Hysterie - Stavros Mentzos - E-Book

Hysterie E-Book

Stavros Mentzos

4,8

Beschreibung

In der Umgangssprache wird das Wort »hysterisch« abwertend für alles Unechte, Theatralische, haltlos Übertriebene benutzt. Die Psychiatrie und die Psychologie belegten mit dem Terminus Hysterie eine Fülle von körperlichen und seelischen Symptomen und Störungen, die erst durch die Psychoanalyse Sigmund Freuds eine einheitliche Bedeutung und Erklärung erhielten.Zwar sind die damals beschriebenen klassischen hysterischen Krankheitsbilder im Lauf des 20. Jahrhunderts immer seltener geworden; die Auffassung des Hysterischen als Reaktion auf eine längst überwundene repressive Sexualmoral ließ das Freud'sche Konzept als obsolet erscheinen.Stavros Mentzos weist jedoch mit zahlreichen eindrucksvollen Beispielen nach, dass der hysterische Modus der Konfliktverarbeitung mittels unbewusster Inszenierungen relevant bleibt – nicht nur zum Verständnis psychopathologischer und psychosomatischer Dynamik, sondern überhaupt menschlichen Verhaltens und Interagierens.

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Stavros Mentzos

Hysterie

Zur Psychodynamik unbewusster Inszenierungen

11., unveränderte Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.

ISBN 978-3-647-99559-5

© 2015, 2012, 2009, 2004, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

www.v-r.de

Alle Rechte Vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg

Inhalt

Vorwort

Vorwort zur 8., erweiterten Ausgabe

Einleitung

Kapitel I

Hysterische Phänomene

1. Drei Gruppen hysterischer Phänomene

2. Verbreitung und Symptomwandel der hysterischen Symptombildung

Kapitel II

Hysterie-Konzepte

1. Von Altägypten bis zu Charcot

2. Das psychoanalytische Modell

Kapitel III

Hysterische Symptombildung

1. Annette C. (Konversion)

2. Die Krankengeschichte von Barbara M. (Dissoziation)

Kapitel IV

Hysterische Charakterbildung

1. Einleitung

2. Deskriptive Merkmale des hysterischen Charakters (bzw. der heutigen histrionischen Persönlichkeitsstörung)

3. Anton C. (Fall Nr. 12)

4. Ein dramatischer Auftritt (Fall Nr. 13)

5. Zur Typologie hysterischer Charaktere

6. Das Über-Ich: der prominenteste Zuschauer

Kapitel V

Ich-psychologische Aspekte – die einzelnen Teilmechanismen

1. Der impressionistische kognitive Stil und die Affinität für unbewusste Symbolik

2. Emotionalisierung – Dramatisierung

3. Identifikation als wichtiger Mechanismus innerhalb der hysterischen Symptom- und Charakterbildung

4. Verdrängung und Dissoziation

Kapitel VI

Die Krise des Hysteriebegriffs

1. Konversion – nur bei ödipalen Konflikten?

2. Hysterischer Charakter – nur bei ödipaler Fixierung?

3. Hysterie, hysterisch – unbrauchbar gewordene Begriffe?

Kapitel VII

Versuch einer neuen Definition

1. Methodologische Vorbemerkungen

2. Der hysterische Modus der »Konfliktlösung«

3. Das spezifisch Hysterische

4. Einwände gegen die vorgeschlagene Konzeptualisierung

Kapitel VIII

Primärer und sekundärer Krankheitsgewinn

1. Primärer neurotischer Gewinn

2. Sekundärer Krankheits-(neurotischer) Gewinn

Kapitel IX

Vergleiche und Gegenüberstellungen

1. Ein Vergleich mit der Zwangsneurose

2. Konversion versus psychosomatische Resomatisierung im engeren Sinne

3. Beziehungen zwischen hysterischer Symptomneurose und hysterischem Charakter (bzw. der heutigen histrionischen Persönlichkeitsstörung)

Kapitel X

Nosologische und klassifikatorische Aspekte

Kapitel XI

Interpersonale Aspekte

1. Die hysterische Kommunikation

2. Partnerbeziehungen

3. Warum sind Frauen häufiger hysterisch?

Kapitel XII

Therapeutische Aspekte

1. Psychoanalytische Behandlung

2. Besondere Formen der Gegenübertragung

3. Nichtanalytische psychotherapeutische Verfahren

Kapitel XIII

Die Hysterie im 21. Jahrhundert

Exkurs: Was ist ödipal und was sind die ödipalen Konflikte?

Die »Erben« der Hysterie in der Psychiatrie des 21. Jahrhunderts

Vergebliche Versuche, den alten Hysteriebegriff als eine Krankheitseinheit zu retten

Kapitel XIV

Das Hysterische in der öffentlichen Kommunikation der heutigen Gesellschaft

1. Tokio Hotel

2. Fußball regiert die Welt!

3. Sensationslust

4. Sekundäre Hysterisierung

5. Nur scheinbar perverse hysterische Inszenierungen

Zusammenfassende Betrachtung

Abgrenzungen und negative Definitionen

Positive Definitionen

Anmerkungen

Literatur

Namen- und Sachregister

Vorwort

Wie kommt es, dass so unterschiedliche Erscheinungen wie funktionelle Lähmungen einerseits und die Tendenz zur theatralischen Dramatisierung andererseits mit der gleichen Bezeichnung – nämlich »hysterisch« – benannt werden?

Liegt die Gemeinsamkeit dieser Phänomene in einem hinter ihnen verborgenen, typischen unbewussten Konflikt, wie die klassische Psychoanalyse annahm? Oder wird sie durch psychodynamische Strukturen, die bis jetzt nur diffus und intuitiv erfasst worden sind, bewirkt?

Was ist aus den großen hysterischen, klinischen Bildern der vorletzten Jahrhundertwende geworden? Sind sie tatsächlich einfach verschwunden, oder haben sie sich nur verwandelt?

Was nennt man heute noch hysterisch in der Umgangssprache und was im Bereich der Psychologie und Psychopathologie?

Geht es nur um einen besonderen Modus der neurotischen Verarbeitung des Konflikts? Oder macht sich womöglich hier ein emotionaler und kognitiver Stil bemerkbar, auf den auch viele andere, nichtpathologische Besonderheiten oder sogar positive Eigenschaften und Begabungen einer großen Gruppe von Menschen zurückzuführen sind? Stellen vielleicht hysterische Symptom- und Charakterbildungen nur die pathologischen Formen eines besonderen Lebensstils dar?

Neben solchen und ähnlichen theoretischen haben mich besonders auch praktische und therapeutische Fragen zu dem Versuch veranlasst, meine Erfahrungen und Überlegungen auf diesem Gebiet zusammenzufassen und mich gleichzeitig mit der älteren und neueren Literatur zu diesem Thema auseinanderzusetzen. Ich hoffe, dass durch die Art der Darstellung und die vielen Beispiele dieses Buch auch für den Nichtfachmann zugänglich und nützlich sein wird.

Ausgangspunkt und empirische Stütze dieser meiner Analysen sind Erfahrungen bei der psychotherapeutischen Behandlung von Menschen mit solchen »hysterischen« Erscheinungen. Im Lauf der Jahre glaube ich bis zu einem gewissen Grad gelernt zu haben, mich sowohl von der Faszination, die vom Hysterischen ausgeht, als auch umgekehrt von meinen gelegentlichen negativen (Gegenübertragungs-)gefühlen einigermaßen zu distanzieren. Vieles, ja vielleicht das meiste bei diesem Lernvorgang verdanke ich der Auseinandersetzung mit meinen Patienten. Dafür möchte ich mich hier bei ihnen bedanken, aber gleichzeitig für die Kränkung, als »Fall« eingeordnet und als Beispiel für etwas »Typisches« dargestellt zu werden, um Nachsicht bitten und gleichzeitig Folgendes zum Ausdruck bringen:

Unsere Einordnungen und Konzeptualisierungen, die ohnehin meistens vorläufig sind (und mit der Zeit aufgegeben werden müssen), betreffen automatisierte, zwangsläufig verlaufende und somit hinderliche Mechanismen und nicht den Menschen als solchen, auch wenn ich gelegentlich – um lange und komplizierte Sätze zu vermeiden – kurzerhand vom »hysterischen Menschen« spreche. Wir alle werden in der einen oder anderen Weise durch diese oder jene neurotischen Automatismen in unserer freien Entwicklung gehindert, und mir scheint der Versuch legitim, mit den Mitteln unserer Wissenschaft diese Hindernisse auch begrifflich zu erfassen, um sie dann besser ausschalten zu können.

Herzlich bedanken möchte ich mich bei Frau Dr. Evemarie Siebecke-Giese für ihre unermüdlichen Bemühungen bei Textkorrekturen, stilistischen Veränderungen und sonstigen wertvollen Hinweisen und Gedanken. Schließlich bedanke ich mich auch bei Frau Annemarie Deichmann für die Bewältigung der mühsamen Arbeit der Niederschrift des Textes und der Literaturhinweise.

Stavros Mentzos

Vorwort zur 8., erweiterten Ausgabe

Diesem kleinen »Hysterie«-Band ist bis jetzt ein sehr guter Erfolg beschieden – nicht nur was die Verkaufszahlen betrifft. Vorwiegend zustimmende, aber auch einige kritische Stimmen der Fachleute, insbesondere positive Reaktionen von Nichtfachleuten sprechen dafür, dass das Buch beide Gruppen ansprechen konnte, sei es als eine Diskussionsanregung, sei es als erste Orientierungshilfe.

Einer der Hauptansätze der Studie war mein Vorschlag, das Hysterische nicht als eine nosologische Einheit, als eine Erkrankung im medizinischen Sinn, sondern als einen der möglichen Modi der Verarbeitung der neurotischen Konflikte zu konzipieren. Diese Betrachtungsweise erwies sich – theoretisch und praktisch – als so nützlich, dass sie bald eine Verallgemeinerung erfuhr, sodass sie auf alle psychischen Störungen mit Erfolg angewandt werden konnte. Dies fand seinen Niederschlag in meinem Buch »Neurotische Konfliktverarbeitung« (1982), das inzwischen einem breiten Publikum bekannt geworden ist. Was nun aber das Hysterie-Buch selbst betrifft, so lässt sich feststellen:

In den vergangenen zehn Jahren haben neue Veröffentlichungen sowie meine eigenen klinischen und therapeutischen Erfahrungen zwar keinen Anlass zu einer Änderung des Grundkonzepts gegeben – im Gegenteil, es gab immer mehr Bestätigungen der Hauptthesen. Trotzdem gibt es viele Details, die ergänzt oder korrigiert werden müssten. Auch einige mögliche missverständliche Formulierungen sollten zurechtgerückt werden. Da jedoch eine grundsätzliche Änderung des Textes nicht sinnvoll und realisierbar erschien, wurde der ursprüngliche Text im Wesentlichen unverändert gelassen und durch eine Reihe von am Schluss des Bandes angebrachten Anmerkungen ergänzt. Es ist zu hoffen, dass dadurch einige Einseitigkeiten behoben und gewisse berechtigte Kritiken berücksichtigt wurden.

Alle diese Umwege innerhalb und außerhalb der Psychoanalyse waren aber offenbar erforderlich, um zu dem zu gelangen, was ich heute als Motto über dieses Buch stellen würde: »Die Hysterie ist tot. Es lebe der hysterische Modus der Konflikt- und Traumaverarbeitung«!

Stavros Mentzos

Einleitung

In der Umgangssprache wird das Wort »hysterisch« abwertend und synonym mit unecht, demonstrativ, unehrlich, theatralisch, emotional, übertrieben oder unsachlich benutzt. Für die wissenschaftliche Analyse der Erlebens- und Verhaltensweisen, die uns hier interessieren, ist jedoch diese Bedeutung des Terminus nicht von Belang. Zwar enthält das Hysterische vieles, was mit übertriebener Emotionalität, Dramatisierung, Theatralik, Unechtheit bezeichnet werden kann, aber in einem ganz anderen Zusammenhang, als es der moralisch abwertende Gebrauch des Wortes impliziert. Ein bewusst gewolltes, ein absichtlich unechtes und prätentiöses Verhalten als »hysterisch« zu bezeichnen ist genau so unsinnig wie widersprüchliches Verhalten ohne weiteres mit schizophren gleichzusetzen – eine Sprachgepflogenheit übrigens, die sich leider immer mehr ausbreitet. Wie ist nun aber der legitime und wissenschaftlich begründete Gebrauch der Bezeichnungen Hysterie und hysterisch zu definieren?

Die Beantwortung dieser Frage ist eine der Hauptaufgaben dieses Buches und sicher eine schwierige Aufgabe, denn

»… mit Ausnahme der Tatsache, dass sie [die Hysterie] eine funktionelle Störung ohne begleitende organisch-pathologische Veränderungen ist, gelingt es nicht, sie zu definieren oder sie konkret zu porträtieren. Wie ein Quecksilberkügelchen läßt sie sich nicht fangen. Wo immer sie auftaucht, übernimmt sie die Färbung der umgebenden Kultur und der Sitten; und somit zeigt sie sich im Laufe der Jahrhunderte als ein ständig sich verstellendes, sich veränderndes, im Nebel verhülltes Phänomen, welches trotzdem so behandelt wird, wie wenn es definierbar und greifbar wäre« (Veith 1965, S. 1).

Die Wörter Hysterie und hysterisch sind also von ihrer Etymologie her etwas missverständlich. Dennoch gilt meines Erachtens heute noch, was Janet 1893 geschrieben hat: »Das Wort Hysterie sollte beibehalten werden, auch wenn seine ursprüngliche Bedeutung sich so sehr gewandelt habe. Es ist schwierig, es heute zu ändern; in der Tat hat es eine so große und so schöne Vergangenheit, daß es schmerzlich wäre, es aufzugeben.«

Die Geschichte der Hysterie ist gewiss interessant. Ich habe aber nicht die Absicht, sie in diesem Buch im Einzelnen nachzuzeichnen. Ich will stattdessen mit Hilfe einer ausführlichen Beschreibung und psychoanalytisch orientierten Psychodynamik der hysterischen Phänomene folgende Thesen belegen:

a) Die »Hysterie« als Krankheitseinheit im Sinne der traditionellen Psychiatrie darf heute als überholt angesehen werden.

b) Auch das ursprüngliche psychoanalytische Konzept einer eindeutig abgrenzbaren Neurosenform mit einheitlicher Genese muss in dieser alten Form aufgegeben werden.

c) Im Gegensatz dazu ist die Realität der hysterischen Phänomene nicht wegzuleugnen, obwohl es ungemein schwierig ist, aus der bunten Vielfalt der Erscheinungsformen und verwickelten Mechanismen das spezifisch Hysterische herauszuarbeiten.

d) Auch wenn die alte psychiatrische »Hysterie« sowie das ursprüngliche psychoanalytische Konzept einer »hysterischen Neurose« fragwürdig geworden sind, ist die Erkennung und differenzierte Beschreibung und Erfassung eines recht spezifischen hysterischen Modus der neurotischen Konfliktverarbeitung möglich, wichtig und notwendig.

Kapitel I

Hysterische Phänomene

1. Drei Gruppen hysterischer Phänomene

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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