Hunter Legacy - Erlösung der Nacht - Lara Adrian - E-Book

Hunter Legacy - Erlösung der Nacht E-Book

Lara Adrian

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Beschreibung

Unwiderstehlich, gefährlich, leidenschaftlich!

Seit der Hunter Cain seine Freiheit wiedererlangte, verdingt er sich als Söldner. Doch als ein Job in Las Vegas außer Kontrolle gerät, stößt er an die Grenzen seines Ehrenkodex’ und verlässt die Stadt, um in Miami ganz neu anzufangen. Dort rettet er durch Zufall die junge Marina vor einem Attentat und findet sich mitten in einem Gangsterkrieg wieder. Cain setzt alles daran, die Stammesgefährtin zu beschützen. Und obwohl Marina nicht sonderlich begeistert davon ist, dass Cain dadurch ihre Mission gefährdet, kann sie sich der Anziehungskraft nicht entziehen, die der düstere Krieger in ihr auslöst ...

"Man muss sein Herz einfach an diese düsteren gequälten Helden verlieren!" UNDER THE COVERS BOOK BLOG

Band 2 des düster-romantischen Spin-Off der MIDNIGHT-BREED-Reihe

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Seitenzahl: 387

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

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Die Autorin

Die Romane von Lara Adrian bei LYX

Impressum

LARA ADRIAN

Hunter Legacy

Erlösung der Nacht

Roman

Ins Deutsche übertragen von Firouzeh Akhavan-Zandjani

Zu diesem Buch

Nach einem Zerwürfnis mit seinem besten Freund verließ Cain einst den Dunklen Hafen, den er und seine Brüder sich aufgebaut hatten. Seitdem verdingt er sich als Söldner. Doch bei einem Job in Las Vegas stößt er an die Grenzen seines Ehrenkodex’ und verlässt die Stadt, um in Miami ganz neu anzufangen. Als er zufällig die junge Marina vor einem Attentat bewahrt, findet er sich mitten in einem Gangsterkrieg wieder. Denn Marina will ihrem Onkel, der lange Geldwäsche für die russische Mafia betrieben hat, beim Ausstieg helfen. Obwohl Cain dieser Welt den Rücken kehren wollte, setzt er alles daran, die junge Stammesgefährtin zu beschützen. Dass die toughe junge Frau in ihm viel mehr auslöst als nur Pflichtgefühl, versucht er jedoch mit eisernem Willen zu verdrängen. Denn einst hatte seine Schwäche einer Frau das Leben gekostet, die er niemals hätte lieben dürfen. Auch Marina fühlt die Anziehungskraft zwischen ihnen – obwohl sie alles andere als begeistert davon ist, dass Cain durch seinen Beschützerinstinkt ihre eigene Mission gefährdet. Doch die Leidenschaft, die sie zueinander zieht, ist eine Macht, der sie schon bald nichts mehr entgegenzusetzen haben – ganz gleich, wie groß die Gefahr ist, in die sie sich dadurch begeben ...

1

Cain bohrte seine Fänge tiefer in den Hals der dunkelhaarigen Schönheit und schloss mit einem leisen Knurren die Augen, als bitteres, metallisch schmeckendes Blut in seinen Mund strömte. Die Frau, die er erst vor ein paar Minuten kennengelernt hatte, saß neben ihm auf dem Sofa seiner luxuriösen Penthouse-Suite in einem Hotel in Miami. Sie klammerte sich an ihn und wimmerte, während er ihr Blut trank.

Er ging recht unsanft vor, denn er wollte nur seinen Hunger stillen und es ansonsten schnell hinter sich bringen. Cain machte kein Geheimnis daraus, was er war. Für die Abkömmlinge seiner Art war es in den letzten zwanzig Jahren, seit die Menschen von der Existenz der Vampire erfahren hatten, nichts Ungewöhnliches, sich unter ihre sterblichen Mitbewohner zu mischen. Manche – so wie der weibliche Blutwirt, den er bezahlt hatte, damit die Frau ihm heute Abend zu Diensten war – schienen das freie Miteinander der letzten zwanzig Jahre nicht nur akzeptabel, sondern auch profitabel zu finden.

Cain strich noch einmal nüchtern und leidenschaftslos mit der Zunge über die kleinen Wunden, um sie zu schließen und das Ganze zu Ende zu bringen. Aber leider schien der weibliche Blutwirt nicht zu begreifen, wie begrenzt sein Interesse an ihr war. Als er sich von ihr löste, schwang in ihrem Stöhnen ein vorwurfsvolles Jammern mit.

»Mmh, hör nicht auf, Liebster. Lass uns ins Schlafzimmer gehen und weiterfeiern.« Sie streckte die Arme nach ihm aus und fuhr sich dabei mit der Zunge einladend über die kirschroten Lippen. »Hör mal, ich weiß, dass du mich nur für mein Blut bezahlst, aber wenn du noch mehr von mir willst …«

»Dein Geld liegt auf dem Tischchen im Eingangsbereich.«

Cain stand bereits wieder. Außer einer dunklen Jeans hatte er nichts an. Er griff nach dem schwarzen Oberhemd, das er vor ein paar Minuten für die Nahrungsaufnahme ausgezogen hatte. Er streifte es sich über, ohne sich die Mühe zu machen, es zuzuknöpfen, ehe er sich umdrehte und sich dem missmutigen Ausdruck stellte, der auf ihrem Gesicht lag.

Die Frau war wirklich hübsch, und eigentlich versagte er sich nie Lust oder Nahrung, aber er gab diesen Bedürfnissen selten gleichzeitig nach. Wiederholungen waren nicht sein Ding. Er hielt sich strikt an seine Devise »einmal und nie wieder«, auch wenn es um Menschenfrauen ging, die ihm ihr Blut anboten. So war das Leben einfacher … sauberer.

Keine Bedingungen.

Keine Komplikationen.

Keine Erwartungen.

Er zog eine schwarze Braue hoch und hatte es jetzt eilig, sie loszuwerden. »Den Gang runter ist ein Badezimmer, falls du dich waschen willst, ehe du gehst.«

Die Frau runzelte die Stirn und brummelte irgendetwas vor sich hin, ehe sie aufstand und nach ihrer Tasche griff, die auf einem der Sessel lag. Ihre spitzen Absätze klackerten hell auf den glänzenden Fliesen, als sie hastig an der Fensterfront mit Blick auf den Strand vorbei ins Foyer marschierte. Die Zimmertür schloss sich mit einem lauten Knall hinter ihr.

Cain atmete auf und war froh, wieder allein zu sein.

Er war nach Monaten des Reisens schließlich am äußersten Zipfel der Ostküste gelandet, nachdem er Las Vegas verlassen und einen Job an den Nagel gehängt hatte, bei dem er langsam, aber sicher vor die Hunde gegangen wäre. Jetzt befand er sich seit mehr als einer Woche in Miami, weil er angenommen hatte, dass er nur genug Zeit und Abstand brauchte, um den Kopf wieder freizubekommen und sein Gewissen zu beruhigen. Doch im Laufe seiner langen Reise, bei der er sich hatte treiben lassen und nur hin und wieder Nahrung zu sich genommen oder dem Drang nach einer Frau nachgegeben hatte, war er nur von einem einzigen Gefühl beherrscht worden … unendlicher Langeweile.

Und Ruhelosigkeit.

Es hatte sich herausgestellt, dass er für den Müßiggang nicht geschaffen war. Das waren die Abkömmlinge seiner Art alle nicht, aber für die Stammesvampire – Jungen und Männer –, die aus dem berüchtigten Zuchtprogramm von Dragos hervorgegangen waren, galt dies in besonderem Maße. Vor zwanzig Jahren war Cain der höllischen Sklaverei entronnen und seitdem frei. Doch diese lange Zeit hatte nicht gereicht, um das brutale Training und die Disziplin, der Cain und seine zu Killern ausgebildeten Halbbrüder im Labor unterworfen gewesen waren, vergessen zu machen. Die Behandlung wirkte nach, sodass man es immer noch mit kaum gebändigten Geschöpfen zu tun hatte, denen das zivilisierte Verhalten nur wie Tünche anhaftete.

Sosehr Cain auch das Leben in schier unendlichem Luxus genoss – all die Dinge, die er sich durch sein Söldnerdasein leisten konnte –, hatte er sich innerlich doch nie von dem lösen können, was ihm durch gnadenlosen Drill eingebläut worden war. Es hatte mal Zeiten gegeben, in denen er sich nach einem anderen Leben gesehnt hatte – nach einem einfachen, normalen Leben. Doch diesen Träumen durften sich nur jene hingeben, die besser waren als er.

Tief in seinem Innern war er immer noch der kaltblütige, gefühllose Killer, zu dem ihn sein Herr und Meister gemacht hatte. Immer noch der einsame Jäger, der ein Schattendasein inmitten der realen Welt führte.

Und unlängst hatte ihm sein untrüglicher, durch das Zuchtprogramm geschulter Instinkt gesagt, dass es an der Zeit war weiterzuziehen.

Ein Instinkt, dem es zuzuschreiben war, dass er so lange überlebt hatte.

Auf nackten Sohlen durchquerte er den weitläufigen Wohnbereich seiner Suite, nahm eine Whiskeyflasche aus der gut bestückten Bar und schenkte sich ein Glas ein. Als Stammesvampir konnte er den Alkohol zwar nicht trinken, aber er konnte damit seinen Mund befeuchten, um den metallischen Geschmack des menschlichen Blutes in seinem Mund loszuwerden, ehe er den Whiskey in die Edelstahlspüle der Bar spuckte.

Hinter den Blenden, die die bodentiefen Fenster bedeckten und den Raum vor ultravioletter Strahlung schützten, war die Sonne bereits untergegangen. Der Strand und der sich daran anschließende Ozean wurden von der blauen Stunde beherrscht. Es war jener flüchtige Moment zwischen Tag und Nacht, den er draußen verbringen konnte, ohne befürchten zu müssen, sich Haut und Augen zu versengen.

Cain ging zu den Schiebetüren und zog sie ganz weit auf, um dann auf die Terrasse zu treten, die zehn Stockwerke über dem Hotelgarten mit Pool lag. Warme, salzige Luft schlug ihm ins Gesicht und trug den Duft von Blumen und gegrillten Speisen mit sich. Ein Stückchen weiter weg von dem breiten, weißsandigen Strand, auf dem noch einige Strandgänger zu sehen waren, wetteiferte ein Reggae-Song, der in einer der vielen kleinen Strandbars gesungen wurde, mit dem donnernden Getöse, das aus einer Diskothek am Ende der Straße dröhnte.

Himmel. Er hatte die Glitzerstadt Las Vegas mit ihrem ständigen Lärm hinter sich gelassen, um Ruhe und Frieden zu finden, aber er war vom Regen in die Traufe gekommen.

Er schüttelte den Kopf. Verdammt, vielleicht sollte er sich schon heute Nacht wieder auf den Weg machen. Er war bereits so weit Richtung Süden gefahren, wie er vorgehabt hatte. Außer Sumpf und vielen schlechten Erinnerungen gab es dort ohnehin nichts. Vielleicht sollte er eine Weile Richtung Norden fahren, um irgendwann nach Dakota oder Montana zu gelangen. Als Stammesvampir war er darauf angewiesen, alle paar Tage menschliches Blut zu sich zu nehmen, aber die Vorstellung, allen Begegnungen auszuweichen, bekam einen immer größeren Reiz.

Er wollte schon auf dem Absatz kehrtmachen, um wieder nach drinnen zu gehen, als er einen Blick nach unten auf den Pool des Hotels warf. Eine Frau zog ganz allein im türkis schimmernden Wasser ihre Bahnen; ihre schlanken Arme und Beine ließen sie mit müheloser Anmut schnell durch das riesige Becken, das Wettkampfgröße hatte, gleiten. Sie trug einen knappen schwarzen Bikini, und das volle blonde Haar hatte sie zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden, der wie ein hauchzarter Schleier über ihrem Rücken wogte, während sie schwamm.

Allein ihr herrlicher Körper hätte ausgereicht, um Cain bewundernd innehalten zu lassen, doch es waren die kunstvollen Zeichnungen, die ihre Glieder und den Leib schmückten, welche ihn wieder an die Brüstung treten ließen, um sie genauer zu betrachten. Ein weiterer Grund für ihn, sie genauer in Augenschein zu nehmen, war jedoch die Tatsache, dass es eigentlich fast ein Ding der Unmöglichkeit war, den Pool, egal zu welcher Tageszeit, ganz für sich allein zu haben.

Aber jetzt, wo er genauer hinsah, stellte er fest, dass sie gar nicht allein war.

Vier große Männer in dunklen Anzügen hatten um den verlassenen Pool herum und in der Gartenanlage Stellung bezogen. Mit grimmiger Miene beaufsichtigten sie die Frau beim Schwimmen und musterten gleichzeitig immer wieder die nähere Umgebung. Auch ohne die Waffen, die sie unter ihren Anzügen im Holster trugen und die die Jacken leicht ausbeulten, hätte Cain gewusst, dass er es mit Profis zu tun hatte.

Wer war dann also diese Frau?

Eine Wucht war sie allemal. Sie bestand nur aus sanften Rundungen und schlanken Muskeln an genau den richtigen Stellen. Durch die glatte, helle Haut wirkten die mit Tinte darunter eingebrachten verschlungenen Ranken und tiefroten Rosen, die sich um ihre Oberarme und die langen Beine bis ganz runter zu den Knöcheln schlangen, noch verführerischer. Bei jeder Bewegung ihres Körpers schien Leben in die Rosen zu kommen, welche förmlich darum flehten, berührt zu werden.

Cain versuchte, einen besseren Blick auf ihr Gesicht zu erhaschen, welches bei jedem eleganten Zug ins Wasser ein- und wieder auftauchte, doch er konnte nur den Anflug hoher Wangenknochen und einen vollen Mund ausmachen.

Trotzdem reichte es, um sein körperliches Interesse zu wecken. Erregung stieg in ihm auf, während sein Blick wie gebannt ihrem Körper folgte, als dieser seine Bahnen im Pool zog. Er beobachtete, wie sie den Kopf mit gleichmäßigen Bewegungen aus dem Wasser hob und ihre Lippen sich zwischen jedem geschmeidigen Schwimmzug ihrer Arme öffneten, um Luft zu holen.

Das von unten erleuchtete Wasser umschmeichelte jeden Zentimeter ihres Körpers, und er verspürte plötzlich den unbändigen Wunsch, es dem Wasser gleichzutun. Bei jedem Schlag ihrer starken Beine wuchs in ihm das Verlangen, dass sie sich um seinen Leib schlingen mochten, während er in die Frau eintauchte. Er hatte gerade erst Nahrung zu sich genommen, und trotzdem verzehrte ihn bereits wieder ein rasender Hunger. Der Drang, zu spüren, wie ihre Kehle unter seinen scharfen Fängen nachgab, überwältigte ihn fast.

Knurrend schloss er die Augen und gab sich kurz einer lebhaften Fantasie hin, bei der sie ineinander verschlungen auf seinem Bett lagen. Bei dem Gedanken wurde er ganz schwer und steif, und seine Fänge traten hervor.

Verdammt.

Als er eine Sekunde später die Lider hob, loderte in seinen Augen eine außerirdische Glut. Er beobachtete, wie sie am Ende des Beckens wendete und die Bahn wieder zurückschwamm. Das lange blonde Haar wogte um ihre Schultern und über ihren Rücken, sodass sich Cains Hände krampfhaft schlossen, weil es ihn danach verlangte, die seidigen Strähnen mit seiner Faust zu packen, während sie sich nackt unter ihm wand und ihn anflehte, ihr alles zu geben.

Er gab sich diesen Fantasien hin, während er sie so beim Schwimmen beobachtete und die Wölbung zu ignorieren versuchte, die sich immer schmerzhafter gegen den Reißverschluss seiner Jeans drückte.

Sein Blick hing so gebannt an ihr, dass er den leisen Knall ganz in der Nähe kaum bemerkte. Doch im nächsten Moment bildete sich plötzlich ein roter Fleck am Hinterkopf der Frau.

Blut. Es zog in die hellblonden Strähnen ihres Haars und breitete sich immer weiter aus, bis es wie scharlachrote Tentakeln um sie herumwaberte.

Sie führte ihren letzten Schwimmzug nicht zu Ende. Ihr Körper wurde plötzlich schlaff und sackte leblos im Wasser zusammen.

Allmächtiger.

Sie war gerade vor seinen Augen erschossen worden. Man hatte sie hingerichtet. Die riesige Wunde an ihrem Hinterkopf schloss jeden Zweifel daran aus.

Zehn Stockwerke unter ihm sank der Leichnam auf den Grund des Beckens, während sich die Bodyguards ins Wasser stürzten, um sie herauszuholen.

»So ein Hurensohn.« Fassungslos schloss Cain die Augen.

Als er sie wieder öffnete, war von dem Blut nichts mehr zu sehen.

Die Frau zog immer noch putzmunter und quicklebendig ihre Bahnen. Sie war völlig unversehrt.

Noch.

Denn der Mord, den er gerade beobachtet hatte, war noch nicht passiert. Was er gesehen hatte, war ein sechzigsekündiger Blick in die Zukunft gewesen … ihre Zukunft, ihr Leben, das ein gewaltsames Ende im Wasser genommen hatte.

Es war nicht das erste Mal, dass er in einem blitzartigen Moment den Tod von jemandem voraussah. Allerdings lag die letzte derartige Erfahrung Jahre zurück. Die einzigartige Gabe, die ihm als Stammesvampir zu eigen war, besaß er schon seit seiner Kindheit. Erst als erwachsener Mann hatte er angefangen, seine Gabe zu hassen, da sie ihn im Stich gelassen hatte, als er sie am nötigsten gebraucht hätte.

Sie hatte nicht nur ihn, sondern auch jemand anders im Stich gelassen.

Cain unterdrückte einen scharfen Fluch und ließ sich weder von der Erinnerung noch von der Scham vereinnahmen. Er hatte diesen Abschnitt seines Lebens verdrängt und so weitergemacht, als wäre all das nicht passiert. Er war sogar ziemlich froh gewesen, dass ihn seine höchst unwillkommene Gabe in den letzten Jahren verlassen zu haben schien.

Er war so lange nicht mehr von Visionen heimgesucht worden, dass er schon angenommen hatte, sie würden nie zurückkehren. Er hatte gedacht, sie endlich losgeworden zu sein. Aber so gern er auch ungeachtet gelassen hätte, was sein Unterbewusstsein gerade wahrgenommen hatte, so war er doch dazu nicht in der Lage.

Wenn er nicht bald etwas tat, würde seine Vision wahr werden und die Frau wäre tot.

In irgendetwas hineingezogen zu werden, war wirklich das Allerletzte, was er wollte. Es sollte ihm egal sein, was einer x-beliebigen Frau passierte. Schon der Wunsch, sie zu beschützen, stand ihm nicht zu, geschweige denn, ihr Schicksal zu beeinflussen.

Doch all diese Bedenken hielten ihn nicht davon ab, die Hände auf das Geländer seines Balkons im zehnten Stock zu legen und darüber hinwegzuspringen.

Schnell wie ein Blitz sauste er nach unten, sodass kein menschliches Auge – und auch kein Scharfschütze – in der Lage gewesen wäre, ihn zu erfassen. Mit den Füßen voran tauchte er ins Wasser ein und nahm die Frau in seine Arme.

Sie schrie auf. Einer ihrer Leibwächter sprang vom Rand des Beckens in den Pool, doch Cain war bereits außer Reichweite und zog sie aus der Schusslinie, als auch schon die Kugel des Killers an der Stelle ins Wasser schlug, wo sie nur Sekunden zuvor gewesen war.

Cain legte den Kopf in den Nacken und schaute auf der Suche nach dem Scharfschützen zum Dach des Hotels empor. Der Möchtegern-Mörder hatte seinen Posten bereits verlassen, und nirgends war eine Waffe oder ein Schütze zu sehen. Die Frau hatte mittlerweile angefangen zu zappeln, um freizukommen.

Ihr Körper fühlte sich in seinen Armen schlank und stark an … und warm. Sie wand sich in seinen Armen und drückte sich in ihrem Bemühen, sich von ihm zu lösen, mit ihren Rundungen an seinen Körper. Überall, wo ihre nackte Haut ihn berührte, wurde er sich ihrer noch deutlicher bewusst.

Sie wehrte sich gegen den starken Griff seiner Arme, und schließlich schob sie ihn mit einem erschreckten Keuchen von sich. Von langen Wimpern umrahmte Augen, die in einem faszinierenden, dunklen Burgunderton schimmerten, sahen ihn mit einer Mischung aus Verwirrung und Wut an. »Was zum Teufel sollte das …?«

Ihre Stimme hatte einen leichten slawischen Akzent. Doch sie verstummte abrupt, als sie zu ihm aufsah und die rasiermesserscharfen Spitzen seiner Fänge und die Hautmuster bemerkte, die seinen nackten Oberkörper bedeckten. Das Gewirr aus in allen Regenbogenfarben schimmernden Dermaglyphen kribbelte überall, wo ihr Blick ihn berührte.

Er konnte nicht verbergen, was er war, selbst wenn er es versucht hätte. Seine Fänge waren zum Kampf bereit gebleckt, doch auch ihr weicher Körper, der sich an ihn gepresst hatte, hatte dafür gesorgt, dass sie hervorgetreten waren.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er sie.

Sie antwortete nicht, sondern schaute nur um ihn herum zu der Stelle, wo ihr Leibwächter jetzt leblos im Pool trieb. Sein Blut färbte das Wasser rot und nicht ihres. Trotz des Vorfalls ruhig und gefasst richtete sie ihren Blick wieder auf Cain.

»Du hast mir das Leben gerettet.« Sie schluckte, und ihre intelligenten dunklen Augen musterten sein Gesicht. »Aber wie hast du … wo bist du hergekommen?«

Er zuckte mit den Achseln und wusste nicht recht, wie er erklären sollte, was gerade passiert war. Allerdings bekam er auch gar keine Gelegenheit dazu. Zwei ihrer Leibwächter waren an den Rand des Pools gestürzt und zogen sie aus dem Wasser, während der dritte seine Pistole auf Cain richtete.

»Juri, njet.« Sie stieß den Befehl mit scharfer Stimme hervor und hob die Hand, während sie den Mann mit der Waffe ansah und kurz den Kopf schüttelte. Sie redete in ihrer Sprache weiter und gab wohl weitere Befehle, die ihre Leibwächter Haltung annehmen ließen.

Himmel, sie war wirklich außergewöhnlich attraktiv. Die hohen Wangenknochen und die vollen Lippen waren aus der Nähe betrachtet noch faszinierender, doch zusammen mit der ungewöhnlichen Farbe ihrer Augen und den zarten Zügen hatte ihre Schönheit zugleich etwas Engelhaftes wie auch Exotisches. Dabei strahlte ihr ganzes Auftreten solch ein Selbstvertrauen aus, dass Cain meinte, noch nie etwas so Verführerisches gesehen zu haben.

Die auf ihn gerichtete Waffe wurde sofort gesenkt, und der dritte Mann trat zu ihr, um sie mit den beiden anderen vor einem möglichen weiteren Angriff abzuschirmen. Ohne noch etwas zu sagen, entfernten sie und die Leibwächter sich eilig vom Pool. Cain sah ihnen hinterher, während er im hüfthohen Wasser stand, in dem die Leiche trieb. Das hätte auch sie sein können, wenn er dem Schicksal seinen Lauf gelassen hätte.

Und die Frage, die ihn schon beschäftigt hatte, als er noch oben auf der Terrasse des Penthouses gestanden hatte, ließ ihn jetzt noch viel weniger los.

Wer zum Teufel war sie?

Die Frau sah noch einmal ganz kurz zu ihm zurück. Es war eine schweigende Verschmelzung ihrer Blicke, die wie eine Berührung durch Cains Körper schoss. Er sah auch in ihren Augen die Neugier … und ein aufflackerndes Interesse, das die Erinnerung an ihre nackte, nasse Haut an seinem Körper noch heißer brennen ließ.

Sie blinzelte einmal kurz, dann drehte sie sich wieder um und eilte umringt von ihren Leibwächtern in die sichere Obhut des Hotels.

2

Marina Moretskova nahm das Glas mit kaltem Wasser, das der Anführer ihres Sicherheitsteams ihr reichte, mit einem kurzen Nicken und einem nur leichten Zittern ihrer Finger entgegen. »Danke, Juri.«

Seit dem Anschlag auf sie am Pool war mehr als eine Stunde vergangen, doch das ernste Gesicht des Ex-Soldaten war immer noch von großer Sorge gezeichnet. Tiefe Falten kerbten seine Mundwinkel und seine Stirn – exakt der gleiche Gesichtsausdruck wie bei den beiden anderen Leibwächtern, die ihr Onkel in Russland beauftragt hatte, Marina auf ihrer Reise in die Staaten zu begleiten.

Es war ein seltsames Gefühl, dass Kirill nicht neben den anderen drei stand. Noch vor ein paar Stunden hatte er mit Ivan und Viktor gescherzt, und jetzt war sein Leichnam ins hiesige Leichenschauhaus unterwegs. Heute Abend hatten sie einen der ihren verloren, doch die verbliebenen Männer, die damit beauftragt waren, für Marinas Sicherheit zu sorgen, hatten den Tod ihres Kameraden einfach weggesteckt, denn das Leben ihrer Schutzbefohlenen hatte für sie oberste Priorität.

Genau so war es in Onkel Anatolis Sinne.

Besonders bei dieser Reise.

Juri trat von dem zierlichen Sessel im Wohnzimmer der Präsidentensuite, in dem Marina saß, zurück, aber nur ein paar Schritte. Mit vor dem Körper zusammengelegten Händen baute sich der hünenhafte Mann schützend zu Marinas Rechten auf, während sie sich weiter mit den beiden Polizisten unterhielt, die kurz nach dem Angriff zum Hotel geschickt worden waren, um sie zu befragen.

»Verzeihen Sie, dass wir heute Abend so viel von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen, Miss Moretskova. Nach allem, was Sie durchgemacht haben, ist es bestimmt nicht leicht, all die Fragen zu beantworten. Aber ehe wir das hier abschließen, möchte ich gern noch wissen, ob Ihnen noch irgendetwas einfällt, was uns bei unseren Ermittlungen helfen könnte?«

Marina nahm einen Schluck von ihrem Wasser und schüttelte langsam mit dem Kopf. »Was soll ich Ihnen noch erzählen? Ich war gerade dabei, mich beim Schwimmen zu entspannen, als plötzlich das totale Chaos ausbrach.«

Die beiden uniformierten Beamten – ein Mensch und ein Stammesvampir – vom Joint Urban Security Taskforce Initiative Squad, kurz JUSTIS, saßen ihr gegenüber auf dem mit Seide bezogenen Sofa und wechselten einen Blick. Der ältere der beiden, ein Mensch, kratzte sich an seinem stoppeligen Kinn. Er hatte die meisten Fragen gestellt, doch jetzt war es der rothaarige Stammesvampir, der sich nach vorn beugte und sich mit den Unterarmen auf den Knien abstützte, als er sich an sie wandte.

»Ich glaube, was mein Partner, Officer Powell, zu sagen versucht und von Ihnen wissen möchte, ist, ob Sie Grund haben anzunehmen, dass Sie nicht zufällig ins Visier eines Scharfschützen geraten sind?«

Er brachte die Frage wie zufällig vor, aber nur ein Dummkopf hätte sich von der Beiläufigkeit täuschen lassen. Und Marina Moretskova war kein Dummkopf, genauso wenig wie die Männer ihres Onkels. Sie spürte, wie sich Juri neben ihr versteifte. Er und seine beiden Kollegen standen starr wie Statuen im Raum. Marina behielt eine sanfte Miene bei, während sie dem durchdringenden Blick des JUSTIS-Beamten standhielt.

»Ich habe keinen Grund, irgendetwas in dieser Art anzunehmen.« Sie legte den Kopf auf die Seite. »Sie etwa, Officer Jonas?«

»Wir werden mehr wissen, wenn die Ermittlungen voranschreiten«, erklärte er, ohne ihre Frage zu bejahen oder zu verneinen.

Die Beamten hatten ihr mitgeteilt, dass ihre Suche auf dem Hoteldach keine Hinweise auf den Scharfschützen ergeben hatte, aber das konnte Marina schwerlich beruhigen. Irgendjemand wollte sie tot sehen. Dass es dem Schützen nicht gelungen war und er hatte entkommen können, erlaubte es ihm, einen neuen Versuch zu starten.

Und während Marina um den Verlust eines Mannes trauerte, der ihrer Familie jahrelang treu gedient hatte, verdankte sie ihr Leben nicht dem von ihrem Onkel handverlesenen Team von Leibwächtern, sondern einem Fremden, der aus heiterem Himmel aufgetaucht war und sie in Sicherheit gebracht hatte.

Der ganze Vorfall hatte sich zwar verwirrend schnell abgespielt, doch sie hätte schwören können, dass sie von ihrem seltsamen Retter in die Arme gezogen worden war, ehe der Scharfschütze seine Waffe abgefeuert hatte.

»Ich gebe Ihnen mein Wort, dass wir von JUSTIS alles in unserer Macht Stehende tun werden, um dieser Sache auf den Grund zu gehen«, fuhr der Beamte fort. »Der Anfang ist gemacht. Wir haben mit Ihnen und mit dem anderen Zeugen des Vorfalls geredet … Ihrem Nachbarn nebenan im Penthouse.«

»Er wohnt im Penthouse?«

Sie platzte mit der Frage heraus, ehe sie sie zurückhalten konnte. Sie wollte nicht neugierig wirken in Bezug auf den Mann, der in den Pool gesprungen war und ihr das Leben gerettet hatte, doch seit dem Vorfall war er ihr kaum mehr aus dem Kopf gegangen. Die Erinnerung an die durchdringenden, glitzernden silbernen Augen unter schwarzen Brauen und kurzgeschorenem schwarzen Haar hatte sich ihr eingebrannt.

Und ihr war auch nicht entgangen, dass es sich bei ihrem Retter keineswegs um einen normalen Mann handelte, sondern um einen Stammesvampir. Die scharfen Fänge hatten hell wie Diamanten hinter einem schön geformten Mund gefunkelt. Sie war einem Abkömmling seiner Art noch nie so nah gewesen, geschweige denn hatten kräftige, außerirdische Arme sie jemals gehalten.

Sie meinte immer noch den tiefen Klang seiner Stimme zu hören, die in ihrem Kopf widerhallte.

Alles in Ordnung mit dir?

Ja, es ging ihr gut, aber das hatte sie allein ihm zu verdanken.

Gleich einem Racheengel war er völlig lautlos aus dem Nachthimmel heruntergestoßen. Zuerst war sie voller Angst gewesen, als sich die mit Dermaglyphen bedeckten Arme wie warme Schlingen aus Eisen um sie geschlungen und an einen riesigen Körper gezogen hatten, der nur aus festen Muskeln bestand. Dann hatte sie den Schuss gehört.

Einen unverkennbaren Knall.

Absolut tödlich.

Und entgegen dem, was sie den JUSTIS-Beamten gegenüber erklärt hatte, wusste Marina mit hundertprozentiger Gewissheit, dass die Kugel ihr gegolten hatte. Doch stattdessen hatte man Kirills Leiche aus dem Wasser gezogen, der diesem einzigen gezielten Kopfschuss zum Opfer gefallen war.

Der ältere JUSTIS-Beamte musterte sie, und sein Blick glitt über die sich windenden Tattoos, die ihre Oberarme umschlossen und sich bis zu den Unterarmen schlängelten. Die Ranken aus Weinlaub und Rosen zogen sich auch über ihren Rücken und über die ganze Länge ihrer Beine. Sie wusste, dass ihm eine Frage zu den kunstvollen Tätowierungen auf der Zunge lag – genau wie sie seine nicht ganz so diskreten Blicke bemerkt hatte, die bei seiner Ankunft auf die Handrücken von Juri und ihren anderen Leibwächtern gerichtet gewesen waren, auf denen der schwarze Vory-Stern eintätowiert war – das Zeichen der Russenmafia.

Marina hielt dem Schweigen stand, bis sich der Mann schließlich räusperte.

»Dieser Stammesvampir, der Sie in Sicherheit gebracht hat«, hakte Powell nach. »Den haben Sie heute Abend zum ersten Mal gesehen?«

»Das ist korrekt. Ich kenne ihn nicht. Ich weiß noch nicht einmal, wie er heißt.«

»Das ist Cain«, sagte der andere Beamte, der Stammesvampir. »Cain Hunter laut dem in Nevada ausgestellten Ausweis, mit dem er im Hotel eingecheckt hat. Wir haben ihn kurz überprüft. Reine Routine. Er hält sich seit ungefähr einer Woche in Miami auf. Doch bis vor ein paar Monaten hat er als Leiter eines Sicherheitsteams für eines der großen Kasinos in Las Vegas gearbeitet.«

»Wo wir gerade von Ausweisen sprechen«, warf der andere Mann ein. »Miss Moretskova, uns ist aufgefallen, dass Sie im Besitz von zwei Staatsbürgerschaften sind. Der russischen und der amerikanischen.«

»Das stimmt.« Sie lächelte höflich und nahm noch einen Schluck Wasser. »Ich bin in New York geboren worden. Meine Mutter war Russin. Sie studierte in den Vereinigten Staaten und spielte Cello im Staatsorchester, ehe sie mit mir schwanger wurde. Wir kehrten kurz nach meiner Geburt zu ihrer Familie nach Hause zurück.«

»Halten Sie und Ihre Mutter sich immer noch viel hier in diesem Land auf?«

Marina wich dem durchdringenden Blick nicht aus. »Ich bin zum ersten Mal hier. Meine Mutter ist, soweit ich weiß, nie zurückgekehrt. Sie starb, als ich drei Jahre alt war.«

»Oh, das tut mir leid.« Der Beamte setzte eine mitfühlende Miene auf. »Das muss hart gewesen sein für Sie … und für Ihren Vater?«

Er formulierte es wie die bohrende Frage, die es ja auch war, aber ob er eine Bestätigung für etwas suchte, das er bereits wusste, oder weitere Informationen haben wollte, konnte sie nicht recht erkennen. »Ich habe meinen Vater nie kennengelernt. Soweit ich weiß, hat meine Mutter ihm nie von ihrer Schwangerschaft erzählt, und sie hat auch nie mit irgendjemandem über ihn gesprochen.«

»Nicht einmal mit Ihrem Onkel?«, fragte Officer Jonas, und bei dieser Frage bohrten sich seine Stammesvampiraugen wie Laser in sie hinein.

Marina versteifte sich. Juri, der neben ihr stand, vibrierte genau wie seine Kameraden fast vor Aggressivität. »Verzeihung? Was meinen Sie?«

»Stehen Sie in irgendeiner Beziehung zu Anatoli Moretskov?«

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, obwohl sie sich sagte, dass es sie eigentlich nicht überraschen durfte, dass sich ihr Onkel im Visier einer international arbeitenden Strafverfolgungsbehörde befand. Und die Tatsache, dass dem so war, machte die Angelegenheit, derentwegen sie sich in den Staaten aufhielt, noch viel dringender.

Sie setzte eine völlig nichtssagende Miene auf. »Es scheint mir, als wüssten Sie die Antwort auf diese Frage bereits, Officer Jonas. Sind Sie hier, um mich zu dem Anschlag zu befragen oder wollen Sie persönliche Dinge über mich erfahren?«

Der ältere JUSTIS-Beamte räusperte sich. »Um ganz offen zu sein, Miss Moretskova … wir versuchen zu ergründen, ob es zwischen beidem einen Zusammenhang gibt.«

»Ich weiß nicht recht, ob ich Ihnen folgen kann.«

»Sie machen den Eindruck einer intelligenten jungen Frau auf uns, deshalb müssen wir Ihnen wohl nichts über den Ruf Ihres Onkels erzählen. Es gibt Hinweise auf Verbindungen zwischen Anatoli Moretskov und organisierter Kriminalität, die Jahrzehnte zurückreichen. Er hat einige sehr gefährliche Freunde. Und wahrscheinlich mehr als nur ein paar Feinde.«

Nein, daran brauchte Marina nicht erinnert zu werden. Ihr war sehr wohl bewusst, dass ihr Onkel seinen Lebensunterhalt damit bestritt, sich um die finanziellen Belange von kriminellen Oligarchen und korrupten Politikern zu kümmern. Er hatte im Laufe der Jahre unzählige Milliarden Dollar gewaschen, unter anderem das beachtliche Vermögen von Boris Karamenko, einem der brutalsten Mafiabosse in Russland. Onkel Anatoli war kein Heiliger, aber er kam dem, was man gemeinhin als Vater bezeichnete, näher als alles, was Marina gekannt hatte, seit sie als Kleinkind verwaist war. Ob nun gut oder schlecht – er war der einzige Verwandte, den sie besaß, und sie liebte ihn von ganzem Herzen.

Wenn diese beiden JUSTIS-Beamten also meinten, sie würde ihnen auch nur eines der Geheimnisse ihres Onkels verraten oder irgendetwas bestätigen, was sie behaupteten, über ihn oder seine geschäftlichen Belange zu wissen, irrten sie gewaltig.

»Ich persönlich finde ja, dass bezüglich des Rufs einer Person häufig maßlos übertrieben wird, wenn es nicht sogar ausgemachte Lügen sind«, erklärte sie mit bewusst gelassener Miene und beherrschter Stimme. »Mein Onkel Anatoli betreibt seit dreißig Jahren eine kleine Bank in Sankt Petersburg. Wenn Sie konkrete Fragen zu seiner Arbeit haben, sollten Sie diese ihm selbst stellen.«

Der Stammesvampir lehnte sich zurück. »Vielleicht werden wir das tun.«

Plötzlich begann sein Telefon zu summen, und er hob es sofort ans Ohr. Während er den Informationen lauschte, die ihm mitgeteilt wurden, fing Marina Juris Seitenblick auf. Der Leibwächter, aus dessen breiter Brust ein leises Knurren drang, stand kurz davor, sich auf die beiden Männer zu stürzen. Unauffällig bedachte sie ihn mit einem strengen Blick – ein wortloser Befehl, dem er Folge zu leisten hatte, wie er sehr wohl wusste. All diese Fragen von einer Strafverfolgungsbehörde waren schon lästig genug. Es würde aber nichts bringen – und ihrem Onkel schon gar nicht –, dieses Gespräch mit den Ermittlern von JUSTIS aus dem Ruder laufen zu lassen.

Sie brauchte Zeit zum Nachdenken, musste umdisponieren und entscheiden, wie sie jetzt am besten vorging, nachdem es offenkundig schien, dass jemand von ihrem Besuch in den Staaten wusste. Jemand, der sie immer noch im Fadenkreuz seines Gewehrs hatte.

Aber wer war das?

Ihr Onkel hatte viele Feinde. Das stimmte. Die Liste war lang, aber es gab nur wenige, die es wagen würden, sich seinen Zorn zuzuziehen, indem man ihr etwas antat. Diese Liste wurde noch kürzer, wenn man bedachte, wie wenige Leute wussten, dass sie Russland vor zwei Tagen verlassen hatte.

Und absolut niemand – nicht einmal ihre Leibwächter – kannte den wahren Grund ihrer Reise.

Keiner bis auf Onkel Anatoli und sie.

Marina hob das Wasserglas wieder an den Mund, nahm einen Schluck und hielt dem forschenden Blick des JUSTIS-Beamten stand, während dieser der Person am anderen Ende der Leitung irgendetwas bestätigte. Er beendete den Anruf und schob das Handy wieder in die Tasche.

»Wir werden bei einer anderen Ermittlung in der Innenstadt gebraucht, deshalb war es das jetzt hier erst mal, Miss Moretskova.« Die beiden Beamten erhoben sich. »Wenn Sie möchten, könnten wir bestimmt für Personenschutz für Sie sorgen, solange Sie hier sind. Sie sind doch auf Urlaub hier, nicht wahr?«

Sie lächelte. »Ja, ich mache hier einen kurzen Urlaub, wie ich schon erwähnt hatte.« Das hatte sie sogar mehr als einmal erwähnt, und sie war sicher, dass keiner der beiden beim Notieren ihrer Aussage nachlässig gewesen war, sodass jetzt eine Bestätigung erforderlich wäre. »Für Ihr freundliches Angebot, mir Personenschutz gewähren zu wollen, danke ich Ihnen, aber ich bin mir sicher, diesen nicht zu benötigen.«

Forschende Blicke gingen zu Juri und den anderen Leibwächtern. »Ja. Na gut, wenn Sie Ihre Aussage später noch ergänzen möchten oder das Gefühl haben, es könnte etwas geben, was wir wissen sollten, zögern Sie nicht, sich mit uns in Verbindung zu setzen.«

»Natürlich«, erwiderte sie, wusste aber schon jetzt, dass sie keins von beidem tun würde.

Sie führte die beiden Männer zur Tür. Sie holte erst wieder Luft, als die Tür hinter ihnen zugefallen und verriegelt war.

»Ich dachte schon, die würden nie gehen«, brummte Ivan und verschränkte die tätowierten Arme vor der breiten Brust.

Viktor nickte zustimmend und genauso Juri, doch der bedachte Marina außerdem mit einem beruhigenden Blick. »Sie sind gut mit ihnen fertig geworden. Ihr Onkel wäre stolz auf Sie. Vielleicht wird er Sie eines Tages zum Chef des Moretskov-Bankimperiums machen, hm?«

»Vielleicht.« Ihr Lächeln fühlte sich unsicher an, doch nicht aus dem Grund, den die Männer wohl annahmen.

Sie hatte keine Pläne, die gefährlichen Geschäfte ihres Onkels zu übernehmen. Obwohl er sich bemühte, Marina von den widerlichen Einzelheiten seiner Arbeit abzuschirmen, wusste sie genug darüber. Und jeden Tag, der verging, sorgte sie sich mehr um ihn.

Seit Jahren bedrängte sie ihn, sich von seinem gefährlichen Leben zu verabschieden. Umso überraschter war sie gewesen, als er vor zwei Monaten auf sie zugekommen war und erklärt hatte, er wäre endlich entschlossen auszusteigen und nach einer Möglichkeit zu suchen, all den gefährlichen Verwicklungen zu entkommen und sich im Exil zur Ruhe zu setzen. Marina war außer sich vor Freude gewesen – und entschlossen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um ihm bei der Umsetzung zu helfen. Am Anfang hatte ihr Onkel sich zwar gesträubt, sie mit hineinzuziehen, doch schließlich hatte er nachgegeben. Allein daran erkannte sie, wie sehr er sich danach sehnte, sein altes Leben hinter sich zu lassen.

Außer Marina wusste niemand um seine Absichten – nicht einmal das Team aus treu ergebenen Söldnern, das sich verpflichtet hatte, sie auf ihrer Reise zu beschützen, einer Reise, von der sie annahmen, es ginge um private Bankangelegenheiten in den Staaten.

Keiner wusste, was sie in Wirklichkeit vorhatte oder was sie bei sich trug. Onkel Anatolis Leben hing davon ab.

Ganz abgesehen von ihrem eigenen.

»Vertraue keinem, mein liebes Mädchen«, hatte er sie ermahnt, ehe sie aufgebrochen war.

Es war eine Lektion, die er ihr eingebläut hatte, solange sie denken konnte. Und so war sie gestern mit seinem wohl verwahrten Geheimnis in Miami eingetroffen und wartete jetzt darauf, Anweisungen zu einem Treffen mit einer Kontaktperson Anatoli Moretskovs aus Kuba zu bekommen, die sich für eine angemessene Summe bereit erklärt hatte, ein sicheres Exil für sie beide zu organisieren.

»Hier«, sagte Juri und unterbrach damit ihre Gedanken, als er sich von der gut bestückten Bar wegdrehte. Er hatte etwas eisgekühlten Wodka in ein Kristallglas gegossen und hielt es ihr jetzt hin. »Sie sehen aus, als bräuchten Sie etwas Stärkeres als Wasser.«

»Danke.« Sie nahm das Glas mit einem Nicken entgegen und hoffte, dass der Alkohol ihre aufgeregten Nerven etwas beruhigen würde. Mit dem Drink in der Hand ging sie Richtung Schlafzimmer und blieb in der Tür stehen, um sich noch einmal zu ihren Männern umzudrehen. »Der Wagen soll in zehn Minuten zur Abfahrt bereit sein. Ich will nicht herumstehen und warten, sodass irgendwer noch einmal die Gelegenheit bekommt, auf mich zu schießen. Wir wechseln den Standort.«

Juri sah sie nachdenklich und mit ernster Miene an und nickte dann. »Ich werde mich um die Buchung eines anderen Hotels kümmern.«

»Nein«, sagte Marina. »Das mache ich selbst.«

Sie ging in ihr Schlafzimmer, schloss die Tür hinter sich und tappte dann ins Ankleidezimmer, um mit dem Packen zu beginnen. Im großen Schrank befand sich ein vom Hotel zur Verfügung gestellter Safe. In seinem Innern lagen ein abgeschlossener Alu-Aktenkoffer und ein Wegwerf-Handy. Beides hatte Marina aus Russland mitgebracht.

Sie griff nach dem Handy und hielt es einen Moment in der Hand. Wie sehr wünschte sie sich, nach dem Vorfall des heutigen Abends Onkel Anatoli anzurufen, um sich von ihm trösten zu lassen und Rat zu holen. Aber er hatte ihr, aus welchem Grund auch immer, verboten, anzurufen, solange sie weg war. Das sollte nicht nur ihre eigene Sicherheit gewährleisten, sondern auch dafür sorgen, dass ihr Vorhaben nicht gefährdet wurde. Das Handy war eingehenden Anrufen vorbehalten. Und um ganz genau zu sein, diente es nur einem einzigen Zweck – den Anruf von Ernesto Fuentes entgegenzunehmen, sobald Uhrzeit und Ort für das Treffen mit dem kubanischen Verbrecherkönig feststanden.

Sosehr es Marina auch getröstet hätte, Onkel Anatolis beruhigende Stimme zu hören, wollte sie dieser Schwäche trotzdem nicht nachgeben. Was den Angriff am Pool anging, gab es jetzt nichts anderes zu tun, als sich zu sammeln und wie geplant weiterzumachen. Wenn sie ihren Onkel mit den Details behelligte, würde das nur dafür sorgen, dass er an ihrer Fähigkeit zweifelte, diese Sache für ihn zu erledigen. Aber sie würde nicht versagen.

Marina war kaum in der Lage, vollends zu ermessen, wie viel Mut es von seiner Seite erforderte, für seine Freiheit alles aufs Spiel zu setzen. Da brauchte es mehr als die irregeleitete Kugel eines Scharfschützen, um sie in ihrem Entschluss, ihm dabei zu helfen, von dieser Freiheit zu kosten, ins Wanken zu bringen.

Sie nahm das Handy und den Aktenkoffer aus dem Safe und legte beides auf das Bett. Dann holte sie den kleinen Koffer, den sie auf die Reise mitgenommen hatte. Er war mit gerade genug Kleidung und Reiseutensilien gefüllt, um ihren Kurzurlaub in Übersee glaubhaft aussehen zu lassen. Ehe die JUSTIS-Beamten eingetroffen waren, hatte sie sich ihres schwarzen Bikinis entledigt und war in ein ärmelloses Top aus cremefarbener Seide und eine bequeme, karamellfarbene Hose geschlüpft.

Ihr schwarzer Bikini war immer noch feucht vom Pool, aber sie holte ihn trotzdem aus dem Badezimmer und packte ihn ein. Wahrscheinlich sollte sie ihn lieber gleich in den Müll werfen. Sie genoss die tägliche sportliche Betätigung zwar sehr, aber sie bezweifelte, dass Juri ihr nach dem heutigen Abend noch einmal erlauben würde, schwimmen zu gehen. Und es würde ihm egal sein, dass es sie wahnsinnig machte, in einem Hotelzimmer eingesperrt zu sein. Eigentlich hatte es sie überrascht, dass der herrische Leibwächter ihr vorhin überhaupt erlaubt hatte, schwimmen zu gehen.

Marina spürte, wie ihre Platzangst sie wieder zu überwältigen drohte. Sie mussten so schnell wie möglich aus diesem Hotel heraus, aber im Moment wollte sie nur etwas frische Luft atmen und versuchen, der Hitze Herr zu werden, die sich in ihren Schläfen auszubreiten begann. Sie nippte noch einmal an dem kräftigen Wodka und durchquerte das große Schlafzimmer, um an die Schiebetüren aus Glas zu treten, durch die man das Meer sehen konnte.

Vorsichtig trat sie nach draußen. Sie brauchte jetzt einfach einen Moment ganz für sich, um den Kopf wieder klar zu bekommen und zu versuchen, die schmerzlichen Bilder im Zusammenhang mit Kirills Tod zu verdrängen. Voll Ehrfurcht nahm sie die schwarze Weite des nächtlichen Himmels und das dunkel funkelnde Wasser des Atlantiks in sich auf.

Frische, salzige Luft strömte in ihre Lunge und ließ das offene Haar um ihre Schultern wehen. Das stete Heranrollen der Wellen an die Küste hatte einen beruhigenden Klang. Es war ein wortloses Rauschen, das alle Zweifel und Unsicherheit, die sie schon vor ihrer Abreise aus Russland beherrscht hatten, verdrängte.

Das hier war wahre Freiheit.

Ihre Brust schmerzte vor sehnsüchtiger Freude darüber.

Marina schloss mit einem tiefen Seufzen die Augen und genoss die Reinheit und die heitere Ruhe, die es zu Hause in Sankt Petersburg nicht zu geben schien. Und die es auch nie geben würde, solange ihr Leben und das ihres Onkels Boris Karamenko und dem Verbrechersyndikat gehörte, das er leitete.

Sie hatte sich aus Liebe zu ihrem Onkel auf diese Reise begeben, doch im Grunde ihres Herzens sehnte sie sich ebenfalls danach zu fliehen. Sie würde alles dafür geben, frei zu sein.

Vorhin war es fast so weit gewesen.

Ein Schaudern ging durch ihren Körper, als ihr wohl zum zehnten Mal der ganze Vorfall wieder durch den Kopf ging. Bei dem Gedanken an den Mordversuch wurde ihr ganz kalt, aber die Erinnerung an feste, warme Arme, die sich um sie geschlungen und sie aus der Schusslinie gezogen hatten, bewegte sie genauso stark. Sie wollte sich einreden, dass die emotionale Belastung durch das dramatische Ereignis sie aus der Bahn geworfen hatte.

Doch das Summen in ihrem Körper wurde durch etwas anderes hervorgerufen. Seinetwegen fühlte sie sich jetzt so. Wegen des Fremden. Wegen des Vampirs, der ihr das Leben gerettet hatte.

»Cain«, wisperte sie und lauschte dem Klang des Namens, den der JUSTIS-Beamte ihr genannt hatte.

Cain Hunter.

Der ungewöhnliche Nachname ließ sie selbst jetzt mehr als einen Moment lang innehalten.

Obwohl Onkel Anatoli nichts für Stammesvampire übrig hatte und daher auch keinen Umgang mit ihnen pflegte, kannte Marina nach über fünfundzwanzig Jahren, die sie in der Gesellschaft von gefährlichen Männern und kaltblütigen Killern verbracht hatte, natürlich die Bedeutung, die sich hinter dem Namen Hunter verbarg.

Es handelte sich um über die Maßen gefährliche Männer, die in dieser Hinsicht sogar Angehörige der Russenmafia oder jene russischen Gesetzeshüter, die Jagd auf Verbrecher machten, übertrafen.

Hunter – Jäger – waren Teil eines Experiments gewesen, in dessen Rahmen Stammesvampire, Jungen und Männer, zu gefühllosen Meuchelmördern ausgebildet worden waren. Sie standen in dem Ruf, immer noch wild zu sein, obwohl sie seit mittlerweile zwei Jahrzehnten dem höllischen Labor entronnen waren, das sie eher darauf gedrillt hatte, wie Maschinen zu agieren als wie Wesen aus Fleisch und Blut.

Und jetzt verdankte sie ihr Leben einem von diesen Wesen.

Allmächtiger. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, was eine Bestie wie dieser Mann vielleicht im Gegenzug von ihr fordern würde.

Glücklicherweise war Marina überzeugt davon, Cain Hunter nie wiederzusehen.

In wenigen Minuten würden sie und ihre Leibwächter Miami kilometerweit hinter sich gelassen haben, sodass die heutige Nacht nur ein unseliges Hindernis auf dem Weg, ihrem Onkel und sich selbst zu einer sicheren Zukunft zu verhelfen, darstellen würde.

Marina trank den letzten Rest Wodka mit einem Zug aus, machte am Geländer des Balkons kehrt und ging ins Schlafzimmer zurück, um fertig zu packen, damit sie aufbrechen konnten.

3

Er rührte sich nicht, atmete noch nicht einmal, bis sie schließlich wieder nach drinnen ging.

Als Cain endlich ausatmete, strömte die Luft mit einem unterdrückten Fluch aus ihm heraus. Der schroffe, raue Laut war das Gegenteil davon, wie die reizende Russin auf der Terrasse nebenan gerade eben seinen Namen dem mondlosen Himmel entgegengehaucht hatte.

Verborgen im Dunkel, das seinen Balkon einhüllte, stieß er sich von der Außenwand seiner unbeleuchteten Suite ab und schlich zur Brüstung. Vielleicht hätte er sich bemerkbar machen sollen, als sie aus ihrer Suite herausgetreten war, um aufs Meer hinauszuschauen. Doch stattdessen war er wie der Jäger, der er war, mit dem Schatten verschmolzen und hatte sie einfach nur … beobachtet.

Hatte sie gewollt.

Doch dann hatte sie seinen Namen geflüstert, und er war kaum mehr in der Lage gewesen sich zurückzuhalten. Am liebsten wäre er zu ihr gestürzt, um sie wieder an sich zu ziehen.

Verdammt. Das war nicht gut.

Sein Körper pochte – selbst in ihrer Abwesenheit – vor Verlangen.

Ihr Duft hing in der Luft. Es war ein zarter Duft, der jedoch eine stärkere Wirkung hatte als Parfüm. Frisch und sinnlich – die einzigartige Mischung aus Rosen, Regen und Sandelholz hatte sich vom ersten Moment an, da er sie im Pool berührte, in seine Sinne eingebrannt.

Cain atmete tief ein und verzog das Gesicht, während er sich mit der Hand über das Kinn rieb.

Er hatte nicht das Recht, diese Frau zu begehren. Und es ging ihn auch nichts an, wer zum Teufel ihren Tod wollte. Doch das hatte ihn nicht davon abgehalten, nach Antworten zu suchen. Er hatte gleich nach dem Mordversuch mit eigenen Ermittlungen begonnen.

Während sie von ihren Leibwächtern ins Hotel zurückgeführt worden war, hatte Cain das Dach und die umliegenden Gebäude in Augenschein genommen. Der Scharfschütze war längst fort gewesen und hatte keinerlei Hinweise hinterlassen. Das hieß, dass der Mistkerl kein Amateur war. Und das wiederum bedeutete, dass die Vermutung, sein hübsches Ziel wäre unter Umständen nur zufällig in sein Visier geraten, sich nicht halten ließ.

Wie lange würde es wohl dauern, bis der Dreckskerl es noch einmal versuchte?

Cain würde sein gesamtes, nicht unerhebliches Barvermögen darauf verwetten, dass der nächste Angriff eher früher denn später käme.

Trotz seiner Bemühungen, während der kurzen Befragung durch die ermittelnden JUSTIS-Beamten insgeheim etwas über die Frau zu erfahren, waren die beiden Männer seinen Fragen ausgewichen und hatten jeden Versuch seinerseits abgeblockt, zumindest ihren Namen in Erfahrung zu bringen. Er hatte Verständnis dafür, die Privatsphäre eines Opfers zu schützen, doch sein Gefühl sagte ihm, dass es hier noch um etwas anderes ging.

Sah JUSTIS sie tatsächlich als Opfer oder ging das Ganze in eine andere Richtung?

Eher gesagt: Was war näher an der Wahrheit?

Cain würde nicht leugnen, dass es ihn erleichterte, sie unversehrt zu sehen. Himmel, er löge sich nur selbst an, wenn er so zu tun versuchte, als hätte er seine Abreise heute aus Miami nicht verschoben, weil er sie noch einmal sehen wollte. Und sei es nur, um sich zu versichern, dass sie gesund und munter war.

Dass seine verdammte Gabe jemandem ausnahmsweise einmal etwas Gutes gebracht hatte.

Es war kein Problem, wenn es um Fremde ging oder Leute, die ihm nichts bedeuteten. Aber in dem Moment, in dem ihm jemand nicht mehr egal war …

Mit einem Knurren verdrängte er die Erinnerung an sein Versagen vor Jahren in den hintersten Winkel seines Bewusstseins. Seit damals war er nicht in der Lage gewesen, sich von diesen schmerzvollen Erinnerungen zu befreien – oder von seinen Schuldgefühlen –, aber er weigerte sich, sich von diesen Gefühlen vereinnahmen zu lassen.

Das sollte nie wieder passieren.