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Hamburg, ein nebliger März, an der Elbe liegen tote Stripperinnen. Wer hat die jungen Frauen auf dem Gewissen? Warum wurden sie skalpiert? Was sollen die Perücken? Staatsanwältin Chastity Riley ist zuständig für Verbrechen, die sich rund ums Rotlichtviertel abspielen, wobei ihr das Rotlicht mehr liegt als das Verbrechen. Obwohl: Ihre Stärke ist es, zu denken wie eine Kriminelle. Ihre Schwäche sind Kneipen, Zigaretten, junge Männer und schummriges Licht. Sie kommt in ihren Stiefeln und dem Trenchcoat cooler daher, als sie ist, außen hart, innen zart, manchmal fast eine kritische Masse an Empathie – hätte Philip Marlowe eine Enkelin, vielleicht wäre sie es. Jetzt muss sie durch einen langen, grauen Tunnel, der immer dunkler wird.
Ein etwas halbseidenes Team aus Polizisten, Staatsanwältin Riley und kleinen Gangstern taumelt durch den Kiez und das Hamburger Wetter. Ihre Suche nach Liebe und sich selbst endet meist in der Sackgasse. Da ist es vielleicht nicht schlecht, dass eine Reihe von Morden sie auf Spur bringt – wenn auch auf eine blutige.
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Seitenzahl: 242
Simone Buchholz
Revolverherz
Kriminalroman
Suhrkamp
Cover
Titel
Inhalt
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Inhalt
Ich weiss
,
Kleines
,
ich weiss
Einsam werde ich erst, wenn jemand da ist
Richtig schlimm tot
Angst kann ich nicht gebrauchen
Showtime
Tänzerinnengesicht
Zum Beispiel Zuhälter
Anarcho-Elvis
Phenobarbital
,
zwei Zigaretten
,
ein Apfel
Ich bin wegen der Gefühle hier
Termine
,
Termine
Das Kopfsteinpflaster ist nass und riecht nach Fischhaut
Niedliche Gegend
Sack & Söhne
Das ist ja wohl ein touristischer Brennpunkt
Reserviert wie ein vermieteter Parkplatz
Bekanntschaften
Kissen
,
auf eine nette Art zerwühlt
Gleich landen wir im Fluss
Die grosse Verschmierung
Gut versteckte Schönheit
Hinter den Wolken ziehen die Sterne ihr Ding durch
Laufen ist gar nicht mal so ohne
Riviera
Landungsbrücken
Harter Brocken
Ansteckend
Machen Sie das bitte mit den Eltern?
Bilderbuchbulle
Die Schilder leuchten die ganze Nacht
Im gottverdammten Türrahmen
Fersengeld
Ich bring dich groß raus
Scott und James
Das Herz meines Vaters
Da hinten stehen schon wieder Trauerweiden
Hölle
Ich mach hier den Fisch
Los
,
wir fahren ans Meer
Genauer kann man das nicht sagen
Zivile Einheiten
Sauber
Warum treffen Sie sich mit mir
Ein richtiges Scheisslicht
Leitmotiv
Kennzeichen
Was auftreiben
Unterm Baum stehen und weinen
Chefin
Richtig harte Visagen
For Security Reasons
Die üblichen Statisten der Nacht
Devotionalien
Ich hab am Broadway zu tun
Socken Stopfen
Hinter der Wand
War ein Versehen
Machen Sie sich locker, Riley
Der FC St. Pauli ist schuld
,
dass ich so bin
Sieben Minuten
Es sieht nicht gut aus
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Ich hab sie gesehen
sie ging die Straße entlang
ihre Lippen waren rot
sie trug ein Kleid
das nicht schön genug war für sie
für ihr Gesicht
für ihren Gang
sie war mehr
sie war eine Idee
sie ging tanzen
ich hab ihr zugesehen
sie hat mich angelächelt
komm doch mit
hab ich gesagt
und sie ist mitgegangen
und sie ist eingeschlafen
und dann haben wir geredet
und ich hab mal was aus ihr gemacht
Der Himmel hängt tief, er sieht aus, als müsse er sich hinlegen. Von der Elbe steigt Nebel auf, zäh und gemein wie eine alte Krähe. Ich schlage meinen Mantelkragen hoch, aber es hilft nichts: Die Feuchtigkeit kriecht mir in die Knochen. Mein Kopf tut weh, ich habe zu wenig geschlafen. Es ist Anfang März, es ist erst halb acht, und zu meinen Füßen liegt ein totes Mädchen. Zwei philippinische Matrosen auf Landgang haben sie gefunden.
Sie liegt auf einer Treppe, die direkt ins Wasser führt. Sie ist nackt, über ihren Hals zieht sich ein Würgemal. Ihre Brüste sind nicht die elegantesten, die man für Geld kriegen kann, aber sie sind ziemlich beeindruckend. Ich frage mich, warum sie so schön da hingelegt wurde und nicht mit dem Gesicht nach unten in der Elbe schwimmt, wie alle anderen Toten auch. Sie trägt eine billige hellblaue Kurzhaarperücke, ich könnte gut eine Tasse Kaffee vertragen.
Die Spurensicherung ist in vollem Gange. Sie haben alles absperren lassen, man darf natürlich nirgendwo hintreten, ich habe mir schon einen ordentlichen Rüffel abgeholt, weil ich hier rumlatsche, aber das ist mir egal, ich muss die Toten sehen, wenn ich mich um sie kümmern soll.
Klick.
Jetzt wird fotografiert.
Sie fotografieren immer wie die Bekloppten, und überall stehen aufgeregte Schilder, als wäre da was total Entscheidendes. Ich kann nichts erkennen. Nur nasses Kopfsteinpflaster.
Einer von den Jungs, ein hagerer Typ mit Vogelnase, fängt an, sich mit dem Hals der Toten zu beschäftigen.
»Wo bleibt die Kripo?«, fragt er.
»Die sind unterwegs«, sage ich.
»Wer hat Mordbereitschaft?«
»Hauptkommissar Faller«, sage ich.
»Die alte Schnarchnase.«
»Hey«, sage ich, »bisschen vorsichtig. Und bis der Faller da ist, bin ich die Kripo, klar?«
»Geht klar, Frau Staatsanwältin.«
Er zieht die Augenbrauen hoch.
Arschloch.
Ich finde, dass der Faller sehr in Ordnung ist. Manchmal vielleicht ein bisschen müde, aber immer da. Und wenn ihm eine Laus über die Leber gelaufen ist, erinnert er mich an Robert Mitchum. Um ihn aufzuheitern, sage ich dann: »Meine Fresse, Faller, sind Sie ein cooler Hund. Wäre ich zwanzig Jahre älter, ich würde Sie vom Fleck weg heiraten.« Seine übliche Reaktion darauf ist, auf den Boden zu schauen, sich eine Roth-Händle anzuzünden und zu sagen: »Ich weiß, Kleines, ich weiß.«
Ich mag ihn wirklich.
»Wie ist sie gestorben?«, frage ich den Spurenmann und versuche am Himmel einzelne Wolken auszumachen.
»Stranguliert«, sagt er, »wahrscheinlich mit Kunststoff, einem Kabel oder so was.«
»Wann?«
»Kann ich noch nicht genau sagen. Vermutlich nach Mitternacht. Genaueres wird dann der Doc wissen.«
»Okay«, sage ich. »Sonst noch was?«
»Oh ja«, sagt er und hebt die Perücke ein kleines Stück an.
Unter der Perücke sind weder Haare noch Haut. Da ist nur verkrustete, blutige Masse. Mir wird auf der Stelle schwindelig.
»Wow, sie wurde …?«
»Genau«, sagt er, »die Lady wurde skalpiert.«
Es gibt ein paar Dinge in meinem Job, mit denen ich nicht so gut klarkomme, und verstümmelte Frauen gehören definitiv dazu. Ich fasse mir in den Nacken und überprüfe meinen Haaransatz. Alles dran. Ich ziehe meinen Mantel fest um die Taille.
»Hören Sie«, sage ich, »ich muss los. Und lassen Sie den Faller in Ruhe, wenn er hier auftaucht.«
Dann sehe ich zu, dass ich Land gewinne. Bloß nicht am Tatort umkippen.
Das Kopfsteinpflaster unter meinen Stiefeln ist feucht und unberechenbar. Mal lieber schön langsam gehen. Ich frage mich, warum ich mir das eigentlich immer antue, diese Tatorte. Vielleicht weil ich lieber draußen als drinnen bin, weil ich noch nicht alt genug bin, um nur schlaue Anweisungen zu geben, und vielleicht auch, weil ich mein Büro in der Staatsanwaltschaft nicht wirklich mag. An guten Tagen kommt es mir vor wie ein Rahmen, an schlechten Tagen wie ein Gefängnis. Vielleicht liegt’s auch nur an der Einrichtung. Ich sollte mich da mal drum kümmern.
Na ja.
Bis sich was geändert hat, gehe ich eben weiter raus. Außerdem bin ich überzeugt davon, dass man das Verbrechen sehen muss, wenn man es bekämpfen will. Man muss wissen, wie das Böse aussieht, damit man es erkennt, wenn es einem über den Weg läuft.
Mein Telefon klingelt. Der Faller ist dran.
»Guten Morgen«, sage ich.
»Scheiß Morgen«, sagt er. »Wo sind Sie, Chas?«
»Auf dem Weg zu Carla.«
»Kaffee?«
»Sie wissen, was eine Frau braucht«, sage ich. »Sind Sie am Tatort?«
»Ja«, sagt er, »gerade angekommen, gemeinsam mit der versammelten Lokalpresse. Die stellen hier alles auf den Kopf.«
»Die sollen sich bloß zurückhalten.«
»Hab ich im Griff«, sagt er. »Was halten Sie von der Perücke?«
»Was halten Sie vom Skalpieren?«
»Schlimm, furchtbar, das arme Mädchen.«
»Glauben Sie, dass sie eine Professionelle war?«
»Keine Ahnung«, sagt er. »Bis morgen Nachmittag sollten wir erste Ergebnisse von der KTU und aus der Gerichtsmedizin haben. Ich würde sagen, wir sehen uns alle so gegen vierzehn Uhr, dann schauen wir.«
»Okay«, sage ich. »Ich werde heute Abend schon mal mit ein paar von den Mädchen am Hans-Albers-Platz reden«, sage ich.
»Danke«, sagt er. »Ich bin zu alt für so was.«
»Schon gut«, sage ich.
Seit einer hässlichen Sache vor ein paar Jahren ist der Faller nicht mehr so gerne auf dem Kiez unterwegs. Ich nehme ihm das nicht übel. Jeder trägt so seinen Scheiß mit sich rum. Ist halt mal blöd gelaufen, war ein Fehler, machen wir irgendwas draus.
»Ich kann auch den Calabretta zu den Mädchen schicken«, sagt der Faller.
Calabretta ist Halbitaliener und Fallers Liebling aus der Mordkommission, ich glaube, Faller will, dass der mal sein Nachfolger wird. Ich hätte nichts dagegen, Calabretta ist ein guter Polizist und ein feiner Typ. Aber mit den Damen vom Strich rede ich trotzdem selbst. Ich höre mich immer gern im Rotlicht um, ich mag die Kiezleute. Ehrliche Nachbarschaft.
»Nö«, sage ich, »ist schon in Ordnung, ich mach das. Wir sehen uns später in der Gerichtsmedizin, ja?«
»Bingo«, sagt er. »Ach, und, Chastity?«
»Ja?«
»Nehmen Sie eine doppelte Ladung Aspirin und legen Sie sich nochmal hin. Sie klingen schrecklich.«
Der Faller macht sich andauernd Sorgen, es könnte mir schlecht gehen. Meistens hat er recht.
Ich nicke, aber das kann er natürlich nicht hören. Er legt auf, und ich bin allein mit meinem Kloß im Hals. Es macht mich fertig, wenn sich jemand um mich sorgt.
Der Hafen tut irre geschäftig. Alle Lichter sind an, überall Geklöter und Geklacker, Kräne hier, Gabelstapler da, große Aufregung. Ich mag es wirklich lieber, wenn die Orte schlafen, und gerade der Hafen ist mir still und bei Nacht irgendwie näher. Wenn der Tag die Lichter nicht mehr verschluckt. Immerhin bricht die Sonne für einen Augenblick durch die Wolken, setzt einen Akzent und blinzelt sympathisch auf die Container runter. Aber dann zieht der Himmel auch direkt wieder zu, die Industrie liegt wieder in grau und ackert vor sich hin. Backbord machen sich zwei vierschrötige Typen an irgendwelchen Kisten auf einer Barkasse zu schaffen. Sie pfeifen mir hinterher; ich habe geahnt, dass sie das tun würden, und zeige ihnen den Stinkefinger.
»Was bist’n so gereizt, Lady?«, sagt der eine.
Und der andere: »Gestern gesoffen, oder was?«
Die müssen hupen. Kennen doch selber jedes Glas der Stadt von innen. Sackgesichter.
Mir ist immer noch kalt. Die Kälte ist wie ein altes Monster, das mich von innen auffrisst. Und es frisst beharrlich, sobald die Außentemperatur unter dreißig Grad fällt. Einmal, vor ein paar Jahren, hab ich Ferien gemacht und bin ans andere Ende der Welt geflogen, da war ich vier Wochen auf Tahiti. Im Reisebüro hatten sie gesagt, es hat dort immer mindestens achtundzwanzig Grad. Sie hatten nicht gelogen. Die Wochen auf Tahiti waren die schönste Zeit meines Lebens. Da war es warm, die Leute rauchten den ganzen Tag Gauloises und tranken Heineken und spielten auf ihren Gitarren, und sie redeten alle französisch, und ich hab nicht mal versucht, etwas zu verstehen. Ich war ganz allein und kein bisschen einsam. Einsam werde ich erst, wenn jemand da ist. In diesem Monat auf der Insel hat mich nicht mal eine Mücke gestochen. Ich hätte ewig so weitermachen können, aber dann fehlte mir doch der Mut, und ich nahm meinen gebuchten Flug zurück in mein Leben.
Manchmal fragen mich die Leute, woher das kommt, dass ich so schnell friere. Ich finde, dass das keinen was angeht.
Carla muss schon eine Weile da sein, der Laden ist warm und aufgeräumt. Die Fensterfront glänzt wie frisch poliert, und die Mischung aus zierlichem weißem Stuck an der Decke, himmelblauen Wänden, wild zusammengewürfelten alten Stühlen, Tischen und Kronleuchtern wirkt wie immer so einladend, dass ich mich frage, wie überhaupt irgendwer an Carlas Café vorbeigehen kann. Sie kommt mir entgegen, mein Gott, sie ist so lebendig. Wenn ich mich hin und wieder frage, was meine Mutter wohl für eine Frau sein mag, dann wünsche ich mir, sie möge so sein wie Carla. Aber eine Frau wie Carla würde niemals ihr Kind verlassen.
Meine Mutter ist abgehauen, als ich zwei Jahre alt war, sie ist mit einem Kollegen meines Vaters durchgebrannt, einem ranghöheren Offizier. Jetzt lebt Ruth Hinzmann in Richmond, Wisconsin, sie schickt manchmal Postkarten, und sie ist in dritter Ehe mit einem Zahnarzt verheiratet. Mehr weiß ich nicht von ihr, und ehrlich gesagt reicht das vollkommen. Inzwischen glaube ich auch, dass es gar nicht so schlecht war, ohne sie aufzuwachsen. Mein Vater und ich waren ein gutes Gespann. Er ist das, was fehlt. Er ist zu früh gegangen, nicht sie.
»Hey«, sagt Carla und küsst mich auf die Wange, »haben sie dich wieder aus dem Bett getreten? Ich mach mal schöne Musik an, ja?«
Ich nicke. Schöne Musik heißt bei Carla traurige portugiesische Musik. Sie sagt oft, Traurigkeit sei doch im Prinzip das Gleiche wie Schönheit, beides würde wehtun, und dann lächelt sie immer, als wäre sie aus Karamell.
Sie hantiert mit der einen Hand an ihrem CD-Spieler und mit der anderen an der Kaffeemaschine.
»Du willst doch Kaffee, oder?«
»Mhm«, sage ich. Carla hat wie immer kaum was an, ein dünnes schwarzes Kleidchen und eine Strickjacke, die ihr bei jeder Bewegung über die nackten Schultern fällt. Meine heißblütige Freundin friert nie. Sie läuft hochtourig, sie reibt sich in einer Tour am Leben, sie weiß nicht mal, was Kälte ist. Es dampft und brodelt und klappert unter ihren Händen, und dann stellt sie mir eine Tasse ihres erstklassigen Kaffees hin.
»Du«, sagt sie, »bevor ich’s vergesse, ich hab da einen Mann für dich getroffen, der wird dir gefallen.«
»Ach ja?«, sage ich.
Carla versucht es tatsächlich immer wieder. Sie macht ständig irgendwelche fabelhaften Verabredungen mit irgendwelchen fabelhaften Typen für mich klar. Zu den Verabredungen erscheine ich dann entweder gar nicht erst, oder ich betrinke mich haltlos und benehme mich so daneben, dass sie sich vor den Flachpfeifen auch noch für mich schämen muss. Aber das perlt an ihr ab, es scheint sie nicht zu stören, und so macht sie immer weiter mit ihrer Kuppelei.
»Ja, er ist GROSSARTIG«, sagt sie. »Weißt du, der ist so ein Anzugträger, aber einer von der guten Sorte. Schöne graue Schläfen, macht irgendwas mit Theater. Und er ist Single.«
»Wenn einer in dem Alter noch allein lebt, ist was faul«, sage ich.
»Du lebst auch allein«, sagt sie.
»Genau«, sage ich, »und bei mir ist jede Menge faul.«
»Er ist verwitwet«, sagt Carla und setzt dabei einen Erdkundelehrerinnen-Blick auf. Dazu das portugiesische Gedudel aus dem Lautsprecher über mir. Sie weiß genau, wie sie mich weich kriegt.
»Okay«, sage ich. »Wann?«
»Heute Abend. Er kommt hierher. Und wenn ich den Laden dann um zehn zumache, könnt ihr noch schön woanders hingehen. Ein Ortswechsel ist immer gut bei ersten Dates. Das nimmt den Druck raus, weißt du?«
Meine Freundin hat echt einen Knall.
»Heute Abend kann ich nicht«, sage ich. »Am Hafen liegt eine Tote, und ich muss mich ein bisschen auf dem Strich umhören.«
»Oh, scheiße, Baby. Schlimm tot?«
»Ein Mord ist immer schlimm, Carla.«
»Ja, klar, aber ist sie einfach nur tot oder auch heftig zugerichtet?«
Für Carla ist mein Job ein einziger großer Samstagabendfilm.
»Richtig heftig zugerichtet. Sie ist nackt und hat keinen Skalp mehr, dafür aber eine blaue Perücke auf dem Kopf.«
»Wie abgefahren …« Carla macht große Augen und große Brüste.
»Carla!«
»Entschuldige«, sagt sie. »Aber warum musst du auch immer solche entsetzlichen Fälle haben?«
»Das liegt daran, dass ich für entsetzliche Fälle zuständig bin, Carla.«
»Willst du was essen?«, fragt sie.
»Nein«, sage ich. »Lieber nicht.«
Carla hat mich zu Schinkentoast gezwungen. Manchmal wünsche ich mir, sie würde endlich ein Kind bekommen, dann wäre ich aus der Fürsorge raus. Mir ist immer noch schlecht, und so langsam kommt auch der Kater an, den ich letzte Nacht bestellt habe. Meine Hände zittern, und der Schmerz in meinem Kopf hat eine Tonspur bekommen. Geschieht mir recht, ich habe mich nicht an den Rat meines Vaters gehalten. Er hat mir alles beigebracht, was er für wichtig hielt, unter anderem, dass Alkohol durchsichtig sein muss. Ich weiß auch nicht, warum es gestern unbedingt dieses dunkle Zeug mit der Eidechse auf der Flasche sein musste. Mir war einfach danach, und mein Tresennachbar mochte es auch, und nach drei Gläsern sagte er: »Ich wär dann so weit.«
»Wie weit?«, fragte ich.
»Wir können jetzt reden«, sagte er. Gegen halb vier war alles gesagt und die Pulle leer.
Jetzt kann ich das Schlüsselloch nicht finden und frage mich, wann dieser idiotische Hausmeister endlich die Treppenhausbeleuchtung reparieren will.
»Na sowas, meine Lieblingsnachbarin.«
Klatsche sitzt auf der schmuddeligen Holztreppe und spielt den Gigolo.
»Na sowas, wo kommst du denn plötzlich her?«
Seine struppigen dunkelblonden Haare könnten mal wieder einen Schnitt gebrauchen, sie fallen ihm in die Stirn. Sein junges Gesicht trägt Spuren von viel zu früh erwachsen, und er ist wie immer von Herzen unrasiert. Er verbringt einen Großteil seiner Zeit damit, Frauen um den Verstand zu bringen, und das macht er ziemlich gut, der kleine Ganove. Klatsche hat eine amtliche Gaunerkarriere hinter sich. Mit vierzehn ist er zum ersten Mal irgendwo in Blankenese in eine Villa eingestiegen, Mutprobe. Das ist ihm so leichtgefallen, dass er es von da an öfter gemacht hat, und mit sechzehn verdiente er gutes Geld damit, in der Garage seiner ewig besoffenen Eltern Geräte zu verkaufen – Fernseher, Stereoanlagen, Computer, alles vom Lastwagen gefallen. Als er siebzehn war, haben sie ihn dann zum ersten Mal geschnappt, er hatte eine Alarmanlage übersehen. Ein halbes Jahr später nochmal, da ging es um einen Container mit Kompaktanlagen, irgendwer hatte ihn verpfiffen, und das dritte Mal erwischten sie ihn, als er gerade dabei war, ein Lager mit Fotokopierern auszuräumen – allein. Er war übermütig geworden, wollte zum gefeierten Einbrecherkönig werden. Sie brummten ihm neun Monate auf. Danach hatte er die Schnauze voll vom Verbrecherleben. Und er bekommt seitdem sofort Beklemmungen, wenn er hinter einer geschlossenen Tür sitzt. Er sagt immer, dass der Knast die schlimmste Zeit seines Lebens war, dass er da nie wieder hinwill, unter keinen Umständen, dass er lieber sterben würde, als nochmal in den Bau zu wandern. Er hörte also auf mit der Einbrecherei und machte einen Schlüsseldienst auf. Sein Laden läuft spitze. Es gibt einfach niemanden, der schneller, billiger und mit mehr Freude jedes Schloss knackt.
»Und warum, bitte, sitzt du hier rum?«
»Ich hab meinen Schlüssel verloren.«
»Hör mal, Klatsche«, sage ich, »es gibt keine Tür der Welt, die du nicht aufkriegst …«
Er grinst und zuckt mit den Schultern.
»Ach, nee«, sage ich.
»Doch«, sagt er.
»Unser Mister Superschlüsseldienst ist ohne sein Werkzeug aus dem Haus gelaufen?«
»War ein echter Notfall.«
Ich weiß, wie seine Notfälle aussehen: blond, knapp über zwanzig, auffällige Statik im Brustbereich.
»Da sind jetzt aber alle ganz furchtbar froh, dass die nette Nachbarin einen Zweitschlüssel in ihrer Bude hat, hm?«
Klatsche nickt. Er hat seine Ausgehlederjacke an, ein ranziges braunes Ding mit kaputtem Reißverschluss, und er sieht auch sonst so aus, als wäre er heute noch nicht unter der Dusche gewesen. Notfall eben.
»Na dann«, sage ich, nachdem ich es endlich geschafft habe, meine Tür aufzuschließen. »Komm rein.«
Klatsche schält sich von der Treppe, steht auf, an der Schwelle zu meiner Wohnung wartet er drei Sekunden und schaut mich an.
»Schon okay«, sage ich.
Er steckt die Hände in die Hosentaschen und macht einen lächerlich vorsichtigen Schritt in meinen Flur. Ich gehe wortlos an ihm vorbei in die Küche. Klatsche war zum letzten Mal vor einem halben Jahr in meiner Wohnung. Seitdem ist ihm der Zutritt eigentlich streng verboten. Denn an jenem Tag landete er aus Gründen, an die ich mich nicht mehr erinnern kann, in meinem Bett, und wir sind da dann für vierundzwanzig Stunden nicht rausgekommen. Nicht, dass es nicht schön gewesen wäre, ganz im Gegenteil. Aber danach konnte ich tagelang nicht denken, nicht schlafen, nicht arbeiten, es hat mich aus der Spur geworfen. Das hat mir Angst gemacht, und Angst kann ich nicht gebrauchen. Außerdem ist der Typ locker fünfzehn Jahre jünger als ich.
Na ja.
Ich habe das Gefühl, dass wir inzwischen drüber weg sind, also will ich mal nicht so sein.
Er steht in der Küchentür, tippt mit dem Finger an den Türrahmen, als würde er sich verbrennen, und macht: »Tsss …«
»Hör auf mit dem Scheiß, Klatsche, sonst fliegst du gleich wieder raus. Ich könnte deine Mutter sein.«
»Bist du aber nicht, Baby.«
»Nenn mich nicht Baby.«
»Was ist denn passiert?« Er lässt sich breitbeinig auf einen Stuhl fallen, ich kann sehen, wie sich die Muskeln unter seiner Jeans spannen. Draußen vor meinem Küchenfenster stapeln sich schon wieder die Wolken und rutschen nochmal ein Stück tiefer, sie liegen fast schon im Hinterhof rum. Ich erzähle ihm von dem toten Mädchen, während ich Kaffee mache. Von der Perücke und dem, was darunter, oder besser: nicht darunter war.
»Das war traurig«, sage ich.
»Trauriger als der Opa ohne Füße vom letzten Winter?«
»Ja«, sage ich, »viel trauriger. Das mit den Füßen war eine klare Sache unter Albanern. Der Opa wurde bestraft, weil er wissentlich in deren Revier rumgelatscht ist. Das hier wirkt nicht so, als hätte es mit nicht eingehaltenen Absprachen zu tun. Das muss was anderes sein. Was Krankes. Wer klaut einer Frau Haut und Haare?«
»Gib Laut, wenn du Hilfe brauchst«, sagt er.
Ich könnte Hilfe brauchen, denke ich, nur anders, als du meinst, aber das sage ich lieber nicht, das gibt nur Schwierigkeiten. Wenn ich gerade eine Leiche hinter mir habe, geht’s mir nicht gut. Mit einer Leiche vor der Nase hört man augenblicklich auf, sich was vorzumachen, und begreift: Das kann alles ganz schnell kaputtgehen. Fühl dich nicht zu sicher, ist alles nur Einbildung, und auch wenn du glaubst, in deinem Leben sind die Katastrophen alle schon passiert, kann es immer noch schlimmer kommen. Das Einzige, was du dann noch tun kannst, ist, niemanden mit reinzuziehen.
Ich bemühe mich, nicht zu sehr auf Klatsches Unterarme zu starren.
»Hier«, sage ich und stelle ihm etwas ruppig eine Tasse Kaffee vor die Nase.
Ich muss zusehen, dass er möglichst schnell wieder aus meiner Wohnung verschwindet. Ich hab mich wohl überschätzt.
Früher, wenn mein Vater mich in den Keller geschickt hat, hab ich immer leise vor mich hin gesungen. Gerade so laut, dass ich noch hätte hören können, wenn von links ein Buckliger ohne Gesicht aufgetaucht wäre, aber laut genug, um den Monstern etwas vorzugaukeln. Auf dem Weg in die Gerichtsmedizin würde ich auch ganz gern singen.
Der Faller ist hinter mir auf der Treppe.
»Showtime!«
»Geisterbahn«, sage ich und bleibe kurz stehen, bis wir gleichauf sind.
»Wie geht es Ihnen?«, fragt er und sieht mich prüfend an. Der macht sich schon wieder Sorgen.
»Ich bin müde«, sage ich. »Und nicht in der Stimmung für eine zweite Begegnung mit einer verstümmelten Frau.«
»Ja«, sagt er, »irgendwie wirken sie auf den Metallpritschen noch bedrohlicher.«
»Wenn man sie zum zweiten Mal gesehen hat, kann man ihren Anblick noch viel schlechter vergessen. Haben Sie schon mit den beiden philippinischen Matrosen gesprochen?«
»Ja«, sagt der Faller. »Die tun so, als würden sie unter Schock stehen, und kriegen das Maul nicht auf. Aber ich glaube sowieso nicht, dass die irgendwas wissen könnten, was uns interessiert. Die wirken nicht so, als hätten sie das Kaliber, nach dem wir suchen. Außerdem läuft ihr Frachter heute Abend wieder aus, und es gibt nicht wirklich einen Grund, sie hier festzuhalten.«
Der Faller nun wieder. Ich denke, er hat recht und vertraue seinem Urteil. Der alte Mann wird schon wissen, wie er die Situation einzuschätzen hat.
»Und was sagen die Kollegen von der Spurensicherung?«
»Eine Menge«, sagt der Faller. »Mit dem Ergebnis, dass wir keinen einzigen brauchbaren Hinweis auf den Täter haben, nicht mal eine Fußspur. Hat ja letzte Nacht wieder mal Katzen und Hunde geregnet. Der Typ hatte echt Glück mit dem Wetter.«
»Was macht Sie so sicher, dass unser Mörder ein Mann ist?«, frage ich.
»Jemanden zu erdrosseln«, sagt er, »ist nicht gerade Frauensache, oder?«
Wir gehen nebeneinander die letzten Stufen runter, und je weiter wir nach unten kommen, desto steriler und glatter wird alles, die grauen Treppen und Wände wirken so rutschig, als könne man, einmal dort unten, jeden Gedanken daran vergessen, es jemals wieder nach oben zu schaffen.
»Alles in Ordnung?«, fragt der Faller.
»Ja«, sage ich, »alles okay.«
Vor uns liegt die Stahltür zur Gerichtsmedizin, dahinter ist der Kunststoffvorhang, und ist das, was von einem Verbrechen bleibt. Ich würde mich gern bei ihm einhaken, traue mich aber nicht.
Tür auf, Vorhang beiseite, Totentanz.
Der Doc wäscht sich gerade die Hände. Irgendwann mache ich mal mit und wasche mir dann auch direkt die Nase aus, wenn ich hier fertig bin. Dieses Desinfektionsmittel, nach dem es in den Klinikkatakomben riecht, macht mich ganz zappelig. Süß und zitronig, umgekippter sizilianischer Likör plus Domestos. Und einmal gerochen, verlässt es einen den ganzen Tag nicht. Egal, was ich danach essen oder trinken will, es schmeckt nach Obduktion. Meistens nehme ich nach einem Besuch in den Kellern der Uniklinik erstmal nichts mehr zu mir.
Der Raum ist komplett gefliest und in einen grünen Schimmer getaucht. Das Mädchen liegt unter Neonlicht auf dem furchtbar hohen Seziertisch. Ihre Haut ist ganz weiß, fast durchsichtig. Rund um ihren Hals verlaufen die Spuren ihrer tödlichen Begegnung mit einem Strangulierwerkzeug, ein Stückchen weiter unten ziehen sich parallel und im rechten Winkel dazu zwei fein vernähte, leicht rötliche Linien. Eine verläuft entlang ihrer Schlüsselbeine, eine von der kleinen Kuhle unter ihrem Kehlkopf bis zu ihrem Schambein. Aufgemacht, zugemacht. Die hellblaue Perücke liegt auf einer Ablage zwischen Waschbecken und Tisch, in eine Gefriertüte gepackt. Ihr Gesicht ist hübsch, jung und wirkt fast ein bisschen kess. Ich schätze, sie war maximal Mitte zwanzig. Ihr Schädel ist eine einzige Katastrophe. Ich kann kaum hinsehen.
»Schießen Sie los, Doc«, sagt der Faller.
So ist das mit unserer Aufgabenverteilung: In der Gerichtsmedizin redet grundsätzlich er, während ich versuche, nicht umzufallen.
»Der Tod trat zwischen zwei und vier Uhr ein«, sagt der Doc. »Sie wurde erwürgt und hat sich vermutlich kaum gewehrt. Wir haben fast keine Hautpartikel unter ihren Fingernägeln, nichts, was auf einen Kampf hindeutet. Aber sie war auch bis obenhin voll mit Medikamenten, eine wehrhafte Frau ist was anderes. Skalpiert wurde sie erst, als sie schon tot war, der Täter hat es vermutlich mit einer kleinen, scharfen Klinge gemacht. Und sie ist nicht da gestorben, wo ihr sie gefunden habt. Wir müssen aber noch ein paar Analysen machen und schreiben euch das dann für morgen zusammen.«
Ich werfe nochmal einen Blick auf den Schädel des Mädchens und kann plötzlich wieder ganz genau schmecken, was ich gefrühstückt habe. Ich hoffe, der Schinkentoast bleibt, wo er ist.
Der Nebel von heute morgen hat sich im Laufe des Tages und Abends in bösartigen Nieselregen verwandelt, die Sonne hat es wieder mal nicht geschafft. Es ist kurz nach neun. Die Mädchen stehen in einer Reihe, jede hat ihren ganz persönlichen Quadratmeter, und sie tragen ihre Winteruniform: Skihosen, dicke Anoraks in Bonbonfarben und Moonboots. Das Zeug sitzt eng, um die Taille haben sie Bauchtaschen gebunden, da ist ihre Arbeitsausrüstung drin. Geld, Schlüssel, Telefon und Kondome. Hinter ihnen liegt der Hans-Albers-Platz mit seinen Amüsierläden, die seit Jahren die gleiche Kombination aus schneller Trinkmusik und alten Schlagern anbieten und in denen sich am Wochenende halb Pinneberg die Langeweile wegsäuft. In den Gesichtern der Mädchen blinkt die Sex-Reklame von der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich frage mich immer, wer ihnen eigentlich diesen Blick beibringt, diese Mischung aus Verführung und Zurückweisung. Der Blick ist wichtig. Er stellt das richtige Machtverhältnis zwischen den Huren und ihren Kunden her: Du spurst und zahlst im Voraus, sonst darfst du nicht ran. Aber wenn du ran darfst – dann …
Suza und Danila stehen hier schon seit Ewigkeiten. Sie wollen im Herbst aufhören, haben mir mal irgendwas von einem gemeinsamen Sonnenstudio erzählt. Suza trägt apfelgrün, Danila rosa, auf ihren quietschblonden langen Haaren sitzen schwarze Wollmützen. Sie versuchen sich warm zu halten, indem sie auf der Stelle treten. Kleine Cowboy-Bewegungen.
»Hey, guten Abend«, sage ich.
»Moin.«
»Na?«
»Wie laufen die Geschäfte?«, frage ich.
»Och«, sagt Suza, »muss ja.«
Danila: »Und selbst?«
»Ich muss euch was fragen«, sage ich. »Habt ihr kurz Zeit?«
Nicken.
Ich ziehe ein Foto von der Toten aus meiner Manteltasche, das am Tatort gemacht wurde. Eins mit Perücke. Sollten sie wissen, wer sie war, wird der Schreck eh groß genug sein.
»Kennt ihr die?«
Danila nimmt mir das Bild aus der Hand und schüttelt den Kopf. Ich glaube ihr sofort. Wenn diese Mädchen was haben, dann ein Gefühl fürs Wesentliche.
Suza verlegt ihren Posten um genau zwanzig Zentimeter, damit sie auch mal einen Blick drauf werfen kann. »Das heißt ja auch wohl eher ›kanntet‹, oder?«, sagt sie.
»Wo haste das Mädchen denn her?«, fragt Danila.
»Hafen«, sage ich. »Heute früh.«
Suza schaut sich das Foto eine ganze Weile an. »Also, hier hat sie zumindest nicht gearbeitet. Noch nie gesehen.«
»Auch nicht in der Davidstraße?«, frage ich.
»Nö«, sagt sie.
»Bist du sicher?«, frage ich.
Suza nickt. »Ganz sicher.«
Ich stecke das Bild wieder ein.
»Wo könnte sie denn sonst noch gearbeitet haben?«, frage ich. »Gibt’s irgendwas neues Aufregendes für Einsteigerinnen?«
»Ich finde, sie hat ein Tänzerinnengesicht«, sagt Danila.
»Ja«, sagt Suza, »solche wie die stehen eher an der Stange als auf der Straße. Ich würde mich an deiner Stelle mal in ein paar Tanzschuppen umhören.«
Sie schaut zum Fenster links über ihrem Kopf. Im ersten Stock macht sich jemand an der Gardine zu schaffen. Man beobachtet uns.
»Ruft ihr mich an, wenn ihr was hört?«
Die Frauen nicken wieder.
»Danke«, sage ich. »Und sonst? Alles okay bei euch? Braucht ihr irgendwas?«
»Alles in Ordnung«, sagt Danila. »Könnte langsam mal’n bisschen wärmer werden.«
Wem sagt ihr das.
»Haste Zigaretten da?«, fragt Suza.