Hype - Adrian Dudle - E-Book

Hype E-Book

Adrian Dudle

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Beschreibung

Finanzberater Oliver Cramer hat es mit seinem Killerinstinkt weit nach oben geschafft. Doch er hat sich stets seine Sehnsucht nach anderen Lebensentwürfen bewahrt. Als er Knall auf Fall seinen Job verliert, sieht er das als Chance, sich des engen Korsetts seines bisherigen Daseins zu entledigen und sein lange im Geheimen gehegtes Projekt zu verwirklichen. Er will nichts weniger als einen Hype, um ein von ihm produziertes, aphrodisierendes Produkt zu kreieren. Dabei macht er sich die Macht der sozialen Medien zunutze, indem er auf die Unterstützung einer bekannten Influencerin zählen kann. Das Vorhaben gelingt: Das Produkt löst zunächst einen famosen Wirbel aus, lässt sich aber längerfristig aufgrund der zu hohen Herstellungskosten nicht wirtschaftlich betreiben. Ungemach droht zudem von ganz anderer Seite… Kann Cramer aus dieser Sackgasse herausfinden? Der Roman spielt in Zürich, New York, London - und vor allem in Quinten, einem unweit von Zürich am Walensee gelegenen Dorf, das dank seiner ganz besonderen Lage, eingeengt zwischen steiler Felswand und tiefem See, über ein fas subtropisches Klima verfügt.

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Seitenzahl: 219

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Adrian Dudle

HYPE

Roman

Webseite Autor:

www.adriandudle.com

Impressum

© 2022 Edition Königstuhl

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.

Umschlaggestaltung und Satz:

Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Bern

Lektorat:

Manu Gehriger

Druck und Einband:

CPI books GmbH, Ulm

Verwendete Schriften:

Adobe Garamond Pro, DIN Next Pro

ISBN 978-3-907339-27-5

eISBN 978-3-907339-62-6

Printed in Germany

www.editionkoenigstuhl.com

© Foto: Andy Davies

Adrian Dudle, geboren 1965 in Solothurn, lebt mit Gattin und Tochter in Kilchberg bei Zürich. Von Beruf Rechtsanwalt und Notar, arbeitet er seit über 20 Jahren als Chefjurist international tätiger Konzerne (u.a. Mövenpick, Ringier, Orascom, Zühlke). Neben seiner juristischen Tätigkeit gilt seine Leidenschaft dem Schreiben. Sein 2021 erschienener Entwicklungsroman «Die Stille des Sieges» wurde bei Publikum, Literaturkritik und Presse begeistert aufgenommen.

INHALT

ERSTER TEIL

ZWEITER TEIL

DRITTER TEIL

VIERTER TEIL

FÜNFTER TEIL

SECHSTER TEIL

SIEBTER TEIL

EPILOG

Die Handlung und alle handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.

Den Zeitgeist treffen.

Begehrlichkeiten wecken.

Einen Wirbel erzeugen.

Nur darum ging es ihm.

ERSTER TEIL

Es war Dienstag, und Olivier Cramer wurde Knall auf Fall entlassen. Seine Arbeitgeberin stellte ihn per sofort frei – ein in der Branche und in Anbetracht seiner Funktion durchaus gebräuchlicher Vorgang. Die Angelsachsen wie auch hiesige Personen, die von Welt sind, nennen das Garden Leave. Zwar besass Olivier keinen Garten. Dennoch nahm er, zum Erstaunen seines mit übertrieben besorgter Miene auftretenden Vorgesetzten, dessen Verdikt gelassen zur Kenntnis. Noch beim umgehenden Verlassen des Büros war er des festen Willens, nie mehr diesen Beruf auszuüben. Überhaupt würde er niemals in seinem Leben mehr einer geregelten Arbeit nachgehen wollen. Die Kündigung war der willkommene Steilpass für die Umsetzung seiner seit längerem gehegten Projektidee. Sehr zweifelhaft, ob er das Vorhaben je in Angriff genommen hätte, wenn er nicht der von seiner Arbeitgeberin beschlossenen Umstrukturierung zum Opfer gefallen wäre.

Den Business Case trug Olivier schon für geraume Zeit, lange vor seinem Rauswurf bei ICG, mit sich herum. Quelle der Inspiration waren zwei frühere Erlebnisse, die unterschiedlicher nicht hätten sein können.

Der eine Vorfall trug sich vor sechs Jahren in New York zu. Olivier Cramer verbrachte mit seiner Tochter einen Kurzurlaub in der amerikanischen Metropole. Lisa war gerade achtzehn Jahre alt geworden, und die Reise war sein Geburtstagsgeschenk an sie. Seine Tochter wie auch er selbst hatten vor der Abreise ihre Bucket Lists für den Aufenthalt erstellt. Was ihn betraf, so waren ein Besuch beim Hot Sauces Festival in Brooklyn sowie die Teilnahme an einem Virtual Reality Workshop am Tribeca Film Festival die zwei Dinge, die es nicht zu missen galt. Seiner Tochter, die sich von ihm, der New York aufgrund zahlreicher früherer geschäftlicher Aufenthalte recht gut kannte, führen liess, musste er bloss einen Wunsch unter allen Umständen erfüllen: Den Besuch im erst vor kurzem eröffneten Flagship Store der Marke Sublime. Lisa bezeichnete den Brand, der ihrem Vater völlig unbekannt war, als das «momentane Ding». Sublime war angeblich die gegenwärtig bei den Jugendlichen meist begehrte und exklusivste Kleidermarke, deren Artikel im Online-Handel chronisch ausverkauft waren. Lisa war seit Ankunft in New York ganz kribbelig darauf, Sublime hautnah zu erleben.

So bestiegen Olivier und seine Tochter am dritten Tag ihres Aufenthaltes die U-Bahn, die sie mitten ins Greenwich Village führte. Ihr Ziel lag unweit des Bleecker Hotels, gerade um die nächste Ecke gar. Als sie auf die Strasse einbogen, nahmen sie schon von weitem eine unendlich lang scheinende Warteschlange wahr, die sich auf dem breiten Gehsteig gebildet hatte. Cramer fielen die von London her bekannten Busstationen ein, an denen sich zu Stosszeiten Dutzende von öffentlichen Verkehrsteilnehmern schön geordnet in eine Reihe stellten. Doch beim Näherkommen gab es keine Bushaltestelle auszumachen. Etwa drei Meter von der Häuserzeile entfernt war eine Menschentraube zwischen zwei an Eisenpflöcken gespannten Kord-Seilen eingepfercht und harrte ihres Schicksals. Auf jeder Seite sorgten drei schwarz gekleidete Männer in den Ausmassen eines Kleiderschrankes für Ruhe und Ordnung und wiesen Neuankömmlinge in die Schlange. Die Kerle trugen Mikrophone hinter ihren Ohren, was ihre Wichtigkeit hervorstrich und gebührenden Respekt bei den Wartenden erzeugte. Lisa und ihr Vater wollten sich zunächst selbst ein Bild vom Shop machen und liefen daher an der Menschenmenge vorbei, bis sie, auf Höhe der zuvorderst in der Schlange stehenden Menschen, linkerhand das momentane Ding erblickten. Auf der ansonsten blanken Glasfront des Geschäfts war ein grosser Kleber mit dem Logo Sublime angebracht. Mehr Eindrücke konnten sie vorerst nicht gewinnen. Denn von hinten rief ihnen einer der Aufseher mit forscher Stimme zu: «You can’t stand here, it’s too dangerous.» Im freien Amerika vor einem Schaufenster zu stehen, einfach so, brachte scheinbar die Sicherheit der ganzen Nation in Gefahr. Cramer war genervt. Da er aber in diesem Moment und auch in den folgenden Minuten darauf bedacht war, die Freude seiner Tochter nicht durch ungehaltene Besserwisserei zu trüben, folgte er ohne geringsten Widerstand den Anweisungen des Schranks.

Cramer und Lisa reihten sich zuhinterst in die Warteschlange ein, die ihnen nun noch länger vorkam als zuvor. Nach nahezu zwei Stunden Wartezeit standen sie endlich in der vordersten Reihe, und in Kürze schon sollte ihnen die Gnade zuteilwerden, in den Shop eintreten zu dürfen. Zunächst beglückte der Chefaufseher noch die zwei neben ihnen stehenden Mädchen asiatischen Ursprungs – Lisa tippte auf Japan, Cramer setzte auf Südkorea. Diese hüpften nun unter vogelartigem Zwitschern über den mit rotem Teppich belegten Gehsteig und betraten in aufgelöster Stimmung das Geschäft. Das Zappeln von Lisa, von Natur aus von eher ruhigem Gemüt, steigerte sich ins Unerträgliche, bis auch endlich sie und ihr Vater erhört und in den Shop eingelassen wurden.

Das rechteckig angelegte Geschäft war schätzungsweise bloss sechs auf zehn Meter gross. Auf der linken und rechten Seite befanden sich nüchterne Kleiderständer, und darunter waren Schuhe auf einem einfachen Holzregal aufgereiht. Die Zahl- und Ablagestation nahm die gesamte Frontseite des Raumes ein, darüber hing ein Skateboard, durchaus kommun, abgesehen vom schillernden Schriftzug Sublime auf der Unterseite und den in gleicher pink-roten Farbe gehaltenen Rädern. Eine Umkleidekabine war nicht auszumachen. Gleich eingangs wurden Cramer und seine Tochter von einem weiteren schwarz gekleideten, wenn auch etwas schmächtiger wirkenden Ordnungshüter abgefangen und auf die linke Seite geschleust. «No more than fifteen minutes», wies er sie kühl zurecht. Hintereinander liefen sie im Uhrzeigersinn wie Gefangene im Innenhof einer geschlossenen Strafanstalt durch den Raum. Im Geschäft befanden sich in etwa – oder vermutlich ganz genau – dreissig handverlesene Personen. Wie alle anderen vor und hinter ihnen streiften sie mit den Händen durch die an simplen Drahtbügeln hängenden Utensilien. Jedes einzelne Kleidungsstück, ob T-Shirt, Hose oder Daunenjacke, war für Cramers Begriffe von bestechender Hässlichkeit und zeugte von äusserst geschmacklosem Design. Die Sammlung auffallend kleinen Umfangs bestand ausnahmslos aus Unisex-Artikeln, die entweder mit wild und zügellos zusammengestelltem Druck oder läppischen Tarnfarben versehen oder aber in einer einzigen Farbe gehalten waren. Die da und dort aufgedruckten Slogans waren banal. Besonders ins Auge fiel Cramer der ganz in Pink gehaltene Kapuzenpulli mit der Aufschrift «My father was a motherfucker». Auch haptisch liess die Ware zu wünschen übrig: Selbst die laut Produktangaben zu hundert Prozent aus Baumwolle hergestellten Sweaters fühlten sich unsäglich kratzig, rau und steif an.

Die anfängliche Euphorie Lisas wich zunehmend heller Ernüchterung. Sie sah ihren Vater mit gleichermassen konsterniertem wie entschuldigendem Blick an. Dennoch schien sie zu diesem Zeitpunkt nach wie vor des festen Willens zu sein, das Geschäft nicht mit leeren Händen zu verlassen, jetzt, wo sie schon einmal hier war. In ihrer selbst auferlegten Bescheidenheit angelte sie sich das vermeintlich einfachste Stück vom Haken, ein bloss mit dem Sublime-Logo auf der Rückenseite bedrucktes, sonst aber ganz in Weiss gehaltenes T-Shirt. Das Preisetikett verriet, dass sie oder ihr Vater über vierhundert Dollar hätten locker machen müssen, um den baren Fetzen Stoff ihr Eigen zu nennen. Cramer fühlte förmlich, wie nun auch seine Tochter schlagartig nur noch die Lust verspürte, den Laden möglichst schnell zu verlassen.

Einfacher gesagt als getan. Denn überholen war verboten, man musste strikt der Karawane folgen. Die beiden vor ihnen schlendernden Mädchen aus dem Morgenland stellten, mit gestreckten Armen und zurückgelehntem Kopf, ein Paar Sandaletten aus transparentem Hartplastik auf das Gestell zurück, wie wenn sie eine soeben gestrandete Qualle voller Ekel dem rettenden Meer zurückgeben würden. «Tausendzweihundert», flüsterte das eine dem anderen in gebrochenem Englisch zu, noch bleicher als sonst schon. Cramer musste sich verhört haben. Die Kolonne kam ins Stocken, weil tatsächlich jemand etwas kaufen wollte. An der Zahlstation machte sich ein Vater daran, Kampfschuhe für seinen pubertären Sohn neben ihm zu kaufen. Sein Hals erstaunlichen Umfangs war glühend rot angelaufen; ansonsten aber trug er die Situation mit Fassung. Als die Transaktion abgeschlossen war, setzten sie sich und setzten sich mithin alle wieder in Bewegung. Das Gestell zur Rechten verleitete niemanden zu einem weiteren Zwischenhalt, so dass Cramer mit seiner Tochter nun zügig das Lokal verlassen konnte.

In gewisser Hinsicht wurde der Shop seinem Versprechen gerecht: In der Tat konnte der Besuch als ganz aussergewöhnlich bezeichnet werden. Einerseits fand Cramer die Szene schlicht lächerlich, andererseits war er fasziniert davon, dass ein derartiger Wirbel um nichts Wirkliches überhaupt möglich war.

Was Cramer von diesem unsäglichen Erlebnis blieb: Sein fester Wille, es den Machern von Sublime und all ihren Opfern eines Tages heimzuzahlen. Es fehlte bloss noch das Wie.

Der zweite Vorfall, rund ein Jahr später, erwies sich als weitaus anregender. Und er sollte den Groschen zum Fallen bringen.

Bei ICG herrschte ein konstant hohes Tempo. Als global agierendes Beratungsunternehmen koordinierte die Firma ihre Finanzdienstleistungen für Europa, den Mittleren Osten und Asien von Zürich aus. Seit seinem Eintritt vor acht Jahren in der Abteilung Private Equity schuftete Cramer tagein, tagaus wie ein Halbwilder. Die Bürotage für ihn und seine Kollegen waren hektisch und dauerten meist bis tief in die Nacht hinein; regelmässiges Arbeiten über das Wochenende war nicht nur Usus, sondern an sich eine Selbstverständlichkeit. Zahlreiche Mitarbeiter suchten zum Ausgleich ihres strengen Arbeitsalltags ihr Heil in Opiaten, um auch den nächsten Tag mit strotzender Kraft bestehen zu können. Anders bei Cramer: Statt sich mit Kokain aufzupeitschen, um sich rund um die Uhr auf leistungsfähigem Niveau zu halten, war ihm nach spätem Arbeitsschluss einzig nach Entspannung zumute. Zur Erlangung dieses Zustands dienten ihm schwerer Rotwein und nicht selten auch Cannabis. Axel, der in der Abteilung Investment Banking arbeitete, teilte die zweite Gewohnheit mit ihm. Er war es gar, der Cramer jeweils mit Haschisch versorgte, sobald sein Vorrat alle war.

Eines Abends im letzten Herbst tauchte Axel an Cramers Arbeitsplatz auf. Es war zehn Uhr abends, und Cramer bastelte noch immer am Information Memorandum herum, das er bis Ende Woche im Rahmen einer geplanten Transaktion abzuliefern hatte. Axel murmelte etwas von «ganz besonderem Stoff», den sie heute Abend gemeinsam geniessen könnten. Monica, die gegenüber Cramer sass und deren Arbeitsplatz nur durch eine schulterhohe, mit Filz bekleidete Wand von seinem getrennt war, hatte anscheinend die wesentlichen Wörter mitgekriegt. Denn nun schaute sie die beiden Männer mit flehenden Augen an. Auch sie wollte wohl heute Nacht mit von der Partie sein, allein schon, um die schwere Arbeitslast auch bloss temporär von sich fernzuhalten. Axel nahm ihr Signal mit einem verschmitzten Lächeln auf und schlug den beiden Arbeitskollegen vor, man möge sich in zehn Minuten vor dem Hauseingang treffen.

Gemeinsam mit Monica verliess Cramer das Gebäude. Axel wartete bereits draussen vor dem Hochhaus. Cramer bot an, sich in seine Wohnung zu begeben. Denn diese lag bloss sieben Stockwerke höher als die Büros von ICG im gleichen Gebäude, dem höchsten der Stadt. Der somit inexistente Arbeitsweg erlaubte Cramer zwar ein perfektes Zeitmanagement, hielt ihn aber über weite Strecken gefangen in einem engen Perimeter.

Also kehrten sie zu dritt ins Gebäude zurück und nahmen den Aufzug nach oben. Cramers Appartement war als Loft konzipiert und eröffnete einen grossartigen Blick über die Stadt bis hin zum See und zu den Bergen. Seine beiden Gäste liessen sich auf die Couch nieder und genossen das unter ihnen liegende Lichtermeer. Cramer begab sich zum Weinschrank und griff nach einem reifen Cabernet aus dem Napa Valley. Axel machte sich ohne Verzug an die Vorbereitung des Joints. Wutzeln nannte er das. Mit geübten Fingern streute er das Gras über das auf dem gläsernen Couchtisch flachgestrichene Zigarettenpapier. Das Marihuana war von erstaunlich dunkler Farbe. Statt in üblicher grün-brauner Farbe schimmerte es violett-schwarz. Derweil sass Monica scheinbar teilnahmslos auf dem Sofa und schien der Prozedur ostentativ keine Aufmerksamkeit zu schenken.

Axel zündete den perfekt gedrehten Joint an und nahm zwei lange, tiefe Züge. Monica tat es ihm gleich. Dann stellte sie ihre von den Stilettos befreiten Füsse auf den Clubtisch und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Bereits beim Weiterreichen an Cramer stieg diesem ein angenehm floraler Duft in die Nase. Bitterkeit konnte er auch dann nicht ausmachen, als er zum Inhalieren ansetzte. Samtig weich stieg der Rauch seine Kehle herunter und erfüllte die Lunge. Als kurz darauf die zweite Runde bei ihm Halt machte, war immer noch kein besonderer Effekt spürbar. Schon stellte sich bei Cramer eine leichte Enttäuschung ein, gleich wie vor ein paar Jahren, als ihm der Schluck eines raren Jahrgangs von Chateau Pétrus vergönnt gewesen war. Minuten waren damals verstrichen, bis sich der preziöse Traubensaft dann aber mit umso wuchtigerer Ausstrahlung in seinem Gehirn entfaltet hatte.

Etwas weniger lang dauerte es dieses Mal: Wenn auch nur zögerlich, so erfüllte Cramers Körper, zu Beginn fast unmerklich, eine wohlige Wärme, die mit einer schleichenden Erweiterung seiner Sinnesorgane einherging. Axel brachte den Joint-Stummel im Aschenbecher zum Erlöschen und erhob sich vom Sofa. Er habe eine Verabredung mit einer Freundin im Escale und müsse nun aufbrechen. Er wünschte Monica und Cramer einen «freudvollen» Ausklang des Abends und verliess beschwingt die Wohnung.

Cramer kannte Monica seit fünfzehn Jahren. Ihre Wege hatten sich zum ersten Mal an der Universität in St. Gallen gekreuzt. Sie studierte im dritten Jahr Wirtschaft, während er sich damals auf die Masterprüfungen in Politikwissenschaften vorbereitete. Monica war eine sehr attraktive Frau. Keine Schönheit im klassischen Sinn, wenn es darum gegangen wäre, die Regelmässigkeit der Gesichtszüge als Massstab zu nehmen. Alles in Monicas Gesicht war recht gross geraten: Sie besass eine markante Nase, und ihre hübschen Glubschaugen ragten zuweilen bedrohlich weit hervor. Selbst ihre schwarzen Haare trug sie unverschämt lang. Cramer fiel schon damals ihr wohlgeformter Körper auf, der ihrem interessanten Gesicht in keiner Weise nachstand. Zudem hatte sie eine rauchig-tiefe Stimme, die Cramer stets neckte. Und: Sie besass Charisma.

Mit seinem Studienabschluss hatte Cramer Monica aus den Augen verloren, zumal er nur ein Jahr später seine Ex-Frau bei seiner ersten Arbeitsstelle bei JK Advisory Services kennengelernt und kurz darauf in jugendlichem Übermut geheiratet hatte. Die Wege von Monica und Cramer hatten sich erst wieder gekreuzt, als Monica vor zwei Jahren zu ICG gestossen war. Seine Ehe war damals, kurz nach der Geburt von Lisa, bereits hoffnungslos zerrüttet gewesen. Nähergekommen waren sich Monica und er seither noch nie.

Nun befanden sich Monica und Cramer also allein im Raume. Er fand gerade noch die Zeit, auf Spotify das Fünfte Brandenburgische Konzert abzurufen, bevor sich der Rausch bei ihm in aller Wucht manifestierte. Sein davon angenehm gelöster Geist hielt sich zwar wacker aufrecht, trat nun aber schlagartig in den Hintergrund. Überlagert wurden seine Empfindungen von einem gespenstischen Kribbeln, das sich in seinem ganzen Körper im Nu ausbreitete. Als Erstes nahm er wahr, dass sich seine blonden Härchen auf den vom heraufgekrempelten Hemd befreiten Unterarmen senkrecht aufrichteten. Wenige Augenblicke später stand sein ganzer Organismus unter Hochspannung. Ein unheimliches Reissen suchte ihn heim, wie wenn elektrischer Strom durch seine Venen flösse. Lüstern blickte er zu Monica. Ihr schwarzer Rock war etwas nach oben verrückt, so dass ein beträchtlicher Teil ihrer langen Schenkel zum Vorschein kam. Cramer schaute ihr in die Augen. Ihr Blick, stechender als sonst schon, schien dringend um Erlösung zu bitten. Nichts konnte ihn mehr zurückhalten. Über den Clubtisch hinweg stürzte er sich auf sie. In Windeseile rissen sich die beiden gegenseitig die Kleider vom Leib. Wie losgelassene Bestien gingen sie wild aufeinander los, verzweifelt nach rascher Vereinigung suchend. Das im Hintergrund laufende Allegro von Bach begleitete sie in ihrem Kampf um Haut, Fleisch und Weichteile. Noch während des virtuosen Cembalo-Solos fanden sie gleichzeitig zum Höhepunkt. Beim erlösenden Schlusstutti liessen sie sich, nach Atem ringend und getränkt in schleimigen Körpersäften, aufs Sofa fallen. Dort lagen sie während Minuten reglos ineinander verschlungen, bis sie erneut die Lust überfiel; Monica und Cramer stürzten sich ein weiteres Mal mit gleicher Begierde aufeinander.

Noch in derselben Nacht übermittelte Cramer seinem Freund Axel eine Sprachnachricht.

«Woher zum Teufel stammt denn das Zeug? Marokko etwa? Einfach höllisch.»

Die Antwort kam postwendend.

«Quinten.»

Dank dieses zweiten Erlebnisses hatte Cramer nun alles beisammen, um seine Geschäftsidee, die er bislang bloss als diffusen Gedanken mit sich herumgetragen hatte, bei passender Gelegenheit konkret in die Tat umzusetzen.

Allein, was es mit Quinten auf sich hatte, galt es etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Diese Bezeichnung brachte Cramer spontan mit dem Namen eines Dörfchens am Fusse des unweit gelegenen Walensees in Verbindung. Zumal er auch auf den Suchmaschinen keinen anderen Hinweis fand, ging er davon aus, dass Axel tatsächlich die kleine Ortschaft Quinten gemeint haben musste, die er vor Jahren im Rahmen eines Betriebsausflugs besucht hatte. Bereits bekannt war ihm daher, dass dort ein ganz besonderes, beinahe subtropisches Klima herrscht. Dass in dieser Gegend aber derart stimulierender Cannabis angepflanzt wird, hatte sich ihm bislang nicht erschlossen. Klar schien ihm nun aber, dass, wenn es sich so verhielte, die dortige Natur nicht nur gewisse Pflanzen gedeihen liesse, die ein wie soeben erst erlebtes Sinnesrauschen zu erzeugen in der Lage sind. Nein, das Klima liesse wohl auch zu, dass der Boden eine ganze Reihe von Gemüsen und Früchten hervorbringt, die eine ähnlich aphrodisierende Wirkung erzeugen. Genügend Leute würden sich, allenfalls begleitet durch geeignete Massnahmen, nur so darum reissen.

Dies waren die Schlussfolgerungen, die den Grundstein für Cramers Vorhaben bildeten.

Cramer hatte die alte Welt satt und verspürte zugleich eine unbändige Lust darauf, eine neue zu entdecken. Er wollte weg von hier. Auf und davon! Die Zelte ab- und zu neuen Ufern aufbrechen.

Noch ohne zu wissen, wohin es ihn letztlich verschlagen würde, beschloss er, sich aller unnötigen Altlasten so rasch wie möglich zu entledigen, um sich damit zum einen die Ungebundenheit und zum anderen die finanziellen Mittel zu verschaffen, die er für die Verfolgung seines Projektes benötigte. Ohne Verzug machte er sich hinter die Sache.

Als Erstes kündigte Cramer seine teure Loftwohnung. Da er sie allein bewohnte, musste er auf niemanden Rücksicht nehmen. Er war zuversichtlich, dass er, selbst auch kurzfristig, eine andere Bleibe finden würde, zumal er nun auch in örtlicher Hinsicht nicht mehr gebunden war. Irgendwo würde er schon unterkommen. Noch am Tag der Freistellung gab er das Kündigungsschreiben zuhanden der Vermieterin der Post auf. Der Mietvertrag konnte auf jedes Monatsende hin unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von drei Monaten aufgelöst werden. Schlimmstenfalls würden daher noch knapp zwanzigtausend Schweizer Franken zur Zahlung fällig sein. Könnte er jedoch einen zumutbaren Nachmieter auf einen früheren Zeitpunkt hin finden, wäre er von der Mietzinspflicht bereits ab diesem Tage entbunden.

Als Nächstes gab Cramer ein Inserat auf einer auf Autos spezialisierten Online-Plattform auf. Als Verhandlungspreis für seinen erst knapp zwei Jahre alten SUV der Luxusklasse gab er achtzigtausend Franken an. Mit diesem tiefen Preis erwartete er eine schnelle Handänderung. Er wollte den Wagen möglichst rasch loswerden. Der rote Fiat 500 Abarth, der ihm verblieb, sollte es künftig durchaus tun. Ohnehin fühlte er sich mit seiner eher geringen Körpergrösse wohler in diesem kompakten Wagen.

Auch auf alle anderen Annehmlichkeiten, die ihm fixe Kosten bescherten, wollte er fortan verzichten. Die Vertragsbeendigung mit dem Reinigungsinstitut war eine logische Folge der Wohnungskündigung. Aber auch die Aufgabe seiner Mitgliedschaften im Tennisverein und im Rotary-Club verlief überraschend schmerzlos. Der einzige Luxus, von dem er sich unter keinen Umständen trennen wollte, war seine geliebte Patek, die ihm sein Vater einst vermacht hatte. Den Konzertflügel hingegen konnte er notfalls entbehren.

Cramer machte Kassensturz. Seine Guthaben bei drei Banken beliefen sich auf insgesamt rund sechshunderttausend Franken. Sie bestanden aus diversen Konten und einem Portfolio aus sofort liquidierbaren Aktientiteln. Er erschrak, als er feststellte, dass sich in Anbetracht des seit Jahren hohen Gehalts nicht noch grösseres Vermögen während seiner zwanzigjährigen Berufszeit angehäuft hatte. Doch dies war eben das nüchterne Resultat seines Lebensstils: Er lebte in all den Jahren in Saus und Braus, ohne sich über die finanzielle Lage jemals ernsthaft Gedanken zu machen. Nun aber erschien ihm das Leben auf grossem Fuss nur noch lächerlich, und er dachte an die dekadente Sublime-Erfahrung vor ein paar Monaten.

Nebst den Sparguthaben verfügte Cramer über angehäufte Freizügigkeitsleistungen aus der zweiten Säule in der Höhe von gut vierhunderttausend Franken. Diese Ersparnisse jedoch wollte er sich vorerst nicht auszahlen lassen, weshalb er dieses Geld auf ein Freizügigkeitskonto bei der Kantonalbank überwies. Wenn alle Stricke reissen sollten, würden sie seinen eisernen Vorrat bilden. Rein rechnerisch nahm er sie jedenfalls in sein Projektbudget auf.

Er gab sich maximal zwei Jahre Zeit für die Realisation des Projektes. Er legte sich folgenden Zweijahresplan zurecht: Für den Bereich Liegenschaften/Wohnen sollte rund die Hälfte der verfügbaren Mittel, also eine halbe Million Franken, herhalten. Ein Fünftel würde seine Lebenshaltungskosten inklusive Alimente für seine Tochter decken müssen. Den Rest, also rund dreihunderttausend Franken, bildeten die eigentlichen Projektkosten.

Cramer setzte alles auf eine Karte. Das Vorhaben tönte selbst für ihn gewagt, aber es musste funktionieren. Und er war sich in diesem Zeitpunkt sicher: Es würde.

Nun widmete sich Cramer Quinten. Solange er den Job bei ICG ausgeübt hatte, war es ihm nicht möglich gewesen, sich darum zu kümmern. Denn die absurd hohe Kadenz bei ICG hatte es nicht zugelassen, sich vertieft mit dieser Ortschaft auseinanderzusetzen. Dies änderte sich erst mit seiner Freistellung: Er verfügte auf einen Schlag über genügend Zeit, sein Projekt ernsthaft in Angriff zu nehmen.

So schlug er, am dritten Tag nach seiner Entlassung bei ICG, den Weg in südöstlicher Richtung ein. Quinten liegt bloss sechzig Kilometer Luftlinie von Zürich entfernt. Dies verspricht an sich eine unbeschwerliche Reise, was es in Tat und Wahrheit nicht ist. Denn Quinten, so wusste er, ist nur auf Umwegen zu Fuss oder dann auf dem letzten Stück mit dem Schiff erreichbar.

Cramer entschied sich für die Seeroute. Nach einer guten Autostunde parkierte er seinen Fiat unweit des Bootsstegs in Murg am südlichen Ufer des Walensees. Er bestieg das kleine Schiff, das bei seiner Ankunft bereits am Steg angelegt hatte. Der fjordähnliche, karottenförmige See breitete sich in seiner rotweinflaschengrünen Farbe vor ihm aus. Auf der gegenüberliegenden Nordseite ragte die steile Bergwand der Churfirsten mit ihren eindrücklichen Dimensionen auf. Das mächtige Felsmassiv würde senkrecht in den See stürzen, gäbe es nicht vorgelagert ein flaches Gebiet, das mit Feldern und Rebstöcken sowie einem Weiler mit ein paar Häusern bedeckt ist. Quinten wirkte für Cramer aus der Ferne wie ein Haufen von weit oben herab auf eine grüne Matte gepurzelter Bauklötze.

Das halb leere Schiff kam in Bewegung. Gut ein Dutzend Leute befanden sich an Bord des rund fünfzig Sitzplätze fassenden Fährbootes. Ein asiatisches Pärchen mit zum Einsatz bereiten Selfie Sticks und umgeschnallten Rucksäcken waren die einzigen Personen, die nicht aus der Gegend zu stammen schienen. Die übrigen Passagiere trugen prall gefüllte Einkaufssäcke oder stiessen vollbeladene Karren vor sich hin. Es waren offenkundig Einheimische, die nach Erledigung diverser Dinge in Murg oder der nahegelegenen Linth-Ebene ins autofreie Dörfchen zurückkehrten. Die Fahrt über den See dauerte eine knappe Viertelstunde.

Am Schiffsteg von Quinten gabelte sich der Weg. Während die Strasse zur Rechten entlang dem See ins Nachbardorf Au verlief, führte der andere Weg geradeaus ins höher gelegene Ortszentrum – wenn von einem solchen in Anbetracht der winzigen Grösse des Weilers überhaupt die Rede sein konnte. Kein bestimmtes Ziel vor Augen, entschied sich Cramer für die letztgenannte, recht steil ansteigende Route, bog auf Höhe der Dorfkappelle linkerhand auf einen schmalen Weg ein und überquerte schon bald ein Brückchen, das über ein fast vollständig ausgetrocknetes Bachbett führte.

Das vorletzte Haus vor Dorfausgang stach ihm von weitem ins Auge. Es war mit alten Riegeln versehen. Die Farbe des Holzes leuchtete rötlich in der Nachmittagssonne. Cramer näherte sich langsamen Schrittes dem Gebäude. Vor dem Haus befand sich ein prächtiger, weitläufiger, dicht mit Pflanzen und Sträuchern bestückter und mit sorgsam angeordneten Beeten bedeckter Garten.

Eine ältere Dame pflückte von einer Staude Beeren. Cramer blieb stehen und schaute ihrem Wirken zu. Die Szene erinnerte ihn an seine Kindheit. An schulfreien Sommertagen hatte ihn seine Grossmutter zum Beerenpflücken häufig mit in den Wald genommen. Aus den Blüten der Holunderbäume hatten sie danach gemeinsam in ihrer Küche herrlich duftenden Sirup hergestellt.

Als die Einheimische ihn auf der anderen Seite der schmalen Böschung erblickte, hielt sie inne und richtete sich auf. «Ein herrlicher Frühlingstag, nicht wahr? Ideal zum Spazierengehen.»

«Ich habe keine grössere Wanderung eingeplant, ich möchte mich bloss etwas im Dorf umsehen», erwiderte Cramer ebenfalls ohne Begrüssung und etwas überrascht ob der