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Auftakt der Faith-Trilogie von Sarah Stankewitz: Romantisch, dramatisch, zum Weinen und zum Lachen! »Die Geschichte von Sky und Carter hat mich zutiefst berührt und wird mich so schnell nicht wieder loslassen.« thebookelle Wenn du den Boden unter den Füßen verlierst, musst du nach den Sternen greifen! Nach einem One-Night-Stand mit ihrem besten Freund Carter flieht Skylar überstürzt aus der Wohnung. Auf dem Heimweg hat sie einen Unfall, der ihr Leben für immer verändert. Sie wird nie wieder gehen können und sitzt von nun an im Rollstuhl. Carter verlässt am Morgen nach ihrer gemeinsamen Nacht für ein halbes Jahr das Land, um als Musikjournalist mit einer Band durch Europa zu touren. Sky möchte nicht, dass er für sie seinen Traum aufgibt, und so verheimlicht sie ihm den Unfall. Und ihre Gefühle, die weit über eine Freundschaft hinausreichen. Doch seine Rückkehr naht, und bald müssen sie sich der Wahrheit stellen… Die berührende Faith-Reihe - Rise and Fall: Wenn du den Boden unter den Füßen verlierst, musst du nach den Sternen greifen. - Shatter and Shine: Wenn in einer lauten Welt plötzlich alles verstummt, kannst du nur noch auf dein Herz hören. - Dream and Dare: Wenn die Angst dir die Sprache verschlägt, musst du dein Herz singen lassen.*** Eine berührende Friends-To-Lovers Geschichte über einen One-Night-Stand, einen Unfall, der alles verändert und eine ganz besondere Liebe. Fesselnd von der ersten bis zur letzten Seite! ***
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Rise and Fall
Sarah Stankewitz lebt mit ihrem Freund in einer kleinen Stadt am Rande von Brandenburg. Seit ihrem Debütroman im Januar 2015 lässt sie ihrer Fantasie freien Lauf und ist immer wieder auf der Suche nach neuen Inspirationsquellen. Musik, Kerzen und ein bequemer Arbeitsplatz dürfen im Hause der Autorin ebensowenig fehlen wie eine leckere Tasse Kaffee. Ihre Geschichten spiegeln das wider, was sie sich stets von einem guten Roman erhofft: Liebe, Leidenschaft und eine Prise Humor.
Wenn ich traurig bin, bringt er mich zum Lachen. Wenn ich glücklich bin, potenziert er mein Glück. Sein ganzes Universum dreht sich um mich, er hat es mir selbst gesagt. Du bist meine verdammte Sonne, Sky ... In diesem Moment habe ich Angst davor, seine Sonne zu sein. Weil eine Sonne explodieren kann und ich weiss, dass er diese Explosion niemals überleben würde.
Sarah Stankewitz
Roman
Forever by Ullsteinforever.ullstein.de
Originalausgabe bei ForeverForever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin1. Auflage Mai 20222. Auflage 2022© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, MünchenAutorenfoto: © Patrick ThomasE-Book powered by pepyrusISBN 978-3-95818-667-5
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Titelei
Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
Skylar
Teil 1
1
Skylar
2
Skylar
3
Carter
4
Skylar
5
Carter
6
Skylar
7
Skylar
8
Carter
9
Skylar
10
Carter
11
Skylar
12
Skylar
Teil 2
13
Carter
14
Skylar
15
Carter
16
Skylar
17
Carter
18
Skylar
19
Skylar
20
Carter
21
Skylar
22
Carter
23
Skylar
24
Carter
25
Carter
26
Skylar
27
Skylar
28
Skylar
29
Carter
30
Skylar
31
Carter
32
Skylar
33
Carter
Epilog
Skylar
Anhang
Anmerkungen der Autorin
Danksagung
Leseprobe: Shatter and Shine
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Content Note
Liebe Lesende,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deswegen findet ihr auf S. 415 eine Triggerwarnung. Wir möchten, dass ihr das bestmögliche Leseerlebnis habt.
Eure Sarah Stankewitz & das Forever-Team
Vergangenheit
Sozialwaise.Dieses Wort kreiste durch meine Gedanken wie das Einhorn, auf dem ich immer saß, wenn Mommy und ich auf den Jahrmarkt gingen. Es war rosafarben, hatte einen blauen Schweif und ein riesiges Horn mitten auf der Stirn. Es glitzerte. Auf Beauty fühlte ich mich immer wie eine Superheldin – das Karussell war schnell, und ich wollte nie nach Hause. Weil zu Hause alles kalt war. Vor allem Mommy. Irgendwann wollte sie nicht mehr mit mir auf den Jahrmarkt gehen. Irgendwann wollte sie gar nichts mehr machen, was mit mir zu tun hatte.
Seitdem blieb mir nur noch mein Kuscheltier, das ich ebenfalls Beauty getauft hatte und das jetzt auf meinem Schoß lag und mich aus einem traurigen Auge ansah. Das andere hatte Beauty in der Waschmaschine verloren.
Seit zwei Tagen war ich in diesem gigantischen Haus, bei diesen fremden Erwachsenen mit völlig fremden Kindern, von denen keines mit mir sprach. Als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Nun war ich keine Superheldin mehr, sondern eine Außenseiterin. Eine Sozialwaise.
Als ich am Morgen über den warmen Flur geschlichen bin, habe ich das Wort heimlich in der Küche aufgeschnappt. Die Frau mit den tiefen Fältchen an den Augen und dem schönen Lächeln hatte es gesagt. Ihre Stimme klang dabei so traurig.
Ich war auch traurig, seit Mommy mich hierhergebracht hatte. Wann würde sie mich endlich wieder abholen? Ich wollte nach Hause.
»Skylar ist so ein kluges und wundervolles Mädchen. Dass sie eine Sozialwaise ist, bricht mir das Herz, Charles. Aber wir werden ihr ein gutes Zuhause geben. Wie allen Kindern.« Charles war der Mann mit den grauen Haaren, die er lustig von einer Seite zur anderen kämmte. Ob sie im Wind nach oben fliegen würden?
Während ich die beiden belauschte und mein Kuscheltier an mich presste, versuchte ich zu verstehen, was sie mit diesem Begriff meinten. Wenn es bedeutete, dass ich Weihnachten ohne meine Mommy verbringen musste, dann wollte ich keine Sozialwaise sein. Hatte es etwas damit zu tun, dass sie mich hergebracht hatte? Ich vermisste Mommy. Ich vermisste sogar mein Zimmer, obwohl dieses hier dreimal so groß war und ein eigenes Fenster hatte, durch das man die Vögel beobachten konnte.
Das hier war nicht mein Zuhause, und selbst die große Holzkiste mit den Spielsachen auf dem dunkelblauen Teppich neben der Tür konnte mich nicht dazu bewegen, vom Bett aufzustehen. Ein Bett, das viel weicher und bequemer war als meins, in dem ich von dem Jahrmarkt geträumt und in dem Mommy mir früher meine Gutenachtgeschichten vorgelesen hatte. Die letzte Geschichte war schon lange her.
Ich zupfte an dem Kleid, das die Frau – Heather war ihr Name – mir heute Morgen herausgelegt hatte. Es war blau mit weißen Punkten, die mich an Schneeflocken erinnerten. Als es an der Tür klopfte, wischte ich mir eilig die Tränen weg. Heather kam rein und lächelte mich an, doch sie sah dabei immer noch traurig aus. Ob sie auch auf ihre Mommy wartete? Wenn ja, musste ihre Mommy schon sehr, sehr alt sein.
»Hey, meine Kleine.« Sie setzte sich zu mir aufs Bett und strich mir meine blonden Locken hinter das Ohr. Anschließend stupste sie das Kuscheltier in meiner Hand an.
»Wer ist denn das, hm?«
»Beauty«, erklärte ich stolz.
»Beauty ist wirklich wunderschön«, flüsterte Heather. Sie war eine alte Frau mit weißblonden Haaren und blauen Augen, genau wie ich sie hatte. Mommy sagte immer, sie erinnerten sie an einen Ozean. Ich wusste nicht, was genau sie damit meinte, weil ich noch nie einen Ozean gesehen hatte, aber ich freute mich jedes Mal, wenn sie es zu mir sagte, weil ich mich dann besonders fühlte.
Nicht jeder hatte Ozeanaugen.
»Hey, Süße.« Heather rückte näher an mich heran und flüsterte mir ein Geheimnis zu. »Weißt du, dass in einer Woche schon der Weihnachtsmann kommt?«
Ich nickte so heftig, dass es fast wehtat. »Natürlich. Der Weihnachtsmann ist mein Freund!« Zumindest war er das immer gewesen. Aber hier war alles anders.
»Oh, das ist er auf jeden Fall. Und weißt du, was das Schöne an der Zeit vor Weihnachten ist? Dass wir uns mit ganz vielen Plätzchen vollstopfen können. Die anderen Kinder sind alle schon in der Küche und bereiten den Teig vor. Komm doch mit runter, wir haben ganz tolle Formen. Ich glaube sogar, dass wir ein Einhorn haben!«
Im ersten Moment freute ich mich, weil ich die Vorstellung von Einhornplätzchen so schön fand. Doch dann dachte ich an die letzten Tage und daran, dass die Kinder nicht mit mir redeten. Ich spürte ihre Blicke, und ich wusste, dass sie mich nicht mochten. Heather strich meinem Kuscheltier die Mähne glatt und deutete zur Tür. »Also, was meinst du, Skylar? Lust auf Plätzchen?« Kurz überlegte ich, ihr zu folgen, aber das Schweigen der anderen Kinder machte mir zu viel Angst, also schüttelte ich den Kopf.
»Nein.«
Heathers Stirn wurde ganz faltig, und sie sah noch trauriger aus. Ob ich sie traurig machte? Ich wollte niemanden traurig machen. Am allerwenigsten Mommy. Doch sie war nicht hier, und das musste bedeuten, dass ich etwas falsch gemacht hatte, sonst hätte sie mich nicht hier vergessen. Sie wäre bei mir geblieben, wenn ich brav gewesen wäre.
»Bist du dir sicher? Der Teig schmeckt köstlich.«
»Ich will aber nicht. Ich will zu Mommy«, protestierte ich und wandte mich von ihr ab, damit sie mich in Ruhe ließ. Sie seufzte, tätschelte meinen Rücken und drückte mir einen Kuss aufs Haar. »Deine Mommy muss ein paar Dinge klären, bevor sie dich zurück nach Hause holen kann, Süße.«
Ich glaubte ihr kein Wort.
»Wenn du es dir anders überlegst, weißt du ja, wo die Küche ist. Charles und ich würden uns sehr freuen.« Charles war ihr Mann, das hatte ich mittlerweile verstanden. Sie waren nett zu allen Kindern, aber sie waren nicht meine Eltern. Das Bett quietschte, als Heather aufstand und leise das Zimmer verließ. Die Tür hatte sie offen gelassen. Ich hüpfte vom Bett herunter und stellte mich dicht an die Fensterscheibe, damit ich die Vögel im Garten beobachten konnte. Vögel waren meine Lieblingstiere, weil sie fliegen konnten und ich auch fliegen wollte. Mommy hat gesagt, dass ich in meiner Fantasie fliegen kann, aber ich glaube, sie wollte mich nur trösten.
»Du bist neu.« Die Stimme eines Jungen schreckte mich auf. Ich ließ Beauty zu Boden fallen und drehte mich um. Er stand im Flur vor meinem Zimmer und sah mich mit einem breiten Grinsen an. Seine Haare waren blond und hingen ihm in die Stirn. Er war viel größer als ich, vermutlich auch älter. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Er war der erste Junge hier, der mit mir sprach.
»Du auch, oder?«, fragte ich und hob mein Kuscheltier vom Boden auf, um es gegen meine Brust zu drücken. Beauty beschützte mich vor all den Monstern, denen ich tagsüber und nachts begegnete. Ob sie mich auch vor den anderen Kindern beschützen konnte?
»Nein, ich bin schon länger hier …« Mit diesen Worten kam er in mein Zimmer und sah sich um. Er trug ein graues Shirt, eine schwarze Hose und war sicher schon acht oder neun Jahre alt. Ich musste den Kopf in den Nacken legen, um sein Gesicht zu sehen. Seine Augen waren blau. Er hatte auch Ozeanaugen, genau wie ich! Hatte er auch eine Mommy, die ihm das sagte?
»Aber ich war in der letzten Woche krank und musste im Bett bleiben.« Der Junge trat näher an mich heran. »Mein Zimmer ist das neben deinem. Ich habe schon gehört, dass jemand Neues da ist. Gefällt es dir hier?« Seine Mundwinkel breiteten sich zu einem Lächeln aus. Er war netter als alle Kinder, denen ich bis jetzt hier begegnet war, zusammen.
»Nein. Die anderen reden nicht mit mir«, schniefte ich, weil ich immer noch traurig war. Seit Daddy uns verlassen hatte, war ich das oft. Der Junge vor mir hingegen sah glücklich aus. Gefiel es ihm hier wirklich?
»Das liegt nicht an dir. Am Anfang ist es immer schwer, wenn jemand Neues dazukommt. Sie wissen nicht, wie sie mit dir umgehen sollen.«
Ich zuckte mit den Schultern, weil ich ja auch nicht wusste, wie ich mit ihnen umgehen sollte. Anstatt den Jungen anzusehen, blickte ich zum Boden und drückte meine Zehen in der gepunkteten Strumpfhose gegen das alte Holz.
»Heute ist Plätzchentag. Den solltest du nicht verpassen. Charles und Heather machen den besten Teig der Welt, versprochen.«
»Ich habe Angst«, gestand ich ihm und merkte, wie meine Lippen bebten. Als er seinen Arm um meine Schulter legte, fühlte ich mich sofort sicherer. »Du brauchst keine Angst haben. Ich pass auf dich auf. Und wenn dich jemand ärgert, dann kriegt er es mit mir zu tun.« Er knuffte mir in den Oberarm, und ich musste grinsen. »Außerdem brauche ich deine Hilfe beim Backen. Ich kann mich nie für die beste Plätzchenform entscheiden. Wie heißt du?«
»Skylar«, antwortete ich schüchtern und spürte, dass er mich noch dichter an seine Seite drückte. »Okay, SkySky. Dann lass uns nach unten gehen und den anderen zeigen, wer die coolsten Plätzchen backen kann!«
SkySky.
Ich hatte noch nie einen Spitznamen gehabt!
»Aber nur, wenn wir Einhornkekse machen«, fiepte ich und wurde aufgeregt. Er nickte. »Klar. Einhörner sind cool.« Gemeinsam gingen wir aus dem Zimmer und nahmen die Treppe nach unten zur großen Küche, in der wir jeden Abend beim Essen zusammensaßen. Und während wir Stufe für Stufe hinabstiegen, nahm der Junge seinen Arm nicht von meiner Schulter. Auch dann nicht, als wir in der Küche ankamen und alle Blicke auf uns gerichtet waren. Die Kinder starrten uns an, als wären wir Aliens, während Heather und Charles uns angrinsten. Heather fasste sich ans Herz und flüsterte etwas, das ich nicht hören konnte. Ich glaube, sie sagte: »Danke.« Es war an den Jungen gerichtet, der mich noch immer nicht losließ.
»Ach und übrigens. Ich bin Carter«, stellte er sich grinsend vor. Das war also Carter. Der erste Freund, den ich hier hatte. Der erste Freund, den ich jemals hatte. Es fühlte sich gut an, einen Freund zu haben.
»Macht mal Platz«, befahl er den braunhaarigen Zwillingsmädchen. Sobald sie zur Seite rutschten, zog Carter mich zum Tisch heran und griff nach den Ausstechformen in der Mitte der großen Platte.
»Siehst du? Einhörner.« Strahlend reichte er mir die silberne Form, und ich begann, sie in den ausgerollten Teig zu stechen. Hin und wieder spürte ich die Blicke der anderen Kinder auf mir, und am liebsten wollte ich davonrennen, mich in meinem Zimmer verstecken und nie wieder herauskommen, bis Mommy die »Dinge« geklärt hatte und mich abholte. Doch jetzt war ich nicht mehr allein. Jetzt hatte ich Carter, und ich wusste, dass er auf mich aufpassen würde. Ich musste lächeln, während wir so viele Plätzchen ausstachen, dass der halbe Tisch voller Einhörner war.
»So, Kinder. Die Bleche sind alle im Ofen, jetzt müssen wir warten. Wer weiß noch, wie lange sie brauchen?«, fragte Heather und klatschte freudig in die Hände.
»Fünfzehn Minuten!«, riefen die Zwillinge Mary und Monica im Chor.
»Genau. Und wer weiß, was wir in der Zwischenzeit machen?« Nun war es Charles, der sprach. Seine Stimme war kratzig und erinnerte mich an die Stimme von Daddy, auch wenn ich sie schon so lange nicht mehr gehört hatte. Sie war auch kratzig, weil er so viele Zigaretten rauchte. Mommy hatte deshalb oft mit ihm gemeckert. Ob er deshalb gegangen war? Den Geruch nach Rauch vermisste ich nicht.
»Wir tanzen!«, riefen die Kinder lebhaft. Fragend sah ich zu Carter hinüber, der sich gerade die Hände gewaschen hatte und seine nassen Hände an den Jeans trocknete. Er zwinkerte mir zu, während ich wieder Angst bekam. Warum sollten wir tanzen? Sobald er neben mir stand, krallte ich mich an seinem Arm fest.
»Wir tanzen?«, hauchte ich und wollte wieder fliehen. Die Vorstellung, vor den anderen zu tanzen, machte mich nervös. »Ja. Das machen wir immer, wenn das Essen im Ofen ist. Komm mit.« Gemeinsam mit Carter und den anderen Kindern lief ich in das große, helle Wohnzimmer. Charles nahm die Fernbedienung vom Couchtisch und drückte einen Knopf. Im nächsten Moment wurde Musik gespielt. Sie klang nicht fröhlich, sondern irgendwie traurig.
»Ihr wisst ja, Kinder, tanzt einfach drauflos. Wenn ihr traurig seid, dann tanzt zu eurer Traurigkeit. Wenn ihr fröhlich seid, lacht. Tanzt einfach alles raus!« Heather fing an, sich zu bewegen. Sie drehte sich wild im Kreis, hob die Arme über den Kopf und wiegte sich zur Musik. Die anderen Kinder begannen zu hüpfen, sich ebenfalls zu drehen und zu klatschen. Auch Carter. Er sprang auf zwei Beinen, warf seinen Kopf von einer Seite zur anderen und schloss die Augen. Charles sah seiner Frau beim Tanzen zu, während ich am Boden festwuchs und mich in Luft auflösen wollte.
Ich konnte nicht tanzen. So stand ich eine Weile rum, bis jemand nach meiner Hand griff und mich mit sich zog.
Carter drehte mich im Kreis, und langsam machte es Spaß. Die Musik war immer noch traurig, genau wie ich. Aber die Traurigkeit ließ nach, je länger Carter mit mir tanzte. Er sah aus wie ein kleiner Rockstar, und seine blonde Mähne verdeckte seine Ozeanaugen komplett.
Meine Wangen wurden wieder feucht, weil ich an meine Mommy dachte. An die Plätzchen, die ich früher immer mit ihr gebacken hatte, bevor diese fremde Frau vor unserer Tür gestanden und sie mit komischen Fragen gelöchert hatte. Unsere Nachbarin Mrs Wallice hatte sich in letzter Zeit viele Sorgen um mich gemacht – ob ich deshalb hier war? Hatte sie diese Frau vielleicht zu uns geschickt?
Als das Lied schließlich verstummte und der Backofen piepsend ankündigte, dass die Kekse fertig waren, stürmten alle Kinder in die Küche. Alle bis auf Carter und mich. Wir drehten uns weiter im Kreis, obwohl die Musik schon aus war. Das ganze Haus duftete nach Plätzchen. Nach Weihnachten. Nach Familie. Würde das hier meine neue Familie werden?
Damals verstand ich nicht, wieso wir tanzten, obwohl wir traurig waren. Heute schon. Wir bewegten uns zur Melodie unserer Ängste und tanzten unsere Sorgen fort. Zumindest für den Augenblick.
Fünfzehn Jahre später
Wenn es einen Wettbewerb für den schlimmsten und zugleich schönsten Valentinstag in der Geschichte der Menschheit geben würde, würde ich ihn gewinnen. Daran gibt es keinen Zweifel. Der Abend fing voller Vorfreude an, weil mein erstes Date mit Owen bevorstand. Wir hatten uns vor vier Wochen über eine Datingapp kennengelernt und uns wirklich gut verstanden. Umso mehr freute es mich, dass wir uns an diesem Tag zum ersten Mal treffen wollten passend zum Valentinstag. Dafür habe ich mich ordentlich in Schale geworfen, ein neues Kleid gekauft und meine blonde Lockenmähne gezähmt, indem ich sie zu einem eleganten Dutt gebunden habe.
Jetzt hat sich dieser Dutt in ein Vogelnest verwandelt, und mein Make-up ist mittlerweile völlig aufgelöst. Genau wie ich, denn Owen – dieser Mistkerl – hat mich einfach sitzen gelassen. In der ersten halben Stunde dachte ich noch, dass er sich nur verspäten würde, weil auf Beaumonts Straßen sicher die Hölle los war und zahlreiche Turteltauben auf dem Weg zu ihren Dates sein dürften. Aber er kam nicht. Und so wurden aus dreißig Minuten zwei endlose Stunden, in denen ich am Fenster saß und immer wütender wurde.
Und das an einem Tag, der ohnehin schwer für mich war. In wenigen Stunden würde der wichtigste Mensch meines Lebens weg sein.
Er wird für sechs Monate das Land verlassen.
Sechs.
Verdammte.
Monate.
Nachdem Owen mich versetzt hat, simste ich Carter, dass ich ihn sehen musste. Er antwortete, dass er auf mich warten würde. Also schwang ich mich direkt auf meinen alten Drahtesel und fuhr zu seiner Wohnung herüber.
Sie war nur wenige Straßen von unserem Haus entfernt, und ich wollte keine Zeit mehr verschwenden, also behielt ich mein tannengrünes Cocktailkleid an. Vermutlich sah ich irre witzig aus in diesem schicken Paillettenkleid auf einem rostigen Fahrrad, das bei jedem Tritt in die Pedale fast auseinanderfiel.
Jetzt – fünf Stunden später – spüre ich seine warme Brust an meinem nackten Rücken und würde gern die letzten Stunden aus meinem Gedächtnis löschen. Nicht, weil sie nicht gut gewesen waren. Eher im Gegenteil. Die letzten Stunden waren die wohl schönsten meines Lebens, aber es war nicht richtig. Sie konnten alles ruinieren. Sie konnten mir den wichtigsten Menschen in meinem Leben nicht nur für ein halbes Jahr, sondern für immer entreißen. Ich rolle mich an den Rand des Bettes, taste im Dunkeln nach meinem Kleid am Boden und fluche leise vor mich hin, weil ich es nicht finden kann.
»Scheiße!«, murmele ich und schnappe mir anstatt meines Kleides sein schwarzes Shirt, das ich ihm vorhin im Eifer des Gefechts vom Körper gerissen habe. Noch immer flimmert mein Herz beim Gedanken daran, wie er mich angesehen hat. Der Valentinstag fing schrecklich an, doch er wurde wunderschön, weil er in seinen Armen endete. In den Armen des Mannes, dem ich mein Leben anvertraue. Blind. In den letzten Jahren haben wir uns oft ein Bett geteilt, haben sogar gekuschelt, aber wir sind nie weiter gegangen. Es war unendlich nah und vertraut, aber nie sexuell. Bis heute.
Sein warmer Atem streift meinen Nacken, während ich seinen muskulösen Arm anhebe und mich von ihm befreie. Schnell und möglichst leise schlüpfe ich in sein Shirt und werde sofort von seinem alles einnehmenden Duft eingehüllt.
Eine Mischung aus Patschuli und Sandelholz. Sein Duft ist mein Zuhause.
Durch die offenen Vorhänge in seinem Schlafzimmer fällt schwaches Mondlicht in den Raum, und als ich mich zu ihm umdrehe, verschlägt es mir die Sprache. Sein tätowierter Oberkörper sieht so makellos im silbrigen Licht aus. Das Sixpack, die breiten Schultern, die in beschützende Arme übergehen, das V, das unter der dünnen Decke verschwindet, unter der er splitterfasernackt ist. Seine blonden Haare fallen ihm wild in die Stirn, sein verführerischer Mund steht leicht offen, und seine Wimpern werfen Schatten auf seine markanten Wangen.
Carter Davis ist der schönste Mann, den ich kenne. Und vor allem ist er mein bester Freund! Mit dem ich in den letzten Stunden dreimal geschlafen habe. Was zur Hölle habe ich mir dabei eigentlich gedacht? Hey, es ist Valentinstag, und ich wurde von meinem Date versetzt. Da schlafe ich doch einfach mal mit dem einzigen Menschen, mit dem ich niemals hätte schlafen sollen! Grandiose Idee, Sky. Grandios grenzüberschreitend. Heute Nacht haben wir beide eine Grenze überschritten.
Hektisch greife ich nach meinem Slip, schlüpfe hinein und ziehe mir anschließend eine von Carters Jogginghosen an, auch wenn sie mir um Dimensionen zu groß ist, weil mein bester Freund ein verdammter Riese ist. Und jetzt weiß ich, dass er auch in anderer Hinsicht riesig ist.
Scheiße. Scheiße. Scheiße.
Ich werde niemals diesen Anblick vergessen können. Niemals vergessen, mit wie viel Feuer und Leidenschaft er mich angesehen hat. Wie viel Verlangen in seinen blauen Augen glühte. Der Ozean stand in Flammen und ich habe mich noch nie so begehrt gefühlt.
Beim Gedanken daran, dass er morgen früh fort sein wird, fängt meine Unterlippe an zu beben. Für sechs Monate wird er das Land verlassen, und dieser Gedanke überschattet all den Spaß, den wir heute Nacht zusammen hatten.
Leise tapse ich zu meiner Handtasche, und gerade, als ich das Schlafzimmer verlassen will, wird der Raum in ein gedämpftes, warmes Licht getaucht. Ertappt drehe ich mich um und sehe Carter an, der die Nachttischlampe angeknipst hat und sich nun müde aufrappelt.
»Schlaf weiter«, bitte ich ihn, meine Hand verharrt an der Türklinke. Er sieht sich prüfend im Raum um, und als er schließlich aufsteht, halte ich die Luft an. Jetzt bloß nicht in Richtung … zu spät. Mein Blick haftet an seinem besten Stück, das sich so perfekt in mir angefühlt hat. Ich beiße mir auf die Unterlippe, um nichts Falsches zu sagen. Wie wäre es mit: Bitte nimm mich mit nach Europa, und mach das, was du vorhin mit mir gemacht hast, noch mal?
»Du solltest dir etwas anziehen, Carter«, sage ich und verdrehe die Augen dabei. Er streicht sich die Haare aus den Augen, stemmt die Hände in die Hüften und sieht mich mit diesem kessen, verschlafenen Grinsen an, das jede Frau um den Verstand bringen würde.
»Würde ich ja, aber du hast meine Sachen an«, antwortet er schmunzelnd, während ich vehement versuche, ihm ins Gesicht zu sehen. Als wäre das weniger schön …
»Ich will nicht schon wieder in dem Cocktailkleid auf meinem Omafahrrad durch die Gegend fahren. Nachher werde ich noch weggesperrt, weil die Leute mich für verrückt halten. Du hast doch noch andere Sachen!«, dränge ich. Als ich ihn vorhin ausgezogen habe, war er unter seiner Jogginghose nackt. Dieselbe Hose, die jetzt meine Beine wärmt.
Mein bester Freund schlendert genüsslich zu seiner Kommode, zieht eine Shorts heraus und streift sie sich über. Dass er halb erregt ist, ist mir nicht entgangen. Sein definierter Oberkörper bleibt frei.
»Wolltest du dich echt wie ein One-Night-Stand aus meinem Bett schleichen? Das trifft mich tief, SkySky.«
»Ich wollte dich nicht wecken. Du musst früh aufstehen.«
Carter runzelt die Stirn, weil meine Worte absurd sind. Er ist eine Nachteule, wie sie im Buche steht. Meistens geht er nicht vor drei Uhr am Morgen ins Bett und steht nicht vor zehn Uhr auf. Angeblich erwacht seine Kreativität erst abends zum Leben, und diese Zeit nutzt er meistens für seine Texte.
»Dein Flug? Schon vergessen?« Meine Kehle wird trocken, und Tränen treten in meine Augen. In den letzten fünfzehn Jahren waren wir unzertrennlich, und jetzt soll bald ein ganzer Ozean zwischen uns liegen? Ich liebe den Ozean, vor allem den in seinen Augen, aber heute verfluche ich ihn.
»Wie könnte ich den vergessen.« Er senkt den Blick, wischt sich mit den Händen über das Gesicht und kommt auf mich zu. Als Carter vor mir steht, muss ich den Kopf in den Nacken legen, um ihn anzusehen. Wie damals. Er war schon immer ein Riese im Vergleich zu mir.
»Wie geht es dir?«, fragt er einfühlsam, und am liebsten würde ich meine Handtasche fallen lassen, mich in seine Arme werfen und ihn nicht mehr loslassen. Oder noch besser: Ihn an dieses Bett fesseln, damit er seinen Flug verpasst. Er wird mit der Maschine BA0195 um sieben Uhr morgens in Beaumont starten und neunzehn Stunden plus zwei Umstiege später in London landen. Ich bin bestens vorbereitet, um später im Netz das Flugzeug zu verfolgen und dafür zu beten, dass er heile landet.
»Was glaubst du?«, hauche ich.
»Ich glaube, dass du traurig bist.«
Carter weiß immer, wie es mir geht.
»Das bin ich auch. Aber das wird schon, richtig? Es sind ja nur sechs Monate.« Ich versuche, das Ausmaß dieser Katastrophe herunterzuspielen, aber ich bin wahnsinnig schlecht darin. Sechs Monate sind eine viel zu lange Zeit. Ich halte es ja kaum einen Tag ohne ihn aus. Wie soll ich dann mehr als zweihundert Tage überstehen?
»Ja«, sagt er mit geschürzten Lippen und zieht die Stirn kraus. Carter legt seine Hand unter mein Kinn und hebt es an, weil ich mittlerweile Löcher in den Dielenboden starre.
»Wir werden jeden Tag telefonieren, okay, Sky?« Er atmet tief ein und laut aus. »Und ich werde dir aus allen Ländern die hässlichsten Postkarten schicken, die ich finden kann. Und damit meine ich die richtig hässlichen. Die, bei denen man Augenkrebs bekommt und sich vor lauter Touri-Blues fast übergeben muss.«
Sein Daumen streichelt über meine Wange, und als er meine Tränen bemerkt, greift er nach der Kette um seinen Hals. Es ist ein silbernes Kreuz, das er schon getragen hat, als ich ihn kennengelernt habe. Er hat es von seiner drogenabhängigen Mutter bekommen, bevor er von einer Sozialarbeiterin aus den schlechten Verhältnissen herausgeholt und zu Heather und Charles gebracht worden war wie ein Hund, den keiner wollte. So wie ich. Wir waren beide ungewollte Hunde. Nur, dass meine Mutter kein Problem mit Drogen hatte, sondern sich nicht mehr um mich kümmern konnte, als mein Vater sie verlassen hat.
Heather und Charles haben nicht nur mir ein Zuhause geschenkt, sondern auch meinem besten Freund. Carter betrachtet das Kreuz in seiner Hand einen Augenblick lang, bevor er die Kette über meinen Kopf streift, den Kragen meines Shirts zu sich zieht und den Anhänger darunter verschwinden lässt. Das Silber fühlt sich kühl auf meiner Haut an. Darunter pocht mein Herz schneller, weil ich immer noch nicht glauben kann, dass ich mit Carter geschlafen habe.
»Hey, Sky.« Jetzt zieht er mich an sich, und ich schlinge meine Arme um seinen Oberkörper. Vergrabe mein Gesicht an seiner nackten Brust, die mit all den Tattoos wie ein buntes Gemälde aussieht. Es gibt kaum eine Stelle, die nicht mit Tinte bedeckt ist. Lediglich seine rechte Brust ist noch frei, aber so wie ich ihn kenne, wird er die Stelle in London füllen lassen.
»Wir schaffen das. Wir schaffen alles.« Er nimmt meine Hände, legt sie auf seine Brust und streichelt über das Semikolon unter der dünnen und empfindlichen Haut meines rechten Handgelenks. Und ich verstehe, was er mir mit dieser schlichten Geste sagen will. Unsere Freundschaft endet heute Nacht nicht, nur, weil er geht. Genau dafür steht dieses Tattoo. Für unsere Geschichte, die noch lange nicht zu Ende erzählt ist.
»Ich weiß«, antworte ich leise. Mir brennen so viele Fragen auf der Zunge. Wieso haben wir miteinander geschlafen? Was wird sich zwischen uns ändern? Wird sich überhaupt etwas verändern? Aber ich spreche keine davon aus, weil ich dieses Gespräch jetzt nicht führen kann.
Ich bin müde, ich bin erschöpft und völlig durch den Wind. Das, was hier passiert ist, muss ich erst einmal verarbeiten. Ich muss verstehen, was es bedeutet, dass meine Herzfrequenz seinetwegen einen neuen Rekord aufstellt.
»Ich fahre jetzt nach Hause. Schreib mir, wenn du am Flughafen bist, okay?«
»Klar. Ich werde dich mit Nachrichten überschütten. Du wirst nicht mal merken, dass ich weg bin.«
Ich wünschte, es wäre so.
»Ich nagle dich drauf fest.«
»Habe ich meine Versprechen jemals gebrochen?« Seine raue Stimme löst ein Beben in mir aus.
»Nein.« Ich vergrabe das Gesicht an seiner Brust und spüre sein Lachen in jeder Faser seines Körpers. Seine Schultern beben. Diese Schultern, an die ich mich immer habe anlehnen können, wenn es mir schlecht ging. An wessen Schulter werde ich mich in den nächsten Monaten anlehnen?
»Siehst du, SkySky.«
Eilig wische ich mir die Tränen von den Wangen, gebe Carter einen Kuss auf den Mundwinkel und verharre mit meinen Lippen einen Moment zu lang auf seinen Bartstoppeln. Bei der Erinnerung daran, wie sie kratzig über meine Innenschenkel gewandert sind und jeden Zentimeter meiner empfindlichen Haut bedeckt haben, prickelt mein Unterleib wie eine frisch geöffnete Flasche Champagner.
»Schlaf noch ein wenig, Carter. Und rocke Europa für mich!« Endlich schaffe ich es, mich von ihm zu lösen, obwohl mich alles zurück in sein Bett zieht. Als ich die Tür geöffnet habe und in den Flur trete, kann ich sein trauriges Lachen hören.
Ich hasse es, wenn sein Lachen traurig klingt.
»Ich liebe dich, Sky«, ruft er mir hinterher, und seine Worte lassen mein Herz Purzelbäume schlagen. »Ich liebe dich auch.« Und ich befürchte, dass diese Liebe nicht mehr dieselbe ist wie vor einigen Stunden noch …
Als ich in die kühle Nachtluft hinaustrete, schließe ich mein Fahrradschloss auf, steige auf das klapperige Teil und fahre los. Ich genieße, wie der Wind mein Gesicht streichelt und die Hitze, die sich in meinem Körper wie ein Lauffeuer ausgebreitet hat, abkühlt. Das Einzige, was der Wind nicht beruhigen kann, sind meine Gedanken.
Fünfzehn Jahre.
So lange sind Carter und ich schon beste Freunde. Seelenverwandte. Ein Herz in zwei Körpern. Und heute Nacht haben wir eine Grenze überschritten, die wir niemals hätten überschreiten sollen.
Da es mitten in der Nacht ist, sind auf den Straßen kaum Autos unterwegs, und als mein Handy eine neue Nachricht ankündigt, ziehe ich es beim Fahren aus der Hosentasche und entsperre das Display.
Fuck, mein ganzes Bett riecht nach dir, Sky. Ich will nicht fliegen. Sechs Monate ohne dich?
Ich starre seine Worte an, trete ruckartig auf die Bremse und steige vom Rad. Sekunden später erreicht mich eine zweite Nachricht.
Die werden scheiße.
Mit zitternden Fingern antworte ich, während ich mit der freien Hand mein Fahrrad neben mir herschiebe.
Das ist deine Chance, Carter. Ich meine, hallo? Crashing December. Das wirst du noch deinen Enkelkindern erzählen!
Seit er 16 ist, schreibt Carter für Musikmagazine. Anfangs nur nebenbei, später hauptberuflich. Vor zwei Monaten hat er das Angebot bekommen, die wohl bekannteste Newcomer-Rockband Englands auf ihrer Europatour zu begleiten, die Promophase des neuen Albums mitzuerleben und über den Sänger und seine Band ein Buch zu schreiben. Niemand wäre für diesen Job besser geeignet als Carter. Er ist ein Mann mit dem Aussehen eines Rockstars und dem Herzen eines Schriftstellers. Einer, dessen großer Traum es immer war, eines Tages ein Buch zu schreiben.
Doch so sehr ich mich für ihn freue, so sehr wünsche ich mir auch, dass er bei mir bleibt und nicht in dieses Flugzeug steigt, das ihn in ein paar Stunden nach London bringen wird.
Wie gebannt blicke ich auf mein Handy, und als ich sehe, dass er mir antwortet, halte ich den Atem an. Die drei Punkte tanzen vor meinen Augen, nur, um dann wieder zu verschwinden. Erneut tippt er, macht jedoch immer wieder kurze Pausen, die mich in den Wahnsinn treiben. Carter weiß sonst immer, was er sagen will, doch jetzt scheint das genaue Gegenteil der Fall zu sein. Als seine nächste Nachricht ankommt, stoße ich die angestaute Luft aus.
Was haben wir getan, Sky?
Ich lese seinen Satz wieder und wieder. Es sind nur fünf Worte, aber für mich sind sie ein ganzer Roman.
Ja, was haben wir getan?
Während mein Daumen über dem Display schwebt, überquere ich die Straße vor meinem Haus. Das Fahrrad schiebe ich nach wie vor, weil ich gerade nicht in der Lage bin, wieder aufzusteigen und das Handy aus den Augen zu lassen.
Ich zucke zusammen, als ich ein lautes Quietschen höre.
Helle Scheinwerfer nähern sich mit bedrohlicher Geschwindigkeit, eine laute Hupe bringt mein Trommelfell beinah zum Platzen.
Als ich mich endlich aus meiner Schockstarre lösen kann, ist es bereits zu spät. Der Jeep erwischt mich, schleudert mein Fahrrad etliche Meter über den Boden und mich mit sich.
Alles geht so schnell.
Viel zu schnell.
Und noch während mir schwarz vor Augen wird, weiß ich, dass sich mein Leben nach dieser Nacht für immer verändern wird.
Vier Monate später
»Mom, jetzt beruhige dich!«
Ein nervöses Kichern überkommt mich, während ich versuche, ihr zu folgen – aber ich habe keine Chance. Sie legt in dem Flur des Wohnheimes fast einen Sprint hin.
»Ich weiß, Schatz. Es ist nur so …« Sie bleibt mitten im Gang stehen, und ich schaffe es in letzter Sekunde, ihr nicht mit Holly – meinem Rollstuhl – über die Füße zu fahren. » … aufregend. Fast fühlt es sich an, als wäre das dein erster Tag an der Uni. Erinnerst du dich noch? Du warst die Gelassenheit in Person, während Carter und ich hyperventiliert haben.«
»Genau. Ich war kurz davor, euch zwei Tüten zum Atmen zu holen. Aber heute ist nicht mein erster Tag an der Uni, also bitte, entspann dich«, sage ich sanft und tätschle ihren Arm. Dabei stimmen meine Worte nur zu einem Teil. Heute ist vielleicht nicht mein erster Tag an der Lamar University hier in Texas, aber es ist der erste Tag an der Uni, seit ich vor vier Monaten mein Studium zwangsweise unterbrechen musste.
Seit einem Vierteljahr teile ich mein Leben in ein ›Vorher‹ und ein ›Nachher‹ ein.
Vor dem Unfall war ich sportlich, habe es geliebt, zu tanzen und mit Carter auf Konzerten in die Menge zu springen. Nach dem Unfall hat sich mein Leben schlagartig verändert.
Bei dem Aufprall mit dem Jeep am vierzehnten Februar dieses Jahres wurde einer meiner Lendenwirbel irreparabel verletzt. Die absteigenden Nervenbahnen wurden komplett durchtrennt, die aufsteigenden blieben zu einem großen Teil unversehrt. Was bedeutet, dass ich mich hüftabwärts nicht mehr bewegen, aber noch etwas spüren kann. Wenn auch nur gedämpft.
Will ich mein rechtes Bein ausstrecken, dann weiß ich in der Theorie natürlich, wie es geht, doch die Nervenimpulse zwischen Hirn und Körper funktionieren nicht mehr.
»Du hast recht. Ich bin hysterisch. Also, dann schauen wir doch mal, welches Zimmer du bekommen hast«, sagt Penelope und holt mich damit in die Gegenwart zurück, während sie sich durch die Unterlagen kämpft, die wir eben an der Anmeldung bekommen haben. Und auch wenn sie nicht meine leibliche Mutter ist, sondern mich adoptiert hat, als ich sieben Jahre alt war, fühle ich mich in ihrer Gegenwart immer wie ein Kind. Ihr Kind.
»Zwölf.« Ich deute auf die oberste Zeile, wo meine Zimmernummer steht. Mom sieht mich erleichtert an. »Siehst du, wie nervös ich bin? Ich kann nicht einmal mehr lesen. Komm, es müsste gleich hier vorne sein.«
In ihrer eng anliegenden Jeans, den karierten Chucks und der marineblauen Stoffbluse sieht sie aus wie eine Frau in den Zwanzigern, dabei wird sie nächstes Jahr bereits fünfzig. Penelope Campbell ist die Verkörperung der Wörter jung geblieben.
»Hier ist es. Bist du bereit?« Sie deutet auf die breite Wohnungstür. Kurz blicke ich an Holly herunter und versuche zu erkennen, ob die Tür auch wirklich breit genug für den Rollstuhl ist. Mein altes Collegezimmer war im dritten Stock dieses Hauses. Zimmer achtundfünfzig. Da die Räumlichkeiten jedoch nur im Erdgeschoss behindertengerecht sind, musste ich mich von meiner alten WG verabschieden, mein Zeug packen und umziehen. Sonderlich traurig bin ich darüber jedoch nicht.
Mom öffnet die Tür und tritt vor mir in mein neues Zuhause.
»Wow! Das ist ja riesig!« Mit großen Augen sieht Mom sich in der Wohnung um, und als ich ihr folge, staune ich ebenfalls nicht schlecht. Wir stehen in einem Wohnzimmer mit einem braunen Stoffsofa, einem Sessel, einem TV-Schrank und einer kleinen Küchenzeile, auf der eine in die Jahre gekommene Mikrowelle steht.
Die Wände sind beige gestrichen, das Fenster zeigt in Richtung Norden und gibt den Blick auf die Grünanlagen des Campus frei.
»Hey. Schau dir mal dein Zimmer an, Skylar. Es ist der Wahnsinn. Viel größer als dein altes.« Meine Mutter läuft aufgeregt im angrenzenden Raum auf und ab. Ich sehe, dass sie bereits überlegt, wie sie es dekorieren kann, und ich lasse es durchgehen, weil es ihr Freude bereitet. Ich liebe es, Menschen eine Freude zu machen, dafür nehme ich sogar in Kauf, dass mein Zimmer mit kleinen bärtigen Zwergen ausgestattet wird. Penelope liebt Zwerge.
»Das ist echt groß.«
Ich sehe mich neugierig im Raum um. Das Bett ist deutlich breiter als mein altes Wohnheimbett und hat eine elektrisch verstellbare Matratze. Links davon steht ein geräumiger Schreibtisch, den man ebenfalls in der Höhe verstellen und perfekt an Holly anpassen kann. Die warme Nachmittagssonne scheint durch das große Fenster direkt auf die helle Arbeitsfläche und wirft ein schönes Lichtspiel auf das Holz. Hier habe ich endlich genug Platz für meine ganzen Uniunterlagen und meine zahlreichen Bücher. Dieses Zimmer hier kostet sicher ein Vermögen, aber Mom will mir nicht sagen, wie viel sie im Monat dafür blechen muss.
»Wenn ich die Maße von den Fenstern für die Gardinen genommen habe, gehe ich zu der Frau an der Anmeldung und bedanke mich.«
»Jetzt lass deinen Zollstock aber erst einmal in der Handtasche, und hilf mir, die Kisten zu holen.«
»Du hast recht. Ich bin zu voreilig. Also los!« Voller Tatendrang klatscht sie in die Hände, und sobald wir wieder im Wohnzimmer sind, geht die gegenüberliegende Tür auf, und ein braunhaariges Mädchen erscheint. Sie hat haselnussbraune Augen und volle Wangen und Lippen. Das muss meine Mitbewohnerin sein. Sie erinnert mich an Aria aus Pretty Little Liars undist eines der schönsten Mädchen, die ich je gesehen habe. Hoffentlich gibt es in ihrem Leben keinen A, der uns seltsame Pakete vor die Tür legt. Sie stützt die Arme auf den blauen Krücken ab, die sie offenbar benutzt, weil ihr rechtes Bein in einem fetten Gips steckt. Sie strahlt uns an, und als sie eine der Krücken unter ihren Arm klemmt, ihre Hand auf die Brust legt, anschließend mit zwei Fingern über ihre Wange streicht und undefinierbare Zeichen mit ihren Fingern macht, muss ich schlucken.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich Menschen sehe, die sich per Gebärdensprache ausdrücken, aber ich habe nicht erwartet, dass meine Mitbewohnerin gehörlos ist. Weil ich nicht weiß, was sie mir gesagt hat, geschweige denn, wie ich ihr erklären soll, wer ich bin, hebe ich nur meine Hand und winke wie eine Idiotin. Meine Mutter sieht mich überfordert an, und als das Mädchen zu lachen beginnt, entspanne ich mich schließlich.
»Oh Gott, entschuldigt!« Sie schlägt sich die freie Hand vor die Stirn und humpelt auf uns zu, um erst mir und dann Mom die Hand zu reichen. Ihre Haut ist warm, und sie riecht nach Rosen. »Mein kleiner Bruder war den ganzen Tag bei mir, und es fällt mir manchmal schwer umzuschalten. Ich bin Hazel!«
»Ich bin Penelope, die Mutter von Skylar.« Mom schüttelt ihre Hand, ehe ich an der Reihe bin.
»Und ich bin ab jetzt deine Mitbewohnerin.«
»Bist du ganz neu hier?«, fragt Hazel.
»Nein, ich studiere schon seit über einem Jahr, aber ich musste das Zimmer wechseln. Treppen sind nicht meine besten Freunde.« Mit einem schmalen Lächeln deute ich auf meinen Rollstuhl. Was mir am meisten an Hazel gefällt, ist weder ihr Name noch dass sie aussieht wie Aria. Mir gefällt am allerbesten, dass sie mich nicht mit Mitleid im Blick ansieht.
»Du bist witzig. Das gefällt mir!« Ihre Augen leuchten. »Also: Das hier ist unser gemeinsamer Wohnbereich, da links neben deinem Zimmer befindet sich das Bad mit ebenerdiger Dusche und einer Einstieghilfe in die Badewanne. Dein Zimmer hast du ja sicher schon entdeckt.«
»Jap. Es ist wirklich riesig!«
»Ich weiß genau, was du meinst. Vor wenigen Wochen habe ich noch im vierten Stock gewohnt, und die Zimmer da sind wahnsinnig klein.«
Wieso habe ich sie noch nie gesehen?
»Ich hole mal ein paar Kartons, dann können wir gleich mit dem Auspacken loslegen, Skylar.« Mom wirft mir ein warmes Lachen zu.
»Ich kann auch helfen. Meine Kurse sind heute alle schon durch«, bietet sich Hazel an. Meine Mundwinkel ziehen sich Richtung Himmel, weil sie so unfassbar nett ist.
»Das wäre lieb, danke.«
Mom sieht mich ein wenig enttäuscht an, und ich weiß, dass sie mir gern beim Auspacken geholfen hätte, aber wenn ich so die Möglichkeit habe, meine neue Mitbewohnerin besser kennenzulernen, muss ich die Chance nutzen.
Seit dem Unfall fällt es mir schwerer, Menschen kennenzulernen, weil die meisten mich meiden oder nicht wissen, wie sie mit mir umgehen sollen. Meine ehemalige Mitbewohnerin hat mich zwar zweimal im Krankenhaus besucht, aber ich habe ihr direkt angesehen, wie unangenehm ihr die Situation war. Ich habe versucht, das Gespräch mit Humor zu nehmen, aber seitdem hatten wir keinen Kontakt mehr.
Nachdem Penelope die nicht gerade leichten Kartons mit den Habseligkeiten aus meinem alten Zimmer in mein neues gestellt hat, versichere ich ihr, dass ich klarkomme, aber sie schaut mich skeptisch an. »Hast du eigentlich mal wieder mit Carter telefoniert?«
»Klar. Gestern erst. Er will heute mit mir skypen.« Beim Gedanken daran wird mir speiübel. Ich vermisse ihn mehr, als ich in Worte fassen kann, und ich will ihn unbedingt sehen, aber …
»Willst du ihm nicht endlich sagen, was los ist, Schatz?« Mom setzt sich auf das Sofa und legt ihre warmen Hände auf meine Knie. Ich spüre den Druck ihrer Finger, ein diffuses Gefühl und ein Kribbeln, das ich mir auch einbilden könnte.
»Das geht nicht, Mom. Wir hatten das Thema doch schon so oft.« Ich seufze. Natürlich hat sie recht, und ich hätte schon längst die Karten offen auf den Tisch legen müssen, aber wir wissen beide, was dann passiert wäre.
»Hätte ich Carter von dem Unfall erzählt, wäre er sofort in das nächste Flugzeug gestiegen und zurückgekommen. Oder er wäre gar nicht erst eingestiegen. Das ist die Chance seines Lebens, und ich darf sie ihm nicht kaputt machen«, wispere ich. Ich fühle mich schuldig und heuchlerisch, weil ich ihm vier Monate lang verschwiegen habe, was mir passiert ist, nachdem ich seine Wohnung verlassen habe, aber ich habe keine Wahl.
Anfangs haben wir immer nur telefoniert, weshalb es leicht war, ihm den Unfall zu verschweigen. Ich musste lediglich ein paar Ausreden erfinden, wieso ich mich manchmal ein paar Tage lang nicht melden konnte, und faselte etwas von Terminen in der Uni. In Wahrheit war ich nicht in der Uni, sondern in einer Rehaklinik am Rande von Texas gewesen, um mich auf mein neues Leben vorzubereiten.
»Und wie willst du es ihm verheimlichen, wenn ihr euch per Skype seht? Ich mache mir nur Gedanken um eure Freundschaft.« Die mache ich mir schon, seit ich mich aus seinem Bett geschlichen habe.
»Alles wird gut, Mom. Wirklich. Wenn er zurück ist, werde ich ihm alles erklären. Er wird es verstehen«, versuche ich sie zu beruhigen. Und mich gleich mit. Die Realität sieht jedoch anders aus – ich habe Angst davor, ihm alles zu beichten. Ihm zu sagen, dass ich ihn monatelang belogen habe, um seinen Auftrag nicht zu gefährden. Und beim Gedanken an seine Reaktion verwandelt sich die Angst in reine Panik.
»Okay, mein Schatz. Du wirst wissen, was das Beste ist. Ich werde jetzt einkaufen und dann nach Hause fahren. Die Fenstermaße nehme ich einfach beim nächsten Mal.« Sie drückt mir einen mütterlichen Kuss auf die Wange, verabschiedet sich von Hazel und verschwindet durch die Eingangstür. Augenblicklich puste ich die angestaute Luft aus, und als ich Hazels Blicken begegne, die ihre Augenbrauen in die Höhe zieht, winke ich ab. »Das ist eine lange Geschichte. Eine verdammt lange. Komm, lass uns anfangen, die Kisten auszuräumen.«
»Würdest du die Schnur an dem Nagel da befestigen?« Ich sitze mittlerweile auf meinem frisch bezogenen Bett, während Hazel mir hilft, dieses Zimmer in mein Zimmer zu verwandeln. Da ich in den nächsten Jahren hier leben werde, möchte ich mich wohlfühlen.
»Klar. Hier?« Sie wickelt das dünne Seil um den Nagel, der schon in der Wand steckt.
Ich nicke. »Genau da. Das ist perfekt.« Währenddessen befestige ich die andere Seite der Schnur an einem Haken an der Wand.
»Deine Mutter war ja aufgeregter als ich an meinem ersten Tag an der Uni.«
»Oh, das kannst du laut sagen. Sie denkt, dass ich auf dem Campus nicht klarkomme, aber ich werde ihr einfach das Gegenteil beweisen. Mom macht sich immer zu viele Gedanken um mich, das war schon vor meinem Unfall so.« Ich rolle theatralisch mit den Augen.
»Sie scheint dich sehr zu lieben.« Meine neue Mitbewohnerin sieht mich warmherzig an. Ebenfalls mit einem Lächeln auf den Lippen nicke ich. Moms Liebe war schon immer grenzenlos.
»Darf ich fragen, was passiert ist?«
»Ich wurde von einem Auto erfasst. Vor vier Monaten. Fast auf den Tag genau«, stelle ich erschrocken fest, als ich auf dem Kalender neben dem Schreibtisch sehe, dass wir in zwei Tagen den vierzehnten Juni haben.
»Wow, vier Monate erst? Es wirkt, als wärst du schon seit Jahren daran gewöhnt!«
»Meine Therapeutin Camille sagt das auch immer. Aber was bringt es mir, wenn ich dem Leben davor hinterhertrauere?« Ich zucke mit den Schultern und deute fahrig auf ihren Monstergips. »Und was ist mit dir?«
»Es ist bei einem Ausritt passiert. Meine Großeltern …« Sie legt eine kurze Pause ein. »Mein Grandpa hat eine Farm, und ich wollte mit meinem Pferd den Sonnenuntergang genießen. Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber auf einmal hat es mich abgeworfen, und ich bin blöd gelandet und habe mir den Fuß gebrochen. Aber das ist halb so wild, laut meinem Arzt wird er in ein paar Monaten wieder wie neu sein.« Der Gedanke, dass sie dann vermutlich wieder ein anderes Zimmer bekommen wird, gefällt mir nicht, obwohl ich sie kaum kenne.
»Und was hat es mit der Gebärdensprache auf sich?«, hake ich neugierig nach. Ich bin kein Mensch, der lange um den heißen Brei herumredet, ich will meine Mitmenschen kennenlernen. Mit all ihren kleinen Wundern und Geschichten.
»Mein Bruder Jamie ist gehörlos zur Welt gekommen, deshalb kann ich gebärden. Und nach seinem Besuch fällt es mir immer schwer umzuswitchen. Außerdem gebe ich dreimal in der Woche Gebärdenunterricht. Angehörigen von gehörgeschädigten Menschen und Betroffenen selbst.«
Dieses Mädchen wird mir immer sympathischer.
»Das ist verdammt cool, weißt du das? Studierst du auch etwas in diese Richtung?«
»Ja, ich will Gebärdensprachdolmetscherin werden.«
Sie lächelt mich stolz an.
»Und wie alt ist dein Bruder?«
»Acht«, antwortet sie, und ihr Blick wird weich.
»Wie kommt er damit klar?«
»Richtig gut. Er sagt immer, das ist seine Superkraft. Dadurch, dass er nichts hören kann, kann er die Menschen viel besser lesen.«
»Dann ist dein Bruder wohl ein König darin, aus Zitronen Limonade zu machen«, flüstere ich und merke, wie sich meine Augen mit Tränen füllen, weil ich dabei nicht nur an Carter, sondern auch an Heather denken muss.
Hazel nickt hastig, und ihre Mundwinkel zucken. »Das ist er wirklich.«
»Könntest du mir mal den kleinen Schuhkarton da geben?« Ich deute auf den zerfledderten gelben Karton, in dem ich meine größten Schätze aufbewahre. Da er auf mehreren gestapelten Kisten liegt, kommt Hazel trotz Gips mühelos heran und reicht ihn mir. Sobald ich den Deckel geöffnet habe und die zahlreichen Bilder sehe, schleicht sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Nach und nach bringe ich die Fotos mit den kleinen Holzklammern an der Schnur an. Hazel betrachtet die Fotos neugierig und zeigt auf ein Bild, das Carter und mich am Chrystal Beach zeigt. Seine blonden Haare stehen wild in alle Richtungen ab, während ich Sand nach ihm werfe. Das Lachen auf diesem Bild ist Gold wert.
»Ist das dein Freund?«
»Bester Freund«, korrigiere ich sie, auch wenn sich mein Herz dagegen sträubt, unsere Beziehung als reine Freundschaft abzustempeln. Mein Herz rast immer, wenn ich an ihn denke. Auf eine Art, die nichts mit Freundschaft zu tun hat. Man sollte meinen, dass ich in den letzten vier Monaten andere Probleme hatte, aber die Gefühle für Carter hüllen mich noch immer wie eine Wolke ein.
»Er sieht gut aus«, sagt sie anerkennend und betrachtet die anderen Bilder. Fast alle zeigen uns gemeinsam, auf einigen ist Mom zu sehen, und manche zeigen ihn ganz allein. Mein liebstes Bild ist schon etliche Jahre alt. Carter sitzt in meinem Zimmer bei Penelope auf dem Bett, an die Wand gelehnt, und schreibt in sein Notizbuch. Mit einem Stift in der Hand sieht er unwiderstehlich aus.
»Und was ist mit dir? Hast du einen Freund?«
Hazel lässt sich theatralisch aufs Bett plumpsen, hievt ihr Gipsbein auf die Kartons und atmet tief durch. »Ja. Sein Name ist Mason.«
»Und was macht dein Mason? Studiert er auch hier?«, hake ich nach. Tränen treten in Hazels Augen, und ich frage mich, ob ich etwas Falsches gesagt habe.
»Er ist in Afghanistan stationiert. Seit fünf Monaten. Und er muss noch mindestens sechs Monate durchhalten.« Mein Herz hört kurz auf zu schlagen und fühlt sich tonnenschwer an. Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass er im Krieg ist. »Ich habe auch so einen Karton wie du, nur nicht mit Bildern, sondern mit seinen Briefen.«
»Scheiße, das tut mir leid«, flüstere ich, stemme meine Fäuste in die Matratze und hieve mich mit der Kraft meines Oberkörpers dichter neben sie. Meine Beine ziehe ich mit den Händen nach. Anschließend nehme ich ihre Hand und drücke sie fest. »Er wird es schaffen«, versichere ich ihr.
Kurz sieht sie mir in die Augen, und eine einsame Träne rollt über ihre gebräunte Haut. »Das hoffe ich.«
Bereits seit ein paar Sekunden starre ich den Laptop auf meinem Schoß an. Carters Profilbild blinkt auf, und ich weiß, dass ich irgendwann rangehen muss. Seit Wochen liegt er mir in den Ohren, weil er mich per Skype sehen will, doch in mir sträubt sich alles dagegen, weil er mir sicher sofort ansehen wird, dass etwas nicht stimmt. Dass ich ihn anlüge. Jeden Tag.
»Okay, Sky. Jetzt reiß dich zusammen!« Ein letztes Mal atme ich tief durch, und als sich die Verbindung aufgebaut hat und ich meinem besten Freund ins Gesicht sehe, sind alle Zweifel wie weggeblasen. Ich strahle wie ein Honigkuchenpferd, und sofort treten Tränen in meine Augen.
»Hey, SkySky. Sag nicht, dass ich so scheiße aussehe, dass du weinen musst«, begrüßt er mich. Ich kann mich gar nicht sattsehen an ihm. Die blonden Spitzen, die ihm in die Stirn fallen, das Nasenpiercing auf der rechten, die Spider Bites auf der linken Seite unter seinen vollen Lippen. Sein schwarzes Tanktop verdeckt nur wenig von seiner definierten Brust, und seine Tattoos sehen selbst durch die schlechte Kamera seines alten Laptops wie ein Kunstwerk aus.
»Sky? Hörst du mich?« Er winkt, und endlich löse ich mich aus meiner Starre.
»Ja, ich höre dich. Und ich sehe dich. Ich. Sehe. Dich. Gott, ich kann es gar nicht glauben.«
»Ich auch nicht, das hat mir so gefehlt. Du siehst toll aus.« Es ist nur ein simples Kompliment, aber aus seinem Mund und an mich gerichtet, klingt es wie eine Komplimentendusche, unter der ich mich verdammt wohlfühle.
»Du auch. Aber eins muss ich dir sagen: die texanische Bräune fehlt dir. Du siehst aus wie ein französischer Weichkäse!«
»In London ist das Wetter echt scheiße. Es regnet jetzt seit drei Wochen durchgehend. Da hat mir Italien schon besser gefallen.« Grinsend lehnt er sich zurück und spielt mit dem Ring an seinem rechten Mittelfinger. Dabei fällt mein Blick auf die drei Buchstaben, die unter seinen Fingerknöcheln tätowiert sind.
S K Y.
»Und was genau macht ihr jetzt noch in London, bevor der zweite Teil der Tour losgeht?« In den letzten Monaten hat Carter Isaac Walker und seine Band Crashing December bei der Albumaufnahme begleitet, ihnen während der Promophase auf die Finger geschaut und ist auf jedes ihrer Konzerte gegangen, um genug Stoff für sein Buch zu sammeln. Italien hat ihm vermutlich nicht nur wegen des Wetters und der Pasta – er liebt Nudeln – am besten gefallen, sondern auch wegen der italienischen Schönheiten. Er musste es nicht sagen, ich weiß es auch so, weil ich ihn besser kenne als mich selbst.
»Jetzt gerade sind wir zu Hause bei Isaac. Glaub mir, diese Bude hier ist der Wahnsinn. Das Penthouse hat eine eigene Sauna und eine protzige Dachterrasse. Echt verrückt. Als Nächstes werden wir noch ein paar Fotos fürs Cover shooten, und dann starten wir die Deutschlandtournee. Berlin, München, Köln, Frankfurt und danach geht es rüber nach Frankreich.«
»Du scheinst ja wirklich den Traum eines Rockstars zu leben«, sage ich grinsend. Ich spüre, dass mein linkes Bein zuckt. Diese Spasmen schmerzen höllisch, aber ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen.
»Tue ich, SkySky. Aber es wäre noch besser, wenn du dabei wärst. Du würdest diese Wohnung hier lieben.« Ein Kloß entsteht in meinem Hals, weil ich ihn so sehr vermisse, aber jetzt sind es nur noch acht Wochen, bis er wieder bei mir ist. Die schaffe ich auch noch.
»Aber genug von mir. Was macht mein Lieblingsmädchen?«
Mein. Herz. Tanzt.
Es tanzt so sehr, dass ich mir beinahe vorstellen kann, meine Beine würden es ebenfalls tun.
»Ich bin heute in das neue Wohnheimzimmer gezogen. Es ist wirklich cool, Carter. Viel größer als mein altes, und wir haben sogar einen richtigen Gemeinschaftsraum.«
»Wieso genau wolltest du noch mal aus dem alten Zimmer raus? Ging dir die Hexe nebenan auf den Sack?«
»Mom fand das alte Zimmer zu stickig und zu dunkel.« Noch mehr Lügen.
»Das klingt nach Penelope. Gott, ich vermisse euch! Kannst du mal aufstehen? Ich will dich ganz sehen, nicht nur deinen Kopf!« Panik steigt in mir auf, weil ich ihm den Wunsch nicht erfüllen kann. Kurz schließe ich die Augen und denke ernsthaft darüber nach, mich einfach tot zu stellen. Vielleicht würde es ja klappen.
»Sky? Steh auf! Für mich, bitte.« Schmollend schiebt er seine Unterlippe vor, und die beiden schwarzen Piercings unter seinem verführerischen Mund funkeln in die Kamera.
»Ich kann nicht. Ich trage nur einen Slip.«
»Umso besser. Nichts, was ich nicht schon kenne.« Carter zwinkert mir anzüglich zu, und augenblicklich steht mein Körper in Flammen. Mein Oberkörper verbrennt fast vor Hitze, aber in meinen Beinen spüre ich nur eine minimale Wärme. Ob es jetzt immer so sein wird, wenn er auf unsere gemeinsame Nacht anspielt?
»Carter«, ermahne ich ihn.
»Was denn? Du bist heiß. Und hast du vergessen, was wir …«
»Nein. Ich habe nichts vergessen.« Und da liegt das Problem. Ich habe nicht vergessen, wie gut sich deine Finger auf meiner empfindsamen Haut anfühlten, die jetzt nicht mehr viel spürt. Doch in meiner Erinnerung fühle ich deine warmen Hände immer noch, die über meine Schenkel streichen und mich dann entschlossen packen. Mist, ich muss aufhören, an diese Nacht zu denken. Oder an die Frage, ob er mich auch in Holly heiß finden würde. Ob er mich auch noch attraktiv findet, wenn er weiß, dass ich fünfmal am Tag einen Katheter legen muss … Kopfschüttelnd weise ich ihn ab.
»Sorry, Carter. Aber ich stehe heute nicht auf.« Ich stehe nie mehr auf.
In den letzten Monaten hat er hin und wieder versucht, über diese Nacht vor seiner Abreise zu reden, aber wirklich gesprochen haben wir darüber bis jetzt nicht, weil ich ihn immer abgeblockt habe. Und das macht mich krank.
»Schade. Aber kein Problem, SkySky. In zwei Monaten werde ich dich sehen. Komplett. Vielleicht nicht in einem Slip, aber ich werde dich zu Tode drücken. Ich sag‘s ja nur …« Noch immer spielt er mit seinem Ring und dreht ihn wild von links nach rechts. »Ist das da etwa die Wall of Shame?« Er nähert sich der Kamera, sodass ich seine tiefblauen Augen sehen kann. Gott, sie sind so schön.
»Jap. Die habe ich heute als Erstes angebracht.« Die Wall of Shame, wie Carter sie immer nennt, weil er auf den meisten Bildern albern aussieht. Albern und unfassbar sexy.
»Halt mal die Kamera näher ran. Ich will die Fotos sehen«, bittet er mich, also greife ich nach dem Laptop und zeige ihm unsere Art eines Fotoalbums. »Oh Gott, das Foto von uns am Strand ist immer noch mein liebstes. Ich habe Wochen später noch Sand zwischen den Zähnen gefunden!«
»Du hast mich herausgefordert, Carter. Das geht auf deine Kappe.«
»Ja, ja. Ich weiß.« Er grinst breit in die Kamera, und ich verliere mich in seinem Anblick. So lange, bis es im Hintergrund bei ihm poltert und eine Männerstimme ertönt. Im nächsten Moment erscheint jemand im Bild. Jemand, der mein Herz ebenfalls zum Stocken bringt, weil Isaac Walker ein verdammter Star ist!
Als Bandleader von Crashing December lässt er Millionen Frauenherzen höherschlagen. Doch egal, wie gut er mit seinem schiefen Lächeln, den dunklen Augen und den dichten braunen Haaren aussieht, Carter überstrahlt seine Schönheit.
»Hey. Ich bin Isaac«, stellt er sich grinsend vor. Als gäbe es jemanden auf diesem Planeten, der deinen Namen nicht kennt.
»Skylar.« Lässig winke ich ihm zu.
»Hör mal, Skylar. Ich muss dir deinen Gesprächspartner jetzt für ein paar Stunden wegschnappen. Wir schmeißen eine Party, und Carter muss einfach dabei sein!« Erst jetzt bemerke ich den dumpfen Bass, der im Hintergrund läuft. Carter verdreht die Augen. Er sieht zwar aus wie ein Rockstar, der gerne feiert, aber im Grunde genommen verbringt er seine Zeit lieber mit einem guten Krimi.
»Kein Problem«, sage ich ungezwungen, dabei hatte ich gehofft, Carter noch länger zu sehen. »Hast du noch was vor, Sky? Sonst kann ich auch noch ein bisschen bleiben und später zur Party gehen.«
»Nein, kannst du nicht. Es gibt da einige Ladys, die dich kennenlernen wollen. Und sie sind ungeduldig, Mann.«
Sofort sticht die Eifersucht in meiner Brust.
»Das müssen wir wiederholen, SkySky. Scheiß auf langweilige Telefonate, ich will dich ab jetzt immer sehen.«
Carter hebt sein Handgelenk und küsst das Semikolontattoo, das uns für immer miteinander verbindet. Ich hebe mein Handgelenk an und küsse meines ebenfalls. Dieses Ritual haben wir schon, seit wir Kinder waren. Nur, dass da früher keine Tinte auf unserer Haut war, sondern schwarze Filzstiftfarbe.
Ein letztes Zwinkern seinerseits, ein »Ich vermisse dich«, und dann wird das Bild schwarz.
Eine Weile starre ich noch meinen Laptop an, bis Isaac mir schließlich das Teil wegnimmt, es zuklappt und auf den Nachttisch stellt. Ich sitze auf dem Bett in einem der Gästezimmer und frage mich nach wie vor, wozu der Kerl ein Penthouse braucht, das zweihundert Quadratmeter umfasst. Sky und mir waren die Zimmer bei Charles und Heather immer groß genug. Wir waren uns genug. Mit ihr hätte ich auch in einem Loch groß werden können.
»Das war also deine bessere Hälfte?« Isaac zündet sich einen Joint an, zieht einmal kräftig und reicht ihn mir dann weiter. Ich puste den Rauch in kleinen Kreisen aus.
»Bessere Hälfte … beste Freundin. Such es dir aus.« Jedes Mal, wenn ich über sie spreche, wallt Stolz in mir auf, weil ich einen verdammten Sechser im Lotto gewonnen habe, als sie in das Zimmer neben mir gezogen ist. Dass sie ihrer Mutter weggenommen wurde, war schrecklich, aber es war auch mein Glück.
»Sie ist süß. Auf die heiße Art.«