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Stefan Heym als Lyriker - eine wenig bekannte Phase seines Schriftstellerlebens
Zu Beginn seiner schriftstellerischen Karriere schrieb Stefan Heym Gedichte. Erst später fand er im amerikanischen Exil zur Prosa. Im vorliegenden Band wird erstmals eine Auswahl aus den Jahren 1930 bis 1936 veröffentlicht; sie zeigen auf eindringliche Weise, dass sich Stefan Heym schon als ganz junger Mann gegen Nationalsozialismus, Militarismus und Unterdrückung stellte. Mit seinem satirischen Gedicht »Exportgeschäft« etwa entfachte er 18-jährig einen Skandal, der seinen weiteren Lebensweg nachhaltig beeinflussen sollte. Nationalsozialisten und Rechtskonservative waren so erbost über das den Einsatz deutscher Militärberater in China anprangernde Gedicht, dass Heym seine Heimatstadt Chemnitz verlassen und sein Abitur in Berlin machen musste, wo er in der »Weltbühne« und anderen engagierten Zeitungen gesellschaftskritische Lyrik veröffentlichte.
Stefan Heyms frühe Lyrik, die bereits sein politisches Engagement sichtbar macht, bei C.Bertelsmann 2013 erschienen, nun auch Teil der digitalen Werkausgabe.
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Seitenzahl: 104
Zum Buch:
Neben den Romanen und Erzählungen des Schriftstellers Stefan Heym steht das umfangreiche publizistische Werk. Die Themen der Texte, Gespräche, Interviews spiegeln sein Leben: Emigration, Zeitung in New York, Reden an den Feind im zweiten Weltkrieg, die Auseinandersetzung mit der Diktatur in der DDR, Nachdenken über Demokratie und Sozialismus. Eine seiner klassischen Polemiken über den sowjetisch geprägten Dogmatismus gab diesem Auswahlband den Titel: »Stalin verlässt den Raum.« Heym hatte sich auf einem internationalen Kolloquium im Dezember 1964 Rederecht erkämpft und das überraschte Publikum mit seinen kritischen Thesen konfrontiert. Offene Worte, Zivilcourage – das war eine prägende Charaktereigenschaft des Autors.
Seit 1957 erstmalig wieder für die DDR zusammengestellte Publizistik. In hoher Auflage gedruckt sollte diese, zusammen mit Tausenden anderer Bücher aus DDR- Verlagen, auf einer Mülldeponie bei Leipzig vernichtet werden. Der Pfarrer Weskott aus Katlenburg rettete eine große Anzahl von Büchern und eröffnete eine Bücherscheune in der alten Ritterburg aus dem 12. Jahrhundert.
Stefan Heyms Publizistik ist Ermunterung zum aufrechten Gang, Aufforderung zur Zivilcourage und oft verblüffendes Vorausdenken. Sie hat ihre visionäre Strahlkraft bis heute erhalten. Bei Reclam Leipzig erstmals 1990 erschienen, ist dieser Band nun Teil der digitalen Werkausgabe.
»Heym ist einer der großen Autoren des 20. Jahrhunderts, der zwischen den Welten wanderte, der immer zwischen den Stühlen saß und der diesen unbequemen Platz als den ihm gemäßen letztlich schätzen gelernt hat.« Westfälische Rundschau
»Heyms Lebensleistung: Er ist ein Zeuge des Jahrhunderts, der sich nie auf die Zuschauerrolle beschränkt hat.« Hamburger Abendblatt
Zum Autor:
Stefan Heym, 1913 in Chemnitz geboren, emigrierte, als Hitler an die Macht kam. In seiner Exilheimat New York schrieb er seine ersten Romane. In der McCarthy-Ära kehrte er nach Europa zurück und fand 1952 Zuflucht, aber auch neue Schwierigkeiten in der DDR. Als Romancier und streitbarer Publizist wurde er vielfach ausgezeichnet und international bekannt. Er gilt als Symbolfigur des aufrechten Gangs und ist einer der maßgeblichen Autoren der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er starb 2001 in Israel.
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Stefan Heym
Ich aber ging über die Grenze
Frühe Gedichte
Die Originalausgabe erschien 2013 beim C. Bertelsmann Verlag, München.
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Copyright © 2013 by Inge Heym
Copyright © der Originalausgabe 2013 by C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Copyright © dieser Ausgabe 2021 by C. Bertelsmann Verlag, München,
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Umschlagkonzeption und -gestaltung: Sabine Kwauka, München
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Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN978-3-641-27847-2V002
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Die Anfänge eines Schriftstellerlebens
Er ging über Grenzen, der junge Helmut Flieg, als Emigrant, als Jude.
In einer fremden Sprache, der englischen, fand er ein Zuhause. Mit seinen in englischer Sprache geschriebenen Romanen wurde er unter dem Namen Stefan Heym weltbekannt.
Dass sein Schriftstellerleben mit Gedichten begann, blieb im Dunkel. Im Stefan-Heym-Archiv in Cambridge finden sich in der Box A I annähernd 300 Gedichte. Viele sind in der Zeit zwischen 1930 und 1936 veröffentlicht, in Zeitungen, Zeitschriften, Anthologien. Manches ist verloren gegangen. Das früheste veröffentlichte Gedicht erschien in der sozialdemokratischen Chemnitzer Tageszeitung »Volksstimme« am 1. Februar 1930. Helmut Flieg war damals gerade 16 Jahre alt.
Er schrieb Gedichte in Chemnitz als Schüler, in Berlin als Student, in Prag als junger unbekannter Emigrant. Aus verschiedenen Gründen benutzte er, nachdem er Chemnitz wegen der Veröffentlichung eines Gedichts verlassen musste, mehrere Pseudonyme – Melchior Douglas, Gregor Holm, Elias Kemp, und Stefan Heym, den Namen, den er später beibehielt. Aus der Zeit in Berlin und Prag finden sich in Zeitungen und Zeitschriften Veröffentlichungen von Gedichten und Texten unter diesen Namen.
Stefan Heym hat über die Anfänge seines literarischen Lebens und die ersten Jahre des Exils kaum gesprochen. Es war eine schwere und existentiell bedrohte Zeit. Vielleicht hat er darum den Blick zurück auf die Gedichte gescheut. »Let sleeping dogs lie«, sagte er einmal.
In seiner Autobiographie »Nachruf« finden sich einige kurze Bemerkungen zu dem Gedicht »Exportgeschäft«. Da heißt es »… ein bestenfalls mittelmäßiges, dilettantisches Gedicht über eine sehr nebensächliche Episode in der blutigen Geschichte der deutschen Armee«. Der junge Gymnasiast hatte das Gedicht in der Schulstunde geschrieben und war in der Pause in die Redaktion der »Volksstimme« gelaufen, um es dem Kulturredakteur Carl Meyer zu übergeben. Am nächsten Tag, dem 7. September 1931, in der Zeitung gedruckt, löste es einen politischen Provinzskandal aus, in dessen Folge er gezwungen war, die Schule in Chemnitz zu verlassen und schließlich, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, im März 1933 aus Deutschland weg über die Grenze nach Prag zu gehen.
Hätte er das Gedicht nicht geschrieben, so heißt es im »Nachruf«, es nicht veröffentlichen lassen, »wäre er vermutlich im Lande geblieben wie andere seinesgleichen und mit großer Wahrscheinlichkeit als Wölkchen über Auschwitz geendet«.
In den Gedichten erkennt man Gedanken und Themen, die sich in den späteren Romanen, Erzählungen, der Publizistik wiederfinden. Ein Lebensgefühl, ein Zeitgeist wird reflektiert. Hier spiegelt sich eine kritische Sicht der sozialen Verhältnisse, der gesellschaftlichen Widersprüche, in die der junge Helmut Flieg sich einmischte, wie Stefan Heym es bis zum Ende seines Lebens tat.
Peter Hutchinson sagt 2009 in seinem Essay »Stefan Heyms Exile Poetry as the Foundation for his later Fiction« in »German Monitor« Vol. 71: »Die Exilgedichte sind von grundlegender Bedeutung für Heyms spätere literarische Entwicklung … Die Welt der Gedichte mag wohl eine der Trauer, Armut und Ausbeutung sein, aber immer ist da ein Gefühl von Hoffnung und Widerstand, zuweilen auch Trotz erkennbar – ebenso ist später in den Romanen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, das Ideal der Freiheit von Ausbeutung und Unterdrückung gestaltet.«
Aus Anlaß seines 100. Geburtstages erscheint zum ersten Mal eine Auswahl der frühen Gedichte von Stefan Heym, die Anfänge eines Schriftstellerlebens. Die Gedichte gehören der deutschen Sprache an. Es finden sich keine Gedichte in englischer Sprache.
Inge Heym
Chemnitz 1930/1931
Nie wieder Krieg!
Es reitet der Tod auf einem Gerippe
Und mäht und mäht mit grausamer Hand.
Kanonen donnern,
Raketen blitzen,
Granaten heulen,
Tanks rollen heran.
Gasschwaden senken
Sich tief auf die Erde,
und keine Rettung
gibt’s vor dem Tod.
Es liegen Leichen
in jedem Trichter,
Fleischfetzen kleben
an jeder Wand.
Ein großes Morden
von Graben zu Graben.
Der Himmel speit Flammen,
die Hölle ist hier!
Du hältst reiche Ernte, Gevatter Tod!
Dein hären Gewand ist von Blute rot!
Wofür?
Frauen, wollt ihr wieder eure Kinder opfern?
Männer, wollt ihr wieder hingeschlachtet werden?
Söhne, wollt ihr wieder eure Zukunft geben für ein Nichts?
Nein, wir wollen leben, uns nicht töten lassen!
Niemals wieder wollen wir die Waffen heben gegen Brüder!
Nie wieder Krieg!
(1930)
Genies an Marmortischen
Wir sind sehr problematische Naturen.
Wir hocken im Café und tragen Locken.
Wir diskutieren über die Moral der Huren.
Wir reden viel. Und sitzen warm und trocken,
Es wäre Zeit für uns, die Stirnen aufzustocken.
Wir sprechen über Gott, anstatt zu beten.
Wir klappern Mund. Wir wollen nur – wir wollen!
Wir fühlen mit dem Abschaum der Proleten –
Doch würden die, die Fäuste ballend, vor uns treten,
Wir müßten uns genieren und uns trollen.
Wir stöhnen von der Kleinheit dieser Welt
Und schreien unsre Meinung, um die niemand bat.
Ein jeder glaubt sich selbst, er sei ein Held,
Und meint, er streue für die Zukunft Drachensaat …
Wo aber, frag ich, wo ist unsre Tat?
(1931)
Schmerzliche Erzählung
Als mein Bruder ins Feld zog,
Anfang achtzehn muß das gewesen sein,
dachte ich, die große Bahnhofshalle
fiele grau und donnernd über uns ein.
Ich hatte noch keinen großen Schmerz
durchlebt. Ich war ein junges Ding.
Und ich wußte, daß mein Bruder
sehr an mir hing.
Und sie standen am Fenster
ganz ruhig. Bleich und schmal war ihr Gesicht.
Und daran, daß sie wiederkämen,
glaubten sie wohl alle nicht.
Vielleicht hätten sie gerne geschrien:
Nein! – Ein großes, hartes, starkes Nein –
Aber nichts geschah. Ein jeder war
mit sich selbst allein.
Und mein Bruder sprang noch einmal vom Kupee herab,
beugte tief sich über meine Hände. Und er küßte sie.
Ich erschrak. Ich mußte krampfhaft schluchzen,
denn das tat er nie. –
Nach sechs Wochen hat man mir geschrieben,
er sei in eine Maschinengewehrgarbe geraten
und liegengeblieben.
(1931)
Exportgeschäft
Wir exportieren! Wir exportieren!
Wir machen Export in Offizieren!
Wir machen Export! Wir machen Export!
Das Kriegsspiel ist ein gesunder Sport!
Die Herren exportieren deutsches Wesen
zu den Chinesen! Zu den Chinesen!
Gasinstrukteure, Flammengranaten
auf arme, kleine, gelbe Soldaten –
Denn daran wird die Welt genesen …
Hoffentlich
lohnt es sich!
China – ein schöner Machtbereich.
Da können sie schnarren und schreien.
Ein neuer Krieg – sie kommen sogleich,
sie geilen sich auf an Sarghobelspänen:
Generale, Majore! Als ob sie Hyänen
der Leichenfelder seien.
Sie haben uns einen Krieg verloren.
Satt haben sie ihn noch nicht –
Wie sie am Frieden der Völker bohren!
Aus Deutschland kommt das Licht!
Patrioten!
Zollfrei Fabrikation von Toten!
Wir lehren Mord! Wir speien Mord!
Wir haben in Mördern großen Export!
Hurra!
Es freut sich das Kind, es freut sich die Frau,
von Gas werden die Gesichter blau.
Die Instruktionsoffiziere sind da!
Was tun wir denn Böses? Wir verbreiten doch nur
die deutsche Kultur!
(1931)
Lied an die Zeit
Wir klagen dich an, Zeit!
Wer wir sind?
Wir, die Gehetzten,
wir, die im kreisenden Lärm Verletzten,
wir sind –
Wir sehnen uns nach lauem Wind,
nach Blumen und Grün
und nach der Vögel schwingendem Ziehn –
Wir lachen über dich, Zeit!
Denn wir sind dir überlegen.
Wir kennen dein Bewegen,
deine schwächliche Nervosität,
die doch nicht hindern kann, daß es geht, wie es geht –
und des Vaters Schwäche kennt das Kind.
Wir lieben dich, Zeit!
Die eisernen Konstruktionen deiner Masten,
dein verderblich minutenpünktliches Hasten,
wir lieben dein Meer und den Atem deiner Schrauben.
Wir haben den Mut, wir haben den Glauben
an deinen Sieg, an unsern Sieg,
an der besseren Zukunft Sieg!
(1931)
Berlin 1931–1933
Kleine Kinder
Kleine Kinder gehn auf Abenteuer,
und sie sehn die Welt von unten an:
Hosenbeine sind wie Ungeheuer,
zwischen denen man sich leicht verirren kann.
Fremde Frauen, die im Lampenschimmer
lächeln, sind fast göttlich, so entfernt –
Später gibt sich die Bewundrung immer.
Ob man sie je wieder lernt?
Kleine Kinder können bei Musik
lauschen, wie die Großen nie.
Zwischen ihren Schläfen liegt das Glück
schwebendzarter Harmonie.
Über kleiner Kinder Köpfen
ruht mitunter goldner Schein.
Dieses Gold emporzuschöpfen –
wessen Hände sind so fein?
Kleine Kinder tappen in die Jahre.
Sie entwachsen ihrer Phantasie
und verlieren ihre wunderbare
Welt, erfaßt nach ihrem Messen …
Und es ist nur gut, daß sie
diese Kinderwelt sehr bald vergessen.
(1931)
Novemberfrühe (Neukölln)
Hinter Karstadt sind die Wolken rot,
und der Morgen radelt über den Asphalt.
November schaukelt in den kahlen Ästen.
Wind raschelt durch trocknen Straßenkot.
Die Wolken haben es noch am besten:
Von oben sieht man vielleicht bis zum Wald …
Hinter Karstadt steigt die Sonne auf,
doch sie weiß nicht, welchen Turm sie wähle.
Endlich, wie ein goldner Knauf,
liegt sie fest; trüb – eine Städterseele.
Morgen auf steingepanzerter Stadt,
Morgen in dem Staub der Gossen,
Morgen, wenn die Laternen gasgelb verglimmen –
Einer träumt – nicht voll Kraft, nicht verdrossen,
die Stirne wächsern, totenhaft glatt –
nur die Augen im Blassen, sie schwimmen, sie schwimmen …
(1931)
In Deutschland hungert keiner
Du sagst, in Deutschland hungert keiner;
und dein Gesicht ist wohlgenährt.
Um deine Lippen bohrt sich hart ein kleiner,
grausamer Zug. Die Stirn ist tief und unbeschwert.
Du machst in Caritas. Und dein Gewissen
beruhigt sich dabei.
Am Wedding hat man einen umgerissen,
und Pferdehufe treten ihn zu Brei.
Du denkst sozial. Na schön. Im samtnen Sessel
ist das nicht schwer.
Tagtäglich stürzen Menschen in den Selbstmordkessel.
Und immer mehr, und immer mehr …
Du zahlst ja Steuer, Lasten, Unterstützung!
Es hungert keiner! – So – was weißt denn du?
Von deiner Generaldirektorsitzung
geh fort! Und sieh den Kellermenschen zu!
Iß mit an ihrem Tisch! Steh hungrig auf,
wie du dich hungrig setztest zu den knappen Broten.
Geh vor die Luxusläden, sag dir: Kauf!