Glow Like Northern Lights - Sarah Stankewitz - E-Book + Hörbuch
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Glow Like Northern Lights Hörbuch

Sarah Stankewitz

3,7

Beschreibung

Der Auftakt der New Adult Strong-Hearts-Reihe: Ugly Cry, Island und eine ganz große Liebe! »Eine Geschichte so sehnsüchtig schön wie die Nordlichter selbst. Sarah ist die Queen der großen Emotionen!« Sophie Como Eine dramatische Liebe vor der rauen Kulisse Islands Als Lillys herzkranker Zwillingsbruder stirbt, bricht für die Studentin eine Welt zusammen. Ihre Trauer findet in Berlin keinen Platz, also flieht sie kurzentschlossen nach Island, um den einzigen Menschen zu besuchen, der ihr in den letzten Monaten Halt geben konnte: Aron. Die beiden haben sich online in einem Forum für Angehörige von herzkranken Menschen kennengelernt. Doch als sie endlich vor ihm steht, ist er abweisend. Erst als Lilly ihm vom Tod ihres Bruders erzählt, tröstet er sie. Und während sie an seiner Seite die friedliche Schönheit des Landes entdeckt, wird ihm klar, dass Lilly ihm längst mehr bedeutet, als gut für sie beide ist …   – mit Farbschnitt in limitierter Erstauflage – *** Herzzerreißend von der ersten bis zur letzten Seite. ***

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Zeit:9 Std. 19 min

Sprecher:Hannah Schepmann; Julian Tennstedt
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Snabby

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Nachdem ihr zuhause der Boden unter den Füßen weggerissen wurde, stürzt sich Lilly Hals über Kopf in das Abenteuer Island. Denn das ist nicht nur Sehnsuchtsort, sondern auch das Zuhause ihres Felsen in der Brandung. Doch sie weiß nicht, dass er selbst nach dem Fels in der Brandung sucht. Bevor ich die Leseprobe zu diesem Buch begonnen habe, habe ich den Klappentext nicht gelesen. Für mich war die erste Anziehung des Buches darin begründet, dass der Titel impliziert, dass man hier auf eine Reise mitgenommen wird, die die Magie von Nordlichtern beinhaltet und das war für mich genug. Als ich dann in das Buch eingestiegen bin, hat der Schmerz in der Geschichte erstmal mit einer Keule eingeschlagen. Obwohl sie nicht meine Geschichte ist, obwohl ich keinen Menschen so verloren habe. Aber keine Angst, trotz der vielen Tränen die hier fließen können gibt es auch Momente in denen man lächeln, vielleicht sogar lachen kann. Auch wenn ich vermutlich recht früh das Damoklesschwert über der Geschich...
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Glow Like Northern Lights

Sarah Stankewitz, geboren 1994, war Bankkauffrau, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Seit ihrem Debüt 2015 lässt sie ihrer Fantasie freien Lauf und begeistert ihre Leser:innen mit ihren dramatischen Geschichten über Liebe, Verlust und Leidenschaft. Wenn sie nicht schreibt, bloggt sie auf TikTok und Instagram über ihr Leben als Autorin. Sarah Stankewitz lebt mit ihrem Freund in einer kleinen Stadt in Brandenburg.

»VIELLEICHT IST DEIN BRUDER TATSÄCHLICH WIE EIN NORDLICHT, LILLY. ER IST NICHT WIRKLICH WEG, ER HAT NUR SEINE FORM VERÄNDERT.«Das Bild, das Aron für mich zeichnet, ist heilsamer als alles, was in den zahlreichen Trauerforen stand, in denen ich vergeblich nach einem Umgang mit meinem Schmerz gesucht habe.»Luca ist ein Nordlicht.«Ein trauriges Lächeln tanzt auf meinen Lippen. »Der Gedanke gefällt mir.«

Sarah Stankewitz

Glow Like Northern Lights

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei ForeverForever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenUmschlagabbildung: © Freepik (Herz),Finepic®, München (Blumen und Landschaftsmotivrechts), © @Klick.Augenblick (Landschaftsmotiv)Innenillustrationen: © Kelley McMorrisE-Book powered by pepyrus

ISBN 978-3-95818-805-1

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Prolog

Phase I  Verleugnung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Phase II  Gefühlschaos

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Phase III  Auf der Suche nach Antworten

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Phase IV  Hoffnungsschimmer

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Aron

Anhang

Leseprobe: Rise and Fall

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Motto

Und auf einmal wurde aus einem»Du bist«ein»Du warst«

Prolog

Notiz an mich selbst: Auch in Berlin kann man Nordlichter sehen (ich bin eines davon)

Silvesternächte hatten für mich schon immer einen besonderen Zauber. Ich liebe das bunte Feuerwerk am sonst so trostlosen Berliner Himmel, die gute Stimmung in der gesamten Stadt, das Herunterzählen des Countdown kurz vor Mitternacht.

Heute ist alles anders. Heute zähle ich keine Sekunden, sondern Schritte. Zehn Schritte, die mich von dem Zimmer meines Bruders in der stickigen Wohnung unserer Familie in Kreuzberg trennen. Neun Worte meines Vaters, die ich mir am liebsten aus dem Gedächtnis schneiden würde wie totes Gewebe, das mich langsam vergiftet.

Dein Bruder wird die Nacht vermutlich nicht überstehen, Liliana.

Unzählige Tonnen Schmerz in meiner Brust, als ich nur noch wenige Schritte gehe und vor seiner Zimmertür innehalte. Die letzten Monate habe ich unendlich viel Zeit in diesem Raum verbracht, weil es der einzige Ort war, an dem ich zur Ruhe kommen konnte.

Während die meisten Leute aus meinem Abschlussjahrgang inzwischen die Welt bereisen, in Neuseeland Kiwis pflücken, in Australien Koalas retten oder Sonnenuntergänge an der Côte d'Azur genießen, bin ich immer noch hier. Natürlich bin ich das. Weil ich da bin, wo Luca ist. So war es schon immer. Auch wenn es bedeutet, dass ich dadurch in Berlin feststecke, einer Stadt, in die ich nie wirklich hineingepasst habe.

Vielleicht ist das so unter Zwillingen. Man hat neun Monate lang das engste Zuhause miteinander geteilt und teilt sich deshalb auch nach der Geburt alles, was von Bedeutung ist. Jedes Glück, jeden Schmerz, jedes Lachen. Luca war der erste Mensch, den ich geliebt habe. Der erste Mensch, den ich berührt habe. Und er ist der erste und wichtigste Mensch, den ich verlieren werde. Heute Nacht.

Der Gedanke, ihn auf seiner nächsten großen Reise nicht begleiten zu können, macht mich taub. Aber ich würde es mir nie verzeihen, jetzt zu gehen, ohne mich noch einmal an sein Bett gesetzt und ein letztes Mal seine Hand gehalten zu haben.

Langsam lehne ich meinen Kopf gegen Lucas Zimmertür, lausche dem unkontrollierten Weinen unserer Mutter auf der anderen Seite. Mein Vater steht direkt hinter mir, ich spüre ihn, aber ich spüre ihn nicht wirklich.

Im Alltag meiner Eltern habe ich lediglich die Statistenrolle gespielt, dafür hat mein Bruder die Hauptrolle übernommen, als vor vierzehn Jahren die niederschmetternde Diagnose kam: Restriktive Kardiomyopathie.

Tagelang habe ich in Papas neu gekauften Medizinbüchern nach einem Heilmittel für das kranke Herz meines Bruders gesucht, obwohl ich gerade einmal sechs Jahre alt war und kaum mehr als meinen eigenen Namen lesen konnte. Ich wusste nicht, wie man diese beiden Wörter überhaupt buchstabiert, die unser aller Leben innerhalb eines Wimpernschlages auf den Kopf gestellt haben. In den Jahren nach der Diagnose hat sich alles verändert. Krankenhäuser in ganz Deutschland wurden zu unseren Ferienorten, die Fieberschübe meines Bruders gaben den Rhythmus an. Unsere Eltern wurden zu Lucas Eltern, während ich nur am Spielfeldrand stehen durfte. So ist es bis heute, weshalb es einem Wunder gleicht, dass Papa überhaupt mit mir spricht.

»Liliana, warte.«

Ich warte schon seit Jahren, Papa. Darauf, dass du mir endlich deine Hand auf die Schulter legst. Dass du mich in den Arm nimmst und mir sagst, dass wir alles zusammen schaffen können. Weil wir eine Familie sind und weil wir alle durch denselben Krieg ziehen. Stattdessen fühlt es sich an, als sei ich ganz allein in diesem viel zu flachen Schützengraben, der mir keinerlei Schutz bietet. Wenn Luca von uns geht, werde ich noch einsamer sein.

»Worauf? Ich habe keine Zeit, zu warten«, sage ich krächzend. »Er hat keine Zeit, zu warten.« Mein Körper steht in Flammen. In mir ist die Hölle ausgebrochen.

»Deine Mutter braucht noch fünf Minuten mit ihrem Sohn allein.«

In meiner Kehle wird es eng. Aus seinem Mund klingt es, als wäre ich gar kein Teil dieser Familie. Da sind nur Mama, Papa und Luca. Es soll Familien geben, die durch Tragödien wie unsere zusammengeschweißt werden. Unsere zählt nicht dazu. Die Krankheit meines Bruders ist kein Kleber, der uns zusammenhält, stattdessen schneidet sie mich einfach aus dem Familienfoto heraus.

»Ich brauche auch einen Moment mit ihm.« Mit tränengefluteten Augen sehe ich zu unserem Vater auf. Er war als Erster bei Luca im Zimmer, nachdem sein langjähriger Arzt Dr. Bachmann vor einer Stunde mit einem bedauernden Blick unsere Wohnung verlassen hat. Die grünen Augen hinter Papas dunkelblauer Brille sind gerötet, die Schatten unter ihnen schwarz wie die Nacht da draußen hinter den Mauern unseres heruntergekommenen Wohnblocks.

»Er ist mein Zwillingsbruder. Ich muss mich auch von ihm verabschieden.« Abschied. Ich wusste nicht, dass so viel Traurigkeit in acht Buchstaben passt, so viel Kummer in ein Herz. Ich wünschte, ich könnte es mir einfach aus der Brust reißen und Luca schenken, weil seines von Minute zu Minute schwächer wird. Ohne ihn in meiner Welt ist mein Herz ebenfalls zu schwach zum Weitermachen, aber das darf ich niemandem sagen, weil es unfair wäre. Schließlich bin ich das gesunde Kind, das mit dem intakten Herzen. Ich darf nicht zusammenbrechen, nicht jetzt, nicht, solange Luca noch hier ist.

Ich habe meinen Bruder tagelang angefleht, ein weiteres Mal für mich ins Krankenhaus zu gehen. In der Hoffnung, dass es nach all den Jahren der Hilflosigkeit doch etwas gibt, das ihm und seinem kranken Herzen helfen kann. Die Diagnose der Restriktiven Kardiomyopathie führt laut Lucas Ärzten nicht bei jedem zwangsläufig zu einem radikalen und schweren Verlauf, aber mein Bruder scheint die schwarze Karte des Schicksals gezogen zu haben.

Anfang des Monats hat er schließlich den Entschluss gefasst, dass er hier sein will, wenn es passiert. Wenn er nach Hause geht. Ein Zuhause, das hoffentlich wärmer und liebevoller sein wird als dieses hier. Wir haben seinen Wunsch akzeptiert, auch wenn es uns alles abverlangt hat.

Einen Augenblick lang verharre ich mit der Hand auf der Türklinke, höre die Stimme unserer Mutter wie ein entferntes Echo.

»Alles wird gut, mein Schatz. Hörst du?« Mit ihm hat sie schon immer wie mit einem Fünfjährigen gesprochen, dabei ist er mittlerweile volljährig.

»Das wird es. Wo ist Lilly?« Luca ist der Einzige aus meiner Familie, der mich so nennt. »Ich will sie sehen.«

»Bist du dir sicher?«

»Bitte, Mama … kann sie kommen?« Seine Stimme ist genauso dünn und schwach wie die unserer Mutter, doch gleichzeitig ist sie noch immer voller Farbe. Weil Luca niemals seine Farbe verlieren wird, selbst nach dem Tod nicht. Das ist etwas, an das ich ganz fest glaube.

Ein Stuhl knarzt, schleichende Schritte, brechende Herzen. Dann wird die Tür geöffnet, und ich stehe unserer Mutter gegenüber. Ihr fahles Gesicht ist voller Tränen, während mein Bauch voller Sehnsucht nach meinem Bruder ist, obwohl er noch da ist. Wenn man weiß, dass man nur wenige Augenblicke mit seinem Lieblingsmenschen hat, zählt jeder einzelne davon.

Mamas Blick ist gespickt mit Vorwürfen, die sie Luca zuliebe nicht aussprechen wird. Doch ich sehe sie in ihren Augen, sehe, dass sie denkt, ich würde ihr die kostbare Zeit mit ihrem geliebten Sohn stehlen.

Ohne weiter auf sie zu achten, dränge ich mich an ihr vorbei ins Zimmer. Diese vier Wände, in denen so viele Erinnerungen gespeichert sind, dass sie mich beim Übertreten der Türschwelle vollkommen unter sich begraben.

Durch Lucas Krankheit war seine Kindheit nie normal, nie sorglos. Hier in diesem Raum haben wir uns trotzdem immer leicht und unbeschwert gefühlt. Wir sind gemeinsam auf wilde Gedankenreisen gegangen, haben die verrücktesten Spiele gespielt und uns gemeinsam die buntesten Geschichten ausgedacht.

»Mach die Tür zu, Mama«, bittet Luca krächzend. Die Schwäche in seinen Worten, sein angestrengtes Atmen, alles macht es mir schwer, überhaupt zum Bett hinüberzusehen.

Unsere Mutter zögert, gibt schließlich nach und schließt die Tür. Augenblicklich verschluckt die Wahrheit jedes Sauerstoffmolekül hier drin. Die Wahrheit, die wie ein Damoklesschwert über uns hängt, wie ein schwarzes Loch, das alles Licht absorbiert.

»Komm her, Lilly.« Eine Pause voller Schmerz. »Bitte.«

Ich halte meinen Blick nach wie vor gesenkt und kralle meine Nägel tief in die Handballen. Es schmerzt, doch nichts schmerzt so sehr wie die unausgesprochenen Worte zwischen Luca und mir. Ich will mich nicht verabschieden, kann nicht Lebewohl zu ihm sagen. Aber ich kann es auch nicht nicht tun. Das ist das Schwierigste an unserer Situation. Alles fühlt sich falsch an.

Also sammle ich meine letzte Kraft, zähle bis drei, hebe den Blick und sehe meinen Zwillingsbruder an. Früher stand an dieser Stelle seines Zimmers immer ein gigantisches Doppelstockbett aus Holz, bis es vor einigen Monaten gegen dieses hochmoderne Pflegebett ausgetauscht wurde, bei dem man die Kopfstütze elektrisch verstellen kann. Luca schläft seit Monaten schlecht, aber dieses Bett hat seine Nächte etwas ruhiger, etwas erträglicher gemacht. Unsere Eltern haben dafür ihren Gebrauchtwagen verkauft und ihre Sparkonten geplündert.

»Keine Angst, Schwesterherz.« Er zwingt sich selbst zu einem Lächeln. »Heute wird es ausnahmsweise mal keine Kissenschlacht geben.«

In diesem Augenblick brechen in mir alle Dämme. Schluchzend stolpere ich auf das Bett zu, und ehe ich michs versehe, liege ich bereits neben Luca. Meinem gleichaltrigen Bruder, der trotzdem immer der Große war und für immer bleiben wird. Ich die Kleine, er der Große. Bald gibt es nur noch mich. Die kleine Lilly, die sich ohne ihren Bruder unvollständig fühlt. Fehl am Platz. In dieser Familie, und schlimmer: in dieser Welt.

»Außer du willst ein letztes Mal gegen mich kämpfen?«, fragt Luca leise, seine Worte sind kaum mehr als ein Flüstern. »Dann hättest du nämlich …« Er holt tief Luft, und das beschwerte Geräusch, das dabei aus seiner Nase dringt, bringt mich schier um. »Dann hättest du ausnahmsweise mal die Chance auf einen Sieg.«

Er will mich ärgern, um mich zum Lachen zu bringen. Aber eine Welt ohne Luca ist keine Welt, in der ich lachen kann. In der ich lachen will.

»Du hattest auch so nie eine Chance gegen mich«, erwidere ich schniefend und drehe mich auf die Seite, damit ich ihn ansehen kann. Meinen großen Bruder, meinen Helden. »Ich habe dich immer nur gewinnen lassen, Bruderherz.«

Eine Mischung aus Husten und Lachen überkommt ihn. Seine leicht bläulichen Lippen verziehen sich zu einem schmalen Lächeln, das seine Grübchen zum Vorschein bringt. Luca hat mit seinen blonden Engelslocken, den seeblauen Augen und genau diesen Grübchen schon immer jedes Mädchen um den Finger gewickelt. Die wenigen Freundinnen, die ich in meiner Schulzeit hatte und die mich hier besucht haben, sind ihm und seinem Charme immer sofort verfallen.

»Dann lasse ich dich mal in dem Glauben.«

Seit Wochen kann Luca das Bett kaum noch verlassen. Weihnachten fand hier in diesem Zimmer statt, und wenn man mich fragt, war es trotz der traurigen Umstände perfekt. Wir haben den Grinch im Fernsehen geschaut, Uno in seinem Bett gespielt und Punk Goes Christmas in Dauerschleife gehört. Es wird kein Weihnachtsfest geben, das ich je gegen dieses letzte mit Luca eintauschen würde.

»Wie geht es dir?« Lange Zeit habe ich mich nicht getraut, ihm diese Frage zu stellen, weil es so offensichtlich ist, dass es ihm nicht gut geht. Irgendwann hat Luca mir anvertraut, dass er es hasst, von allen in Watte gehüllt zu werden. Vor allem von mir.

Seitdem ich die Samthandschuhe ausgezogen habe, ist unsere Beziehung noch enger geworden.

»Ging mir schon mal besser.« Seine Mundwinkel zucken angestrengt ein Stück höher, bevor sein Lächeln in sich zusammenfällt und eine steile Falte zwischen seinen Brauen entsteht. Vor mir muss er keine Maske aufsetzen, das musste er nie. »Ehrlich gesagt habe ich ziemliche Angst, Lilly. Ich hasse es, nicht zu wissen, was mich erwartet.«

»Oh, Luca.« Ich lehne meinen Kopf gegen sein knochiges Schlüsselbein, inhaliere seinen Duft und schließe die Augen. Seit sich Luca für unser Zuhause statt für ein Hospiz entschieden hat, riecht die ganze Wohnung nach Krankenhaus. Ich werde diesen Geruch vermissen, auch wenn ich ihn abgrundtief hasse.

»Und wie geht es dir?« Luca ist der warmherzigste Mensch, den ich kenne. Er liegt im Sterben, und alles, was für ihn zählt, ist, wie es seinen Liebsten geht. Weil ich die Worte nicht über mich kriege und mir noch mehr Tränen in die Augen steigen, schüttle ich lediglich den Kopf und vergrabe das Gesicht in seinem grauen Guardians-of-the-Galaxy-Shirt. Gott, wie sehr er diese Filme liebt.

»Hey, Lilly.« Mit der Kraft, die ihm geblieben ist, zieht Luca mich dichter an sich, und als er mir einen brüderlichen Kuss auf die Stirn drückt, kann ich mein Schluchzen nicht länger zurückhalten.

Ich weine bitterlich an seiner Schulter, versuche, mir das Gefühl seiner Umarmung haargenau einzuprägen. Luca liebt Umarmungen, das hat er immer. Schon als kleiner Knirps ist er über den Spielplatz geflitzt und hat einfach so andere Kinder umarmt, weil es für ihn kaum etwas Cooleres gegeben hat. Ich glaube, das fehlt ihm seit der Diagnose am meisten: das Durch-die-Welt-Rennen-und-Menschen-Umarmen.

»Weißt du … was du tun solltest?« Sein Atem geht schwer, als läge ein tonnenschwerer Betonklotz auf seinem Brustkorb. »Wenn das hier vorbei ist?«

Weinend kralle ich mich in seinem Shirt fest und lasse dessen Stoff meine Tränen auffangen. »Du solltest …« Jede Pause, die er macht, lässt mich noch stärker weinen. »… nach Island fliegen.« Innerlich verbrenne ich, aber äußerlich erstarre ich zur Salzsäule. »Flieg nach Island. Ich weiß doch, dass du … ihn sehen willst.«

So schnell wie möglich schüttle ich den Gedanken an Aron ab. Den einzigen Mann in meinem Leben neben Luca, der eine Ahnung davon hat, wie es mir geht. Aber er weiß nicht, dass Luca im Sterben liegt, weil ich in den letzten Tagen nicht die Kraft hatte, ihm zu schreiben.

Was hätte er auch tun sollen, um mich zu trösten?

Er würde wohl kaum in ein Flugzeug steigen und ein Mädchen besuchen, das er nur durch ein Internetforum für Angehörige von herzkranken Menschen kennt. Wir sind im Prinzip Fremde, auch wenn er in den letzten sechs Monaten mein emotionaler Anker gewesen ist. Weil er ganz genau weiß, wie ich mich fühle. Weil er versteht. Auf eine Art und Weise, die nur jemand verstehen kann, der selbst in dieser Lage ist.

»Es geht jetzt nicht um Aron oder mich, Luca. Es geht um dich.«

»Es ging lange genug um mich, meinst du nicht?« Luca legt seinen Arm enger um mich. Seine Haut ist eiskalt, doch seine innere Wärme bekommt diese verdammte Krankheit nicht.

»Jetzt darf es endlich mal um dich gehen, Lilly. Hör auf damit, okay?« Der letzte Satz kommt ungewohnt kraftvoll über seine spröden Lippen, ja fast schon anklagend. Als hätte er gerade eine letzte Portion Energie in dem Pool seiner Kraftlosigkeit gefunden.

»Womit soll ich aufhören?«

»Damit, dich im Schatten zu verstecken. Du … du bist nicht für den … Schatten gemacht. Das warst du nie. Weißt du auch, warum?«

Ich schüttle den Kopf, und der Kloß in meiner Kehle nimmt ganz neue Dimensionen an. Unüberwindbare Dimensionen.

»Weil du das Licht bist«, sagt er leise und wuschelt mir dabei durch das Haar.

»Du bist das Berliner Nordlicht.« Es fällt ihm schwer, die Lider offen zu halten. Seine Hand sinkt zwischen uns auf die Matratze, und ich ergreife sie, um sie, so fest es geht, mit meiner zu umschließen.

»Brauchst du mehr Schmerzmittel?«, frage ich ihn und gebe mir größte Mühe, nicht wieder zu weinen. Habe ich überhaupt aufgehört?

»Ein bisschen wäre gut.« Hustend dreht Luca sich auf den Rücken. »Ich fühle mich wie mit sieben, als ich mich mit Tyler um diese seltenen Pokémonkarten geprügelt habe. Weißt du noch?«

»Natürlich erinnere ich mich. Er hat dir dabei ein paar von deinen Locken herausgezogen!« Verfluchter Tyler Koch! Ich schnappe mir ein Wasserglas von seinem Nachttisch und fische eine Tablette aus der kleinen Medikamentenschachtel. Dann führe ich erst die Tablette an seine Lippen, dann das Glas. Luca fällt jede Regung sichtlich schwer.

Es dauert nicht lang, bis seine Muskeln etwas entspannter werden und der gequälte Ausdruck auf seinem Gesicht verschwindet. Er bekommt diese starken Schmerzmittel schon seit Wochen, aber in den letzten Tagen hat er immer nach mehr verlangt. Für seinen Schmerz gibt es Linderung, für meinen nicht.

»Ist es so besser?«

Sachte nickt Luca. Ich kuschele mich wieder an ihn, lege meine Wange auf seine Brust, so leicht, dass es ihm hoffentlich nicht wehtut. Dann lausche ich.

Sein Herzschlag ist schwach, kaum wahrnehmbar, und für mich ist es trotzdem der stärkste Rhythmus, den ich je gehört habe. Ein kraftvoller Beat, der die Geschichte eines wahren Kämpfers erzählt.

Ich zucke zusammen, als draußen das Zischen einer Rakete ertönt und kurz darauf die Explosion.

»Ist schon Neujahr?«, will Luca mit geschlossenen Augen wissen. Mein Blick wandert zu der digitalen Uhr auf seinem Nachttisch.

»Erst in fünf Minuten.«

Bitte, lass ihn Mitternacht erleben. Der Gedanke, ohne ihn ins neue Jahr zu starten, verknotet meine Organe auf so schmerzhafte Weise, dass ich sie mir am liebsten eigenhändig aus dem Körper reißen würde.

»Okay«, flüstert er und hält die Augen geschlossen. »Hast du dich je gefragt … wie sich die Funken wohl fühlen?« Lucas Frage entlockt mir ein Schmunzeln. Als Kind habe ich meine Familie mit Fragen gelöchert. Ich wollte immer wissen, wie sich diese Welt wohl fühlt, auf der wir leben. Wie sich die Erde unter unseren Füßen fühlt, wenn wir über sie gehen. Wie es dem Wind geht, wenn er außer Kontrolle gerät und zu einem Sturm heranwächst.

Unsere Eltern haben mir immer gesagt, dass ich mit diesem Unsinn aufhören soll, dass ich irgendwann erwachsen werden muss. Also habe ich nur noch Luca gefragt, weil er mich schon immer verstanden hat. Er hat verstanden, was ich selbst nicht wirklich verstehen konnte.

»Die Funken?«, hake ich zitternd nach.

»Ja, die Funken. Vom Feuerwerk.«

Langsam drehe ich mich auf den Rücken, starre an die Decke seines Zimmers und stelle mir ein großes Dachfenster vor, das uns den Blick in den Berliner Himmel freigibt.

»Ich frage mich eher, wie sich der Himmel dabei fühlt. Ob die Sterne Angst haben, wenn eine Rakete so dicht vor ihren Augen explodiert.« Ich schlucke. »Ich habe Angst«, entflieht es mir, weil es das ist, was ich meinem Bruder eigentlich sagen will. »Davor, ohne dich zu sein.«

»Du wirst … nie … ohne mich sein.«

Seine Finger zucken, nur ganz leicht. Die Schmerzmittel machen Luca benebelt. Aber heute ist es anders, heute ist alles anders. Es ist, als würde die Welt stehen bleiben, damit Luca aussteigen kann. Damit er seinen nächsten Zug bekommt. Einen, in den ich nicht einsteigen darf, weil ich keine Fahrkarte habe. Am liebsten würde ich mich an ihn ketten, damit er mich mitnimmt, wohin auch immer er geht.

Wir wollten immer zusammen auf Reisen gehen, sobald er wieder gesund ist, doch sein Zustand hat es nie möglich gemacht. Die einzigen Orte, die wir ab und zu besuchen konnten, waren die Kliniken und das Haus unserer Großmutter auf Sylt. Ich wünschte, sie wäre jetzt hier bei uns. Auf der anderen Seite des Bettes, mit ihrem süßen silbergrauen Dutt auf dem Kopf und den geblümten Kleidern, die sie so gerne trägt. Selbst in einem so kalten Winter wie dem diesjährigen.

»Hör nie auf, die Welt auf Lilly-Weise zu sehen, okay?« Seine Bitte ist so eindringlich, dass ich nicht anders kann. Ich muss ihm dieses Versprechen geben. »Egal, was Mama und Papa sagen. Sie … verstehen es nur nicht. Verstehen dich nicht. Aber ich habe dich immer verstanden.«

»Ich gebe mein Bestes«, verspreche ich ihm. Und dann fühle ich es. Ich fühle, dass sein Zug anhält. Mit blanker Panik im Bauch drehe ich mich auf die Seite, blicke das blasse Gesicht meines Bruders an, das noch genauso aussieht wie eben gerade, und doch schon irgendwie anders ist.

Friedlicher.

Freier.

Wenige Sekunden später zuckt Lucas rechte Hand nach oben, als würde er in den Himmel greifen. Sobald sie wieder nach unten sinkt, weiß ich es. Ich weiß, dass Luca gegangen ist. Er hat nach den Sternen gegriffen, ein letztes Mal. Um ihnen die Angst vor dem Feuerwerk zu nehmen, das wenige Augenblicke später am Himmel wie eine bunte Symphonie explodiert.

Phase I  Verleugnung

Kapitel 1

Notiz an mich selbst: Schattensprünge können dir Angst machen und sich trotzdem gut anfühlen

Vier Wochen später

01.01. aron: happy new year, lilly! bist du gut ins neue jahr gekommen? bei uns in der lodge war die hölle los, meine mom kam auf die grandiose idee, eine neujahrsparty für die touristen zu veranstalten, die gerade bei uns übernachten. spoiler alert: die idee war beschissen! wusstest du, wie viele seltsame silvestertraditionen es auf der welt gibt? unsere spanischen gäste haben sich beinahe zu tode verschluckt, weil sie versucht haben, zwölf weintrauben in zwölf sekunden zu essen, und thiago aus argentinien meinte, es wäre eine besonders gute idee, altes papier zu zerreißen und aus dem fenster zu werfen. die fetzen werde ich vermutlich in drei jahren noch finden!

ps: ich hoffe, dass es deinem bruder gut geht … das letzte jahr war hart zu uns beiden, aber das neue jahr wird besser, lilly. dein bruder wird ein passendes spenderherz bekommen, ich weiß es einfach. hör nicht auf, daran zu glauben, okay? hör niemals auf, zu glauben.

05.01. aron: hey, lilly. du warst dieses jahr hier noch gar nicht online – ist alles okay bei dir?

07.01. aron: keine ahnung, ob ich gerade grundlos durchdrehe, aber mich lässt das gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmt. geht es luca wieder schlechter? musstet ihr wieder mit ihm ins krankenhaus?

10.01. aron: ich wünschte, ich hätte deine handynummer. ich hab aus reiner verzweiflung sogar bei deinen eltern im blumenladen angerufen, aber es ging niemand ans telefon. bitte melde dich, wenn du meine nachrichten liest. ich mache mir langsam echt sorgen und muss wissen, ob es dir gut geht. außerdem muss ich mit dir reden …

15.01. aron: ich bin immer hier für dich, lilly.

Mir rutscht das Herz in die Hose, während meine Finger über der Tastatur des Laptops schweben. Es könnte so einfach sein. Ich müsste nur drei Worte tippen und auf »Senden« klicken.

Stattdessen tippe ich nur, um wieder zu löschen. Tippen und löschen, tippen und löschen, tippen und löschen. Aron ist mein engster Freund, obwohl ich ihn nur von seinem Profilfoto kenne und ihm nie im wahren Leben begegnet bin, weil uns ziemlich genau 2851 Kilometer voneinander trennen. Mit einem schlechten Gewissen so groß wie der Grand Canyon klicke ich zum hundertsten Mal sein Profilbild an.

Der moosgrüne Hoodie, den er bis zu den Ellbogen nach oben gekrempelt hat, harmoniert perfekt mit seinen grünen Augen, die er auf dem Bild leicht zusammenkneift, weil er aus vollem Herzen lacht. Das Lachen ist … einfach schön. So schön, dass ich mich unter anderen Umständen kopflos in ihn verknallt hätte. Er hat seine blonden Haare zu einem kleinen Knoten am Hinterkopf zusammengebunden, der ihm unfassbar gut steht, genau wie der leichte Bartschatten, der seinen Mund umspielt und ihn weit älter als zweiundzwanzig aussehen lässt.

Aron.

Mein Herz wird bleischwer und meine Augen noch feuchter, weil ich seit Wochen keinen Kontakt mehr zu ihm hatte, obwohl er neben Luca und Oma der einzige Mensch ist, der sich je für mich interessiert hat. Für das, was in mir vorgeht.

Ich habe ihn vor einem halben Jahr in dem Forum stronghearts kennengelernt, einem Portal für Angehörige von Menschen mit Herzerkrankungen aus aller Welt.

Nur vage erinnere ich mich an den Tag, an dem ich mich auf dieser Website angemeldet habe. Wir hatten gerade die niederschmetternde Nachricht erhalten, dass der Zustand des Spenderherzens, auf das wir monatelang so gehofft hatten, viel schlechter war als angenommen. Also wurde das Herz, das eigentlich das Leben meines Bruders retten sollte, für untauglich erklärt, und wir wurden wieder an den Anfang zurückkatapultiert. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass mir die tiefste Dunkelheit erst noch bevorstehen würde.

Ich hätte Aron längst sagen müssen, was passiert ist. Dass Luca gegangen ist und ich ein paar Wochen Pause brauchte, um zu realisieren, dass ich nie wieder mit ihm reden werde. Ihn nie wieder lachen höre. Nie wieder seine Umarmung spüre und das Gefühl habe, einfach nur richtig zu sein. Aber ich kann nicht. Allein die Vorstellung, diese drei Worte zu tippen, bringt mich schier um.

Luca. Ist. Tot.

Wie kann sich etwas, das wahr ist, nur so gelogen anfühlen? Die Wahrheit ist wie ein Albtraum, der einfach nicht endet, egal wie oft ich morgens die Augen öffne. Vielleicht ist es diese Verleugnung, von der all die Trauerbegleiter im Internet immer sprechen.

Die letzte Nachricht von Aron kam vor einer Woche. Es ist nicht fair, dass ich ihn ghoste, nachdem er in den letzten Monaten immer für mich da gewesen ist, wenn es mir schlecht ging und ich jemanden zum Reden brauchte.

Wenn Luca mal wieder ins Krankenhaus musste, weil sein Herz seinen Dienst quittieren wollte. Jedes einzelne Mal hat Aron mich getröstet, hat mich virtuell gehalten und mir wieder Mut gemacht. So wie ich versucht habe, ihm Mut zu machen, wenn es seiner Freundin Jóhanna schlechter ging.

Ich weiß nicht sonderlich viel über sein Leben auf Island, aber ich weiß, dass ich mir mehr als einmal gewünscht habe, einfach in den Flieger zu steigen und auf die karge Insel im Nordwestatlantik zu fliehen. Aron hat in so vielen seiner Nachrichten von den Geysiren und Wasserfällen geschwärmt, dass ich diese Weite und Rauheit so gern mit eigenen Augen sehen würde.

Er arbeitet im Bed and Breakfast seiner Mutter in Vík í Myrdal und ist neben Luca der beste Zuhörer, den ich je hatte. Seine Freundin hat ihre Diagnose vor einem Jahr erhalten, und seitdem kämpft er an ihrer Seite gegen diese schreckliche Krankheit, so wie ich an Lucas Seite gegen seine kämpfte. Im Gegensatz zu mir hat Aron seinen Kampf noch nicht verloren.

Womöglich sträubt sich deshalb alles in mir, ihm zu schreiben. Weil wir nicht mehr auf derselben Seite stehen. Weil es für Arons Freundin Hoffnung gibt, ich hingegen längst alles verloren habe.

Meine Finger schweben immer noch untätig über die Tastatur. Es fühlt sich falsch an, ihm zu schreiben, obwohl es sechs Monate lang das absolut Richtige gewesen ist.

Also klappe ich den Laptop zu, schiebe ihn kraftlos zur Seite und lege mich hin, in der Hoffnung, heute Nacht wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Natürlich ist mein Wunsch vergeblich, denn ich drehe mich unruhig von links nach rechts, wie in jeder Nacht seit Silvester.

Es kommt einem Wunder gleich, dass ich tagsüber wie ein Mensch funktioniere, obwohl ich seit vier Wochen nachts kaum länger als drei Stunden schlafe. Ab wann wird Schlafmangel eigentlich chronisch? Und ab wann gefährlich?

Immer, wenn ich die Augen schließe, sehe ich Luca. Ich sehe ihn, höre seine Stimme, die immer noch bei mir ist, aber von Tag zu Tag leiser wird.

Ich zupfe an Lucas schwarzem Shirt, ziehe es über mein Gesicht und inhaliere seinen immer schwächer werdenden Duft, der langsam durch meinen eigenen ersetzt wird. Wenn unsere Mutter sehen könnte, dass ich seine Sachen trage, würde sie mich vermutlich auf die Straße setzen.

Insgeheim will ich genau das provozieren. Ich will, dass mich meine Eltern rauswerfen und ich somit einen Grund habe, mir endlich mein eigenes Leben aufzubauen. Etwas, das ohnehin längst überfällig ist, weil mich alles an dieser Familie und in dieser Wohnung erdrückt.

Zu sagen, dass unsere Eltern mit ihrer Trauer nicht unbedingt gesund umgehen, wäre untertrieben. Papa stürzt sich ununterbrochen in die Arbeit in unserem Blumenladen, dem Cityflowers, während Mama vierundzwanzig Stunden am Tag voller Zorn auf die ganze Welt ist. Wie oft höre ich klirrendes Geschirr aus der Küche? Fliegende Tassen, deren Scherben Luca auch nicht zurückbringen können?

Eine Weile wälze ich mich hin und her, weil ich mir fest vorgenommen hatte, heute in meinem eigenen Zimmer zu schlafen. Es ist vergeblich. Also steige ich wie in all den Nächten zuvor leise aus meinem Bett, tapse über den dunklen Flur und gehe in den einzigen Raum dieser Wohnung, der mich ansatzweise frei atmen lässt.

Mama hat mich in der Woche nach Lucas Beerdigung zum ersten Mal in seinem Zimmer erwischt und mir seitdem das strikte Verbot erteilt, mich noch einmal in sein Bett zu legen.

Aber ich scheiße auf dieses Verbot.

Ich bin zwanzig Jahre alt und habe vor vier Wochen meinen Zwillingsbruder verloren. Wenn es mir hilft, auf seinem Kopfkissen zu liegen und seine Sachen zu tragen, um mich ihm näher zu fühlen, dann mache ich genau das.

So sanft wie möglich drücke ich die Tür hinter mir ins Schloss, schlurfe todmüde auf sein Bett zu und rolle mich auf ihm wie eine verängstigte Schnecke zusammen.

»Gute Nacht, Luca«, flüstere ich in die ohrenbetäubende Stille der Dunkelheit. »Ich vermisse dich unendlich.«

Irgendwann muss ich eingeschlafen sein und werde erst wach, als das Licht im Raum angeschaltet wird.

»Liliana!« Die schneidende Stimme meiner Mutter reißt mich aus dem Traum, zerrt mich zurück in die bittere Realität, der ich so dringend entfliehen wollte. »Was zur Hölle machst du hier drin? Habe ich mich beim letzten Mal nicht klar und deutlich genug ausgedrückt?«

Mit verschlafenen Augen sehe ich sie an. Wie sie mit geballten Fäusten mitten im Zimmer steht, ihr Blick wutentbrannt auf das Kind gerichtet, das noch hier ist. Sie würde mich, ohne zu zögern, gegen Luca eintauschen. Ich bin es leid, ihr zu sagen, dass ich dasselbe tun würde. Hätte es die Möglichkeit gegeben, Lucas Platz im Krankenhausbett einzunehmen, hätte ich es getan. Sofort.

Sie massiert ihre Nasenwurzel, als Zeichen ihrer Wut und Überforderung. »Ich habe dir schon so oft gesagt, dass du nicht in seinem Bett liegen sollst, Liliana. Wann verstehst du das endlich?«

Schnell rapple ich mich auf. Wenn sie diesen Raum abschließt, bleibt mir nichts mehr von ihm. »Luca hätte kein Problem damit gehabt.« Noch bevor ich seinen Namen ausgesprochen habe, bereue ich es schon.

Ihre Unterlippe bebt, der Vulkan steht kurz vor dem nächsten Ausbruch. »Sag seinen Namen nicht! Dein Bruder ist nicht hier«, erwidert sie schroff, woraufhin mir ein schnaubendes Lachen entweicht.

Danke für die Erinnerung, Mama. Als hätte ich in den letzten vier Wochen auch nur eine Sekunde lang vergessen, dass er nicht mehr da ist.

»Ist das etwa seins?« Sie stapft auf mich zu und zerrt an dem Ärmel des schwarzen Shirts, das ich vor zwei Wochen heimlich aus seinem Schrank gezogen habe.

»Du sollst nicht einfach so an seine Sachen gehen! Muss ich sein Zimmer wirklich absperren, damit du dich an unsere Abmachung hältst?«

Ich weiß, dass ich ihr etwas entgegensetzen sollte, aber mir bleiben die Worte auf halbem Wege im Hals stecken.

Von welcher Abmachung sprichst du, Mama? Für eine Abmachung muss man erst einmal miteinander reden. Ein richtiges Gespräch führen, keine einseitigen Gebote auflisten!

Wenn ich genauer darüber nachdenke, ist unser letztes richtiges Gespräch schon Jahre her. Im Grunde genommen weiß ich gar nicht mehr, wer diese Frau vor mir überhaupt ist. Sie ist eine Fremde für mich geworden. Ich würde ihr gern so viele Dinge an den Kopf werfen, wenn sie mich wie eine Aussätzige behandelt. Wann hat sie aufgehört, in mir ihre Tochter zu sehen?

Ich erinnere mich daran, dass sie früher ganz anders war, genau wie Papa. Sie waren liebevolle Eltern. Die Sorte, die sonntags spontan das Auto gepackt hat und mit uns ans Meer zu Oma gefahren ist. Sie haben gelacht, so viel gelacht, dass Mama schon mit dreißig Jahren Lachfalten hatte. Lucas Krankheit hat einen Schleier über all das gelegt. Auch über ihre Liebe zu mir.

»Zieh es aus!« Mama benimmt sich wie ein fünfzehnjähriger Teenager und nicht wie eine fast fünfzigjährige Erwachsene, als sie anfängt, an dem Stoff zu zerren, der meine schweißnasse Haut bedeckt. »Hast du mich verstanden? Zieh sein Shirt aus, Liliana!« Dabei sieht sie mir nicht ins Gesicht. Seit seinem Tod hat sie das kein einziges Mal getan. Und ich verstehe es sogar. Auch mir fällt es schwer, mein Spiegelbild zu ertragen, das seinem so ähnlich sieht.

Während sie mir unter Tränen das Shirt vom Körper reißt und sich fest gegen die Brust presst, bleibe ich auf dem Bett meines Bruders sitzen und falle in mich zusammen. Luca würde es das Herz brechen, uns so zu sehen. So fremd, so entfernt und voller Kummer. Ob tote Herzen brechen können?

Ohne auch nur ein Wort mit Mama zu wechseln, springe ich auf, stapfe an ihr vorbei und steuere mein Zimmer an.

Ich muss hier raus. Muss raus aus dieser Wohnung, die mich von Tag zu Tag mehr verschluckt wie ein schwarzes Loch. Wäre Luca nicht hier gewesen, hätte ich mir schon vor Wochen eine eigene Wohnung in Berlin gesucht. Solange er noch hier war, konnte ich Mamas Wutausbrüche aushalten, aber jetzt ertrage ich ihre Nähe nicht länger. Ertrage ihren Zorn nicht, den sie gegen mich richtet, als wäre ich schuld an dem, was passiert ist.

Luca war immer das Lieblingskind, der Sonnenschein der Familie. Ich war die Tagträumerin, die ständig zu spät heimkam, weil sie die Zeit aus den Augen verloren hatte. Das Kind, das zu viel Aufmerksamkeit haben wollte, obwohl es gesund war. Wie konnte ich auch nur eine Sekunde lang denken, dass ich ebenfalls zähle? Dass sich durch Lucas Tod etwas an der Ignoranz unserer Eltern ändern würde?

»Denk dran, dass du heute die Nachmittagsschicht im Laden hast, Liliana!«, ruft Mama mir hinterher. »Außerdem ist da ein Paket für dich gekommen. Es liegt vor deiner Tür.«

Wortlos gehe ich in mein Zimmer und schnappe mir im Vorbeigehen das Paket. Im Hintergrund höre ich Mama in Lucas Zimmer weinen.

Auf dem Poststempel steht Sylt, also muss die Post von Oma sein. Mit zitternden Händen lasse ich mich in meinem Zimmer auf den Boden sinken und reiße das Paket unserer Großmutter auf. Eine beigefarbene, handgeschriebene Karte fällt heraus.

Das Notizbuch hat deinem Bruder gehört, mein Kind. Ich habe es in eurem Zimmer gefunden und dachte, dass du es vielleicht haben möchtest. Du könntest deine Gedanken darin festhalten, genau wie deinen Kummer und deine Träume. Sie waren schon immer zu besonders, um nicht aufgeschrieben zu werden. Wenn du etwas brauchst: Meine Tür steht dir offen, das weißt du, oder? Und das Meer hört dir zu, genau wie ich.

Ich vermisse euch.

In Liebe

Oma

Tränen sammeln sich in meinen Augenwinkeln, überziehen meine Haut wie ein Film aus Wasser und Salz. Das Notizbuch ist schlicht und schwarz, lediglich die silberne Schrift bestätigt, dass das Buch meinem Bruder gehört hat.

»Jumping over shadows to find light«

Dieser Spruch war Lucas Lebensmotto, sein Mantra. Er hat es gehasst, wenn man sich selbst durch Grenzen limitiert hat, so wie er es gehasst hat, dass unsere Eltern dasselbe mit sich und mit mir getan haben.

Mit angehaltenem Atem blättere ich durch die leeren Seiten, inhaliere den Duft von Papier, das von mir gefüllt werden will, auch wenn ich nicht weiß, was ich aufschreiben soll. Ein schwarzer Stift klemmt in dem Einband des Notizbuches, der genauso düster ist wie meine Gedanken.

Mein letztes Gespräch mit Luca drängt sich mit aller Macht zurück in mein Bewusstsein.

Du solltest nach Island fliegen.

Mit dem Daumen zeichne ich die schön geschwungene Schrift nach, und mit jedem Buchstaben, den ich berühre, wächst der Wunsch in mir, endlich mit Aron zu sprechen.

Nicht zu schreiben, sondern von Angesicht zu Angesicht mit ihm zu reden. Ich will in seine grünen Augen sehen, wenn ich ihm sage, dass Luca fort ist. Ich will von ihm in den Arm genommen werden, wenn ich in tausend Teile zerberste.

Mein Blick huscht unruhig zwischen der Tür und meinem Laptop hin und her. Wäre es völlig verrückt, wenn ich jetzt Hals über Kopf meine Sachen packte, einen Last-minute-Flug nach Keflavík buche und Berlin den Rücken kehre?

Vielleicht ist es an der Zeit für verrückte Entscheidungen. Weil ich es in dieser kleinen Wohnung keine Nacht länger aushalte. Weil Berlin mich erdrückt mit all seinem Beton, seiner Geschäftigkeit und dem ohrenbetäubenden Lärm.

Weil Luca mich darum gebeten hat und ich meinem Bruder jeden Wunsch erfüllen werde.

Kapitel 2

Notiz an mich selbst: Liebe führt zu Schmerz (fast immer)

Ich habe es wirklich getan.

Wenn der ältere Herr auf dem Sitz neben mir seit dem Start nicht so mürrisch dreinschauen würde, hätte ich ihn längst gefragt, ob er mich einmal fest in den Arm kneifen kann. So ein kleiner Realität-oder-Traum-Check käme mir gerade wirklich gelegen, denn nichts hiervon fühlt sich für mich auch nur ansatzweise real an. Weder das Ruckeln der gigantischen Maschine unter meinem Hintern noch das leise Pfeifen der Klimaanlage über meinen Space Buns.

Ich sitze tatsächlich zum allerersten Mal in meinem Leben in einem Flugzeug. Allein, lediglich mit meiner schwarzen Reisetasche bepackt und Lucas leerem Notizbuch in der rechten Hand.

Über meine Noise-Cancelling-Kopfhörer läuft das neue Album von Ed Sheeran, das so gut zu meiner Lebensstimmung passt, dass ich nicht weiß, ob ich ihn dafür lieben oder hassen soll. Liebe führt zu Schmerz, wie verflucht recht Ed mit dieser Line hat. Liebe bedeutet Schmerz. Sobald Lucas Gesicht vor meinem inneren Auge auftaucht, blinzle ich es weg. Auf keinen Fall möchte ich neben Mr Grumpy losheulen und mir noch mehr blöde Blicke von ihm einfangen.

Ich erschrecke mich beinahe zu Tode, als ich ohne Vorwarnung an der Schulter berührt werde. Mein grimmiger Sitznachbar deutet auf die blonde, groß gewachsene Stewardess in dem schwarzen Kostüm der Fluggesellschaft, die mich mit einem Tausend-Watt-Lächeln ansieht und offenbar mit mir spricht. Eilig tippe ich gegen die Muschel meines rechten Kopfhörers, um die Musik zu pausieren.

»Entschuldigung«, nuschle ich in meinen dünnen Schal.

»Würden Sie bitte den Sichtschutz nach oben schieben, Miss? Wir landen in zwanzig Minuten.« Ihr Englisch ist perfekt, und ich bin heilfroh, dass ich seit Jahren alle Serien und Filme in der Originalfassung sehe. So muss ich mir in den nächsten Tagen wenigstens keine Gedanken darüber machen, ob meine Englischkenntnisse ausreichen werden.

»Natürlich.« Eilig nicke ich, auch wenn ich dabei ein ziemlich mieses Bauchgefühl habe. Da ich noch nie in einem Flugzeug saß, war der Start für mich alles andere als entspannt. Je länger ich auf die immer kleiner werdende Welt unter mir gestarrt habe, desto schlimmer wurden meine Angst vor der Höhe und das Grummeln in meinem Magen.

Mit polterndem Herzen schiebe ich den Sichtschutz nach oben, und sobald sich meine Augen an das grelle Licht gewöhnt haben, klappt mir die Kinnlade herunter. Unter mir breitet sich die wohl schönste Landschaft aus, die ich je zu Gesicht bekommen habe. Hüglige Passagen wechseln sich mit kargen Flächen ab, die von Schnee und funkelndem Eis bedeckt sind. Zwischen ihnen schmale Spuren aus gletscherblauem Wasser, das sich durch die komplette Landschaft zieht, als hätte das Meer seine Arme weit ins Landesinnere ausgestreckt. Die Sonne spiegelt sich auf dem Ozean und lässt ihn wie ein Meer aus Saphiren glitzern.

Atemlos lege ich meine Hand auf die kühle Scheibe, starre diese mondähnliche Landschaft unter mir an und kann kaum glauben, dass ich es wirklich durchgezogen habe. Dass ich mir tatsächlich einen überteuerten Last-minute-Flug herausgesucht und ihn von meinen bescheidenen Ersparnissen bezahlt habe. Und all das, ohne auch nur ein Wort mit Aron gesprochen zu haben.

Vielleicht geht mein Vorhaben mächtig in die Hose, aber ich musste einfach weg. Knappe dreitausend Kilometer Luftlinie sollten als Abstand zwischen Mama und mir reichen, damit ich mir darüber klar werden kann, wie es weitergehen soll. Was ich mit meinem Leben ohne Luca anfangen soll. Glühender Widerstand flammt in mir auf, weil es sich so falsch anfühlt, überhaupt darüber nachzudenken.

»Liebe Passagiere, wir setzen jetzt zur Landung in Keflavík an. Bitte denken Sie daran, Ihren Gurt zu verschließen, die Armlehnen herunterzuklappen und den Sitz in seine ursprüngliche Position zu bringen. Island empfängt Sie heute mit ungewöhnlich viel Sonnenschein und einer Temperatur von minus fünf Grad.«

Die Lautsprecher der Fluggesellschaft knacken unangenehm, dennoch hänge ich an den Lippen der hübschen Stewardess, als würde sie die heutigen Lottozahlen verkünden und mir gleich mitteilen, dass ich den Sechzig-Millionen-Jackpot geknackt habe.

»Heute Abend stehen die Chancen auf eine Nordlichtsichtung zwar schlecht, aber in den kommenden Tagen könnten Sie Glück haben und das Naturphänomen aus nächster Nähe betrachten. Vielen Dank, dass Sie mit uns geflogen sind. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt und eine gute Weiterreise.«

Ich habe es tatsächlich geschafft, Luca.

Ich bin nicht nur über meinen Schatten gesprungen, nein.

Ich bin über ihn geflogen.

Eine Wand aus eisiger Kälte schlägt mir entgegen, während ich das Handy aus meiner viel zu dünnen North-Face-Regenjacke ziehe und den Flugmodus ausschalte. Ich befürchte, dass mein Telefon vor verpassten Anrufen heiß läuft, aber alles, was Sekunden später aufblinkt, ist ein einziger von meiner Großmutter. Was bedeutet, dass sie längst weiß, was ich getan habe.

Mit schlechtem Gewissen drücke ich auf den grünen Hörer und rufe sie zurück, damit sie sich keine Sorgen macht. Von zu Hause zu verschwinden, war schon jetzt die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe.

»Kindchen, was machst du denn für Sachen?«, begrüßt sie mich gleich.

»Dir auch hallo, Oma«, erwidere ich mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen. »Tut mir leid, dass ich dich als Alibi benutzt habe. Aber ich wusste nicht, was ich sonst hätte sagen sollen.«

»Ach, Kindchen, das muss dir doch nicht leidtun. Ich bin gerne eure Komplizin.« Plötzliches Schweigen, als sie zu realisieren scheint, was sie gerade gesagt hat. Dann räuspert sie sich. »Ich bin gerne deine Komplizin, aber eine kleine Vorwarnung hätte nicht geschadet, weißt du? Deine Mutter ist nicht begeistert über deinen …« Sie macht eine Kunstpause. »…Besuch bei mir.«

Fest presse ich meine Lippen aufeinander, folge den restlichen Passagieren über das Gelände Richtung Flughafen und konzentriere mich dabei auf die Worte meiner Großmutter.

»Danke. Ich wollte nur weg, verstehst du? Sie erdrückt mich. Papa ist kaum da, und wir reden nie über Luca. Ich habe es nicht länger ausgehalten.« Kurz bevor ich zum Flughafen aufgebrochen bin, habe ich meiner Mutter einen kleinen Zettel hinterlassen, weil ich mich mies dabei gefühlt hätte, einfach so zu verschwinden.

Fahre für ein paar Wochen zu Oma nach Sylt.Tut mir leid.Liliana

Mehr habe ich nicht geschrieben, weil es ohnehin nichts gab, was ich dieser Frau noch hätte sagen wollen. Wieso auch, wenn sie mir sowieso nie zuhört? Allein dass sie nicht einmal versucht hat, mich anzurufen, beweist, wie wenig sie sich für mein Leben interessiert. Andere Eltern wären längst auf die Barrikaden gegangen, hätten sich tierische Sorgen um ihre Tochter gemacht. Aber nicht meine. Meine haben bereits vor Jahren all ihre Sorgen für ihr anderes Kind aufgebraucht.

»Du musst dich nicht vor mir rechtfertigen, Liliana. Nie, hörst du? Außerdem bist du wirklich alt genug, um für dich selbst zu entscheiden. Also sag mir: Wo bist du in Wahrheit, Kindchen?«

»Du wirst mich für verrückt halten, wenn ich es dir erzähle«, nuschle ich ins Smartphone und stoße ein erleichtertes Seufzen aus, als ich endlich aus der Kälte raus bin und das angenehm warme Flughafengebäude betrete. Alles hier ist so sauber, so ruhig. Die Stimmung hier ist ganz anders als am BER. Nicht so hektisch und laut. Deutschland ist für mich die Definition von purem Stress.