine Zigarette an.
»Vor vier Wochen stand Tarik hier«, sagte Malin, »mit den beiden anderen Volltrotteln.«
Iva hielt ihr die Zigarette hin, Malin nahm einen Zug und gab sie zurück.
»Die beiden anderen Volltrottel«, sagte Iva.
»Ja, Mo, der ist echt so ein Trottel, meine Güte.«
Mo, dachte Iva, wie hieß der noch richtig, Moritz Steinleitner oder so, irgendwas Süddeutsches auf jeden Fall, der war eines Tages aus München gekommen, und ein paar Jahre später war er dann Tarik vor die Füße gestolpert, da hatte der noch Sportberichterstattung gemacht, und Mo hatte gerade seine Basketballkarriere beendet, wegen Knie oder Hand oder Kopf oder was auch immer. Die beiden sind ein paar Nächte lang zusammen abgestürzt, seitdem hing Mo an Tarik dran, so wie viele Leute einfach an Tarik dranhingen.
Iva konnte mit Mo nicht viel anfangen, aber das musste sie ja auch nicht.
Und Flavio. Der war Iva zu Beginn zu schlaksig gewesen, zu zart in seiner ganzen Erscheinung, wie diese Krankenhausärzte halt manchmal sind, filigrane Hände und sanfter Blick und so. Aber am Ende hatten sie sich ineinander verkeilt, nach jeder Menge Wein und ein paar unnötigen, zu süßen Spirituosen, und es war gar nicht mal so übel gewesen, auf der harten Bank hinterm Bootshaus. Trotzdem. Schon auch ganz schön trottelig. Also, nüchtern betrachtet.
Iva zog an ihrer Zigarette und bei dem Gedanken an Flavio eine Augenbraue nach oben. Dann begutachtete sie weiter das Schiff, heftete ihren Blick an die Gangway. Half ja nichts jetzt.
Mitgezockt, mitgekocht, oder wie ging der Spruch noch gleich.
»Los«, sagte Iva und warf mit großer Geste ihre Zigarette weg, »einchecken und ab nach Island.«
Malin nahm ihre Reisetasche in die Hand.
»Okay, let’s do it.«
Um zum Schiff zu kommen, mussten sie durch einen Brutalismusklotz aus Beton und dann eine Rolltreppe hoch. Malin ging voran, und da stand sie also in ihrer hauchdünnen, Malin-typischen Entschlossenheit und fuhr nach oben. Sie drehte sich zu Iva um und machte große Augen, ihr Mund formte ein OMG, und Iva folgte ihr auf die Rolltreppe und von der Rolltreppe in die Wartehalle, die den Charme des Abflug-Gates eines Regionalflughafens hatte.
Malin saß schon auf einem der schwarzen Kunstlederstühle und klopfte auf den Platz links neben sich, als Iva noch nach Orientierung suchte.
»Ich bleib erstmal stehen«, sagte sie und blieb erstmal stehen, schaute aufs Wasser, aufs dunkle Meer. Es wirkte bedrohlich. »Auch irgendwie größer, als ich es mir vorgestellt hatte.«
»Du alte Ostseebraut«, sagte Malin. »Wurde echt Zeit, dass du mal an die Nordsee kommst.«
»Lass mich, ich mag die Ostsee.«
Ihr wurden ein bisschen die Stiefelsohlen weich, für einen Moment entglitt ihr etwas, das sich erst anfühlte wie der Boden unter ihren Füßen und dann wie ihr ganzes bisheriges Leben.
Sie holte ihr Telefon aus der Jackentasche und rief ihre Tochter an. Die ging nach dem zweiten Klingeln ran.
»Hey Lilo, was machst du?«
»Fernsehen.«
»Bist du gar nicht verabredet heute?«
»Die anderen haben was anderes vor.«
»Wieso, was haben die denn vor?«
»Weiß nicht.«
»Wen hat Papa denn gefragt?«
»Weiß nicht.«
»Hat Papa denn wen gefragt?«
»Weiß nicht.«
»Lilo.«
»Mama.«
»Ja, mein Schatz.«
»Wann kommst du nochmal wieder, Mama?«
»In einer Woche bin ich wieder da. Eine Woche nur.«
»Okay.«
»Okay?«
»…«
»Also, pass auf, ich steig gleich auf das Schiff, da kann ich dann nicht mehr telefonieren, aber ich schick dir übers Schiffs-WLAN ganz viele tolle Bilder, ja?«
»Mhm.«
»Also, Lilo.«
»Mhm.«
»Tschüs, ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch, Mama.«
Sie steckte ihr Telefon weg, ihr Herz knackte.
Malin sah sie an. »Jetzt schau nicht so traurig.«
Iva spürte ihre Schultern schwer werden.
»Du interpretierst immer in alles so viel rein«, sagte Malin.
Du hast keine Kinder, dachte Iva, du weißt nicht, wie das ist, sie allein zu lassen, und schon hasste sie sich für diesen Gedanken, weil Malin vielleicht keine Mutter war, dafür aber ja wohl das alleingelassene Kind schlechthin.
Eine junge Frau in einer Art Stewardessenkostüm redete in ein Mikrofon: »Meine Damen und Herren, herzlich willkommen am Check-in der MS Rjúkandi, Ihr Schiff ist jetzt bereit zum Einsteigen.«
Malin stand auf, sie nahm ihre Reisetasche und ihren Rucksack, sie hakte sich bei Iva unter und sagte »so«, sie zog sie mit auf die Gangway, die stabil und wackelig zugleich war, eigentlich verhielt sie sich exakt genau so, wie Ivas Stiefel sich anfühlten.
Rüttel rüttel, sagte die Gangway, als sie alle drei von einer Windböe erwischt wurden.
Ihre Kabinen waren klein, sahen jedoch ganz gemütlich aus, gemütlich genug zumindest: ein Bett mit zwei Kopfkissen und einer dicken Decke, ein Bullauge, eine Art Heizung an der Decke. Die Motoren füllten die Wände mit einem trägen, nachhaltigen Brummen aus dem Schiffsbauch.
»Wann legen wir nochmal ab?«
»Halbe Stunde«, sagte Malin.
»Solche Schiffe«, sagte Iva, »die tun immer so großartig, aber ich nehm denen das nicht ab. Mich machen die nervös.«
Malin ging einen Schritt auf sie zu und nahm sie in den Arm. »Danke, dass du trotzdem mitkommst.«
»Hallo«, sagte Iva, »das stand nie zur Debatte.«
Nun ja.