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Irgendwann braucht jede Frau einen Tapetenwechsel Annemie ist fast sechzig und hat sich viel besser gehalten, als sie selbst glaubt. Wenn sie die Handtücher nach Farben geordnet hat und die Teppichfransen parallel liegen, dann zaubert sie in ihrer kleinen Küche ausgefallene Hochzeitstorten. Sie arbeitet für Liz, die mit ihrer Agentur Hochzeiten im großen Stil ausrichtet. Ein geordnetes Leben, bis eine folgenreiche Verwechslung Annemie und den Vater einer Braut einander näherbringt. Das Chaos beginnt, und plötzlich ist alles ganz anders! »Eine höchst amüsante Verwechslungs- und Verwirrkomödie« Schweriner Volkszeitung »Zaubert beim Lesen ein Lächeln aufs Gesicht.« Wiesbadener Kurier
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Astrid Ruppert
Roman
Marion von Schröder
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Für den Mann, der alles zum Blühen bringt
Sie trug schon ihr Nachthemd, als das Telefon klingelte. Da musste sich jemand verwählt haben. Annemie kannte niemanden, der nach 22 Uhr abends noch bei ihr anrufen würde. Kurz überlegte sie, ob sie überhaupt abnehmen sollte. Doch das Klingeln war hartnäckig. Wesentlich hartnäckiger als ihre Zweifel. Als sie den Hörer in die Hand nahm, wurde ihr zaghaftes »Hallo?« von dem aufgebrachten Wortschwall einer vage vertraut klingenden Stimme schier weggespült.
»Frau Hummel! Wie gut, dass ich Sie erreiche …«
Wörter wie: »Unfall«, »Krankenhaus«, »Termin«, »Hilfe«, und »dringend« drängten an Annemies Ohr. Das Wort »dringend« fiel sogar mehrfach. Und der Satz, den Annemie in der ganzen Flut von Sätzen, die binnen weniger Sekunden über sie hereinbrach, als den wichtigsten von allen ausmachte, war: »Sie müssen mich morgen vertreten!«
Dieser Satz hallte nach, da hatte Annemie den Hörer schon längst wieder aufgelegt. »Sie müssen mich vertreten!« Das Wort »bitte« war auch noch irgendwo dazwischen gefallen. Aber es war klar, dass es hier nicht um Bitten ging. Dies war offensichtlich ein Notfall. Und Annemie Hummel, die ihr ganzes vierundsechzigjähriges Leben lang gelernt hatte, zu allem ja zu sagen, bekam das kleine, entscheidende Wörtchen »nein« einfach nicht über die Lippen.
Und genau deshalb begann sich von diesem Moment an, ihr gesamtes Leben zu verändern.
1
Liz hatte so gut wie gar nicht verschlafen, nur zehn Minuten. Oder vielleicht auch zwanzig. Höchstens zwanzig. Der Tag begann richtig gut, dachte sie, als sie sich nach einem Blick auf ihren Wecker aus dem Bett rollte und mit noch tapsigen Schritten ans Fenster trat, um hinauszuschauen, wie der heutige Morgen aussah. Sie streckte sich, um ihrem Körper klarzumachen, dass die Nacht nun endgültig vorbei war, und als sie den hellblauen Himmel über den Dächern entdeckte, stahl sich so etwas wie ein Lächeln in ihr verschlafenes Gesicht. Die Linden, die ihre Straße zu beiden Seiten säumten, zeigten in der blassen Morgensonne schon zarte Knospen. Bis zum Abend würden sie sich zu kleinen, grünen Blattpuscheln ausgewachsen haben.
Endlich, dachte Liz. Endlich wurde es Frühling. Der Winter war in diesem Jahr sehr ausdauernd gewesen. Viel zu ausdauernd für Liz, die eigentlich schon im Januar darauf wartete, dass es wärmer und bunter wurde in der Welt. Dieser erste, gerade aufkeimende Frühling war für Liz die schönste Zeit im Jahr. Man sah noch die dunklen, nackten Äste, die den ganzen Winter über kahl in den Himmel geragt hatten, doch die lindgrünen Knospenbällchen kündigten den Sommer an und Sonne und eine von üppigem Grün bewachsene, lebendige Welt.
Gut gelaunt ging Liz in die Küche, wo sie das Radio anstellte, beim Kaffeekochen nur ganz wenig Pulver verschüttete und sich später auch nicht die Zunge verbrannte, als sie den Kaffee viel zu hastig trank, während sie gleichzeitig in ihre Kleider schlüpfte, um sich ausgehfertig zu machen. Morgens musste es schnell gehen, und vor allem musste sie, sobald sie fertig war, möglichst rasch und noch bevor das gerade im Radio laufende Lied endete, die Wohnung verlassen. Das war wichtig. Es war ein sehr wichtiges Zeichen für den Tag. Wenn es Liz gelang, innerhalb der Länge eines Liedes die Schuhe und die Jacke anzuziehen, ihre Tasche zu nehmen, an ihr Handy und an den Fahrradschlüssel zu denken und außerdem die Wohnungstür rechtzeitig hinter sich zuzuschlagen, bevor der Moderator wieder sprach, dann deuteten alle Vorzeichen darauf hin, dass sich der Tag in die richtige Richtung entwickeln könnte. Wenn sie nicht schnell genug war und der Moderator bereits irgendein Gewinnspiel ankündigte, standen die Vorzeichen eher schlecht, und wenn sofort nach dem Lied Werbung ertönte, dann war Liz schon kurz davor, zurück ins Bett zu gehen, noch ehe sie das Haus überhaupt verlassen hatte.
Aber dieser Tag ließ sich gut an. Liz brachte ihr Fahrrad um sieben Minuten nach neun vor der Bäckerei zum Stehen, wo sogar noch ein letztes Schokocroissant für sie in der Auslage wartete. Das Einzige, was gegen diesen Tag sprach, war die Tatsache, dass sie nicht auf Anhieb den richtigen Schlüssel für den Laden in die Hand bekam, aber sie hoffte, dass dieses eine, winzige, schlechte Omen nicht so sehr ins Gewicht fiel.
Liz hatte Erfahrungen mit Omen. An dem Tag, an dem sie ihre ehemalige beste Freundin mit ihrem ehemaligen zukünftigen Ehemann in ihrem ehemaligen gemeinsamen Bett erwischt hatte, hatten bereits verschiedene Vorzeichen den ganzen Tag über warnend auf etwas hingewiesen. Doch in ihrem glücklichen, verliebten Vorhochzeitstaumel hatte sie die Warnungen nicht ernst genommen, hatte keiner auf Rot schaltenden Ampel Glauben geschenkt, hatte gelacht, als ihr Lieblingscroissant ausverkauft war.
Und dann hatte sie plötzlich alle Zeichen verstanden. Als sie viel früher als geplant nach Hause gekommen war, wo sie und Jo schon seit einem Jahr zusammenlebten, und Claires Tasche gleich im Flur erkannt hatte, da hatte sie sich noch einen kurzen Moment lang darüber gefreut, dass Claire spontan zu Besuch gekommen war, aber nur einen sehr, sehr kurzen Moment lang.
Seit diesem Tag war ihr bewährtes Werteschema, nach dem sie immer gelebt hatte, verrutscht. Roten Ampeln maß sie nun eine wesentlich höhere und wegweisendere Bedeutung bei als Werten wie Freundschaft und Liebe.
Nachdem Liz beim dritten Anlauf den passenden Schlüssel für den Laden gefunden hatte, schloss sie die feuerwehrrote Tür auf, hinter der sich ihr kleines Reich befand. Liz hatte niemals im Leben daran gedacht, Hochzeitsplanerin zu werden. Hätte man sie weit vor dem Tag, an dem Claires Tasche im Flur ihr Leben verändert hatte, gefragt, ob sie eine kleine Agentur für Hochzeiten führen wolle, sie hätte dankend abgelehnt und die Idee als irgendwie ganz süß, aber insgesamt viel zu kitschig abgetan. Doch als sie in der unromantischsten Zeit ihres Lebens wie aus Versehen in dieses Geschäft hineingerutscht war, hatte sie zu allem Überfluss festgestellt, dass sie verdammt gut war im Planen von Hochzeiten. Nachdem ihre eigene Hochzeit auf so peinliche Art geplatzt war, hätte sie vor Wut darüber in die Luft gehen können, dass ausgerechnet sie Opfer eines solch plumpen Klischees hatte werden müssen. So etwas kam in Seifenopern vor, dass der Mann, den man liebte, einen kurz vor der Hochzeit mit der besten Freundin betrog, aber doch nicht im wirklichen Leben!
Und vor allem nicht in ihrem.
Der Schmerz über Jos Betrug und Claires Verrat kam erst später und war viel nagender und ausdauernder als die Wut. Liz wusste nicht, welcher Betrug sie mehr enttäuschte. Dass ihre beste Freundin sie hinterging oder dass der Mann, mit dem sie ihr Leben hatte verbringen wollen, so geschmacklos war, sie ausgerechnet mit ihrer Freundin zu betrügen. Bevor dieser Schmerz sie vollends lähmte, bot sie in der Tageszeitung ihre bis ins Detail liebevoll geplante eigene Hochzeitsfeier samt Brautkleid und Blumenschmuck, Pfarrer und Trauspruch an, und schon am Morgen des Erscheinungstages meldete sich ein entsetzlich verliebtes Pärchen und kaufte sie ihr ab. Sogar das Menü und den Lieblingsnachtisch ihrer Kindheit übernahmen die beiden, ohne ihn auch nur probiert zu haben. Den hatte ihre Mutter immer gemacht, wenn sie ihren Mädels – und sich – einmal etwas Gutes tun wollte: Grießflammeri mit Himbeersauce und gerösteten Mandelsplittern. Das verliebte Pärchen fand, das sei eine überaus reizende Idee. Und Liz wunderte sich, dass es ihr weniger ausmachte, ihr Brautkleid an eine fremde Frau zu verkaufen, als sich vorzustellen, dass diese ihren Lieblingsnachtisch aß. Sie wäre sich albern vorgekommen, das Menü zu ändern. Und doch war es ausgerechnet der Gedanke an die duftende Himbeersüße, die sich am Gaumen mit dem cremigen Flammeri vermischte, den sie nun am Tag ihrer geplanten Hochzeit nicht schmecken würde, der sie nachts ins Kissen schluchzen ließ.
Als Freunde dieses Paares kurz darauf ebenfalls heiraten wollten und in Erinnerung an deren gelungene Feier um Hilfe baten, verwiesen die glücklich Getrauten sie an Liz, und so setzte sich die Reihe der Empfehlungen fort. Es gab anscheinend eine ganze Menge glücklicher, heiratswütiger Paare. Und nicht alle Bräutigame schienen ihre Auserwählte so schamlos zu betrügen. Oder aber die Bräute kamen vor der Hochzeit einfach nie früher als erwartet nach Hause.
Zunächst war es nur ein Hobby, mit dem Liz die viele freie Zeit totschlug, die ihr plötzlich zur Verfügung stand, so ganz ohne Freund und ohne beste Freundin. Doch dann begann dieses Hobby immer mehr Raum zu beanspruchen, so dass sie sogar schon Urlaub nehmen musste, um die Organisation mancher Festivitäten zu bewältigen. Als ihre Wohnung von Tortenschmuck, Brautmodenkatalogen und Zetteltürmen irgendwann schier überquoll und wesentlich romantischer aussah als ihr eigentliches Leben, beschloss sie, dass es Zeit war, etwas zu ändern. Sie fasste sich ein Herz, zog in eine neue Wohnung, in der sie nichts mehr an Claire oder Jo erinnerte, kündigte ihren Job als Sekretärin und gründete »Hochzeitsfieber«. Eine Agentur für Hochzeitsplanung von der kleinen, intimen Feier bis zum Riesenevent, je nach Wunsch und Portemonnaie. Schließlich wusste sie genau, wie man sich als Braut fühlte: Sie kannte die heimlichen Wünsche der jungen Frauen, die nach außen ganz cool und selbstbewusst auftraten, aber trotzdem von einer Cinderella-Hochzeit wie aus dem Bilderbuch träumten. Sie kannte all die romantischen, kleinen Sehnsüchte, die vom Zukünftigen erfüllt werden mussten, am besten ohne dass je ein Wort darüber gefallen war. Liz half den Bräuten dabei, ihre Wünsche zu erkennen, und den Bräutigamen, ihren Bräuten jeden Wunsch von den Augen abzulesen, indem sie heimlich für sie simultan übersetzte. Alle waren glücklich, und Liz’ Kasse klingelte. Und sie fand, dass es genau darauf ankam. Eine gute Geschäftsidee zu haben und damit erfolgreich zu bestehen. Aus der dunkelsten Stunde ihres Lebens hatte sie etwas gemacht. Andere legten sich ins Bett und weinten sich die Augen aus dem Kopf. Das hatte Liz zwar auch getan, aber sie hatte das Gefühl nicht überhandnehmen lassen. Überhaupt hatte sie Gefühle seitdem nicht mehr überhandnehmen lassen. Darauf war sie stolz. Sie würde nicht mehr an Hochzeitsfieber erkranken. Das wusste sie. Doch sie würde andere, die von diesem Fieberwahn befallen waren, mit dem ihr eigenen Perfektionsanspruch aufs Beste durch diese Krankheit hindurch begleiten.
Als sie den Laden gefunden hatte, war sie begeistert: Genau der hatte es sein müssen. Direkt an der Ecke eines hübschen Jugendstilhauses führten drei Treppenstufen zu einer Tür, die links und rechts von jeweils einem raumhohen Fenster flankiert war. Zunächst wollte Liz den Laden ganz sachlich halten und die gesamte Romantik auf Abruf in Schubladen und ordentlich sortierten Regalen verstauen. Aber Liz war nicht wirklich sachlich, und sie war noch weniger ordentlich. Sie sammelte alles, was sie zu Ideen inspirieren könnte, sie hatte von allem eine Probe und ein Muster und ein Bild, Brautmodenläden liehen ihr Kleider, Menükarten türmten sich unter Fotos von Hochzeitstafeln und Brautsträußen, und bald schon war Hochzeitsfieber der Name, den Brautleute in den Mund nahmen, wenn sie mehr Geld hatten als eigene Ideen. Ausgerechnet Liz, die Hochzeiten und Liebe und dem ganzen Für-immer-und-ewig-Kram mit ehernem Zynismus gegenüberstand, war plötzlich die Galionsfigur der gelungenen Hochzeit.
Und weil Liz die süße Sehnsucht nach ewiger Zweisamkeit nur zu gut kannte und ihr niemals, nie niemals nie wieder erliegen wollte, kaufte sie sich für jede veranstaltete Hochzeit ein Paar Schuhe. Zum Weglaufen. Sollte jemals wieder ein interessanter Mann ihren Weg kreuzen und ihr etwas von Liebe erzählen: Der gesammelte Inhalt ihres geräumigen Schuhregals würde sie an Flucht gemahnen. So fühlte sie sich sicher, schließlich erschien man niemals barfuß zum Rendezvous.
Liz warf ihre Tasche auf den Stuhl neben der Tür, packte ihr Schokocroissant aus und ging zielstrebig zum Anrufbeantworter, dessen rotes Lämpchen sie schon fröhlich anblinkte. Sie liebte es, wenn dieses Lämpchen blinkte. Es hieß, dass es etwas für sie zu tun gab, dass man sie brauchte und dass der Laden lief. Während sie die Nachrichten abhörte, biss sie in ihr Croissant und machte sich Notizen. Die erste Nachricht war von der Metzgertochter, die bereits sehr bald heiraten wollte und sich Sorgen um das Hochzeitsmenü machte, denn ihr Zukünftiger war Vegetarier und die Eltern sicher beleidigt, wenn die ausladenden Bratenplatten unberührt an ihm vorbeizogen. Die nächste Stimme gehörte einem Bräutigam, der fragte, ob sie ihm Walzernachhilfe geben könne, der Gedanke an den Hochzeitswalzer verursache ihm Bauchschmerzen, und eine etwas hysterische Anruferin bat um Rückruf, sehr dringenden Rückruf. Liz vermutete, dass die schrille Stimme zu der Mutter einer jungen Frau gehörte, die in ganz kleinem Rahmen heiraten wollte, winzige Kapelle, kaum fünfzehn Gäste unter der großen Kastanie in ihrem eigenen Garten, während die Frau Mama gleich ein Schlösschen mieten wollte, um vor all ihren weitläufigen und noch weitläufigeren Bekannten mit dem Glück ihrer Tochter anzugeben. Wenn Liz sich recht erinnerte, dann fand diese Hochzeit bereits in weniger als zwei Wochen statt, die Mutter gehörte anscheinend zu dem Typ, der nie aufgab. Arme Tochter, dachte Liz seufzend und machte sich eine Notiz, dass sie die Tochter nachher dringend anrufen musste. Noch dringender als die Mutter, denn: Wessen Hochzeit war es letztendlich? Sie horchte auf, als sie eine sonore Männerstimme sprechen hörte, die sehr höflich um Rückruf bat, um einen Termin zum Kennenlernen zu vereinbaren.
»Sie müssen verzeihen«, sagte die angenehme Stimme, die vor allem im Vergleich zu den anderen Anrufern auf dem Band in geradezu erhabener Gelassenheit ruhte, »aber ich möchte mir gerne ein persönliches Bild von Ihnen machen, bevor ich Ihnen die Ausrichtung der Hochzeitsfeierlichkeiten für meine Tochter anvertraue.«
Als er seinen Namen nannte, verschluckte sich Liz fast am letzten Bissen ihres Croissants. Winter. Das war doch nicht etwa der Winter. Erster Juwelier am Platz. Traditionsbetrieb. Alteingesessene Familie. Eine Tochter. Junges Ding. Ob da überhaupt Liebe mit im Spiel war? Sie hatte vor einiger Zeit in der Lokalzeitung über die Verlobung gelesen. Winter! Das war der Geldadel! Liz war schon so manches Mal am Schaufenster des Ladens vorbeigebummelt. Die Ringe im Fenster kosteten schnell mal mehr als ein Kleinwagen, und für einige der Ketten könnte man sogar eine Wohnung erwerben. Vielleicht nur eine kleine Wohnung, aber immerhin. Wenn Liz dort etwas kaufen wollte, dann könnte sie höchstens einen der kleinen Geschenkkartons erwerben, in denen die funkelnden Juwelen verpackt wurden. Wobei die wahrscheinlich noch nicht einmal käuflich waren. Bei Juwelier Winter bekam sie schnell das Frühstück-bei-Tiffany-Gefühl. Wenn sie die Winters als Kunden haben könnte, würde sie in eine völlig andere Galaxie katapultiert werden. »Keine Angst«, murmelte Liz zum Anrufbeantworter. »Ich werde immer wieder gerne eine intime, nette Hochzeit unter der heimischen Kastanie organisieren.« Für ein paar bunte Flipflops genügte das allemal. Aber Juwelier Winter. Das bedeutete Manolos. Oder Stuart Weitzmans. Oder am besten gleich jeweils ein Paar von beiden. Und sie wusste auch schon genau welche. Sie wischte sich die Krümel vom Mund, richtete sich gerade auf, lächelte breit, um dynamischer zu klingen, und wählte die Nummer, die Herr Winter ihr hinterlassen hatte.
Sehr zuvorkommend entschuldigte er sich nochmals, dass er vor der Vergabe des Auftrags mit ihr selbst sprechen wolle. Seiner Tochter sei Liz wärmstens empfohlen worden, man habe regelrecht von ihr geschwärmt, aber gerade die Tatsache, dass sie allem Anschein nach besonders »angesagt« sei, ließe ihn aufhorchen, ob sie denn auch mit den eher klassischen Anforderungen, die seine Familie an eine Hochzeitsplanerin stellte, Erfahrung habe.
Liz versicherte, dass sie Aufträge sowieso grundsätzlich nur nach persönlichen Gesprächen annehme. Schließlich handele es sich um den schönsten Tag im Leben einer Braut und um einen sehr wichtigen Tag für die betreffenden Familien, und sie würde die Planung nur übernehmen, wenn sie sich sicher sei, den gewünschten Stil und Geschmack komplett treffen und alles zur besten Zufriedenheit aller Beteiligten ausführen zu können. Egal um welchen Stil es letztendlich ging, an diesem Tag musste alles perfekt sein.
Als sie aufgelegt hatte, holte sie tief Luft und stieß einen Jubelschrei aus. Morgen um elf Uhr gaben sich Juwelier Winter und seine Tochter Nina die Ehre, sie in ihren Geschäftsräumen in der Mörikestraße aufzusuchen. Morgen um elf!
Liz sah sich im Spiegel an und dachte, dass sie dann unbedingt etwas anderes anziehen müsse als heute. Etwas Seriöseres. Vielleicht müsste sie sogar noch einkaufen gehen, um etwas richtig Winter-Seriöses zu erstehen. Dieses Kleid ging schon einmal gar nicht. Sie trug ein grüngrau dschungelgemustertes Wickelkleid, darunter blitzte ein rotes Hemdchen hervor, und weil ihre graue Strumpfhose in der Wäsche war und ihre grüne Strumpfhose eine böse Laufmasche hatte, hatte sie die lilaschwarz gestreifte Strumpfhose angezogen. Das Rot ihres Lippenstifts ähnelte zwar entfernt dem Rot ihrer Schuhe, doch sie sah insgesamt kunterbunt aus. Die Riemchen am Knöchel ihrer dunkelroten Lederpumps erinnerten sie immer an Mary Poppins, ihren absoluten Lieblingsfilm, weshalb sie die Schuhe nach einer ihrer ersten geplanten Hochzeiten für viel zu viel Geld gekauft hatte. Wenn sie doch nur auch den Aufräumzauber von Mary Poppins beherrschte, dann könnte sie jetzt einfach losträllern, ein bisschen tanzen, dazu mit den Fingern schnipsen, und ihr Laden wäre für morgen vorbildlich aufgeräumt und sie vorbildlich angekleidet. Man sollte mehr Schwarz tragen, dachte sie, als sie in den Spiegel sah. Da passte wenigstens immer alles zusammen, und man sah einfach elegant aus. Außerdem machte Schwarz so schön schlank. Andererseits, sie betrachtete sich kritisch im Spiegel, war dann eben immer alles so schwarz.
Liz nahm lieber ein quietschbunt gemustertes Tuch vom Treppengeländer, das zu der kleinen Galerie auf halber Höhe ihres Ladens führte, band sich ihre dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und schlug ihren Kalender auf. Sie musste alle Anrufer zurückrufen und dringend die Einladungen für die jungen tt-Schmitts aus der Druckerei holen. Sie betete, dass ihr Drucker, Herr Frank, sie nicht für dt-Schmidts gesetzt hatte, aber wie sie ihn kannte, standen die Chancen fünfzig zu fünfzig. Eine Francine d’Harnoncourton-Beaulieu würde er garantiert fehlerfrei setzen. Die häufigsten Fehler unterliefen ihm bei den ai- oder ei-Meiers, die dann letzten Endes doch mit Ypsilon geschrieben wurden. Da sie ihn schon lange kannte, gab sie ihm die Aufträge immer früh genug, damit noch genügend Zeit für Korrekturen war. Sie gab zu, dass sie schon das eine oder andere Mal überlegt hatte, den Drucker zu wechseln. Aber sie mochte Herrn Frank. Er zerbrach sich den Kopf über die richtige Nuance von Grün für das Kränzchen, das eine Tischkarte zieren sollte, oder änderte Abstände, damit Schriften harmonischer wirkten. Was war dagegen ein falsches t? Seine Fehler gingen ihm stets sehr zu Herzen, er war der sorgfältigste Fehlermacher, den Liz kannte. Allein dafür blieb sie ihm treu. Liz war sowieso von der treuen Sorte. Wenn sie sich einmal für jemanden entschieden hatte, dann blieb sie auch dabei. Claire war seit über fünfundzwanzig Jahren ihre beste Freundin gewesen. Liz hatte niemals zwei oder drei beste Freundinnen gehabt. Claire war die einzige, und sie wäre es auch ein Leben lang geblieben. Sie wäre auch bei Jo geblieben. Immer. Und aus diesem Grund blieb sie bei ihrem Drucker. Auch wenn er manchmal die Buchstaben versetzte. Das gehörte in die Rubrik kleine Fehler, über die sie großzügig hinwegsehen konnte.
Sie musste unbedingt daran denken, Frau Hummel anzurufen, um sie daran zu erinnern, bei der Torte für die morgige Hochzeit im Dekor etwas sachlicher zu bleiben. Frau Hummel war vielleicht manchmal etwas umständlich und altbacken und ihre Auffassung von Romantik mochte manchmal hart am Kitsch entlangstreifen, aber wenn Liz ehrlich war, dann war Frau Hummel ein wahrer Goldschatz. Als Liz in die Spohrstraße gezogen war, nachdem sie ihre alte Wohnung hatte verlassen müssen, und mit einer gewissen Verzweiflung versucht hatte, eine leere Wohnung mit Leben zu füllen, hatte nach zwei, drei Tagen eine wundervolle kleine Schokoladentorte mit einem weiß geschwungenen Willkommensschriftzug vor der Tür gestanden. Eine Bordüre aus weißer Schokolade mit silbernen Liebesperlen hatte einen grünen Pistazienrasen eingefasst, auf dem kleine Zuckerveilchen blühten, und Liz waren die Tränen in die Augen geschossen. Ihre eigene Hochzeitstorte hatten andere gegessen. Aber nun hatte sie völlig überraschend eine viel schönere Torte geschenkt bekommen. Als sie an der Tür der Nachbarin Sturm geklingelt hatte, stand sie mit einem Mal vor einer farblosen, unscheinbaren Frau, der sie dieses süße Meisterwerk niemals zugetraut hätte.
»Ich hoffe, Sie mögen Kuchen«, hatte sie schüchtern gelächelt. »Ich backe nämlich schrecklich gerne. Und ich dachte, auf gute Nachbarschaft …«
Liz hatte Frau Hummel gleich auf ein Stück Torte zu sich eingeladen, und ihr war plötzlich aufgefallen, dass aus der Farblosigkeit ihrer äußerlichen Erscheinung unglaublich strahlende blaue Augen hervorblitzten. Während sie zusammen in Liz’ kleiner Küche saßen, in der sich die unausgepackten Kartons nach wie vor stapelten, und den Schokoladenkuchen löffelten, der noch besser schmeckte, als er aussah, obwohl das eigentlich absolut unmöglich erschien, hatte Liz ihr von ihrer Hochzeitsplanerei erzählt und sie spontan gefragt, ob sie nicht für die nächste Hochzeit die Torte backen wollte. Frau Hummels Augen hatten kurz aufgeleuchtet, doch dann hatte sie sehr aufgeregt widersprochen. Sie könne das gar nicht, das Backen sei nur ein Steckenpferd, aber sie könne das wirklich nicht, nein. Liz hatte sie richtiggehend überreden müssen. Als sie ihr dann noch den Preis nannte, den sie ihr dafür bezahlen würde, hatte sich die arme Frau Hummel fast verschluckt.
Seitdem backte Frau Hummel Kuchen und verwandelte sie für Liz in wunderbare Hochzeitstorten. Es konnte vorkommen, dass darauf weiße Taubenpärchen Marzipanröschen im Schnabel trugen und kleine Liebespaare aus Plastik umflatterten, die in der Mitte der Torte aus kleinen aufgemalten Augen starr geradeaus guckten, als hätten sie soeben etwas gesehen, was ihnen das Lächeln auf dem Gesicht gefrieren ließ.
»Weniger ist mehr, liebe Frau Hummel!«, pflegte Liz ihrer Tortenbäckerin zu predigen, und meist gelang es ihr, sie zu überreden, die Idee mit den Marzipanröschen für die nächste Torte zu nehmen, und die Idee mit den rosa Zuckergussherzen für die übernächste. Ihre üppigen Torten verzauberten jedoch jede Gesellschaft, sobald sie hereingetragen wurden. Man sah ihnen einfach an, mit wie viel Liebe und Sorgfalt sie dekoriert worden waren. Frau Hummel würde niemals auf die Idee kommen, bereits vorgeformte Marzipanrosen zu verwenden. Sie knetete und modellierte alles selbst. Liz vermutete, dass eigentlich eine bildende Künstlerin in ihr steckte, die sich nie so recht hervorgewagt hatte und sich nun in Marzipan und buntem Zuckerfondant austobte. Kürzlich hatte sie die Hochzeit für eine junge Schneiderin ausgerichtet, und Frau Hummel hatte eine Torte als Knopfschachtel dekoriert, die so aussah, als ob unzählige, verschieden große, rosa und rote Zuckergussknöpfe aufgenäht waren. Seit sie zusammenarbeiteten, wurden auch die Kuchen, die unter der Dekoration steckten, immer besser. Nie zuvor hatte Liz so saftigen Schokoladenkuchen, so lockeren Biskuit und so fein abgestimmte Petit Fours gegessen. Seit Liz ihr einmal gestanden hatte, dass sie eine Schwäche für Petit Fours habe, bekam sie immer wieder ein Tellerchen mit drei, vier kleinen bunten, mit Schokoschnörkeln und Zuckerperlen verzierten Würfeln.
»Ach, die sind nur zum Probieren. Da ist mir die Dekoration nicht richtig gelungen«, winkte Frau Hummel jedes Mal schamhaft ab, wenn Liz ihr dankte. »Ich wollte mal testen, ob es besser schmeckt, wenn man Himbeer- mit Johannisbeergelee mischt und ein paar Tropfen Amaretto in das Marzipan gibt.«
Liz beschloss, Frau Hummel zu fragen, ob sie noch ein paar Petit Fours vorrätig hatte. Die würde Liz dem Juwelier morgen anbieten. Als kleinen Vorgeschmack auf alles, was man bei ihr bekommen konnte.
Liz sauste durch ihren Tag. Beflügelt von dem Gedanken an den morgigen Termin, gelang es ihr sogar, den großen Tisch leer zu räumen und alle dort befindlichen Katalog- und Papierstapel einzusortieren. Als sie losging, um frischen Kaffee zu besorgen, atmete sie fröhlich die Frühlingsluft ein, die nach dem langen Winter so grün und frisch roch, dass man tatsächlich spürte, wie die gesamte Natur wieder begonnen hatte, zu wachsen und zu sprießen. Sie kaufte einen ganzen Korb voller blauer Hyazinthen und stellte sie in die Mitte des hellen, leeren Tisches. Sie bedufteten den Laden bis in die hinterste Ecke. Der Tisch müsste immer so aufgeräumt sein, dachte Liz, und es sollten immer frische Blumen darauf stehen. Sie war so gut gelaunt, dass sie die Laufmasche, die sie sich in ihre Strumpfhose riss, als sie einen Stoß Ordner im hintersten Regal verstauen wollte, nicht als böses Omen wertete. Genauso wenig Beachtung schenkte sie im Überschwange dieses Tages der Tatsache, dass das Pizzastück, das sie später bei der kleinen Stehpizzeria an der Ecke holte, ihr ausgerechnet mit dem Belag nach unten auf den Boden fiel. An anderen Tagen hätte Liz diese Zeichen vielleicht beachtet, hätte innegehalten und ihr Tempo gedrosselt. Doch das Einzige, was an diesem lauen Frühlingstag das Tempo bremste, und das sehr abrupt, waren die Reifen des Autos, das Liz’ Fahrrad unsanft erwischte, während sie auf ihrem Heimweg abends viel zu schnell und fröhlich pfeifend um die Ecke bog. Diese Reifen quietschten unschön, und Liz hörte den schrillen Ton noch immer in ihren Ohren nachhallen, während sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen Notarztwagen von innen sah.
»Da haben Sie aber verdammtes Glück gehabt«, sagte der Sanitäter, der auf der Fahrt ins Städtische Krankenhaus neben ihr saß.
Liz blickte starr nach oben und dachte nur, das dürfe doch alles nicht wahr sein. Als sie den Kopf drehte, um zu schauen, wer hier diesen Blödsinn redete, schrie sie vor Schmerz auf. Ihr tat alles weh. Alles. Sie wusste gar nicht, dass ihr Körper so viele Stellen hatte, die so weh tun konnten.
»Glück?« Liz war verzweifelt. »Was verstehen Sie denn unter Glück? Für mich ist das Pech. Schwarzglänzendes Pech! Mein Hinterteil tut höllisch weh, ich weiß gar nicht, wie ich es überhaupt aushalten kann, auf meinem Rücken zu liegen, mein Arm brennt wie Feuer, und wo ist eigentlich mein Fahrrad?«
»Machen Sie sich mal keine Sorgen um Ihr Rad, das lässt sich ersetzen, aber Ihr Kopf nicht. Und der sitzt noch fest. Also würde ich mal sagen: Glück gehabt!«
Der Sanitäter beugte sich über sie und kontrollierte den Sitz der Halskrause, die man ihr sofort angelegt hatte.
»Sie sind mit dem Kopf auf Ihren Arm gefallen, deshalb können Sie wenigstens noch schimpfen. Die Leute, die hier drinnen schimpfen können, haben alle Glück gehabt. Richtig schlecht geht’s denen, die keinen Piep mehr sagen, wenn sie hier auf der Trage liegen. Die haben Pech. Sie nicht. Das Bein kann man auch wieder zusammenflicken.«
Liz verstand nicht gleich. Das Bein? Was war denn mit ihrem Bein?
»Alles relativ«, brummte der Sanitäter. »Alles. Ich geb Ihnen mal was gegen die Schmerzen.«
Sie wollte gerade fragen, was mit ihrem Bein sei, als sie spürte, wie eine kühle Flüssigkeit sich von ihrer Armbeuge her auszubreiten begann, und schon wenige Kurven später waren die Schmerzen viel weniger spitz und ihr gesamtes Denken fühlte sich weicher an, schwerer, ihre Wut löste sich in dumpfe Wolken auf, die sich wie ein Nebel um sie herum senkten, und sie hatte Schwierigkeiten, die Augen offen zu halten. Träumte sie, dass sie jetzt gerade ins Krankenhaus fuhren, dass die Türen sich öffneten und sie schaukelnd aus dem Inneren des Wagens herausgerollt wurde? Sah sie tatsächlich den Himmel, der sich schon in einem dunkleren Blau färbte, und hörte sie tatsächlich diese Amsel in den Abendhimmel hinein singen, oder bildete sie sich das alles nur ein? Liz wusste noch, dass ein Arzt nach ihr gesehen hatte, dass sie geröntgt wurde, dass zwei Menschen sich über Steiß und L1 und L2 und über eine komplizierte Unterschenkel-Fraktur unterhielten, aber sie war sich nicht sicher, um wessen Steiß es hier ging und um welchen Unterschenkel, und es war ihr auch alles egal.
Später hörte sie eine freundliche Stimme, die jemanden fragte, ob man Angehörige für sie benachrichtigen solle. Sie wunderte sich, dass anscheinend niemand auf diese oft und laut und deutlich wiederholte Frage antwortete, bis sie auf die Idee kam, dass ja vielleicht sie gemeint sein könne. »Ich?«, krächzte sie mit einem verwunderten Ton und fand, dass ihre Stimme so klang, als ob sie gar nicht zu ihr gehörte.
»Wartet jemand auf Sie? Macht sich jemand Sorgen, weil Sie nicht nach Hause kommen? Gibt es eine Nummer, die wir anrufen können?«
Das waren viele Fragen auf einmal, und Liz brauchte eine Weile, bis sie in diesem Nebel, der in ihrem Kopf herrschte, alles geordnet hatte. Niemand machte sich Sorgen, wenn sie nicht nach Hause kam. Sie lebte alleine. Sie wollte jetzt auch nicht, dass sich jemand anders Sorgen machte. Ihre Schwester oder ihre Mutter brauchten heute nicht von diesem dummen Unfall zu erfahren, denn morgen war doch alles wieder gut.
»Morgen ist doch alles wieder gut?«, fragte Liz und dachte, dass da etwas gewesen war, an das sie sich unbedingt erinnern musste, morgen war etwas wirklich Wichtiges gewesen.
»Junge Frau, stellen Sie sich mal drauf ein, dass wir Sie eine Weile hierbehalten müssen. Und ob das von alleine besser wird oder ob wir operieren, das wird morgen der Doktor entscheiden.«
Und in diesem Moment fiel ihr alles wieder ein. Herr Winter. Und seine Tochter Nina.
»Ich muss morgen aber arbeiten«, rief Liz. »Ich muss in den Laden. Ich habe extra Hyazinthen gekauft, ich habe morgen den wichtigsten Termin, den allerwichtigsten …«
Für einen Moment war es so, als ob der Nebel in ihrem Denken aufriss und sie ganz klar erkennen konnte, in welch einem Schlamassel sie saß. Oder vielmehr: lag. Da hatte sie morgen endlich die Chance, ein Entree zu den besseren Kreisen zu bekommen, der Moment, auf den sie immer gehofft hatte, eine richtig große Hochzeit, Geld, Champagnerzelte, Journalisten, und da lag sie wie ein Käfer hilflos auf dem Rücken im Krankenhaus. Sie spürte, wie ihr heiße Tränen in die Augen schossen und ein Schluchzen in ihr aufstieg. War das alles ungerecht.
»Kann Sie denn jemand vertreten?«, fragte die nette Stimme, und als Liz verzweifelt den Kopf schüttelte, mahnte die Schwester sie, jetzt mal nicht gleich zu verzweifeln.
»Es gibt immer eine Lösung. Haben Sie Bekannte, die mal einspringen können?«
Liz schüttelte wieder den Kopf. »Die arbeiten alle selbst.«
»Schütteln Sie lieber nicht den Kopf. Am besten liegen Sie ganz still.«
Und da spürte Liz auch schon, warum sie besser ganz still liegen sollte. Jede kleinste Drehung ihres Halses setzte sich schmerzhaft über den ganzen Rücken bis zu ihrem Steißbein fort. Wahrscheinlich war der Steiß, von dem vorhin die Rede gewesen war, doch der ihrige gewesen.
»Na, wer wird denn da weinen, gibt es nicht Mitarbeiter, die für Sie übernehmen könnten?«
Die nette Schwester tupfte ihr die Tränen aus dem Gesicht, die direkt hinter ihre Halskrause flossen. Liz wollte gerade sagen, dass sie ganz allein sei, ganz und gar allein, da kam ihr ein Gedanke. Es war nicht optimal, es war wirklich nur eine Notlösung, eine absolute Notlösung. Aber es war besser als nichts.
Die Schwester holte das Telefon, wählte für sie die Nummer, und dann hörte Liz ein erstauntes »Hallo« am anderen Ende, und sie versuchte Frau Hummel klarzumachen, um was es morgen ging. Während des kurzen Gesprächs spürte Liz, wie die Nebelwolken sich wieder zusammenzogen, um sie in dichte Schwaden einzuhüllen, und sie versuchte doppelt so schnell zu sprechen, um noch alle wichtigen Informationen loszuwerden. Vor allem an die Petit Fours sollte sie denken. Unbedingt. Dringend. Und dann verlor Liz den Faden, und die Schwester nahm ihr den Hörer aus der Hand und legte ihn auf ihren Nachttisch.
»So, und jetzt schlafen Sie mal schön und machen sich keine Sorgen. Das wird schon.«
Die Schwester wusste zwar nicht, warum Petit Fours so dringend sein könnten, dass ihre Patientin beinahe noch mal in Tränen ausgebrochen wäre, aber man steckte eben nicht in der Haut von anderen. Außerdem stand das Mädel sicher unter Schock. Und wer konnte schon wissen, was dieser Herr Winter wohl für einer war und warum er unbedingt Petit Fours brauchte. Das waren doch diese klebrigen, süßen, kleinen, bunten Würfel. Sie dachte bei Petit Fours immer an ältliche, fast lila gelockte Tanten, die es heute eigentlich fast gar nicht mehr gab. Die Sorte, die ohne Handschuhe das Haus nicht verließ und mit Handtasche auf dem Schoß im Café ein Kännchen Hag bestellte. Und dazu Petit Fours.
Annemie Hummel goss sich auf diesen Schrecken erst einmal ein kleines Gläschen Kirschlikör ein. Kirschlikör hatte Annemie immer im Haus, weil er so schön süß war und nicht so furchtbar nach Alkohol schmeckte wie andere alkoholische Getränke, aber trotzdem ein bisschen beruhigte. Von innen. Von der Magengegend her, die stets am meisten zitterte, wenn sie aufgeregt war. Außerdem mochte sie die dunkelrote Farbe. Allein das tiefrote Glas anzuschauen erzeugte bei ihr eine gewisse innere Zufriedenheit. Das erste Gläschen trank sie ziemlich schnell, damit es rasch in besagter Magengegend seine wohltuende Wirkung entfalten konnte, und mit dem zweiten Gläschen setzte sie sich in den Sessel, in dem Rolf immer gesessen hatte, und dachte nach. Jetzt hatte sich das innere Flattern zwar etwas beruhigt, aber sie hatte dennoch keine Ahnung, was sie machen sollte. Sie konnte doch nicht einfach jemanden vertreten. Vor allem nicht morgen. Sie konnte doch gar nichts! Was sollte sie bloß tun? Sie nippte noch einmal an ihrem Gläschen und blickte aus dem Fenster hinaus in die nächtliche Dunkelheit, die genauso ratlos zurückschaute.
Annemie hatte viele Eigenschaften. Zum Beispiel war sie sehr hilfsbereit, sie war pflichtbewusst und zuverlässig. Doch eines war sie ganz gewiss nicht: spontan. Spontaneität war nichts, das Annemie in ihrem in stets geregelten Bahnen verlaufenen Leben je gefehlt hätte. Sie glaubte nicht an Veränderung. Annemie hielt Routine, Wiederholung und Ordnung für segensreicher als Veränderung, Abwechslung und Durcheinander. Wenn es in ihrem Leben Veränderung gegeben hatte, dann hatte es nicht immer zu einer Verbesserung ihrer Lebensumstände geführt. Sie hegte deshalb allem Neuen gegenüber eine große Skepsis, es war ihr einfach lieber, am Bewährten festzuhalten. Es erfüllte sie mit Zufriedenheit, wenn ihre Geschirrtücher sorgfältig gebügelt und auf Kante gefaltet im Schrank lagen, wenn ihre Blusen auf Polsterbügeln hingen, das Besteck in der Schublade ordentlich aufgereiht war, und die Fransen an ihrem Teppichläufer frisch gebürstet in eine Richtung zeigten. Es erfüllte sie mit tiefer Zufriedenheit, wenn sie wusste, was in einer Stunde oder in vier Stunden, morgen oder übermorgen geschehen würde. Unbekanntes machte ihr Angst. Wie eine Schnecke, deren Fühler man berührt, zog sie sich rasch in ihr Schneckenhaus zurück und dachte nicht im Traum daran, so etwas wie Spannung oder Vorfreude zu empfinden.
Annemie lebte seit zweiundvierzig Jahren in der Spohrstraße Nr. 11. Seit ihr Rolf sie damals mit Schwung über die Schwelle getragen hatte, in ihre Dreizimmerwohnung mit Balkon und orangebraunen Streifentapeten, hatte sich nur sehr wenig verändert. Die Tapeten hatten nun dezentere Muster als damals, und die kaputten Elektrogeräte waren durch neue ersetzt worden, aber Rolf war, selbst als er noch lebte, nicht mehr auf die Idee gekommen, seine Annemie irgendwohin zu tragen. Von Schwung ganz zu schweigen. In ihrer Wohnung war ansonsten zweiundvierzig Jahre lang nichts verändert worden. Warum sollte sie ihre Einbauküche, die einmal sehr schick und zudem teuer gewesen war, durch eine neue ersetzen? Und die Polstergarnitur im Wohnzimmer war auch noch gut. Nach Rolfs Tod hatte sie selbst im Schlafzimmer nichts verändert. Es wäre ihr seltsam erschienen, das Doppelbett zu teilen oder gar ein kleines Einzelbett in das Zimmer zu stellen. Am Anfang hatte sie sogar noch Rolfs Bettdecke mitbezogen. Doch mittlerweile ließ sie die Seite frei, auf der er geschlafen hatte, und benutzte sie als Ablage für ihre vielen Liebesromane, in denen sie Abend für Abend versank, um ein bisschen von dem Leben zu träumen, das sie selbst nicht hatte leben können. Und noch etwas war all die Jahre über konstant gleich geblieben: Annemie hatte sich an Rolfs Seite beinahe genauso einsam gefühlt wie nach seinem Tod. Fast hatte es sich sogar richtiger angefühlt, dass er nicht mehr da war. Denn die innere und die äußere Einsamkeit passten seitdem besser zusammen.
Während Liz im Krankenhaus einen traumlosen, schmerzmittelgedämpften Schlaf schlief, in dem alles, was sie erlebt hatte, dem dumpfen Vergessen anheimfiel, warf sich Annemie die ganze Nacht über unruhig hin und her und schlief nur wenig. Wenn sie schlief, dann träumte sie für zwei. Annemie träumte die nichterholsame Art von Träumen. Die Art von Träumen, in denen man ganz klein vor einem großen Komitee stand, um geprüft zu werden, aber weil diese Prüfung viel zu früh stattfand, war man überhaupt noch nicht darauf vorbereitet; Träume, in denen eine ganze Gesellschaft voller Gäste in die Wohnung einfiel, und als Annemie die Speisekammer öffnete, um die kalten Platten herauszuholen, befand sich darin nur ein winziges Tellerchen mit einem einzigen zartrosafarbenen Petit Four, das sie dann beschämt zu den Gästen trug. Zum Glück wachte sie auf, bevor sie das Wohnzimmer erreichte.
Als es allmählich anfing zu dämmern, gab sie den Gedanken an Schlaf völlig auf und stieg aus ihrem Bett, um dieser unruhigen Nacht ein Ende zu setzen. Normalerweise stand sie immer um die gleiche Zeit auf. Dazu benötigte sie keinen Wecker. Um fünf vor sieben öffnete sie automatisch die Augen, blieb aber noch im Bett liegen, bis sie um sieben Uhr die Kirchenglocken läuten hörte, und ging dann im Bademantel in die Küche, um sich ihren Kaffee zu kochen. Das machte sie seit zweiundvierzig Jahren so. In all diesen Jahren hatte es nur wenige Ausnahmen gegeben, an denen diese gewohnte Routine durcheinandergebracht worden war. Kein einziger dieser Tage war ein guter Tag gewesen. Und an keinen einzigen davon dachte sie gerne zurück. Annemie befürchtete, dass auch der heutige Tag dazugehören würde. Aber sie versuchte, jetzt nicht daran zu denken, sondern an ihrem gewohnten Ablauf festzuhalten. Auch wenn heute alles fast zwei Stunden früher stattfand als sonst. Sie stellte die Kaffeemaschine an und schnitt sich zwei Scheiben Brot ab. Annemie frühstückte immer zwei süße Scheiben Brot, und deshalb hatte sie stets zwei Marmeladen geöffnet. Eine helle und eine dunkle. Im Moment waren es zwei Gläser mit goldenem Quittengelee und dunkelvioletter, fast schwarzer Brombeermarmelade. Selbstgemacht natürlich. Auf Annemies Frühstückstisch hatte noch nie ein Glas gekaufter Marmelade gestanden. Während die Kaffeemaschine glucksend durchlief, deckte sie den Tisch. Darauf legte sie Wert, auch wenn sie seit Rolfs Tod alleine dort saß. Sie stellte sich einen hübschen Teller hin, legte eine gefaltete Serviette daneben und platzierte das Besteck exakt parallel zu deren Kante. Als der Kaffee fertig war, goss sie ihn in eine passende Tasse und holte zuallerletzt die Butter aus dem Kühlschrank. Wenn sie etwas nicht mochte, dann war das weiche Butter. Als Rolf noch lebte, hatte sie stets zwei Butterdosen gehabt. Denn Rolf mochte keine harte Butter. Er hasste es, wenn sie sich nicht so streichen ließ, wie er es wollte. Die Dose mit ihrer Butter hatte im Kühlschrank gestanden und Rolfs Butter neben dem Brotkasten. Doch dieser Platz war nun seit einigen Jahren leer. Genau wie das halbe Ehebett im Schlafzimmer und der Fernsehsessel im Wohnzimmer.
Sie setzte sich an den Küchentisch und begann darüber nachzudenken, was sie gleich alles zu erledigen hätte. Nach der zweiten Tasse Kaffee und den beiden Broten fühlte sie sich schon eine Spur besser, aber noch lange nicht bereit für die Aufgaben, die heute vor ihr lagen. Wobei Annemie genau wusste: Sie würde sich diesen Aufgaben niemals gewachsen fühlen, auch wenn sie noch so viele Tassen Kaffee trinken würde. Sie glaubte einfach nicht, dass sie so etwas überhaupt konnte.
Das erste Problem, das sich ihr stellte, war das der passenden Garderobe. In Annemies Schrank befanden sich eine Menge Kleider »für zu Hause«. Ihre Mutter hatte ihr noch beigebracht, dass man Sachen, die nicht mehr perfekt, aber nach wie vor gut in Schuss waren, nicht aussortierte, sondern zu Hause trug. Gleichzeitig schonte man damit die guten Sachen. Weil Annemie sehr wenig »draußen« zu tun hatte, wenn man von den Einkaufsgängen zum Edekaladen einmal absah, die sich sehr gut mit Kleidern für »zu Hause« bewältigen ließen, besaß sie auch sehr wenig Garderobe für »draußen«. Da sie ebenfalls der Meinung war, Anziehsachen müssen aufgetragen werden, wäre sie niemals auf die Idee gekommen, sich einfach mal so etwas Neues für »draußen« zu kaufen. Rolf hatte diese Haltung stets sehr vehement unterstützt. »Die blaue Bluse ist doch noch gut. Wozu brauchst du denn eine neue blaue Bluse?« So kam es, dass Annemie, wenn sie sich schick machte, zwar adrett, aber auch hoffnungslos altmodisch aussah. Sie entschied sich dafür, ihren blau karierten Blazer anzuziehen. Die Goldknöpfe daran machten etwas her, fand sie. Sie hatte ihn schon viele Jahre, und er hatte ihr immer gute Dienste geleistet. Er war aus einem feinen Wollstoff in dezentem Karomuster gefertigt. Ein doppelter grüner und ein unterbrochener roter Faden durchzogen ein sattes Marineblau. Sie würde die dunkelblaue Stoffhose dazu anziehen, eine weiße Bluse, damit konnte man ja nie etwas falsch machen, und das kleine rote Tüchlein um den Hals binden. Sie hielt viel davon, wenn sich die Farben, die man trug, in den verschiedenen Kleidungsstücken wiederholten. Die dunkelblauen Slipper würden das Ganze komplett machen. Sie würde wirklich schick aussehen. Das Dumme daran war allerdings, dass sie sich dann immer schnell verkleidet fühlte: Sie zog sich so selten schick an, dass die ungewohnte Kleidung sie noch zusätzlich verunsicherte.
Nachdem sie die Kleidungsstücke, die sie ausgesucht hatte, mit einem letzten prüfenden Blick auf dem Bett zurechtgelegt hatte, ging sie ins Bad, um sich ihrer Haare anzunehmen. Ihre Haare waren sehr fein. Sie hielten selten so, wie Annemie sich das vorstellte, aber sie waren noch immer blond, wenngleich das Blond auch stumpf und matt wirkte und nicht mehr so strahlte wie früher. Sie ging genau alle sechs Wochen zum Nachschneiden, und jedes Mal versuchte ihr Friseur Marcel, sie zu Highlights zu überreden oder wenigstens zu einer Farbglanzspülung. Aber Annemie fand es zum einen viel zu teuer, zum anderen lohnte sich das doch gar nicht. Für wen sollte sie auch glänzende Haare haben? Als sie an diesem Morgen in den Spiegel schaute, wünschte sie allerdings, sie hätte beim letzten Mal auf Marcel gehört. Ein wenig Glanz hätte jetzt gewiss nicht geschadet. Meistens föhnte sie ihr halblanges Haar einfach trocken. Nur zu besonderen Anlässen sprühte sie etwas Haarfestiger darauf und drehte Strähne für Strähne auf große Wickler, damit sie mehr Volumen bekamen.
Als sie die Lockenwickler im Haar festgesteckt hatte, dachte sie, dass sie nun bei Liz nebenan nach dem Schlüssel für ihren Laden suchen sollte. Es war durchaus möglich, dass sie ihn nicht auf Anhieb fand. So nett ihre Nachbarin auch war, Ordnung gehörte wahrlich nicht zu ihren vordersten Tugenden.
Sie nahm den Schlüssel zur Nachbarswohnung vom Schlüsselbrettchen, das hinter ihrer Tür hing, damit sie immer wusste, wo ihre Schlüssel sich befanden, und trat ins Treppenhaus. Kurz lauschte sie, ob auch niemand von oben herunterkäme und sich wunderte, was Annemie in Morgenrock und Lockenwicklern an der Tür nebenan zu schaffen hatte. Dann schritt sie beherzt zur Tat.
In Liz’ Wohnung fand sie sich sofort einem bunten Durcheinander gegenüber, das davon zeugte, dass Liz am vorherigen Morgen in Eile gewesen sein musste. Im Flur lagen diverse Schuhe verstreut auf dem Boden, so als hätte Liz etliche davon durchprobiert und sich dann doch für keines der hier herumliegenden Paare entschieden. Annemie bückte sich, um sie aufzuheben und wegzuräumen, und fragte sich, ob Liz wohl einen Schuhschrank hatte. Sie schaute kurz in die Kommode, die dort stand, nicht um zu schnüffeln, so etwas lag ihr fern, sie hätte nur gerne die Schuhe weggeräumt. Unordnung ertrug sie einfach nicht gut. Annemie benötigte immer eine gute Übersicht. In der Schublade lagen – sehr unübersichtlich – allerlei gemusterte Tücher, Ketten und Mützen bunt ineinander verschlungen. Keine Schuhe. In der Schublade darunter lagen Glühbirnen, Werkzeug, ein Hüpfseil und Batterien neben einem Weihnachtsengel und einer Packung Kerzen. Das war es auch schon. Der Schuhschrank musste sich woanders befinden. Aber es wäre ihr unangenehm gewesen, ihn nun überall zu suchen. Sie stellte die Schuhe ordentlich nebeneinander an die Seite, nahm die halbvolle Kaffeetasse, die noch auf der Kommode stand, und ging in die Küche, um sie auszuspülen. Die leere Milchtüte auf dem Tisch warf sie in den Müll, wischte mal eben über die Arbeitsplatte, wo eine ganze Ladung Kaffeepulver verschüttet war, und sah sich nach der flachen grünen Schale um. Liz hatte sie gebeten, darin nach dem Schlüssel zu schauen. Und falls sie ihn dort nicht finden sollte, dann gäbe es noch eine Schale im Wohnzimmer, wo sie alles Mögliche sammelte. Aber die Schale in der Küche erwies sich gleich als die richtige. Unter Aspirinschachteln, Weinkorken, Armbändchen, einer Packung Muskatnüsse und einer angebrochenen Tafel Schokolade kam der Schlüssel zum Vorschein. Annemie hätte hier am liebsten erst einmal richtig aufgeräumt. Das konnte sie wenigstens. Hätte Liz sie doch nur gebeten, ihre Wohnung aufzuräumen! Das wäre ihr so viel leichter gefallen, als in den Hochzeitsladen zu gehen und einem Juwelier zu begegnen, dem sie ausrichten müsste, dass Liz im Krankenhaus liege, den sie fragen solle, ob sie schon Wünsche und Vorstellungen notieren könne, und den Rest, den konnte sie sich sowieso nicht merken. Einen freundlichen, kompetenten Eindruck sollte sie dabei aber bitte auch noch vermitteln. Liz hatte so verzweifelt geklungen, dass ihr viel daran liegen musste. Das machte die ganze Sache noch schlimmer. Ihr graute davor. Sie hatte in solchen Dingen wirklich keinerlei Übung.
Annemie verließ ihre Wohnung nur selten. Die ganze Welt war ihr viel zu schnell und unordentlich, viel zu unübersichtlich und laut geworden. Irgendwie hatte sie das Gefühl, in den letzten Jahren den Anschluss verpasst zu haben. Plötzlich rannten alle mit Handys am Ohr umher und achteten überhaupt nicht mehr darauf, wen sie beim Telefonieren umrannten, keiner wartete mehr bei Rot, Fahrradfahrer schossen aus allen Richtungen unvermittelt auf einen zu, von überall her dröhnten Geräusche und Musik, Läden, die sie ihr Leben lang gekannt hatte, verschwanden, stattdessen kamen immer neue, immer buntere Geschäfte, in denen sie nie das fand, was sie suchte. Deshalb ging sie nur alle zwei, drei Tage zu dem kleinen Edekaladen an der unteren Ecke ihrer Straße und von da weiter zu den Geschäften des kleinen Einkaufsviertels ihrer Nachbarschaft. Da fand sie alles, was sie brauchte. Ab und zu ließ sich eine Fahrt in die Stadt nicht vermeiden, um neue Backformen oder besondere Zutaten zu besorgen. Aber dabei blieb es dann auch. Nach diesen seltenen Ausflügen in die Stadt war sie stets richtiggehend erschöpft und froh, wenn sie wieder in ihren eigenen vier Wänden war und nicht mehr mit fremden Menschen sprechen musste. Manchmal hatte sie das Gefühl, sich selbst ganz fremd zu sein, wenn sie mit anderen sprach. So als ob das gar nicht sie selbst sei, die da antwortete, sondern jemand anders, den sie im Grunde gar nicht sonderlich gut kannte, und deshalb blieb sie immer verunsichert, ob dieser Jemand auch das Richtige antworten würde.
Heute stand ihr ein Ausflug bevor, der sie besonders verunsicherte. Sehnsüchtig schaute sie zu dem Schrank, in dem sie ihre Backutensilien aufbewahrte. Wie gerne würde sie einfach hierbleiben und etwas backen. Wenn sie beobachtete, wie der Teig allmählich die richtige Konsistenz bekam, wenn es nach frischer Butter roch oder nach karamellisierendem Zucker, wenn dunkle Schokolade sämig vom Löffel tropfte, dann war Annemie glücklich. Doch jetzt hatte sie eine andere Aufgabe. Sie seufzte. Für Liz würde sie sich zusammenreißen und es schaffen.
Seit Liz neben ihr eingezogen war, hatte sich Annemies Alltag sehr deutlich zum Besseren verändert. Es gab in ihrem Leben nun drei Dinge, auf die sie sich freute und die sie glücklich machten. Das Erste war das Backen. Das Zweite war das Lesen. Einmal pro Woche tauschte sie mit ihrer Freundin Waltraud, die im Edekaladen an der Kasse saß, Liebesromane aus, die sie beide mit großer Wonne verschlangen. Je dicker die Romane waren, desto lieber lasen sie die Bücher, die ihnen für etliche Stunden kleine, herzerwärmende Fluchten aus ihrem Alltag gewährten. Während Annemie besonders die Bücher mochte, auf denen Frauen in hochgeschlossenen langen Kleidern in Rosengärten geküsst wurden, lagen Waltrauds Vorlieben eher bei den tief dekolletierten Varianten. Aber Hauptsache, alles endete gut. Annemies dritte Freude begann stets in dem Moment, in dem Liz abends klingelte und von ihrem aufregenden Leben als Hochzeitsplanerin erzählte. Wenn sie eine neue Torte bei Annemie bestellte und das Brautpaar beschrieb, für das sie die Hochzeitstorte backen konnte. Annemie liebte diese kleinen Geschichten, die ein Brautpaar umwebten, und am allermeisten gefiel es ihr, die Torten nach Herzenslust zu verzieren und zu formen. Wenn sie Liz später ihre Werke präsentierte, musste sie manchmal ganz schön kämpfen, damit noch ein paar Herzchen übrig bleiben durften. Warum waren die modernen jungen Frauen bloß so unromantisch? Da hatte Liz den romantischsten Beruf der Welt und fand, dass sich auf ihren Torten zu viele Girlanden wanden oder zu viele Tauben turtelten. Das Leben war doch schon karg genug! Es konnte wenigstens am Hochzeitstag mal so richtig gerüscht und gerankt zugehen.
Gerade weil sich durch Liz die Freuden in ihrem Leben vervielfacht hatten, war es einfach ihre Pflicht, ihrer Nachbarin zu helfen. Auch wenn es ihr wirklich schwerfiel.
Nachdem Annemie sich angezogen, die Haare zurechtgezupft und mit Spray eingenebelt, die Dose mit den Petit Fours, den Schlüssel und den Busplan zurechtgelegt hatte, waren es noch immer fast drei Stunden. Doch sie beschloss, lieber früher da zu sein, denn so wie sie Liz kannte, gab es auch dort bestimmt noch das eine oder andere aufzuräumen. Außerdem musste sie sich ja auskennen in dem Laden. Musste wissen, wo die Bildbände standen, wo sich die Mappe mit den bereits erprobten Locations befand. »Lokeeschens«. Liz hatte es ihr dreimal vorgesagt, aber das Wort klang aus ihrem Mund ganz komisch. Sie würde Orte sagen. Die Orte, an denen Liz bereits Hochzeiten ausgerichtet hatte. Die sollte sie den Winters mal vorlegen, um vorab einen ganz allgemeinen Rahmen und einige Vorstellungen abzustecken, so es diese denn schon geben sollte. Genauere Vorschläge dazu wollte Liz dann im Krankenhaus ausarbeiten. Und diese »Lokeeschens« musste sich Annemie in der Mappe ja vorher selbst noch anschauen. Neben der Angst, die ihr im Nacken saß und im Magen und in den Knien ebenfalls, spürte sie im Oberkörper links, ganz in der Nähe des Herzens, aber auch so etwas wie ein aufgeregtes Flattern.
Es war das erste Mal, dass sie alleine zum Hochzeitsladen fuhr, den Schlüssel aus ihrer Handtasche holte, als würde sie dort arbeiten, als wäre es ihr eigenes Geschäft, und die rote Tür aufschloss. Als sie eintrat, war aus dem Herzflattern ein Herztoben geworden, und sie musste ein-, zweimal tief Luft holen, bis sich der Sturm in ihrer Brust gelegt hatte und sie sich richtig umsehen konnte. Sie erkannte sofort, dass Liz für den Anlass aufgeräumt hatte. Sie roch die Hyazinthen, die einen üppigen Duft verströmten, schon bevor sie sie erblickte, und warf einen Blick in die kleine Teeküche. Auch die war blitzsauber, und die Tassen standen gespült im Regal. Annemie rückte sie automatisch gerade, so dass alle Henkel in eine Richtung zeigten, sie konnte einfach nicht anders, und sie schaute in die Kaffeedose, aus der ihr frischer Kaffeeduft entgegenströmte. Liz hatte an alles gedacht. Nur nicht daran, dass sie leider eine unwürdige, unfähige Vertreterin haben würde, die all ihre schönen Bemühungen mit schlafwandlerischer Sicherheit zunichtemachen würde. Warum musste sie auch gerade gestern einen Unfall haben? Warum hatte Annemie nicht die Dinge machen dürfen, die sie konnte: Blumen holen, Küche aufräumen, frischen Kaffee besorgen. Warum musste gerade Annemie, die nun wirklich die unromantischste Ehe überhaupt geführt hatte und nun so ein einsames Leben lebte, warum musste gerade sie nun eine junge Braut vor ihrer Hochzeit beraten?
Sie blickte in den Spiegel, in dem sie sich von Kopf bis Fuß sehen konnte, und trat probeweise auf sich zu, um sich die Hand zu schütteln.
»Guten Tag«, sagte sie zaghaft zu ihrem Spiegelbild. »Ich bin Frau Hummel, und ich vertrete Liz Baumgarten.«
Nein, das war viel zu ernst. Und zu schüchtern. Sie ging noch einmal einige Schritte zurück, um es erneut zu versuchen.
»Guten Tag«, lächelte sie sich mit breit verzogenen Lippen an. Das sah grässlich aus. So ging das nicht.
»Guten Tag«, versuchte sie es noch einmal, mit ihrem kleinen, schüchternen Lächeln, und seufzte. »So wie ich aussehe, geben Sie Liz den Auftrag ganz gewiss nicht. Ich habe auch keine Ahnung, was ich jetzt machen soll. Ich kann das nicht. Ich kann das doch gar nicht!«
Sie nahm einen zarten weißen Blütenkranz aus winzigen perlenbesetzten Seidenblumen von einem Ständer und setzte ihn sich ins Haar.
»Ich war nie so eine romantische Braut, wissen Sie«, erzählte sie ihrem Spiegelbild. »Ich habe sehr nüchtern und zweckmäßig geheiratet. Und schnell. Damals heiratete man dann eben manchmal sehr schnell. Auch wenn es gar nicht nötig gewesen wäre. Aber das wussten wir ja nicht.«
Annemie spürte, wie ihr eng ums Herz wurde und eine Woge von Traurigkeit in ihr hochstieg. Wie lange hatte sie daran nicht gedacht? Nicht an ihre Hochzeit, nicht an die Krämpfe in den darauffolgenden Wochen und erst recht nicht an den Krankenhausaufenthalt und die vielen bitteren Stunden, die sie alleine mit ihren Schmerzen und dem Gefühl eines ungeheuren Verlustes verbracht hatte. Die Traurigkeit stach ihr plötzlich sogar in den Augen, so dass sie sich zusammenreißen musste. Und zwar sofort. Das waren nun wirklich nicht die richtigen Gedanken, und sie versuchte, rasch an etwas anderes zu denken, um die unerwünschten Bilder wieder an den Platz zurückzudrängen, an dem Annemie sie jahrelang verwahrt hatte. Unsichtbar. Im Dunkeln ihrer Seele. Sie musste jetzt ganz schnell an etwas anderes denken, sehr schnell, doch kein neuer Gedanke wollte sich formen.