Wilde Jahre - Astrid Ruppert - E-Book + Hörbuch

Wilde Jahre Hörbuch

Astrid Ruppert

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Beschreibung

»Sie wollte immer nur weg, weit weg von zu Hause.« In den ausgehenden Sechzigerjahren verlässt die junge lebenshungrige Paula Winter Hals über Kopf die enge Welt ihres hessischen Heimatdorfes. Und damit auch ihre verbittert schweigsame Mutter Charlotte. In den »Roaring Seventies« von London schlägt sie sich als Sängerin und Schauspielerin durch. Selbst als sie schwanger und vom Vater des Kindes verlassen wird, verschweigt sie ihren Eltern die Wahrheit. Nur in ihrer hochbetagten Großmutter Lisette hat Paula eine Seelenverwandte. Gegen alle Widerstände zieht sie ihre Tochter Maya alleine groß und merkt dabei nicht, dass sich das Mädchen immer mehr von ihr entfernt. Bis Maya eines Tages verkündet, ab sofort bei ihrer Großmutter Charlotte in Deutschland leben zu wollen - in dem Dorf, das Paula viele Jahre zuvor unter Protest verlassen hat.

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Zeit:14 Std. 42 min

Sprecher:Stephanie Kellner
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Über das Buch

»Sängerin? Das ist doch kein Beruf!« In dem hessischen Dorf der kargen Nachkriegsjahre hat man wenig Verständnis für die hochfliegenden Pläne der jungen Paula Winter. Aber ihr Lebenshunger ist groß. Sie will so viel mehr als dieses kleine, bescheidene bäuerliche Leben, das ihre Mutter Charlotte führt. Die Musik der Beatles eröffnet Paula eine neue Welt, und sie will nur noch eines: singen. Hals über Kopf stürzt sie sich in das pralle bunte Leben der Roaring Seventies in England – und mitten hinein in die große Liebe. Als Paula selbst Mutter einer Tochter wird, schwört sie sich, alles anders zu machen. Kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag will Paulas Tochter Maya endlich wissen, wer ihr Vater ist. Dabei lernt sie ihre Mutter von einer ganz neuen Seite kennen. Maya beginnt zu verstehen, warum die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern oft … nicht einfach, aber immer … ganz besonders ist.

Von Astrid Ruppert sind bei dtv außerdem erschienen: Leuchtende Tage Ein Ort, der sich Zuhause nennt Obendrüber, da schneit es

Die Spotify-Playlist zu ›Wilde Jahre‹ ist unterwww.dtv.de/wilde-jahre-playlist zu finden.

 

 

 

 

was nur einmal ist und auch nicht umzuändern, siehe: das bist du.

Peter Rühmkorf

1977

Dicke Tropfen klatschen gegen die Fenster. Das Geräusch beginnt allmählich an ihren Nerven zu zerren. Ist es Gischt oder ist es Regen? Mittlerweile kann sie es schon nicht mehr unterscheiden. Seit Tagen peitscht der Sturm gegen die dünnen Scheiben, die sie von der Außenwelt trennen, seit Tagen hört sie den Kies über den Strand rollen, wenn die aufgebrachten Wellen die Steine an Land schleudern und sie grollend wieder zurück ins Meer ziehen. Die ganze Welt da draußen versinkt im Wasser. Manchmal denkt sie, dass sie sich gar nicht mehr an Land befindet, gar nicht in einem festen Haus direkt am Strand, sondern dass sie auf hoher See auf einem Schiff ist, das haltlos von den Wellen hin und her geworfen wird. Und auf diesem Schiff gibt es nur sie und diesen neuen Menschen, dieses kleine Mädchen, das neben ihr auf dem Sofa liegt und schläft, ungerührt von dem Sturm, der da draußen wütet. Sie muss sie immerzu anschauen. Alles an ihr ist so unglaublich perfekt. Die Wimpern, die feinen Ohrmuscheln, der zarte Mund, die Nase und dieser Duft, mit dem sie auf die Welt gekommen ist. Dieser süße, erdige Duft. Dass man mit einem gebrochenen Herzen so verliebt sein kann. So verliebt und so voller Zweifel. Vielleicht ist Verliebtsein auch das falsche Wort. Verliebt, das klingt jugendlich und beschwingt. Dieses Verliebtsein hier ist gewaltig. Als ob eine uralte Kraft sie ergriffen und mitgerissen hat. Sie konnte gar nichts dagegen tun. Der englische Begriff für verliebt ist eigentlich viel passender: Sie ist in love. In Liebe. Sie und dieser kleine Mensch in ihrem Arm, sie sind in Liebe.

»Ich habe eine Tochter«, sagt sie laut, aber niemand hört es. Es ist so schade, dass es niemand hört.

Jetzt ist sie Mutter, und alles ist anders, als sie es sich vorgestellt hat. Sie betrachtet das kleine Gesicht und kann es kaum glauben, dass das Kind, das sie in ihren Armen hält, das gleiche Wesen ist, das die letzten Monate in ihr gewachsen ist, dessen Strampeln sie gefühlt hat. Ihr Baby öffnet die dunklen Augen, und interessiert mustern sie sich gegenseitig.

»Hallo, Maya«, flüstert Paula, und die Kleine verzieht einen Mundwinkel. Maya lächelt. Eine große warme Welle flutet durch Paula hindurch, unwillkürlich lächelt sie zurück und ist: in Liebe.

Sie wird eine gute Mutter werden. Weil sie das will. Auch wenn sie keine Ahnung hat, was das ist, eine gute Mutter. Und wie man eine werden kann. Vielleicht gibt es ja ein Buch, in dem man etwas darüber lesen kann? Sie nimmt sich vor, im Buchladen danach zu fragen. Woher soll man wissen, wie man alles richtig macht, wenn es einem keiner zeigt? Im Krankenhaus hat man ihr beigebracht, wie man das Köpfchen hält, wenn man das Baby hochnimmt, wie man wickelt, wie man stillt, wie man das Baby sein Bäuerchen machen lässt. Vielleicht kann man dann ja auch lernen, wie man den ganzen Rest richtig macht? Wenn man es überhaupt lernen kann. Vielleicht braucht man dafür aber auch Talent? Denn wenn man es lernen könnte, warum hat ihre eigene Mutter es dann nicht gelernt?

Wie es ihrer Mutter wohl damals ging, als sie sie zur Welt gebracht hatte? Sie selbst war einmal ein kleines Baby, das im Arm der Mutter lag, so wie Maya jetzt in ihrem Arm liegt. Sie würde ihrer Mutter gerne sagen, dass sie eine Tochter hat. Mutter, ich habe eine Tochter. Und in diesem Moment steigen ihr Tränen in die Augen. Dabei hat sie ihre Mutter doch noch nie vermisst. Noch nie. Warum auch? Mama …, sagt eine kleine Stimme in ihr, und sie versucht, die Kinderstimme in sich zum Schweigen zu bringen. Denn sie weiß genau, dass es diese Mama, nach der sie sich gerade sehnt, gar nicht gibt. Die Liebe ihrer Mutter hat sich immer darin gezeigt, dass sie sie mit allem versorgte, was nötig war. Essen, warme Pullover, ein Pflaster, wenn sie sich verletzt hatte. Auf den Rest musste man verzichten können. Mit ihrem Wunsch nach Mitgefühl oder Trost war sie oft alleine gelassen worden. Kein Wunder, dass sie kein Heimweh kennt. Und trotzdem ist da dieses Ziehen in ihr, und sie hat kein anderes Wort dafür als das: Heimweh.

Draußen tobt noch immer der Sturm. Die Fenster sind trübe vom Salz des Meeres. Ob man sie zwischendurch putzen muss, damit das Salz das Glas nicht angreift? Sie weiß nicht, ob das Glas immer dünner wird, so wie auch ihre eigene Schutzschicht immer dünner wird, in diesem nicht enden wollenden Sturm. Eigentlich ist es ganz in Ordnung, dass das Wetter draußen und das Wetter in ihr sich so ähneln. Sie hat das Gefühl, dass die Natur zu ihr hält.

Zusammen mit Harry wäre das jetzt alles leichter. Aber Harry ist fort. Wahrscheinlich ist er sehr verwirrt, alles ist ihm zu viel, und er braucht einfach Zeit. Sie muss Geduld haben und ihm diese Zeit geben. Dabei ist Geduld wirklich nicht ihre Stärke. Noch nie gewesen. Aber irgendwann wird er doch erkennen, um was es eigentlich geht, er wird aufwachen, wie Dornröschen aus dem Zauberschlaf, und wieder zu ihr kommen. Sie muss lächeln, als sie sich vorstellt, dass er in Rosen schlummert. Er wird wiederkommen. Weil sie daran glaubt. Weil sie auf ihn wartet. Weil etwas anderes überhaupt nicht möglich ist.

Sie hat ihre kleine Tochter Maya genannt. Maya ist in Nepal das Wort für Liebe. Sie kennt das Wort in vielen Sprachen, die sie alle nicht spricht. Aber was Liebe heißt, das weiß sie. Sie lauscht nach draußen. War da eben ein Geräusch vor der Tür? Sie versucht, zwischen dem trommelnden Regen und dem heulenden Wind zu hören, ob da nicht doch Schritte waren. So überzeugt ist sie, dass Harry jetzt vor der Tür stehen muss, dass sie sogar aufsteht, und die Tür öffnet, um nachzuschauen. Es zieht gewaltig. Aber niemand ist da. Leer und kalt gähnt das Treppenhaus.

In ihrem Arm liegt ihre kleine warme Tochter, deren Ärmchen unentwegt rudern, wenn sie wach ist. Sie schlägt das dunkelrote Wolltuch enger um sie herum, damit sie es warm hat, und stellt sich mit ihr ans Fenster. Ganz dicht, so dass sie den Wind spürt, der überall durch die Ritzen pfeift, und flüstert ihr zu, dass sie keine Angst vor dem Sturm haben muss. Weil er vorübergehen wird. Und dass es im Auge des Sturms ruhig sein wird. Ganz ruhig. Und wenn es ruhig wird, dann weiß man, dass die Hälfte schon vorbei ist und dass man die andere Hälfte dann auch noch schafft. Irgendwann wird der Sturm aufhören, und dieses Schiff wird seinen Hafen ansteuern und dann wird sie ankommen. Dann wird sie endlich da sein. Sie hat keine Ahnung, wo das sein wird und wann. Aber sie weiß genau, dass sie irgendwann einmal ankommen will, und deshalb fasst sie jetzt einen Entschluss. Sie beschließt, nicht mehr zu jammern und nicht mehr zu warten. Sie beschließt, sich wieder auf den Weg zu machen. Das hat sie immer gemacht, wenn es nicht mehr weiterging. Das macht sie auch jetzt. Ab jetzt wird alles besser, sagt sie der kleinen Maya. Und ich werde eine gute Mutter sein, weil wir einfach alles anders machen. Und irgendetwas davon wird schon richtig sein.

1

Du weißt ja gar nicht, wie gut du es hast.

1949

Das Dorf lag eingebettet zwischen Weideland und Feldern, Obstwiesen und bunten Futterwiesen, in denen Margeriten und Klee blühten, bevor sie im Frühsommer gemäht wurden. Die oberhessische Landschaft war sanfter als das Rheingau, aus dem sie stammte, dafür war das Klima rauer, und auch die Menschen, die hier lebten, waren rauer. Aber vielleicht stimmte das auch gar nicht, dachte Charlotte. Vielleicht konnte man die Menschen vor dem Krieg nicht mit den Menschen nach dem Krieg vergleichen. Der Krieg hatte sie alle verändert. Auch sie war eine andere geworden. Charlotte war jetzt schon fünf Jahre hier, und inzwischen kannte sie die wiederkehrenden Gerüche der Landschaft, die sie umgab. Heute roch es nach süßem Heu, denn überall waren die Wiesen geschnitten worden. Sie waren früh hinausgefahren, um das Heu noch einmal zu wenden, bevor sie es morgen einholen würden. Der Tag versprach warm zu werden, und die Sonne schien aus einem klaren blauen Himmel auf sie herab. Das perfekte Wetter fürs Heuen.

Das Fuhrwerk ruckelte auf den unebenen Wegen, und sie hielt sich den Bauch. Fritz schaute sie besorgt an und fragte, ob alles in Ordnung sei. Er hatte sie morgens nicht mit hinausnehmen wollen, aber sie hatte gesagt, etwas Bewegung würde ihr guttun. Sie hatte Licht und Luft gebraucht und einen Himmel über sich.

Das Kind würde bald kommen. Ihre Schwiegermutter hatte gemurmelt, dass sie nicht da sein könnte, um ihr zu helfen, sollte das Kind auf den Wiesen geboren werden. Fritz hatte noch ängstlicher geschaut, als er sowieso schon immer schaute, aber Charlotte hatte den Kopf geschüttelt und versprochen, sich nicht zu sehr anzustrengen, sie wolle doch nur hinaus ins Freie. Das hatte ihn beruhigt. Sie konnte ihn immer beruhigen. Das war wahrscheinlich der einzige Grund, warum ihre Schwiegermutter den Kampf gegen sie aufgegeben hatte. Weil Fritz in ihrer Gegenwart ruhiger wurde.

Als sie an der Wiese ankamen, musste Fritz ihr vom Wagen helfen. Aber dann griff sie wie die anderen auch nach einer Gabel und nahm sich eine Reihe vor. Sie arbeitete langsam, und die Heuladungen, die sie wendete, waren klein und flogen nicht so mühelos wie bei den anderen. Aber es tat gut, draußen zu sein. Immer wenn die schweren Gedanken kamen, tat es ihr gut, draußen zu sein und Arbeit zu haben. Es war das Einzige, was half. Jetzt, kurz vor der Geburt ihres Kindes, wo sie doch glücklich sein müsste und froher Erwartung, da war es besonders schwer. Doch sie versuchte, die düsteren Gedanken zu vertreiben und sich nichts anmerken zu lassen. Es war wichtig, sich nichts anmerken zu lassen. Als ihr der Duft des Heus, der sich schon bald über der Wiese ausbreitete wie ein Teppich, in die Nase stieg, wurde alles leichter. Sie streckte sich, stützte ihre Hände ins Kreuz, und der Schmerz im Rücken ließ etwas nach. Sie atmete tief durch und sah in den Himmel, in dem weiße Wolkenschleier wie Spitze vor einem hellblauen Himmel schwebten. Die Feldlerchen schraubten sich hoch und sangen, Fliegen brummten, und der Heustaub begann auf ihren bloßen Armen zu jucken, während der Tag immer wärmer wurde.

Charlotte sah, wie die anderen schnell ihre Reihen zogen, und wie Fritz sich zu ihr umdrehte, um zu schauen, ob alles in Ordnung war. Sie nickte ihm zu, alles ist gut. Er nickte zurück, und sie musste lächeln, wie schnell er das Heu heute wendete. So als wollte er so schnell sein, dass nichts mehr für sie übrig bliebe. Das war auch schon ganz anders gewesen. Als er aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war, da war sie es, die seine Ladungen für ihn gewendet hatte. Wie oft hatte er wie verloren im Feld gestanden, als ob er vergessen hatte, was er hier eigentlich sollte. Dann wieder hatte er sich wie irre über die Wiesen gearbeitet, über die Felder, durch die Ställe, wie ein Besessener, der erst aufhören konnte, wenn er fast zusammenbrach vor Erschöpfung. Den anderen hatte das bisweilen Angst gemacht, den jungen Bauer so zu sehen. Da waren sie erst froh gewesen, dass er heil aus dem Krieg zurückgekommen war. Der Körper war dürr, aber er war noch ganz. Und dann das. Das war doch nicht heil.

Sie hatte ihn verstanden. Ihr ging es genauso, sie konnte ihre Verletzungen nur besser verbergen, weil sie gut gelernt hatte, alles zu verbergen.

Mittags waren sie fertig und fuhren zurück. Als das Fuhrwerk auf den gepflasterten Hof ruckelte, spürte sie, dass es losging. Ein Krampf ließ den Bauch fest und hart werden, und der Schmerz im Rücken wurde schärfer, als würde jemand mit einer Zange hineinkneifen. Das war die erste Wehe. Heilige Margarete, steh mir bei, betete sie, und das Beten half. Bis zur nächsten Wehe, die sie mit Margaretes Hilfe gut ertragen konnte, dauerte es eine ganze Weile, und sie sagte niemandem etwas, bis der Abwasch nach dem Mittagessen erledigt war. Die Wehen kamen jetzt in kürzeren Abständen, und der Schmerz wurde spitzer. Charlotte hängte die nassen Geschirrtücher ordentlich an den Herd zum Trocknen und wandte sich zu ihrer Schwiegermutter um.

»Es dauert nicht mehr lang. Ich gehe hoch. Würdest du die Hebamme rufen?«

Ihre Schwiegermutter warf ihr einen irritierten Blick zu. »Ja, hast du denn schon Wehen?«

»Sie kommen jetzt ständig.«

Damit verließ Charlotte die Küche und ging langsam die Treppe hoch. Als sie spürte, dass die nächste Wehe anrollte, klammerte sie sich am Geländer fest, bis es vorbei war, und die heilige Margarete stützte sie, und dann ging sie weiter nach oben in ihr Schlafzimmer.

Es dauerte eine Stunde, bis die Hebamme da war, und noch eine weitere Stunde, bis das Kind da war. Wie in einem Traum zog alles an ihr vorbei, unwirklich schien es ihr, dass sie hier lag und auf Kommando den Atem anhielt und presste und wieder atmete. Sogar der Schmerz schien irgendwie in diesen Traum zu gehören. Das ist es jetzt. Jetzt bekomme ich ein Kind, sagte sie sich immer wieder. Mein Kind kommt jetzt. Aber es blieb sonderbar, sie war da und spürte den Schmerz, und gleichzeitig war sie wie in einer Trance und ganz woanders. Und als es vorbei war und die Hebamme ihr irgendwann das Kind in den Arm legte, da wurde es plötzlich Wirklichkeit.

»Es ist ein Mädchen«, sagte sie und setzte sich zu ihr auf die Bettkante. »Das hast du gut gemacht, Charlotte, sehr gut, weißt du das?«

Charlotte spürte das kleine Gewicht in ihrem Arm und schaute in die dunklen Augen des kleinen Mädchens, in denen die Weisheit der ganzen Welt zu liegen schien. Die alles sahen, was es zu sehen gab. Sie sah den dunklen, suchenden Blick über ihr Gesicht wandern, und als das kleine Wesen den Mund verzog wie zu einem Lächeln, da löste sich etwas ganz tief in ihr. Sie begann zu weinen. Sie hielt ihre Tochter und dachte, sie müsse jetzt aufhören zu weinen, jetzt sofort, sonst würde sie nie mehr aufhören können. Nie mehr. Etwas Gewaltiges überschwemmte und schüttelte sie und ließ sie nicht los. Gleich würde sie hemmungslos schluchzen. Sie musste damit aufhören und rang nach Luft. Wenn sie tief genug atmete, würde sie aufhören können, das wusste sie, das konnte sie. Aber so tief sie auch zu atmen versuchte, es brach einfach aus ihr heraus. Dieses Weinen, das waren keine stillen Freudentränen, das Weinen schwemmte sie weg aus diesem Raum, diesem Haus und hin zu etwas, was sie für immer vergessen wollte.

Die Hebamme nahm ihr das Kind aus dem Arm und gab ihr ein Tuch, in das sie ihr Gesicht vergrub und das sie sich in den Mund stopfte, um das Schluchzen zu stoppen. Dieses Schluchzen, es musste doch aufhören … aufhören.

Wortfetzen drangen an ihr Ohr, durch das Schluchzen hindurch … Erschöpfung … so tapfer … jede Frau ist anders … Ruhe … Ruhe, ja. Ruhe. Wie gerne hätte sie Ruhe. Aber würde sie die jemals wieder finden können?

Mein Ruh ist hin, Mein Herz ist schwer; Ich finde sie nimmer und nimmermehr.

Später, als alles wieder sauber war, als sie sich frischgemacht hatte und die Kleine neben ihr schlief, kam Fritz und legte sich neben sie. Vorsichtig schlang er den Arm um sie beide.

»Wir haben eine Tochter«, flüstert er leise und legte seinen Kopf an Charlottes Schulter, und sie spürte, wie sie ruhiger wurde. Sie schloss die Augen, und sie lagen ganz still zusammen, spürten, wie sie atmeten, zu dritt, und wie ihre drei Herzen klopften. In diesem Nest war alles gut. Hier war alles gut und ruhig. Aber durfte das überhaupt sein, alles ruhig und gut?

»Wir nennen sie Helene, wie meine Mutter«, sagte Fritz.

Aber Charlotte schüttelte den Kopf. »Sie heißt Paula«, sagte sie. »Ich habe sie schon Paula genannt.«

»Aber alle Kinder werden hier nach den Großeltern benannt. Schon immer«, widersprach Fritz, und sie spürte, dass die Ruhe vorbei war. Er hatte Angst, es seiner Mutter zu sagen, es machte ihn nervös. »Und deine Mutter heißt doch auch nicht Paula. Woher kommt …?«

»Meine Tochter heißt Paula«, wiederholte sie noch einmal in einem Ton, der noch weniger Widerspruch duldete, und er verstummte.

Zur Taufe gab es zwei Bleche Butterkuchen und echten Bohnenkaffee für alle. Die Taufe des ersten Enkelkindes, auch wenn es nun Paula hieß und nicht Helene, war ein Grund zum Feiern, ein Grund, aufzutischen und einmal nicht zu verzichten. Verzichten konnten sie gut. Die Kriegsjahre hatten ihnen beigebracht, dass man auf alles verzichten konnte, wenn man musste.

Die Haustür stand nicht still, denn das halbe Dorf kam zum Gratulieren. Vielleicht weil es sich herumgesprochen hatte, dass es frischen Butterkuchen gab, mit echter Butter gebacken, ohne zu sparen. Vielleicht auch, weil der Duft die halbe Dorfstraße hinunterzog und man ihm einfach folgen musste. Vielleicht auch, weil man sich einfach freute, dass ein Kind zur Welt gekommen war. Ein Kind, das nichts wusste von Angst und Verlust, von Leid und Krieg. Ein neuer Mensch, der noch keine Schuld auf sich geladen hatte.

»Kinder sind die Hoffnung«, sagte der alte Heiner und stopfte sich das dritte Stück Butterkuchen in den Mund, so dass Helene den Teller mit den Kuchenstücken nahm und etwas weiter von ihm wegstellte, damit er die duftenden Stücke nicht mehr so leicht erreichen konnte. Es überraschte Charlotte, dass der Teller dabei in ihre unmittelbare Nähe wanderte. Das kannte sie nicht, dass ihre Schwiegermutter ihr etwas Gutes einfach so vor die Nase schob. Vielleicht galt es doch eher ihrem Sohn, der neben ihr saß und die vielen Glückwünsche mit einem stillen Lächeln entgegennahm. Natürlich. Helene hatte für ihn gebacken. Für ihn hatte sie die Butter gespart. Bestimmt nicht für sie. Sie wollte ja noch nicht einmal ihre Tochter nach den Frauen der Familie benennen, in die sie eingeheiratet hatte.

»Wer in deiner Familie heißt denn nun Paula?«, hatte Helene sie misstrauisch gefragt, und Charlotte hatte nicht geantwortet. Sie hatte nicht viel erzählt von ihrer Familie, wo sie herkam und wie sie gelebt hatte, bevor sie im letzten Kriegswinter hier im Dorf gelandet war. Und sie würde es auch weiterhin so halten. Es war besser, wenn man nicht zu viel erzählte. Es ging doch niemanden etwas an.

»Wenigstens ist es kein Junge«, sagte das alte Mariechen. Und alle wussten, was sie dachte. Ihr ältester Sohn und ihr Enkel waren in den Krieg gezogen und nicht mehr nach Hause gekommen. Die Zeiten änderten sich. Früher war es wichtig gewesen, Jungen auf die Welt zu bringen, starke Arbeiter, die den Hof erbten und mit Kraft weiterführten. Jetzt, wo die Männer fehlten, hatten alle gemerkt, dass es völlig egal war, wer die Arbeit machte, und dass auch Frauen einen Hof weiterführen konnten.

»Vielleicht gibt’s ja noch ein Mädchen«, sagte sie und nickte der Jüngsten von Lemmers zu. Hilde vom Nachbarhof war hochschwanger und stöhnte, dass sie nur wünschte, es wäre schon draußen, was immer es auch sei, und dass sie die Lotte beneidete.

»Du hast es wenigstens schon hinter dir.«

»Nur kein Kanonenfutter«, setzte Mariechen bitter nach. »Ein Mädchen wird kein Kanonenfutter. Sei mal froh, Lotte.«

»Mädchen passieren andere Sachen. Im Krieg leidet jeder«, sagte Charlotte. Alle verstummten und sahen Charlotte an. Doch ihr Gesicht war verschlossen, und keiner fragte nach. Man fragte nicht nach. Es war nicht gut, zu viel zu wissen.

»Hoffen wir für alle, dass es keinen Krieg mehr gibt«, sagte Charlotte, und alle brummten zustimmend, tunkten den Butterkuchen in den echten Bohnenkaffee und versuchten, alles andere zu vergessen.

2006

Paula zog mal wieder um. Ich kannte niemanden, der so oft umzog wie meine Mutter. Vom Altbau in einen Neubau, von der ruhigen Seitenstraße mitten ins Szeneviertel, von Charlottenburg nach Kreuzberg, von Prenzlauer Berg nach Friedrichshain und dann wieder nach Charlottenburg.

»Ach, der alte Westen, der hat schon was«, sagte sie, während ich ihr half, die Lampen und die Bilder in die neue Wohnung zu tragen, die keine zweihundert Meter entfernt von der Wohnung lag, in der vor vierzehn Jahren ihr Berliner Leben begonnen hatte. Aber auch bevor sie nach Berlin gezogen war, waren wir ständig umgezogen, hatten Städte und Stadtviertel gewechselt, als wären wir zwei Abenteurer auf Entdeckungsreise und nicht eine kleine Mutter-Tochter-Familie, die ein Zuhause brauchte. Ich konnte schon früh Kisten packen wie ein Profi und wusste immer genau, wie viele Kisten ich benötigte, um mein Kinderzimmer einzupacken. Wenn bei einem Umzug einer von Paulas Verehrern mit im Spiel war, der versuchte, seine väterlichen Seiten zum Klingen zu bringen und mir beim Packen zu helfen, ging es immer schief. Dann kamen Bär und Bobo am Ende noch in die Kiste mit den Büchern, obwohl die beiden niemals in die Bücherkiste gesteckt werden wollten, weil sie in Kisten Angst hatten, weil es darin doch hart und dunkel war. Bär und Bobo zogen immer zusammen mit meinem Bettzeug und allen Kissen in einem großen Bettbezug um. Aber ich wusste, dass man die Vateranwärter nicht so früh entmutigen durfte, sonst war Paula stinksauer. Wenn sie verliebt war, dann wünschte sie sich, dass ich darüber genauso glücklich war wie sie, und ich hatte immer das Gefühl, ihr das irgendwie schuldig zu sein. Aber es war mir lieber, wenn ich einfach so packen konnte, wie ich es für richtig hielt und ohne dass meine Kuscheltiere Angst haben mussten.

Am allerliebsten mochte ich es, wenn wir gar nicht umzogen. Während meine vagabundierende Mutter schon immer geglaubt hatte, dass es irgendwo anders besser wäre als da, wo sie sich gerade befand, wohnte ich noch immer in meiner Studentenwohnung, aus der ich mit fast dreißig inzwischen eigentlich herausgewachsen sein sollte. Aber sie passte mir immer noch wie ein etwas abgetragener, gemütlicher Pullover, von dem man sich nicht trennen mochte, obwohl er schon länger nicht mehr gut aussah. Von dieser Sorte Pullover besaß ich einige. Während Paula sich ständig neu erfand, hatte ich mir angewöhnt, Halt an den Dingen zu suchen, die mich umgaben und die mir erzählten, wer ich war.

Freust du dich auf dein neues Zimmer? Bist du schon gespannt auf die neue Klasse? Wie aufregend, wir entdecken einen ganz neuen Schulweg! Ich nickte, weil Paula es in ihrer Begeisterung so erwartete, aber ich glaube, ich war nie sehr überzeugend. Bestimmt ist deine neue Lehrerin viel netter als die blöde Sumpfkuh in der alten Schule. Ja. Bestimmt war die neue Lehrerin netter als die blöde Sumpfkuh. Aber keine konnte so nett und so wunderschön sein wie meine allererste Klassenlehrerin Frau van Nelle, von der ich lange Zeit überzeugt war, dass sie Vanille hieß. Die Hausaufgaben für Frau Vanille machte ich mit besonders viel Liebe, weil ihr rot geschminkter Mund mich dann besonders schön anlächelte. Erst auf der Karte, die Frau Vanille mit der ganzen Klasse für mich zum Abschied gebastelt hatte, entdeckte ich, wie man ihren Namen richtig schrieb. Keine Grundschullehrerin hatte danach jemals wieder so schön gelächelt, keine hatte geduftet wie Nachtisch, und ich machte nie wieder gerne Hausaufgaben. Warum auch?

»Du hättest viel Geld gespart, wenn du einfach in Charlottenburg geblieben wärst«, sagte ich, als wir in dem Straßencafé bei ihr um die Ecke frühstückten, weil in ihrer Wohnung noch nichts funktionierte und die Küchenkisten noch nicht ausgepackt waren. Die Tische im Freien waren voll besetzt. Es war ein schöner warmer Oktobertag, und jeder hier schien noch einmal die Sonne genießen zu wollen, solange sie noch über die Häuserdächer schien.

»Dann hätte ich aber nicht gewusst, wie es ist, mitten in Kreuzberg zu wohnen oder eine Prenzlbergerin zu sein. Du solltest auch mal umziehen, du musst mal raus aus deiner Wohnung, du bist viel zu sesshaft für dein Alter. Komm doch nach Berlin, hier findest du bestimmt auch mal einen gescheiten Job!«

Paula fand mein Leben langweilig. Und meinen Job auch. Vielleicht fand sie auch mich langweilig. Vielleicht hätte sie lieber eine Tochter gehabt, die etwas glamouröser war, ausgeflippter, interessanter. Aber sie hat nun mal mich bekommen, damit mussten wir uns beide abfinden. Immer wieder aufs Neue.

»Ach, ich liebe Charlottenburg.« Sie schaute den Menschen nach, die am Café vorbeigingen. »Hier muss man nicht so hipp sein wie im Osten. Es ist viel entspannter hier. Und weniger Touristen.«

Sie schaute verdächtig oft auf ihr Handy und schien auf eine Nachricht zu warten.

»Mann oder Job?«, fragte ich, als sie schon wieder ihr Handy kontrollierte.

Sie sah mich fragend an.

»Na, auf was wartest du, auf eine Nachricht von einem Mann oder einem Engagement?«

Sie lachte und warf ihre goldenen langen Haare nach hinten über ihre Schulter. Paula war von Natur aus blond, aber seit einigen Jahren half sie dem Blond, das mit der Zeit immer dunkler geworden war, etwas nach. Sie ließ es regelmäßig in einem wunderbaren Goldton färben, der fast noch besser zu ihr passte als ihr natürliches Blond. Paula war eine sehr schöne Frau. Sie steuerte auf die sechzig zu, was man nicht erwähnen durfte, und freute sich, wenn man sie jünger schätzte, was regelmäßig passierte.

»Ist es so offensichtlich?«

Ich nickte.

»Ach, er ist einfach toll«, sagte sie. »Und es fühlt sich alles total richtig an.«

Das tat es meistens, am Anfang, den Satz kannte ich schon.

»Er spielt Klavier, weißt du, und er hat eine Sängerin gesucht. Jemand hat ihm von mir erzählt, und wir haben uns getroffen, und … ja …«

»Und ja?«

»Wir arbeiten an einem Programm. Ein paar Klassiker und ein paar von meinen alten Songs. Er mag sie, ist das nicht schön? Vielleicht tingeln wir damit ein bisschen durchs Land? Wer weiß.«

Ich wunderte mich, dass meine Mutter sich wieder mehr auf die Musik konzentrieren wollte, von der sie behauptete, man könne davon einfach nicht leben. Es musste sich um einen tollen Mann handeln.

»Frauen in meinem Alter werden nicht gerade überschüttet mit Rollenangeboten. Männer werden immer gerne besetzt, mit grauen Schläfen, im besten Alter, aber die spielen dann mit den jungen Hüpfern an ihrer Seite und nicht mit den Frauen, die vom Alter her zu ihnen passen.«

Das stimmte. Wenn sechzigjährige Männer im Film dreißigjährige Frauen heirateten, fanden das alle normal. Und wenn eine sechzigjährige Frau mit einem Mann von Ende vierzig zusammen war, dann war es gleich das Thema des Films.

»Und ich möchte doch nicht nur Großmütter spielen. Meine Stimme ist noch richtig gut, da kam die Begegnung mit Mark gerade recht.«

»Mark«, sagte ich. »Wie alt ist Mark eigentlich?«

»Keine Ahnung«, erwiderte sie lächelnd. »Und wie geht’s deinem Yannick?«

»Mein Yannick ist nicht mehr mein Yannick.«

Ich erzählte ihr, dass wir uns im Sommer getrennt hatten. Sie reagierte betroffen, dass sie das erst jetzt erfuhr, und warum ich das denn nicht erzählt hätte?

Ich zuckte die Achseln. »Du mochtest ihn ja eh nicht besonders.«

»Das stimmt nicht«, protestierte sie. »Ich mochte ihn, aber ich fand eure Liebe zu … zu klein. Ich wünsche dir eine größere Liebe. Deshalb weiß ich jetzt nicht, ob ich vielleicht sogar froh bin, dass ihr euch getrennt habt. Du weißt ja …«

»… wenn die Liebe nicht groß ist, braucht man gar nicht erst anfangen, ich weiß.«

Das war Paulas Wort zum Sonntag. Paulas lebenslange Überzeugung und der Motor für Paulas immerwährende Suche nach der einen, der ganz, ganz großen Liebe. Einer Liebe, wie sie meine Urgroßmutter Lisette gefunden hatte und deren Erfüllung uns Frauen der Familie Winter über die Generationen hinweg verloren gegangen war. Wie gerne wüsste ich, warum das so war.

»Du hättest es mir sagen sollen! Ich hätte dich getröstet, wir wären zusammen weggefahren …«

Vielleicht hatte ich genau das nicht gewollt, vielleicht hatte ich auch ihr gegenüber nicht zugeben wollen, dass sie irgendwie recht gehabt hatte. Ich schwieg und rührte den Schaum in meinem Milchkaffee glatt.

»Und gibt es jemand anderen?«

Ich schüttelte den Kopf, und genau in diesem Moment kam die SMS, auf die sie gewartet hatte. Lächelnd wandte sie sich ihrem Handy zu.

Nein, es gab niemand anderen. Wie auch? Ich verstand nicht, wie jemand von einer Beziehung in die nächste springen konnte, als wäre man unfähig, alleine zu sein, als müsste man sich schnell ablenken, als wäre man nur mit einem Partner vollwertig. Ich würde mich bestimmt besser fühlen, wenn ich nicht alleine wäre, aber ich musste die Trennung doch erst einmal verarbeiten, es war ja alles erst wenige Monate her. Ich dachte viel darüber nach, warum wir uns getrennt hatten, was in unserer Beziehung schiefgelaufen war. Damit war ich so beschäftigt, dass es in mir gar kein freies Zimmer gab, in das eine neue Liebe hätte einziehen können. Und immer öfter dachte ich, dass dieses freie Zimmer in mir vielleicht überhaupt nicht existierte, dass auch Yannick deshalb nicht viel Platz in meinem Leben einnehmen konnte.

Manchmal fühlte ich mich einsam. Die meisten meiner Freunde und Bekannte waren Pärchen, und als Single fiel man plötzlich raus aus der Pärchenwelt. Zum Glück gab es Lukas, der erst seit Kurzem in Frankfurt war. Wir hatten uns zu einer praktischen Notgemeinschaft zusammengetan und verabredeten uns ab und zu am Wochenende. Sonntags gingen wir frühstücken oder wir machten Ausflüge, bei denen wir uns alte, verlassene Häuser anschauten, in denen Farne und Moose wucherten, wo früher Menschen gelebt, geträumt, gestritten, geliebt hatten. Wir gehörten beide in die gleiche Gruppe von Urban Explorern, die diese Lost Places fotografierten und der Seele verlassener, zerfallener Orte nachspürten. Man brauchte einen gewissen Abenteuergeist dafür, der mir oft in dem Moment abhandenkam, in dem ich mich plötzlich alleine in einem leeren Raum in einem verlassenen Haus befand. Sobald ich alleine war, kam von irgendwoher diese unbegreifliche Angst angeflogen und nistete sich in mir ein. Es war mir oft peinlich, und ich versuchte, diese Panik vor anderen zu verbergen. Lukas hatte damit überhaupt kein Problem, deswegen war ich gerne mit ihm unterwegs. Ihm konnte ich davon erzählen, und er ging damit um, als wäre es völlig normal, dass man in einem leeren, alten Haus Angst bekam. Lukas war wirklich nett, und ich war froh, dass wir im Moment in einer ähnlichen Situation waren und uns gegenseitig darüber hinweghalfen. Aber wenn ich Paula jetzt von ihm erzählte, würde sie gleich vermuten, dass da mehr wäre. Ich hielt also lieber den Mund.

Als wir zurückkamen in Paulas neue helle Altbauwohnung, öffnete sie die Flügeltüren zu ihrem Balkon und begann zu planen, was sie alles auf den Balkon pflanzen würde. Eine Rose wollte sie unbedingt, eine duftende, rankende Rose, und bunt sollte es werden. Paula fiel ein, dass in dem Blumenladen um die Ecke doch noch Töpfe mit blühenden Rosen gestanden hatten, griff nach ihrer Tasche und verschwand auf der Suche nach ihrer Traumrose, während ich weiter ihre Kisten auspackte.

In einer Kiste kam mir ein ganzer Schwung alter Fotos entgegen. Es waren Schwarz-Weiß-Bilder aus Paulas Jugend. Ich kannte die meisten davon, aber ich hatte sie lange nicht angeschaut. Bilder vom Hof meiner Großeltern, Paula mit ihrer besten Freundin Doro, Paula in Schlaghosen, Bilder ihrer ersten Band. Eine Aufnahme hatte ich noch nie gesehen. Sie zeigte Paula als junge Frau an einem Kiesstrand, im Hintergrund ragten Buhnen in regelmäßigen Abständen ins Meer. Der Wind war in ihre zerzausten Haare gefahren, sie lachte in die Kamera. Gelöst, ungeschminkt und so jung. Zum Verlieben sah sie aus. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass meine Mutter je so ausgesehen hat wie auf diesem Foto. Diese junge Frau, die hier in die Kamera lachte, sah anders aus als die Mutter aus meinen frühesten Erinnerungen. Wer war diese junge Frau, bevor sie meine Mutter geworden war? Und könnte ich sie kennenlernen? Vielleicht, wie ich eine junge Frau kennenlernen würde, der ich zufällig begegnete, oder käme mir doch immer die Mutter dazwischen, die ich so viel besser kannte?

Weiter unten in der Kiste stieß ich auf die Schachteln, in denen Paula all ihre Fotos aufbewahrte. Paula war nicht der Typ, der Fotoalben klebte. Ich suchte die Schachtel, aus der die Bilder herausgefallen sein mussten, und stieß zuerst auf meine Babybilder. Es gab natürlich kein Fotoalbum mit Babyfotos von mir. Keinen Storch, der ein Tuch mit einem Säugling im Schnabel hielt, kein eingeklebtes Blatt, auf dem stand, wie groß ich war und wie schwer, als ich das Licht der Welt erblickte. Manche Bilder waren schwarz-weiß, andere hatten diesen typischen Orangeton, den Bilder aus den Siebzigern oft hatten. Irgendjemand hatte eine Serie von Polaroids gemacht. Es war ein Sammelsurium von Bildern, die mehr oder weniger zufällig dort gelandet waren. Denn an meiner Wiege hatte kein verzücktes Elternpaar gestanden, das alle fünf Minuten beschloss, noch ein Bild von diesem süßen Baby zu machen. Guck mal, wie süß sie guckt, ach, guck doch mal diese Schnute. Und noch ein Bild. Und noch eins.

Es hatte nur meine Mutter gegeben. Bestimmt hatte auch sie Momente, in denen sie verzückt eine Schnute von mir bewundert hat, aber sie hatte keine eigene Kamera besessen, bis ich ungefähr zwei Jahre alt war. Und Fotoalben fand sie schon immer sehr spießig. »Ich weiß, wie mein Leben war, ich habe die Bilder doch alle hier!«

Dabei deutete sie erst auf ihre Stirn und dann auf ihr Herz. »Ich muss die nicht in ein Buch kleben und in ein Regal stellen. Das ist doch der Tod der Erinnerung!«

Sie war davon überzeugt, dass ein Bild die Erinnerung nicht nur verfälschte, sondern sogar ersetzte. Dass man sich irgendwann nicht mehr daran erinnerte, wie dieser Moment wirklich gewesen war, dass man nicht mehr wusste, wie es gerochen hat, dass man das Plätschern des Regens vorm Fenster genauso vergaß wie das Gefühl, das einen genau da erfüllt hatte. An das Wichtige, erklärte sie, erinnere sie sich sowieso, und den Rest könnte man dann auch getrost vergessen. Bilder in Alben zu kleben, fand sie, war, wie Schmetterlinge zu fangen und aufzuspießen. Paula hat nie gesammelt. Von uns beiden war ich die Sammlerin, die Zuckertütchen und abgerissene Bustickets von Reisen mit nach Hause nahm und Kronkorken von italienischen Limonaden mit dem Hammer so platt klopfte, dass man sie ins Urlaubstagebuch kleben konnte, ohne dass die Seiten zu sehr aufsprangen.

Warum, fragte ich mich, konnte ich mich nicht an meine Mutter erinnern, als sie so aussah wie auf diesem Bild? Warum erinnerte ich mich nur an ihr viel späteres Muttergesicht, wenn sie keine Zeit hatte, mir etwas vorzulesen, weil sie zu einer Probe musste, wenn sie uns vorher noch schnell Miracoli machte, was der Gipfel ihrer Kochkünste und zum Glück mein absolutes Lieblingsessen gewesen war, wenn sie auf der Bühne stand und sang. In all meinen Erinnerungen war sie älter, und ihr heutiges Gesicht überlagerte das junge Gesicht. Eigentlich müsste ich dieses Lächeln doch gekannt haben. Wer war diese junge glückliche Frau? Und was hatte sich in dem Moment verändert, in dem ich in ihr Leben gekommen war?

Vielleicht hatte mein Vater das Bild gemacht? War er es, den sie da so glücklich anlächelte? Mein Vater war der große blinde Fleck in meinem Leben. Ein schwarzes Loch, dem man sich nicht nähern durfte. Ich kannte alle möglichen Männergeschichten meiner Mutter, aber die Geschichte von ihr und meinem Vater war das große Tabu, an dem nicht gerührt werden durfte. Auf keine Frage hatte ich je eine Antwort bekommen. Ich hatte versucht, über Paulas Freunde etwas herauszubekommen, hatte in ihren Sachen geschnüffelt, aber nie war irgendwo ein Hinweis auf den Mann aufgetaucht, so dass ich es irgendwann wahrscheinlich aufgegeben hatte. Ich hatte wirklich lange nicht daran gedacht. Ich legte das Bild der glücklichen jungen Frau wieder zu den anderen.

Auf dem nächsten Bild lag ich in ihrem Arm. Es war unscharf, man sah von mir ein kleines, kahles Köpfchen, und über der dunkelroten Babydecke schwebte Paulas verschwommenes Lächeln. Das Schwarz-Weiß-Bild von Oma Charlotte und der neugeborenen Paula war viel kleiner, aber gestochen scharf, mit einem weißen gezackten Rand, der es wie eine Spitzenborte zierte. Ich legte die beiden Bilder nebeneinander. Es war erstaunlich, wie ähnlich sich die beiden jungen Mütter sahen. Paula hörte das überhaupt nicht gerne, dass sie ihrer Mutter ähnlich sah. Beide waren blond und blauäugig, und auch wenn sie sich vom Wesen her sehr, sehr unähnlich waren, konnte man die Verwandtschaft eindeutig erkennen. Doch als ich diese beiden Bilder betrachtete, erstaunte mich etwas ganz anderes: Beide lächelten in die Kamera. Aber ihre Augen lächelten nicht mit. Ich wollte diese drei Bilder unbedingt mitnehmen und schob sie in meine Umhängetasche. Bestimmt würde Paula gar nicht merken, dass sie fehlten.

»Ach, du liebe Zeit, was machst du denn da? Kannst du mir mal helfen, mir fällt gleich alles runter …«

Paula war zurückgekommen, die Arme voller Blumen, Rosen und Kräuter, doch auf dem Balkon sah es verschwindend wenig aus. »Ich glaube, ich muss jedes Mal, wenn ich da unten vorbeikomme, noch Töpfe mitnehmen.«

»Und wer gießt die alle, wenn du durch die Lande tingelst mit deinem Pianisten?«

Sie seufzte.

»Du bist echt wie Oma, die ist auch immer so ein Spielverderber.«

»Wieso bin ich ein Spielverderber, wenn ich mich fürs Überleben deiner neuen Blumen interessiere?«

»Ich finde schon jemanden«, sagte sie, ohne darauf einzugehen.

Da hatte sie wahrscheinlich recht. Paula fand oft Leute, die ihr Gefallen taten. Sie war kein großer Star, aber sie tauchte immer wieder in kleineren Rollen im Fernsehen auf. Es würde bestimmt nicht lange dauern, und die halbe Hausbewohnerschaft würde bei ihr Schlange stehen, um ihre Blumen gießen zu dürfen und sich dabei in dem Glanz zu sonnen, den sie verbreitete.

Das Problem, niemanden zum Blumengießen zu haben, war eher meines. Ich wohnte seit acht Jahren in Frankfurt in meiner kleinen Dachwohnung und hatte vor allem in den ersten Jahren keine Ahnung gehabt, wer eigentlich noch in diesem Haus wohnte. Es fiel mir nicht leicht, einfach an einer Tür zu klingeln, zu sagen, dass ich oben wohnte und etwas Zucker brauchte, oder zu fragen, ob jemand im Haus wäre, wenn die Heizung abgelesen wurde. Meistens machte ich mir so lange und komplizierte Gedanken darüber, dass ich doch stören könnte und nachher vielleicht eine bessere Zeit wäre, dass es irgendwann wirklich zu spät war, um bei Fremden zu klingeln.

Paula ließ sich neben der Kiste mit den alten Fotos auf den Boden sinken und nahm eines der Bilder in die Hand.

»Mein Gott. Wie aus einem anderen Leben. Schau dir dieses kleine Mädchen an!«

Sie hielt mir ein Bild entgegen, auf dem sie selbst ein kleines Mädchen war, eine Ziege am Strick hielt und stolz lächelte. Sie war barfuß, hatte helle Zöpfe und trug ein kariertes Kleidchen.

»Unsere Berta die Zweite und ich. Das war der Hit damals, dass ich die Ziege gewonnen hatte.«

Ich betrachtete das kleine Foto. »Das war wirklich eine komplett andere Welt, oder? Die Straßen sind überhaupt nicht geteert. Was für ein Idyll …«

Ihr Handy piepste, und sie ließ das Bild sinken, um ihre neue Nachricht zu lesen, und antwortete sofort. Manchmal bekam ich das immer noch nicht zusammen, dass meine städtische, weltgewandte Mutter auf dem Land aufgewachsen war, dass sie tatsächlich die Tochter meiner Großmutter Charlotte war, dass sie als Kind mit einer kleinen Ziege und mit Hühnern gespielt hatte. Es wunderte mich immer noch oft, dass meine Oma, meine Mutter und ich eine Familie waren und zusammengehörten. Vor allem meine Oma und meine Mutter schienen unterschiedlichen Welten entsprungen zu sein. Wie den Bildern, die in dem Karton lose durcheinanderfielen, fehlte unserer kleinen Drei-Frauen-Familie eine Klammer, die uns zusammenhielt.

»Das war auch eine komplett andere Welt«, sagte Paula und sah von ihrem Handy auf. »Für ein Kind war es schön dort. Na ja, nicht immer, aber meistens. Aber als das Kind kein Kind mehr war …«

Ich schaute sie fragend an.

»Fünfzig Kilometer weiter haben die jungen Frauen Petticoats getragen, Rock ’n’ Roll getanzt und sich Hochfrisuren gemacht, und in Lerchenrod wurden die Frauen schon angestarrt, wenn sie die langen traditionellen Wollröcke ausgezogen haben. Wie oft ich mir gewünscht habe, fünfzig Kilometer weiter weg geboren worden zu sein …«

Und wie oft, dachte ich, hatte ich mir gewünscht, genau dort hinzugehören und ein richtiges Zuhause zu haben. Mit Tieren. Mit einer Ziege oder wenigstens mit einer Katze. Ob man sich immer genau nach dem sehnte, was man nicht hatte? Sehnte man sich nach Freiheit, wenn man ein Nest hatte, und sehnte man sich nach einem Nest, wenn man frei war?

1955

Der Tag, an dem der Tiermarkt war, war für Paula ungefähr so schön wie Geburtstag und Weihnachten zusammen. Sie wusste gar nicht genau, auf was sie sich am meisten freute. Auf all die kleinen Tiere, die Häschen, die Ferkel und Lämmer, die man anschauen und streicheln konnte, oder auf den Bonbonstand, an dem man in kleinen Papiertüten die herrlichsten buntesten Bonbons erstehen konnte. Und dieser Duft! Der Tiermarkt roch nach allem gleichzeitig. Nach Pferdedung, nach Stall und Stroh, nach gebrannten Mandeln und Bonbons und nach etwas, das größer war als Lerchenrod.

Es fing schon morgens damit an, dass sie neben dem Vater vorne auf dem Fuhrwerk sitzen durfte und dass er an diesem Tag immer gute Laune hatte. Seit sie die zwei Pferde hatten, war er immer besonders gutgelaunt, wenn es mit dem Fuhrwerk rausging. Wahrscheinlich freute er sich genauso sehr darauf wie sie.

»Bringt mir ein Zicklein mit«, sagte ihre Mutter, als sie ihr den Schal noch einmal festzog, bevor Paula auf den Sitz neben dem Vater kletterte. »Ich such dir das schönste aus!«, rief sie und winkte ihrer Mutter zu. Mit dem Vater auf dem Fuhrwerk zu fahren war herrlich, auch wenn es lange dauerte. Aber es wurde nie langweilig. Auf dem Weg zeigte der Vater Paula die Felder und Wäldchen, die ihnen gehörten. Sie kannte sie schon alle beim Namen, und er freute sich, wenn er links hinüber zu den Flusserlen deutete und sie rufen konnte, dass dort das Auenstück lag. Und oben rechts am Hang das Obere Baumstück, und darunter war das Gründchen.

»Jetzt dauert’s noch ein paar Jahre«, sagte er, dann suchen wir dir einen guten Mann, und dann könnt ihr das alles übernehmen. Hauptsache, du findest jemanden, der gut hierherpasst, versprichst du mir das?«

»Versprochen ist versprochen und wird nicht gebrochen«, krähte Paula fröhlich, und ihr Vater nickte zufrieden.

»Dann hat es sich doch alles gelohnt«, sagte er eher zu sich selbst als zu Paula. Er strich ihr lächelnd über den Kopf, so dass Paulas Mütze verrutschte und kalte Luft an ihr linkes Ohr zog. Aber sie wollte die Mütze nicht wieder geradeziehen. Es war so selten, dass ihr Vater ihr über den Kopf strich. Er sollte doch nicht glauben, dass er etwas nicht richtig gemacht hatte.

»Und das ist die Kornhohl, und daneben ist das Hölzchen«, rief sie mit ihrem kühlen Ohr und deutete in die Richtung, und ihr Vater nickte.

Als sie das Fuhrwerk abstellten, um das letzte Stück zum Markt zu Fuß zu gehen, fühlte sie sich wie eine Verbündete, als ob nur sie und ihr Vater alle Namen ihrer Äcker und Felder kannten, und deshalb nur sie beide berechtigt waren, sie zu bestellen. Zusammen bahnten sie sich einen Weg durch die vielen Menschen, die an diesem Tag aus der ganzen Umgebung zusammenkamen. Es roch nach Tieren, und von der Wiese, auf der einige Stände zur Belustigung und Verköstigung der Besucher aufgebaut waren, klang die Musik einer Drehorgel zu ihnen herüber. Aber dahin würden sie erst später gehen, zuerst wollten sie zu den Tieren.

Sie gingen über den Markt, an den Pferden und den Kühen vorbei, die mit ihren Kälbchen auf dem weiten Platz standen und mit ihren großen, schönen Augen erstaunt umherschauten. Am liebsten hätte Paula jedes einzelne Tier gestreichelt. Zum Glück traf ihr Vater viele Bekannte, mit denen er redete, so dass sie überall ein bisschen Zeit hatte, die Kälbchen zu kraulen oder den Fohlen etwas von dem Heu anzubieten, das die Besitzer neben dem Gehege aufgetürmt hatten. Bei den Ziegen blieb sie wieder stehen. Neugierig kamen die kleinen Ziegen zum Zaun des kleinen Geheges gelaufen und drängelten sich meckernd vor Paula, auf der Suche nach Futter.

»Mama mag Ziegen gerne«, sagte Paula.

»Die brauchen wir aber nicht«, sagte ihr Vater, als er fertig geredet hatte mit den Männern, und zog sie wieder weiter. »Das sind Arme-Leute-Tiere.«

»Mama hätte aber doch so gerne eine Ziege, und ich gebe auch einen Groschen dazu.«

Ihr Vater sah sie überrascht an. »Wieso will sie denn eine Ziege?«

»Weil sie als kleines Mädchen eine Ziege hatte, die hieß Berta, und die hatte sie so gerne.«

»Aha«, sagte ihr Vater. »Davon weiß ich nichts. Wir brauchen trotzdem keine Ziege.«

Sie gingen weiter, und weil Paula sich immer noch umdrehte, um die Ziegen zu sehen, stolperte sie fast. Ihr Vater griff ihre Hand etwas fester und zog sie weiter.

»Wer braucht denn eine Ziege, wenn er Kühe hat? Jetzt sind die Schweine dran, komm.«

Auf dem Weg zu den Ferkeln kamen sie an einem Tombolastand vorbei, wo ein bunt gekleideter Verkäufer Lose für zwanzig Pfennig verkaufte.

»Darf ich ein Los haben?«, fragte Paula hoffnungsvoll und blieb stehen, um zu schauen, was es zu gewinnen gab. Sie sah Käfige mit kleinen Tieren, Hühnern, Vögeln und Kaninchen. Ein Lämmchen und eine Ziege waren auch neben den Käfigen angebunden. Paula hätte gerne gewusst, ob man alles, was man hier sah, auch gewinnen konnte, und was wohl in den Schachteln und Säcken war, die sich neben den Käfigen auftürmten. Wahrscheinlich war das langweiliges Tierfutter. Oder Saatkartoffeln. Nein, Saatkartoffeln wollte sie nicht gewinnen. Aber die Ziege. Wenn man die gewinnen konnte!

»Geldverschwendung«, brummte ihr Vater und ging einfach weiter.

»Ich möchte aber so gerne ein Los!«, rief Paula und blieb einfach stehen, um in ihrer Jackentasche nach den Geldstücken zu kramen, die sie eigens für den Markt gespart hatte. Sie zählte die Groschen in ihrer Hand, es waren neun, und fragte den Losverkäufer, ob die Gewinne auch wirklich etwas für Kinder wären oder nur für Erwachsene. Und ob die Tiere alle auch dazugehörten? Der Mann schaute sie an und antwortete, wenn sie Tiere mochte, dann wäre auch etwas für Kinder dabei.

»Auch die kleine Ziege?«, fragte sie, und er nickte. Sie schaute von den Groschen in ihrer Hand zur Ziege und zögerte. Sie wollte eigentlich nur die Ziege gewinnen. Dann würde ihre Mutter sich freuen. Vielleicht sollte sie es wagen. Ihr Vater würde bestimmt keine Ziege kaufen, da half auch kein Betteln. Sie wusste genau, wenn sie noch ein paar Mal davon anfing, würde er böse werden. Aber Mutter wollte doch so gerne ein Zicklein. Und wenn sie ehrlich war, dann wollte sie das auch gerne. Sehr gerne sogar. Unschlüssig schaute sie auf die Groschen in ihrer Hand.

Ihr Vater kam zurück, als er merkte, dass sie nicht nachkam, und griff nach ihrer Hand, um sie weiterzuziehen.

»Fall nicht drauf rein, Mädchen. Man gewinnt sowieso nichts. Der Einzige, der dabei gewinnt, ist derjenige, der sich am Ende des Tages all das Geld in die Tasche steckt.«

Der Losverkäufer tat so, als hörte er nicht, was ihr Vater sagte, aber er zwinkerte ihr noch mal zu. Dann drehte er sich um und steckte einem Vogel im Käfig ein Stück trockenes Brot durch die Stäbe.

»Mit Speck fängt man Mäuse. Aber wer am Ende dumm guckt, ist immer die Maus, merk dir das gut.«

»Gut, ich merke mir das«, sagte Paula und blieb stehen. »Aber ich kaufe trotzdem zwei Lose. Eins für dich und eins für mich. Dann hab ich immer noch genug für die Bonbonliesel.«

»Mach keinen Unsinn, Mädchen. Ich will kein Los, ich …«

»Zwei Lose hätte ich gerne«, sagte Paula und zählte dem Verkäufer zweimal zwei Groschen in die Hand. Dabei schlug ihr das Herz bis zum Hals, weil sie Angst hatte, dass ihr Vater recht behalten würde und sie jetzt ihre schönen Groschen verloren hatte. Vier Groschen. Wie viele Bonbons sie davon hätte kaufen können! Beinahe hätte sie dem Mann die Groschen wieder abgenommen. Aber seine Hand hatte sich schon um die Geldstücke geschlossen, und sie waren klingelnd in seinen Beutel gefallen.

»Um zehn Uhr ist die nächste Tombola. Dann kommst du wieder her, und dann sehen wir mal, was du gewonnen hast.«

Er gab ihr zwei gelbe Zettelchen, auf denen rote Nummern gedruckt waren, eine 71 und eine 72, und Paula stopfte sie in ihre Jackentasche. Sie warf dem Losverkäufer einen verzweifelten Blick zu. Jetzt zwinkerte er nicht mehr.

»Dann pass wenigstens auf, dass du sie nicht auch noch verlierst«, sagte ihr Vater kopfschüttelnd und zog sie jetzt weiter zu den Ferkeln, wegen denen sie ja eigentlich hier waren. »Jetzt müssen wir auch noch aufpassen, dass wir zu der dummen Verlosung wieder hier sind.«

»Wenn ich doch sowieso nichts gewinne, brauchen wir auch nicht mehr herkommen …«

Inzwischen war Paula davon überzeugt, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Aber sie durfte nicht jammern. Der Vater war jetzt enttäuscht von ihr, weil sie ihr Geld für Unsinn verschwendete, sie musste aufpassen, dass er nicht auch noch schimpfte. Und dass sie sich jetzt nur noch zwei Sorten Bonbons kaufen konnte, war auch ganz schrecklich. Wie sollte sie sich da bloß entscheiden? Es gab doch so viele Sorten! Aber das hatte sie schon ausgerechnet. Ein Tütchen kostete drei Groschen. Und sie hatte jetzt nur noch sechs Groschen übrig. Sie hatte wirklich alles falsch gemacht. Hätte sie nur auf ihren Vater gehört.

Als sie die neu gekauften Ferkel in ihrem Anhänger verstaut hatten, wo sie sich quiekend zusammendrängten, gingen sie schnell zurück zur Tombola, um da zu sein, wenn die Losnummer vorgelesen wurde. Bitte, bitte, bitte, betete Paula still, bitte, bitte, bitte, ich will gewinnen. Mit großen Augen verfolgte sie, wie der Losverkäufer das Gefäß mit den Losen drehte und irgendwann anhielt, um hineinzugreifen und einen Zettel nach dem anderen herauszuziehen. Es waren schon drei Käfige vergeben worden und zwei Säcke mit Vogelfutter, ein Huhn und etliche Mausefallen. Die Stapel mit den möglichen Gewinnen leerten sich zusehends. Ihr Vater wurde schon ungeduldig. Er wollte gehen. Aber die Ziege war immer noch da. Paula würde keinen Schritt weichen, solange die Ziege noch zum Gewinn stand.

»Und der Hauptgewinn geht heute an …« Der Losverkäufer machte eine lange Pause und kniff die Augen zusammen. Paula griff unwillkürlich nach der Hand ihres Vaters. Die Ziege war der Hauptgewinn.

»Hm, ich kann die Nummer so schlecht lesen«, fuhr der Losverkäufer fort und legte die Hand über die Augen. »Meine Augen werden aber auch immer schlechter. Würde der Herr mir freundlicherweise helfen und diese Nummer vorlesen?«

Er hielt einem Mann, der ganz vorne stand, das Los hin, und dieser rief laut: »Das ist die 72!«

Wie ein Blitz fuhr es durch Paulas ganzen Körper. »Das bin ich!«, rief sie und sprang in die Luft. »Das ist mein Los! Vater, wir haben den Hauptgewinn! Mein Los, mein Los, mein Los!«

Sie hatte den Hauptgewinn gezogen! Ausgerechnet sie. Ihr Vater lächelte sogar, als sie ihm das Los mit ihrer Nummer hinhielt, auf dem die rote Zahl prangte. Es war so schön, wenn der Vater lächelte, selten genug kam es vor. Dann leuchteten seine Augen, und die Fältchen um seine Augen sahen aus wie Sonnenstrahlen. Sie hüpfte auf der Stelle auf und ab und konnte es kaum abwarten, ihr Gewinnerlos endlich einzulösen.

»Jetzt halt doch mal still«, brummte ihr Vater, und Paula versuchte, sich zusammenzureißen, bis der Losverkäufer ihren kleinen Loszettel entgegennahm und ihr die Leine in die Hand gab, an der sie ihr kleines Zicklein wegführen konnte.

Sie hatte den Hauptgewinn für ihre Mutter gewonnen.

»Weißt du was, Papa«, sagte Paula. »Wer nichts wagt, der nichts gewinnt, oder?«

»Da hast du ausnahmsweise mal Glück gehabt«, nickte ihr Vater. »Aber trotzdem: nicht übermütig werden. Übermut tut selten gut.«

Ganz egal, ob es gut war oder nicht, Paula war jetzt fröhlich und übermütig. Beinahe hätten sie darüber die Bonbonliesel vergessen. Aber weil ihr Vater richtig gute Laune hatte, ging er zusammen mit ihr noch den ganzen Weg über den kleinen Jahrmarkt zu dem Stand mit den vielen bunten Bonbons, vor dem immer eine ganze Traube wartender Kinder stand. Paula stellte sich zu den anderen Kindern, die sich alle kaum entscheiden konnten, welche Bonbons sie haben wollten. Aber Paula wusste schon genau, welche sie kaufen würde. Ein Tütchen Goldnüsse, die innen so schön krümelig waren, wenn man die Goldhülle außen abgelutscht hatte, und die man dann kauen konnte, bis der ganze Mund voller Goldnusssand war. Und dann würde sie sich noch ein Tütchen von den rot-weiß-gestreiften Pfefferminzkissen kaufen, weil es einfach die allerschönsten Bonbons waren. Am liebsten würde sie auch noch von den roten Himbeerbonbons kaufen, die die Zunge rosa färbten und ganz wund machten, wenn man zwei hintereinander lutschte. Doch dafür würde ihr Geld jetzt nicht mehr reichen. Aber was war schon ein Tütchen Himbeerbonbons gegen den Hauptgewinn?

»Jetzt habe ich mein ganzes Geld ausgegeben«, sagte Paula, als sie die zwei Bonbontütchen in ihre Jackentasche stopfte.

Auf der Rückfahrt überlegte sie, ob es nicht schön wäre, noch mehr Ziegen zu haben. »Wenn ich mal groß bin und den Hof geerbt habe, mit meinem Mann, dann kaufe ich noch mehr Ziegen. Und die nenne ich dann Betti und Lilo und Gerlinde. Und Hasen kaufe ich dann auch. Wir waren gar nicht mehr bei den Hasen«, seufzte sie, und ihr Vater schüttelte den Kopf.

»Jetzt sei mal zufrieden, du kleines Fräulein Nimmersatt.«

Als sie nach Hause kamen, nahm Paula die Ziege wieder am Seil und führte sie über den Hof, die Treppe hinauf zur Eingangstür und zu ihrer Mutter, mitten hinein in die Küche. Ihre Mutter lachte laut auf, als sie die Ziege sah.

»Aber das war doch ein Spaß!« Ungläubig sah sie ihren Mann an. »Das hättest du doch nicht machen müssen, mir eine Ziege kaufen, ach du liebe Zeit!«

»Das war ich auch nicht«, sagte er und deutete auf Paula.

»Die hab ich für dich gewonnen«, sagte Paula stolz. »Und wir können sie Berta nennen. Weil deine Ziege früher doch so hieß. Die schenke ich dir.«

Sie hielt ihr das Ende der Leine hin, doch ihre Mutter nahm die Leine gar nicht an. Sie stand ganz still, und ihre Augen wurden erst ganz dunkel und dann ganz hell, weil das Licht in ihnen plötzlich doppelt funkelte. Dann ging sie vor Paula in die Hocke und nahm sie fest in den Arm.

»Das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe. Danke, meine Kleine.«

Stolz floss durch Paula, wunderbar warmer goldener Stolz, bis in die Zehenspitzen floss er und in den Kopf und die Arme entlang, die ihre Mutter umschlangen und ganz lange ganz festhielten. Sie hatte etwas richtig gemacht. Ganz richtig gemacht. Ab jetzt waren sie drei Freundinnen. Mama, Berta und sie. Und dass ihre Großmutter den Kopf schüttelte und sagte, dass Ziegen Arme-Leute-Vieh seien, war ihnen ganz egal.

»Bertas Milch hat uns nach dem ersten Krieg gerettet, und bei Kummer helfen Ziegen auch. Sie sind so lustig. Schau doch mal, wie dumm sie guckt!« Mutter lachte wieder laut auf, als die Ziege den Kopf schief legte, als hätte sie verstanden, was sie gerade gesagt hatte. »Wir nennen sie Berta die Zweite.«

Es kam nicht oft vor, dass Mutter so lachte. Und es kam auch nicht oft vor, dass der Vater lächelte.

»Heute warst du ein richtiges Glückskind«, sagte der Vater beim Abendessen. Dann hielt er das Messer hoch wie einen übergroßen Zeigefinger: »Aber glaube jetzt nicht, dass jeder Tag so weitergeht.«

Paula nickte, weil sie wusste, dass ihre Eltern das von ihr erwarteten. Aber sie wusste auch, dass sie genau das wollte. Dass es jeden Tag so weiterginge. Dass alle lachten, weil sie alles richtig machte. Weil sie alle überraschte und alle sich freuten und glücklicher waren als vorher. Immer ein Glückskind zu sein und Glückstage zu haben, das wäre so schön.

Ab diesem Tag gehörte Berta die Zweite zur Familie, und Paula versuchte immer wieder, diesen Glückstag heraufzubeschwören. »Mama, erzählst du mir von früher, von Berta der Ersten?«

Manchmal erzählte ihre Mutter dann Ziegengeschichten, aber meistens sagte sie viel zu schnell: »Jetzt ist mal gut. Du kennst doch jetzt alle Geschichten. Komm und hilf mir Pflaumen entkernen.«

»Wenn du dabei erzählst?«

Mutter seufzte tief und schwieg. Paula spürte, dass sie jetzt besser auch schweigen sollte, so schwer es ihr auch fiel. Irgendwann würde ihre Mutter wieder eine Geschichte erzählen. Es war nur so schwer, darauf zu warten. Seit sie die Ziege hatten, hatten sie etwas, was sie beide miteinander verband. Sie sammelten alle möglichen grünen Blätter für sie in der Küche in einem Eimer, und sie lachten sich zusammen kaputt, wenn Berta ihre witzigen Bocksprünge vollführte und den Kopf schief legte und sie anmeckerte. Es war so schön, wenn ihre Mutter und sie lachten. Paula wollte, dass das nie aufhörte.

Aber oft genug seufzte ihre Mutter und sagte die verhassten Worte: »Ach, nicht schon wieder, wir machen jetzt erst mal hier weiter.« Weiter mit Wäsche kochen, mit Wäsche wringen, mit Wäsche aufhängen, mit Treppe putzen, mit Küche wischen, mit Beeren ernten, Kirschen ernten, Pflaumen ernten, Birnen ernten. Pflücken, sammeln, putzen, schneiden, einkochen. Unkraut jäten, Hühner füttern, Hühner misten, Feuern, Essen kochen, Teig kneten, Diele wischen, Hof kehren, es war immer viel zu tun. Und es war schön, immer helfen zu dürfen. Aber am allerschönsten war es, wenn Mutter dabei Geschichten erzählte.

»Paula, du musst lernen, dass auch mal Schluss ist.«

»Ja, mal! Aber es ist immer Schluss!«

»So ist das halt im Leben. Es geht alles vorbei. Besser, du gewöhnst dich schon mal dran. Und das hat auch sein Gutes, glaub mir.«

»Was soll daran gut sein? Es soll nicht immer aufhören, wenn es gerade Spaß macht!«

»Das Fräulein Nimmersatt will ich hier nicht haben. Jetzt sei mal zufrieden.«

Paula war aber nicht zufrieden. Die schönen Sachen hörten immer viel zu schnell auf, und Ausnahmen gab es wenige. Niemand außer ihr schien auf Ausnahmen zu warten. Nur in ihr war immer etwas Unruhiges, Zappeliges, das immer etwas anderes wollte als die anderen. Zum Glück hatte sie ihre Freundin Doro. Doro wohnte nebenan und war genauso alt wie sie. Doro gehörte zu denen, die zufrieden waren, so wie es sich gehörte. Deshalb versuchte Paula immer alles genauso zu machen wie Doro, damit sie nicht auffiel und damit man nicht merkte, dass sie das Fräulein Nimmersatt war. Zum Glück waren die Regeln gut zu verstehen, wenn auch nicht immer leicht zu befolgen.