Hundert Himmel - Astrid Ruppert - E-Book

Hundert Himmel E-Book

Astrid Ruppert

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Beschreibung

Eine wunderschöne und bewegende Geschichte von Zio, der so ganz anders ist als seine Artgenossen

Zio, der Zilpzalp, singt viel lieber, als sich auf den großen Flug durch die Hundert Himmel vorzubereiten. Davon ist nicht jeder begeistert, seine Freunde nicht und schon gar nicht der Älteste der Vögel. Weiß er doch, dass nur die stärksten und geübtesten Vögel den großen Flug überstehen. Und im Wald überwintern? Das ist noch keinem Zilpzalp gelungen. Was wird aus Zio, der doch nichts anderes will, als seinem Traum der Hundert Lieder zu folgen?

Dieser wunderschöne, Mut machende Roman erzählt von Träumen, Begabungen und der Möglichkeit, seinen eigenen Weg zu finden. Astrid Ruppert beschreibt in stimmungsvollen und farbenfrohen Bildern die bewegende Geschichte von Zio, der so ganz anders als die anderen Zilpzalpe ist.

»Die Autorin ist ein Ausnahmetalent unter Deutschlands Schriftstellerinnen.« literaturmarkt.info

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Inhalt

Zio, der Zilpzalp, singt viel lieber, als sich auf den großen Flug durch die Hundert Himmel vorzubereiten. Davon ist nicht jeder begeistert, seine Freunde nicht und schon gar nicht der Älteste der Vögel. Weiß er doch, dass nur die stärksten und geübtesten Vögel den großen Flug überstehen. Und im Wald überwintern? Das ist noch keinem Zilpzalp gelungen. Was wird aus Zio, der doch nichts anderes will, als seinem Traum der Hundert Lieder zu folgen?

Dieser wunderschöne, Mut machende Roman erzählt von Träumen, Begabungen und der Möglichkeit, seinen eigenen Weg zu finden. In stimmungsvollen und farbenfrohen Bildern erzählt Astrid Ruppert die bewegende Geschichte von Zio, der so ganz anders ist als die anderen Zilpzalpe.

Autorin

Astrid Ruppert arbeitete nach dem Studium der Literaturwissenschaft mehrere Jahre als Producerin und Redakteurin für das Fernsehen. Ihr erster Roman, die Weihnachtsgeschichte Obendrüber da schneit es, erschien 2009. Seitdem sind von ihr zahlreiche erfolgreiche Romane und Geschichten erschienen. Sie lebt als freischaffende Schriftstellerin und Drehbuchautorin auf dem Land.

»Die Autorin ist ein Ausnahmetalent unter Deutschlands Schriftstellerinnen. Ihren Worten erliegt man ab dem ersten Satz.«

literaturmarkt.info

»Mit viel Lust am Erzählen verleiht die Autorin Astrid Ruppert ihren Romanfiguren Identität.«

Evangelische Sonntags-Zeitung

Für Börries, der mir Mut macht, mein eigenes Lied zu singen.

INHALT

Die Geschichte beginnt

Frühling

Die Stimme finden

Wer darf ich sein?

Spinner

Ein guter Zilpzalp

Sommer

Zios Geheimnis

Entdeckungen

Erkenntnisse

Sehen lernen

Herbst

Veränderung

Aufbruchstimmung

Entscheidung

Allein

Winter

Stürme

Frost

Gefährliche Begegnung

Und wieder wird es Frühling

Zios Lieder

Frühlingslieder

Sommerlieder

Herbstlieder

Winterlieder

DIE GESCHICHTE BEGINNT

Der Frühling naht, und der alte Wald erwacht. Obwohl nur wenig Licht in das Dickicht aus Farnen und niedrigem Gestrüpp unter der mächtigen Buche fällt, tastet sich der Frühling auch hier heran. Im Schutz der vertrockneten, hellbraunen Farnwedel, die sich über die Wintermonate zu einer Decke verdichtet haben, haben Zilpzalpe ihr Nest gebaut, wie jedes Jahr. Bis die jungen Vögel flügge werden, ist diese Dämmerwelt alles, was sie kennen. Nur wenn die Sonne am Mittag hoch am Himmel steht, zeichnet sie zarte Gittermuster auf den Boden und verstärkt den Duft der trockenen Farne und ihrer süßen Samen. Hier hören sie die Töne des Waldes wie ferne Musik. Lockgesänge der Rotkehlchen und rhythmische Kuckucksrufe, Gezeter streitender Eichelhäher, Warnrufe der Finken, die Lieder der Braunellen, die einsame Melodie einer Amsel am Abend.

Zio, der junge Zilpzalp, der in seinem Nest dem Konzert lauscht, wird sich daran später nicht mehr genau erinnern können. Aber vielleicht wird die Erinnerung ihn gelegentlich heimsuchen wie ein altvertrautes Gefühl. Wenn die Dämmerung hereinbricht und das Licht Schattenmuster malt, wenn er der wilden Sinfonie des Waldes lauscht, die um ihn herum auf- und abschwillt.

Wie jedes Jahr verlassen die jungen Zilpzalpe ihr schützendes Nest am Boden. Wie jedes Jahr spüren sie, dass sie Beine haben, um zu hüpfen, und Flügel, um zu fliegen, und eine Stimme, um zu singen. Sie spüren, dass nun die gemeinsame Vorbereitung beginnt auf das Ereignis, das alle Zilpzalpe des Waldes vereinen wird. Der große Flug gen Süden, der sie durch die Hundert Himmel führen wird.

FRÜHLING

Die Stimme finden

Zio sitzt auf seinem Lieblingsplatz in der ehrwürdigen alten Buche und betrachtet den Wald, der ihn umgibt. Wohin er auch schaut: Alles ist voller Grün, voller Licht. Hier könnte er stundenlang sitzen und seinen Blick schweifen lassen. Von den ausladenden Ästen der Buche schaut er hinüber zu dem hellen Birkenhain, dann blickt er hinab zu den Buschwindröschen, die Punkte auf den Waldboden tupfen, zu dem blühenden Weißdorn, dessen schwerer Duft durch den Wald weht. Der Wald ist so schön, dass er sich gar nicht sattsehen kann.

»Zio! Was sitzt du denn hier herum? Komm jetzt, wir haben Flugstunde und wollen üben!«

Zack und Zett flattern zur alten Buche, um Zio abzuholen. Doch Zio macht überhaupt keine Anstalten, zusammen mit ihnen loszufliegen. Im Gegenteil. Er legt den Kopf schief und schaut seine beiden Freunde fragend an.

»Schon wieder üben?«

»Die anderen warten schon.«

»Wir haben doch gestern den ganzen Tag geübt.«

Zio hat wenig Lust, schon wieder zu trainieren.

»Hochflug und noch mal Hochflug. Und heute sind wir auch schon wieder den ganzen Tag geflogen. Tiefflug, Tiefflug, Tiefflug.«

»Aber jetzt ist Hindernisflug dran. Der macht Spaß! Jetzt komm endlich mit, Zio!«

Zack ist der ungeduldigste Zilpzalp des ganzen Waldes und flattert einfach los, um sich zu den anderen Vögeln zu gesellen, die es wie er kaum abwarten können, weiter zu trainieren. Seufzend schaut Zett ihm nach.

»Zack muss lernen, sich nicht immer gleich völlig zu verausgaben. Und du solltest jetzt wirklich mitkommen, sonst verpasst du etwas.«

Zio nickt, er weiß ja, dass die Schwarmältesten darauf bestehen, dass alle Vögel die Übungen mitmachen, auch wenn er lieber hierbleiben würde, um die Frühlingswelt zu betrachten. Was verpasst er schon bei den Übungen, das sich nicht auch ein anderes Mal nachholen ließe? Aber wie die Knospen des Scharbockskrauts aufblühen, das darf er sich auf keinen Fall entgehen lassen. Denn dieser kostbare Augenblick lässt sich nicht wiederholen. Zio schaut noch einmal hinunter, wo die glänzenden Knospen des Krautes nur darauf warten aufzubrechen. So gerne würde er dabei zuschauen, wie sich eine Sternblüte öffnet. Er ist hin- und hergerissen. Doch dann bemerkt er Zetts auffordernden Blick. Nun gut, dann fliegt er eben mit. Schweren Herzens hebt Zio die Flügel und verabschiedet sich von seinem Lieblingsplatz in der Buche, um seinen beiden Freunden zu folgen. Zum Glück, so tröstet er sich, kann er nach den Übungen wieder hierher zurückkommen. 

Zusammen mit seinen Freunden und den anderen jungen Zilpzalpen des Waldes fliegt Zio los. Sie flattern um die Wette durch den lichten Birkenhain, sie segeln durch die Äste der mächtigen Eiche, die am anderen Rand des Wäldchens steht, sie üben, in dichte Hecken und Büsche hineinzufliegen, ohne hängen zu bleiben. Die alten Zilpzalpe begleiten die jungen Vögel bei ihren Übungen, beobachten ihre Flugmanöver und geben ihnen Ratschläge, durch die sie ihre Fertigkeiten verbessern können. Zett übertrifft meistens alle und gewinnt so gut wie jeden Wettflug. Aber der unermüdliche Zack hat wahrscheinlich am meisten Spaß, auch wenn bei ihm vieles schiefgeht. Eine Bruchlandung, ein Fehlstart, ein Beinahe-Absturz: Was auch geschieht, Zack schüttelt unbekümmert sein Gefieder und probiert alles noch einmal. Immer wieder. Und dann noch mal.

Zio ist nur halbherzig bei der Sache. Während er seine Freunde beobachtet, wünscht er sich im Stillen, er könne ebenso unbekümmert drauflosfliegen wie Zack oder alle Aufgaben so tadellos bewältigen wie Zett. Aber er bekommt es einfach nicht hin. Zio strengt sich wirklich an. So gerne würde er mit den anderen mithalten, aber während es Zett scheinbar mühelos gelingt, alle Flugübungen zu meistern und sich immer wieder an die Spitze zu setzen, landet Zio bei den Wettkämpfen oft weit hinten. Denn es gibt immer etwas, das ihn ablenkt. Wenn die blühenden Schlehenbüsche wie duftende Wolken vor ihm auftauchen, vergisst er, die Flügel eng am Körper zu halten. Er achtet nicht darauf, seine Schwungfedern auszurichten, wenn er hört, welch abwechslungsreiche Melodien die Meisen singen können. Die Welt ist doch viel zu schön, um sich stets nur auf die perfekte Flügelstellung zu konzentrieren. So viel zu sehen, so viel zu hören! Gerade als Zio erneut versucht, durch eine früh belaubte Hainbuche hindurch zu flattern, vernimmt er einen Gesang, der ihn innehalten lässt.

Was für ein schönes Lied, denkt Zio, und verharrt zwischen den jungen Blättern des kleinen Baumes, um besser zuhören zu können. Ein Rotkehlchen lässt nur wenige Zweige von ihm entfernt seinen virtuosen Gesang ertönen. Klar wie das Wasser des Baches klingt die Stimme. Lustig hüpfen die Töne auf und ab, wie die Knospen der Birkenblätter im Wind, wandeln sich zu einem tiefen Schnalzen, bis sie wieder in die Höhe steigen, als wollten sie den Himmel berühren. Gebannt lauscht Zio dem betörenden Lied, in dem der ganze Frühling erklingt. Die anderen Zilpzalpe bemerken indessen gar nicht, dass Zio plötzlich fehlt, und ziehen weiter. Erst als das Lied zu Ende ist und das Rotkehlchen verstummt, bemerkt Zio, dass er seinen Schwarm verloren hat. Aber das ist ihm in diesem Augenblick gleichgültig, denn dieser Gesang fasziniert ihn. Das Rotkehlchen hat Zio nun entdeckt und schaut ihn herausfordernd an.

»Was willst du hier? Das ist mein Revier.«

»Ich habe dir zugehört, das war ein sehr schönes Lied.«

Das Rotkehlchen legt den Kopf schief. »Das war ein normales Lied.«

»Nein, das war ganz besonders schön.«

»Es war ein normales Rotkehlchenlied, wie wir es alle im Frühling singen. Wie ist denn euer Frühlingslied?«

Zio öffnet den Schnabel und singt das Zilp und das Zalp, das seiner Familie den Namen gegeben hat. Dabei versucht er, die Töne besonders eindrucksvoll klingen zu lassen. Zilp-Zalp, Früh-ling, Zilp-Zalp.

»Und etwas anderes singt ihr nicht? Immer nur Zilp und Zalp?«

Zio nickt.

»Ja, das ist unser Lied, mal länger, mal kürzer, mal höher, mal schneller, aber ja, du hast recht: Wir singen immer nur Zilp und Zalp.«

Das Rotkehlchen nickt höflich. »Aha.«

Mehr hat es nicht zu sagen zu Zios kleinem Lied. Während Zio weiterfliegt, um wieder den Anschluss an seinen Schwarm zu finden, wünscht er sich sehnlich, Zilpzalpe hätten auch andere Töne. Er wünscht sich, er könne singen wie ein Rotkehlchen.

Als Zio am Abend nach den langen Übungsflügen endlich seinen Platz in der Buche wieder einnimmt, sieht er, dass fast alle Knospen des Scharbockskrauts aufgeblüht sind, während er mit den anderen neue Flugtechniken geübt hat. Der milde Frühlingstag hat dafür gesorgt, dass ihm nun unzählige kleine Sterne entgegenleuchten. Er segelt hinunter, und obwohl er traurig ist, dass er nicht dabei war, als die Knospen sich öffneten, tröstet ihn der würzige Duft der sattgelben Sternblüten.

Tag für Tag üben die Zilpzalpe Flugmanöver, kräftigen ihre Flügel, trainieren kurze und lange Strecken. Tag für Tag wird Zio zum Üben gerufen, und jeden Tag fällt es ihm schwerer, echte Begeisterung dafür aufzubringen. Es gibt so viel zu sehen. Warum soll er mit den anderen durch den Wald jagen, wenn er doch hier in seiner Buche sitzen kann, wo die weichen, hellgrünen Buchenblätter sich langsam entfalten und ihre zarten Härchen im Sonnenlicht schimmern lassen? Und es gibt so viel zu hören. Die schrillen Rufe der kleinen Meisen, das Lied des Buchfinks, das Rauschen des Windes, das in den jungen Birken ganz anders klingt als in den alten Eichen.

Zios Freunde können jedoch nicht verstehen, was ihm daran gefällt. Zack kann sich nicht vorstellen, auch nur einen Kuckucksruf lang still zu sitzen.

»Ich würde vor Langeweile tot vom Ast fallen!«

»Und ich könnte es nicht aushalten, dass die anderen ohne mich trainieren und immer besser werden.« Zett möchte Zio dazu bewegen, eine Runde mitzufliegen. Doch Zio schüttelt den Kopf. Er will lieber nicht fliegen und versucht seinen Freunden zu erklären, warum das bei ihm ganz anders ist.

»Für mich gibt es nichts Langweiligeres, als Flügelstellungen zu üben, und ich kann es kaum aushalten, nicht mitzubekommen, was im Wald passiert, während ich übe und übe …«Zack und Zett schauen sich ratlos an und fliegen ohne Zio davon.

Zio schaut seinen Freunden hinterher, die sich mit dem Schwarm zu einem Flug in die tief stehende Sonne verabredet haben. Er ist heilfroh, dass er hierbleiben kann und nicht mitfliegen muss. Endlich kann er in Ruhe den wunderbaren Frühlingswald betrachten, der ihn umgibt. Wie schön das ist! Zio hört das sanfte Rauschen der Bäume und spürt, wie der Wind sein Gefieder streift. Er sieht, wie die Strahlen der tief stehenden Sonne in das Blattwerk fallen, wie Licht und Schatten ihn umtanzen. Zio sitzt inmitten einer flirrenden Kuppel von leuchtendem Grün. In seiner Brust breitet sich ein Gefühl aus, das er nicht kennt. Ein Gefühl, das schöner ist, als mit den anderen zu fliegen. Er spürt eine Fülle in sich, etwas, das größer ist als er. Am liebsten würde er jubeln, denn das schöne Gefühl will schier aus seiner Brust herausfahren. Er öffnet den Schnabel, und ein heller Ton entfährt seiner Kehle. Und noch ein Ton. Sein Ruf mischt sich ins Rauschen der Blätter und in das abendliche Gezwitscher der anderen Vögel. Zios Stimme klingt mit einem Mal besonders voll, und die Töne, die er in diesem Moment in seiner Kuppel aus Blättern und Licht singt, machen ihn glücklich. Er singt sie in den Wald hinein und freut sich an dem satten Klang. So schöne Töne hat Zio noch nie gesungen! Und noch während er singt, passiert etwas Ungewöhnliches. Zwischen all seinen Zilps und Zalps fällt Zio mit einem Mal ein neuer Ton ein. Ein Ton, den noch kein Zilpzalp vor ihm gesungen hat und der genau in seine Buche passt, deren lichte Blätter ihn umflirren. Vorsichtig versucht er, ihn aus seiner Kehle rollen zu lassen. Erst zittert der Ton und ist bei Weitem nicht so, wie er ihn sich vorgestellt hat. Immer wieder versucht er, diesen Ton zu singen, den er in seiner Vorstellung doch schon hören kann. Geduldig probiert er es so lange, bis er ihn gefunden hat. Den einen Ton, der diesen Augenblick perfekt einfängt. Er ist hell, rund und sehnsüchtig und umfasst alles. Er singt ihn immer wieder, und je öfter er den neuen Ton anstimmt, desto besser gefällt er ihm. Kaum ist er ihm gelungen, hört er schon einen weiteren Ton. Und dann noch einen. Einen Ton nach dem anderen spürt Zio in sich aufsteigen, und er probiert, sie alle zu singen. Immer mehr neue Töne perlen nun aus seiner Kehle und formen sich zu einer Melodie. Sein Gesang ist mehr als ein Zilp und ein Zalp, er singt alles, was er in sich fühlt. Zio singt das Grün, er singt das gleißende Licht und die Blätter, das Flirren, die Sonne, den hohen blauen Himmel. Immer neue Melodien singt er hinaus in den Wald, der nun von seinem Gesang widerhallt. Mit jedem Ton fühlt er sich dem Wald mehr verbunden. So klein Zio auch ist, in diesem Moment ist er so weit, wie seine Stimme fliegt, und der ganze Wald klingt in ihm. Vor Freude beginnt Zio ein Lied über die Buche zu singen, auf der er sitzt.

DASLIEDDERBUCHE

Sanfter Tanz der Blätter

Weiche Wimpel im Wind

Spiel von Schatten und Licht

Flirrt die Sonne für mich

Flirre ich mit

Zio hat sein erstes Lied gesungen, und es ist ein besonderes Lied, wie es bisher kein Zilpzalp außer ihm zu singen vermochte. Es macht ihn so froh!

Während er singt, glaubt Zio zu spüren, dass das Laub der Buche stärker für ihn rauscht, dass die Blätter noch lebendiger tanzen und leuchten. Er hat das deutliche Gefühl, dass die Buche ihm zuhört und dass sein Lied ihr gefällt. Er sitzt auf seiner Singwarte und stimmt das Lied noch einmal an. Und dann taucht plötzlich ein neuer Gedanke in ihm auf. Wenn er ein Lied über die Buche singen kann, dann kann er auch eines über die Farne singen und ein weiteres über die Lichtnelken und den Himmel. Plötzlich ist Zio sehr aufgeregt. Er kann jetzt alles singen, weil er eine Stimme hat, die mehr Töne hervorbringen kann als nur Zilp und Zalp. Jetzt muss es ihm nur gelingen, auch die richtigen Töne zu finden, die richtigen Töne für seinen gesamten Wald. Glück durchflutet Zio. Welch wundervolle Aufgabe das ist, die nun vor ihm liegt. Er wird seinen Wald besingen. Hundert Lieder wird er singen für den Wald.

Als Zio auf die Idee kommt, ein Lied über die süßen Buchenknospen zu singen, die er manchmal nascht, verspürt er mit einem Mal großen Hunger. Er wird seine Warte kurz verlassen müssen, um Nahrung zu suchen. Doch schon bei den ersten Flügelschlägen spürt Zio, wie schwach er ist. Er hat über den Gesang der vielen neuen Töne völlig vergessen, rechtzeitig an Nahrung zu denken. Sein Magen ist leer, und er hat nur noch wenig Kraft. Dabei weiß er, wie gefährlich es für kleine Vögel ist, nicht genug zu essen. Viel zu schnell werden sie schwach, wenn sie sich nicht rechtzeitig um Nahrung kümmern. Außerdem ist es kühler geworden. Die Sonne steht schon tief, und ihre Strahlen wärmen nicht mehr. Zio macht sich auf, um in dem lichten Birkenwäldchen, das sich direkt vor seiner Buche erstreckt, etwas Essbares zu suchen. Zwischen den Birken und Haseln segelt Zio hinunter, um das raschelnde Laub zu durchstöbern, das den Waldboden bedeckt. Hoffentlich kann er hier seinen Hunger stillen. Zwischen Büscheln von frischem Lärchensporn wendet er auf der Suche nach kleinem Getier trockene Blätter zur Seite, als völlig unerwartet eine Amsel wie aus dem Nichts hervorschießt und mit ihrem spitzen Schnabel wütend auf ihn losgeht. Zeternd umflattert sie ihn und hackt immer wieder nach Zio. Sie ist sehr viel größer als er, und Zio versucht, ihr flink auszuweichen. Gerade hat er einen dicken Wurm auf dem Boden entdeckt und würde ihn sich gerne noch schnell schnappen, um seinen hungrigen Magen zu füllen. Doch während er hastig nach dem Wurm pickt, passt er nicht gut genug auf und der harte Schnabel der Amsel erwischt ihn empfindlich. So schnell er kann flattert er davon, um nicht noch einmal getroffen zu werden. Sein Wurm verschwindet im Schnabel der Amsel. Was für ein Pech. Zios Hunger ist jetzt riesig, und sein Herz schlägt schnell vor Angst, dass die Amsel ihn weiter verfolgen könnte. Es kostet ihn große Mühe, seine Flügel überhaupt noch einmal zu bewegen. Kraftlos kauert er im Unterholz, um sich ein wenig zu erholen. Doch kaum hat die Amsel den Wurm verschlungen, muss er sich schon beeilen, dem wütenden Vogel erneut auszuweichen. Mit ihrem spitzen gelben Schnabel setzt sie nun alles daran, ihn aus ihrem Futterrevier zu vertreiben. Sie wird ihn nicht in ihrer Nähe dulden. Nur mit großer Anstrengung gelingt es ihm zu entkommen. Atemlos lässt er sich ein ganzes Stück weiter weg in der Nähe eines Artgenossen nieder. Hier glaubt er, sich erst einmal beruhigen zu können. Der Zilpzalp, der schließlich zu seinem eigenen Schwarm gehört, wird ihm wohlgesonnen sein. Doch als er sich ihm zuwendet, um ihn zu begrüßen und gemeinsam mit ihm das Laub nach Futter zu durchstöbern, stößt auch der Zilpzalp mit seinem Schnabel nach ihm, um ihn aus seinem Futterrevier zu verjagen.