Pargfrider - Stefan Heym - E-Book

Pargfrider E-Book

Stefan Heym

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Beschreibung

Der listenreiche Aufstieg des jüdischen Tuchhändlers Pargfrider in die österreichische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts

Als Joseph Pargfrider 1787 in Ungarn geboren wird, deutet nichts daraufhin, daß ihm ein außergewöhnliches Leben beschieden sein sollte. Früh verwaist und ungeliebt von der Verwandtschaft, ist er gezwungen, sich auf eigene Füße zu stellen. Er erlernt den Tuchhandel durchschaut bald die Geheimnisse von Skonto und Rabatt, Profit und Zins und versucht sich in eigenen Geschäften. Als Armeelieferant steigt er zu den reichsten Männern seiner Zeit auf. Dennoch bleibt der »Napoleon des Zwillich« in den besseren Wiener Kreisen ein Außenseiter. Aber Pargfrider weiß, mit Geld kann man alle(s) kaufen. Und so kauft er sich, was er sonst nicht bekommen kann, etwa die Freundschaft des berühmten Feldmarschall Radetzky.

Stefan Heyms historischer Roman über Außenseitertum und Antisemitismus, bei C. Bertelsmann erstmals erschienen 1998, endlich wieder lieferbar als Teil der digitalen Werkausgabe.

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Seitenzahl: 337

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Zum Buch:

Als Joseph Pargfrider 1787 in Ungarn geboren wird, deutet nichts daraufhin, daß ihm ein außergewöhnliches Leben beschieden sein sollte. Früh verwaist und ungeliebt von der Verwandtschaft, ist er gezwungen, sich auf eigene Füße zu stellen. Er erlernt den Tuchhandel durchschaut bald die Geheimnisse von Skonto und Rabatt, Profit und Zins und versucht sich in eigenen Geschäften. Als Armeelieferant steigt er zu den reichsten Männern seiner Zeit auf. Dennoch bleibt der »Napoleon des Zwillich« in den besseren Wiener Kreisen ein Außenseiter. Aber Pargfrider weiß, mit Geld kann man alle(s) kaufen. Und so kauft er sich, was er sonst nicht bekommen kann, etwa die Freundschaft des berühmten Feldmarschall Radetzky.

Stefan Heyms historischer Roman über Außenseitertum und Antisemitismus, bei C. Bertelsmann erstmals erschienen 1998, endlich wieder lieferbar als Teil der digitalen Werkausgabe.

»Daß ein alternder Schriftsteller sich über das Altern, den Tod, die Unsterblichkeit seine Gedanken macht, ist nicht verwunderlich. Schlicht sensationell aber ist, wie Stefan Heym mit 85 Jahren drangeht, einen seiner besten Romane zu schreiben: nämlich mit dem sicher zupackenden Griff des Erfolgsautors, der einen Stoff findet, wie geschaffen dafür, zum Roman zu werden. Als genialer Fetzentandler der Literatur schneidet ihn Heym mit erfahrenen Schnitten so zu, daß ganz verschiedene Leser ihre Freude daran haben werden.«Die Zeit

Zum Autor:

Stefan Heym, 1913 in Chemnitz geboren, emigrierte, als Hitler an die Macht kam. In seiner Exilheimat New York schrieb er seine ersten Romane. In der McCarthy-Ära kehrte er nach Europa zurück und fand 1952 Zuflucht, aber auch neue Schwierigkeiten in der DDR. Als Romancier und streitbarer Publizist wurde er vielfach ausgezeichnet und international bekannt. Er gilt als Symbolfigur des aufrechten Gangs und ist einer der maßgeblichen Autoren der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er starb 2001 in Israel.

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Stefan Heym

Pargfrider

Roman

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Die deutschsprachige Ausgabe erschien 1998 bei C. Bertelsmann Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München.

E-Book-Ausgabe 2021

Copyright © 1998 by Inge Heym

Copyright © 1986 der deutschsprachigen Ausgabe by C. Bertelsmann Verlag in der Penguin Randomhouse Verlagsgruppe GmbH, München

Copyright © dieser Ausgabe 2021 by C. Bertelsmann Verlag,München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Sabine Kwauka, München nach einem Entwurf von Hafen Werbeagentur, Hamburg

Umschlagmotiv: © PrimePhoto / Shutterstock.com

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN978-3-641-27830-4V002

www.cbertelsmann.de

Meiner Frau Inge

zum Dank für ihre Ermutigung

und kluge Kritik,

ohne welche

dies Buch kaum zustande

gekommen wäre

EINFÜHRUNG

Das erste Mal hörte ich von Pargfrider durch den Leutnant Wladimir Dawydowitsch Grinberg, der bei den Sowjets in Wien in einer ganz ähnlichen Funktion arbeitete wie ich bei den Amerikanern in Westdeutschland: er übermittelte den Zeitungen, die in der russischen Besatzungszone Österreichs für die einheimische Bevölkerung herausgegeben wurden, ihre Direktiven und beaufsichtigte deren Durchführung.

Ich war auf abenteuerliche Weise von unserm Hauptquartier in Bad Nauheim in einem offenen Zweisitzer nach Wien geflogen worden, um mit unsern Leuten dort ein paar Dinge bezüglich eines gemeinsamen Pressedienstes zu koordinieren. Aber da die Österreicher nicht wie die Deutschen besiegt, sondern, wie es offiziell verlautete, durch die Alliierten befreit worden waren, bestand in Wien zwischen dem Personal der Besatzungsmächte ein etwas herzlicheres Verhältnis als etwa in Berlin; schon die Militärpolizeipatrouillen, bei denen auf den Jeeps je ein Soldat der vier verschiedenen Armeen saß, demonstrierten eine gewisse Gemeinsamkeit der Sieger, ganz abgesehen von den Parties, auf welchen, wenn auch nicht allzu häufig, Offiziere verwandter Dienste der Verbündeten zusammenkamen.

Auf einer dieser Parties, die in der kurzen Zeit meines Wiener Aufenthalts stattfand, begegnete ich dem Leutnant Grinberg, und ob es nun die parallelen Interessen waren, erzeugt durch unser beider gleiche quasi-journalistische Arbeit in den jeweiligen Streitkräften, oder ein persönlicher Sympatico, oder der Alkohol, bald fraternisierten wir miteinander, ich war Stjepan und er Wolodja, und als er gar erfuhr, daß ich in Amerika einen Roman geschrieben hatte über den Widerstand gegen die Nazis in Prag, der in russischer Übersetzung in einer Moskauer literarischen Zeitschrift erschienen war, zeigte sich bei ihm jenes Ehrfurchtssyndrom, das sich in dem intensiven Wunsche äußert, dem verehrten Autor das Thema für sein nächstes Buch aufzudrängen, frei und gratis selbstverständlich.

Das Thema war Pargfrider. Mein Interesse wuchs, je länger Grinberg erzählte – er sprach deutsch mit mir, mit jiddischer Intonation –, und als er gar von einem Band alter Aufzeichnungen dieses Pargfrider sprach, sorgfältig geordnet und in Leder gebunden, welchen er in einem lange unbenutzten Raum des Schlosses Wetzdorf zwischen allerlei Gerümpel aus der Biedermeierzeit entdeckt und mitgenommen habe, fragte ich mich, ob nicht doch mehr hinter der Sache steckte, als meine Skepsis mich zunächst hatte vermuten lassen; vielleicht war mir wirklich durch diesen eifrigen russischen Leutnant eine literarische Kostbarkeit in den Schoß gefallen, und ich mußte nur rasch handeln, um mich seines Fundes zu versichern.

*

Da saß er nun, der Leutnant Grinberg, in der einen Hand das Glas mit dem Scotch, den ich zu der Party beigetragen, und in der andern das dunkle Brot mit der Kolbas, die er mitgebracht hatte, und redete zwischen Kauen und Schlucken, »Oberst Petruschkin, mein Vorgesetzter, ist ein Durák, ein Idiot, ein kompletter. Natürlich war der Kerl gescheit genug, sich wo es ging hinter den Linien zu halten, außer Schußweite, aber der Vormarsch auf Wien verlief so überstürzt, daß der Genosse Oberst sich plötzlich noch vor der Vorhut seines Regiments fand in seinem Beute-Benz, ich neben ihm auf dem Rücksitz, vorn der Fahrer und ein schwerbewaffneter Sergeant, und weit hinter uns die Truppe nur noch zu ahnen; oder vielleicht suchte Petruschkin mir auch zu imponieren durch seine plötzliche Kühnheit – du bist ein Jid, ein schlauer, Wolodja, pflegte er mir zu sagen, und ich kann dich brauchen, aber gib acht: zu große, wie sagt ihr unter euch, zu große Chochme hat manch einen schon den Kopf gekostet und den Kragen dazu.«

»Ich kenn derart höhere Chargen«, sag ich ihm, »sie bevölkern alle Armeen.«

»Nein«, sagt er, »Typen wie Petruschkin, Sergej Nikititsch, kannst du nicht kennen, Stjepan, mein Freund, wie du auch nicht kennst die Partei, deren faule Frucht sie sind.«

Mich verwunderte, daß der Leutnant Grinberg so sprach von der Partei des großen Stalin, die alles in seiner Sowjetwelt lenkte, den Krieg und den Frieden und des einzelnen Wohlergehen, und die ein Tabu-Thema war, zumindest nichtsowjetischen Menschen gegenüber, und ich blickte rasch um mich, aber niemand schien sich für uns zwei besonders zu interessieren; in einer Ecke des Raums wurde gesungen, abwechselnd Cowboy-Songs und Kosakenlieder und das ewige Kalinka Moja, man schlug sich den Bauch voll und radebrechte einer des andern Sprache und zelebrierte Druschba, Freundschaft, und Grinberg fuhr fort, »Plötzlich läßt Petruschkin halten, steigt aus und richtet seinen Feldstecher auf das bewaldete Tal zur Rechten und die Anhöhe dahinter; dann winkt er mir zu und hält mir das Fernglas vor die Nase, und tatsächlich erkenn ich auf dem Hügel über einer Freitreppe einen tempelähnlichen, mäßig hohen Bau mit klassischen Säulen davor und entziffer mühsam eine Inschrift auf dem Sims, Den würdigen Söhnen des Vaterlandes, und etwas von bewiesener Tapferkeit, und die Jahreszahlen 1848 und 1849, patriotischer Schwulst also von Anno dazumal, und entdecke dann zwischen den Stämmen der Bäume im Vordergrund vereinzelte Militärposten, ausstaffiert sonderbarerweise in buntgescheckter Paradeuniform, mit spitz zulaufenden Bärenmützen auf dem Kopf und das Gewehr geschultert samt aufgepflanztem Bajonett, und Petruschkin sagt zu mir, Was halten Sie davon, Grinberg, und ich sag, Komisch ist es schon irgendwie, ich werde mal gehn schauen, und er sagt, Den Teufel werden Sie, Sie werden zurückfahren in meinem Wagen und das Vorausbataillon hierherdirigieren, fertig zum Sturm, und der Sergeant und ich werden hierbleiben und die Stellung halten bis dahin, und wie ich Petruschkin sag, er soll doch sein Leben nicht so blindlings riskieren, dafür wären andere da, erwidert er, es gäbe eben Momente im Leben eines Soldaten, in denen er besagtes Leben in die Schanze zu schlagen habe, gleich wann und wie und welches die Umstände, und dies sei ein solcher Moment.«

Grinberg lacht, und da er sein Brot mitsamt der Kolbas inzwischen vertilgt hat, haut er mir mit der freien Hand auf den Schenkel und sagt, »Du siehst, Stjepan, ein regulärer Held!« und fährt fort zu erzählen, wie er im Auto dann seine österreichische Karte aufgeschlagen aufs Knie legt und an der Stelle, wo er den Oberst Petruschkin zurückgelassen, die Bezeichnung Heldenberg, Nationalmonument findet und den Ortsnamen Klein-Wetzdorf mit dem Zusatz »Schloß« in Klammern, und bald darauf dem vordersten Bataillon seines Regiments begegnet, und wie er das Bataillon, nach einiger Überzeugungsarbeit bei dessen Offizieren, tatsächlich dem Obersten zuführt, welcher es sofort in Sturmposition aufstellt und das Kommando zum Angriff gibt.

»Das war mal ein großartiger Schlachtenlärm!« beschreibt Grinberg die Operation. »Die gepanzerten Fahrzeuge durchbrechen das Gehölz, aus allen Rohren feuernd auf die stoisch ungerührten Verteidiger. Von denen kippen die einen um, die andern zerbersten und verstreuen ihr blechernes Eingeweide im Umkreis. Dann stoppt der Angriff, die Infantrie springt ab, die Männer werfen ihre Mützen in die Luft und wälzen sich vor Vergnügen auf der Erde und ein ungeheures Gelächter erhebt sich vom linken Flügel her und rollt über das Zentrum der Truppe bis hin zur äußersten Rechten; man hatte eine Attacke geritten gegen mannshohe Spielzeugsoldaten, die irgendein österreichischer Potemkin irgendwann dort aufgestellt hatte, aus kriegerischer Laune oder einfach zur Dekoration und der Genosse Oberst hatte die Kulisse für die Realität genommen.«

»So sind sie, die höheren Chargen«, sage ich. »Und wie weiter?«

»Wie weiter?« Grinberg gießt sich Sto Gramm nach, Scotch. »Natürlich kann der Durák nicht eingestehen, daß er einer neuen Version des alten Schwindels aufgesessen ist, und läuft herum und brüllt, es wär eine Falle! Eine verfluchte Falle! Und ordert, sammeln! Formation! Und verlangt, das umliegende Gelände nach allen Seiten hin zu durchkämmen und zu sichern, und ich seh und hör noch jetzt, da ich hier neben dir sitz, Stjepan, wie unsre Panzerwagen mit den Leuten aufgesessen durch eine großzügig angelegte Parkanlage rasseln, deren Alleen von einem Obelisken aus strahlenförmig in mehreren Richtungen in die Weite führen und gesäumt sind von langen Reihen auf Podeste placierter metallener Büsten.«

Ich versuche, mir das vorzustellen: es muß eine beeindruckende Vista gewesen sein, die sich meinem Freund Wolodja da auftat; und nur sein Oberst Petruschkin, der mit zorngeröteten Augen immer noch tobte, dürfte störend gewirkt haben. Inzwischen, erzählt Grinberg weiter, öffnet sich da auf der Anhöhe das mittlere Tor des Tempelchens, oder was auch immer der Bau, und heraus schiebt sich, furchtsam um sich blickend, ein in grünen Loden gekleideter Mensch, betagt schon, vielleicht eine Art von Parkwächter, den eine Riesendogge, durch eine Kette an ihn gebunden, in Richtung auf Petruschkin zerrt.

Petruschkin reißt seine Pistole aus dem Holster, kreischt: »Stoj!«

Doch der Köter scheint wenig beeindruckt, trotz der unterstützenden »Kusch!« und »Sitz!« und »Willst du wohl, Felix!« des Alten. Er knurrt bösartig, richtet sich hoch auf seinen Hinterbeinen und gerät so, mit geblecktem Gebiß sein Herrchen hinter sich herschleppend, in immer bedrohlichere Nähe Petruschkins.

Und Petruschkin schießt.

Der Schädel des Hunds zerbirst. Eine Blutlache bildet sich rasch, in welcher der Wachmann niederkniet und den Kadaver verzweifelt zu schütteln beginnt.

»Gestatten, Genosse Oberst?«

Grinberg erbittet, militärisch stramm, die Genehmigung seines Vorgesetzten, mit dem Trauernden zu parlieren; als fürchte er eine feindliche Kriegslist, zögert Petruschkin zunächst, das Verhör zu gestatten. Schließlich nickt er, und so erfährt Grinberg denn nach längerem, durch den Dialekt des Mannes, seine Zahnlosigkeit und wiederholten Gefühlsausbrüche über Felixens Verlust erschwertem Hin und Her, daß das Gebäude auf dem Hügel mit dem klassischen Vorbau über der Freitreppe einst ein Heim sein sollte für Veteranen der alten Kaiserlich-Königlichen Österreichischen Armee, gegründet und finanziell ausgestattet durch Siegel und Testament vor fast hundert Jahren schon von dem Eigner des Schlosses Wetzdorf, dem Herrn Baron Pargfrider – der Alte deutet mit dürrem Finger auf die Wipfel einer kleinen Waldung unweit und krächzt: »Der Herr Offizier können die Dächer vom Schloß hinter den Bäumen dort erkennen – von dem Herrn Baron Pargfrider also, er ruhe in Frieden in seinem Mausoleum dort drüben –« und wieder der Finger, diesmal auf den Obelisken im Mittelpunkt der Alleen weisend –, »dem Herrn Baron Pargfrider, der damals steinreich geworden ist als Lieferant von allen möglichen Gütern, aber vor allem von Leinwand und Zwilch für die alte Kaiserlich-Königliche Österreichische Armee« – welch Veteranen die Aufgabe haben sollten, den Heldenberg hier, die ganze Anlage mitsamt den Büsten der Helden alle und der Statuen des guten Kaisers Franz Joseph und der Herrn Feldmarschälle Wimpffen und Radetzky sauber und in guter Ordnung zu halten; aber die Veteranen der alten Kaiserlich-Königlichen Österreichischen Armee zogen nie ein in ihr geplantes Domizil, der gute Kaiser Franz Joseph hätt keine solche persönliche Leibgarde gewollt für den Herrn Baron Pargfrider, ergänzt der Alte, und von da an hätt es immer nur einen Wächter mit Hund gegeben für die Reinhaltung und die Fürsorge, und nun war der Hund auch tot, und der schöne Tempel nichts wie ein Geräteschuppen, worin Besen und Schaufeln und Hacken und Harken, der Herr Offizier könnt ja hingehen und sich’s selber anschaun, wenn’s gefällig wär, und ob er nun fortkönnt und seinen armen Felix begraben, er wär doch nur ein kleiner Beamter, ein österreichischer, und hätt diesen Krieg nicht angefangen, und seine Landsleut auch nicht.

»Und Petruschkin?« frage ich.

Petruschkin hätte wieder losgeschimpft. Wie der Kerl es hätte wagen können, röhrte er, seinen Hund gegen einen hohen Offizier der heldenhaften sowjetischen Armee zu hetzen, und der Teufel wisse, was, und wer, sich wirklich in dem Bauwerk da oben versteckt hielt, der Akt mit dem Köter wäre ein typisches Ablenkungsmanöver gewesen, und orderte seinen Sergeanten mit einer Patrouille, das angebliche Veteranenheim der alten Kaiserlich-Königlichen Österreichischen Armee zu durchsuchen. Und nachdem zehn Mann, Kalaschnikows im Anschlag, die Freitreppe hinaufgestapft und in das Tempelchen eingedrungen waren, so berichtet mir Grinberg weiter, und der Sergeant dem Obersten rapportiert hatte, daß sich tatsächlich nur Gartenwerkzeug, allerdings in wilder Unordnung, dort oben befände, habe ein anderes Objekt Petruschkins Argwohn bereits wieder erregt: der Obelisk nämlich im Zentrum der Anlage. Mausoleum! ruft er, wer garantiere ihm, daß dieser steinerne Bleistift mit dem Engel oder was immer die Figur auf der Spitze bedeuten sollte nur irgendein alter Turm war und nichts sonst; und selbst wenn ja, sorgte er sich, was, und wer, mochte sich nicht bei den Toten darin versteckt halten, und wer überhaupt waren diese Toten?

Ich geh also, erzählt mir Grinberg, und stoß das eiserne Tor auf, das da eingefügt ist in den Fuß des Obelisken, und les die in den Stein hinter dem Tor gehauene Mahnung, in altertümlicher Orthographie, Ehret, schonet und erhaltet das Eigenthum der Todten!, und seh, daß da eine Treppe nach unten ins Dunkel führt, in das eigentliche Grabgewölbe wohl, und melde Petruschkin die Lage; der fühlt seinen schlimmsten Verdacht bestätigt, und sein Drang zu kriegerischen Aktivitäten belebt sich von neuem: er stellt einen zweiten Spähtrupp zusammen, lauter erprobte Männer, denen er Wodka verabreichen läßt, und blickt mich so an von der Seite, und ich sag, Lassen Sie mich das machen, Genosse Oberst, und er sagt, ich geb Ihnen einen Doppelten, und ich sag, wenn ich den Pargfrider gefunden habe, dann werd ich trinken, der Mann beginnt mich zu interessieren, und er sagt, eine Kugel werden Sie kriegen in den Bauch, aber Poschaluista, bittesehr, und ich antworte, was wetten wir, die Toten schießen nicht mehr, und er sieht ein, daß er zusammen mit mir da hinunter muß zu den Toten, wenn er sich nicht blamieren will vor mir und der Truppe, und so steigen wir ein in den Obelisken, jeder eine Hand auf der Schulter des Vordermanns, nur ich hab keinen Vordermann, ich muß mir den Weg die steile Treppe hinab in die Tiefe selber ertasten, und halt meine Taschenlampe und Petruschkin seinen Revolver, und dann seh ich, daß da erloschene Fackeln stecken in Haltern an der Wand, und ich ruf, man soll versuchen sie anzuzünden, und der Sergeant kommt mit Streichhölzern und ein paar Seiten Prawda als Fidibus, und wirklich fangen die Fackeln Feuer, und es zeigt sich mir ein Bild, welches ich nicht vergessen werd, solang ich leb: die Gruft, die Wände, weißlich grau, darauf die Schatten, meiner und Petruschkins und die Schatten der Mannschaften, und rechts ein Sarkophag und links einen halb geöffnet, und in jedem von ihnen eine Mumie kostümiert in heller Uniform mit goldenem Kragen und goldenen Litzen und seidener Schärpe und Reihen von Orden, die trotz dem Staub der Jahre darauf glitzern und blinken in dem düster flackernden Licht, und da sind Schilder aus Messing, und ich nehm die Taschenlampe und les auf dem einen, Reichsfreiherr Maximilian Hermann von Wimpffen, Kaiserlicher Feldmarschall, und auf dem andern Feldmarschall Josef Wenzel Graf Radetzky von Radetz, und dann erblick ich auf dem Steinboden zwischen den Sarkophagen eine eiserne Falltür, darauf Zeichen und Symbole, deren Bedeutung mir unbekannt, und Petruschkin sagt heiser, Was meinen Sie, Grinberg, und ich wink dem Sergeanten, und der, mit drei Leuten, stemmt die schwere Falltür auf, und ein Moderduft steigt auf von unten, und trotz der Schwärze in dem viereckigen Loch lassen sich Stufen erkennen, eng und feucht glänzend, und wieder tast ich mich vorsichtig hinunter, und spür hinter mir Petruschkin, der sich auf mich stützt, und hör die Schritte des Sergeanten und ein paar anderer noch, und dann erblick ich im Kegel meiner Lampe vor der rückwärtigen Wand ein thronsesselähnliches Möbel, oder ist es ein Sarg, schräg aufrecht gestellt, darin lehnend und ohne jedes Namensschild ein Geharnischter, die Hände gekrallt um den Knauf seines Ritterschwerts, das man ihm senkrecht zwischen die Knie geklemmt hat, nur daß er merkwürdigerweise über der Rüstung, von den gepanzerten Schultern bis hinab unter die Beinschienen, einen rotseidenen Schlafrock trägt, unter welchem die gepanzerten Füß hervorlugen; und fast möchtest du glauben, er schaut dich an, dieser dritte Tote, aber dann erkennst du, unter dem offenen Visier, seine Augen sind lang schon verwest in ihren Höhlen.

»Pargfrider?« frag ich.

»Wer sonst«, bestätigt Grinberg. »Wer sonst konnte es gewesen sein. Und ich denk, was für eine Einbalsamierungsarbeit, bei allen dreien! Nicht ganz so gut wie bei dem Genossen Lenin, aber der wird ja auch dauernd erneuert. Und denke, kein Wunder, Pargfrider konnte sich’s leisten, schließlich hat er die Armeen der beiden Feldmarschälle beliefert, unter denen er sich hat placieren lassen zur letzten Ruh, und muß sich gehörig bereichert haben an den Kriegen, welche sie führten.«

Grinberg wartet, bis er annehmen kann, daß ich seine Schilderung bis ins letzte dramatische Detail begriffen habe und bereit bin für den Clou, den er noch in petto hat; dann erst redet er weiter, und erzählt, wie erleichtert, ja erlöst Petruschkin zu sein schien, daß die Schatten in dieser Unterwelt nicht irgendwelche Gespenster waren, die mit kalten Händen ihm nach der Gurgel griffen, oder gar ein Trupp versteckter Deutscher, der aus dem Hinterhalt auf ihn schoß; und in dem Übermut, der ihn ergriff, habe der Oberst sich an den Toten herangeschlichen, nah und immer näher, und ihm mit frech erigiertem Zeigefinger an die lange, krumme, wie von Pergament überzogene Nase gepiekt.

»Und in dem Moment«, sagt Grinberg, »löst sich der Helm mitsamt dem Kopf darin vom Halse Pargfriders und klirrt auf den steinernen Boden, wie eine Kanonenkugel, von dem Toten selber gefeuert, und rollt noch ein Stück, und Petruschkin und der Sergeant und der Rest wenden sich ab in panischem Schrecken und tappen die glitschigen Stufen hinauf und sind verschwunden.«

Er trinkt. Fast seh ich ihn vor mir, den kleinen Leutnant Grinberg, allein gelassen mit dem kopflosen Ritter Pargfrider in dem dumpfen Dunkel, und nur die Taschenlampe in der Hand, an die er sich halten kann, und frag ihn, »Und du, Wolodja?«

»Ich hab den Schädel genommen«, sagt er, »mit den paar Haaren darauf, die ihm verblieben waren und der roten Samtkappe, die er merkwürdigerweise aufhatte, und hab ihn dem Pargfrider zurück auf die Schulterknochen gesetzt, und ihm den Helm über Schädel und Kappe gestülpt und das Ganze dann festgebunden mit einem Fetzen Leinwand, ein Stück Armeelieferung vielleicht von damals noch, das ihm einer in den Sarg gelegt als Muster fürs Jenseits und das jetzt ein Halstuch besonderer Art geworden, und bin dann, Stufe um Stufe und sehr nachdenklich, nach oben gestiegen ans liebe Tageslicht.«

Dort, fährt er fort, habe er Petruschkin vorgefunden, schon wieder erholt von seinem Schrecken, und Petruschkin habe ihn beschieden, »Vergessen Sie nicht, Genosse Leutnant, unser kühnes Eindringen in die Grabkammer zu erwähnen, wenn Sie Ihren Rapport schreiben an den Stab über den Sieg der glorreichen sowjetischen Armee bei Klein-Wetzdorf, und daß wir in keiner Weise uns haben imponieren lassen von dem Totenkult der Bourgeoisie, dem dekadenten.«

*

Einige Zeit schon hatte ich den Offizier mit den breiten Epauletten auf den Schultern und den prächtigen Ordensspangen auf der Brust bemerkt, der sich leicht schwankend hinter Grinberg aufgebaut hatte und mißtrauischen Auges mich einzuschätzen suchte. Grinberg schien seine Gegenwart nun auch zu fühlen, wandte sich um, sprang auf und stellte vor, »Oberst Petruschkin, Sergej Nikititsch«, und, ohne auch nur einen Anklang von Ironie in der Stimme, »der Sieger von Klein-Wetzdorf.«

Ich erhob mich, nahm Haltung an und murmelte meinen Namen und Dienstrang. Dann redeten die beiden Russisch miteinander, von dem ich nur ein paar Brocken verstand; ihren Gesten entnahm ich, daß Grinberg berichten mußte, was ich in Wien tat und durch wen und wieso ich zu dieser Party gekommen war und worüber er, Grinberg, und ich miteinander gesprochen hatten; das Mißtrauen wich auch nicht aus des Obersten Blick, nachdem er großzügig verkündet hatte, wir sollten uns nicht weiter stören lassen, und sich endlich zu einer Gruppe von Offizieren seines oder sogar noch höheren Ranges zurückzog. Grinberg blickte ihm nach, bis er ihn wieder sicher in seinem tiefen Sessel placiert sah; erst dann vertraute er mir an, daß Petruschkin auch jetzt noch sein Vorgesetzter war, nur, da der Krieg vorbei, nicht mehr als Regimentschef sondern als Chefzensor; der Marschall, der die Front kommandierte, habe bei der Verteilung der administrativen Ämter in der sowjetischen Zone Österreichs geäußert, Stecken wir den Sieger von Klein-Wetzdorf in was Geistiges, da kann er den wenigsten Schaden anrichten.

»Ich hoffe um deinetwillen, Wolodja«, sag ich, »der Marschall behält recht.«

»Wieso? Was befürchtest du, Stjepan?«

»Petruschkin hat dich in seiner Macht«, sag ich.

Grinberg wird nachdenklich. »Vielleicht doch nicht so ganz«, erwidert er dann. »Vergiß nicht, ich hab den Rapport geschrieben an den Marschall. Und darin steht einiges Aufschlußreiche über den Sieger von Klein-Wetzdorf.«

»Was dieser aber auch gelesen haben wird«, gebe ich zu bedenken.

»Selbstverständlich.« Grinbergs Lachen klingt etwas gezwungen. »Aber er ist ein Goj, ohne Ohr für Zwischentöne, und ein halber Analphabet.«

»Das sind die Gefährlichsten«, sage ich und empfinde so etwas wie Angst um den Leutnant Grinberg. Und frage, ohne zu wissen, wieso der Gedanke daran mir gerade in dem Moment in den Kopf gekommen ist, »Und wie war das mit den alten Aufzeichnungen, den in Leder gebundenen – weiß dein Sergej Nikititsch davon, war er etwa sogar dabei, als du das Buch gefunden hast?«

Ich spüre, wie Grinberg, Punkt um Punkt, die Bilder und Ereignisse jenes Tags zu rekonstruieren sucht in seinem Gedächtnis. »Wir sind durch die Alleen des Heldenbergs gefahren, unter Bedeckung, und ich dachte, hier könnte der denkmalslüsterne Genosse Stalin sich noch ein paar Inspirationen holen für seine Monumente: welch schöner Naturalismus war hier praktiziert worden bei den epaulettengeschmückten Torsos mit den aufgeprägten Ordensschärpen – bis hin zu den Spitzen der Schnurrbärte und den beginnenden Glatzen über den Locken –, welch Präzision bei den Inschriften auf den Sockeln der Büsten, alles war da, Rang und Titel der Helden und Ort und Jahr ihrer Taten: da hatte einer gewirkt, der sich seiner Verantwortung bewußt gewesen war für die Authentizität der Großen der Geschichte; leider nur waren eine Anzahl der Büsten, ob durch die Auswirkungen dieses Krieges oder der letzten Winterstürme, von ihren Untersätzen gekippt und lagen im Staub – und ich sah zu meiner Überraschung, sie waren weder aus Bronze noch Gußeisen, sondern aus einer Art billiger Legierung, Zinkblech wohl, und hohl im Innern: war der Liebhaber der österreichischen Militärhistorie am Ende doch ein Geizkragen gewesen und hatte am Material gespart in der Überzeugung, daß der äußere Schein genüge, weil man selbst dem Tapfersten nicht unter die Haut schauen konnte. Und Petruschkin, der mich beobachtet haben muß, fragt: Warum zum Teufel lachen Sie, Genosse Leutnant?«

Grinberg rückt näher an mich heran, gießt sich nach und senkt die Stimme. »Ich gesteh«, sagt er, »die Frage des Kerls klang mir irgendwie bedrohlich. Vielleicht glaubte er, einer wie ich hätte kein Recht sich lustig zu machen über Helden, selbst die einer längst toten Armee, oder sein eigner Mangel an Heroismus im Angesicht des Ritters Pargfrider in seiner Gruft wurmte ihn immer noch – jedenfalls beeilte ich mich, Sergej Nikititsch zu versichern, eine hohle Büste sei immer noch besser als gar kein Denkmal und es käme auf den Geist an, der sich da ausdrückte; schließlich aber juckte es mich doch und ich blickte ihm ins Gesicht: Oder glauben Sie nicht auch, Genosse Oberst, daß manche von denen, die bei uns zu Haus herumstehen auf Straßen und Plätzen, nicht innen ebenso hohl sind wie diese hier in Klein-Wetzdorf?«

Dann trinkt er, bis das Glas leer ist.

»Wolodja«, sag ich, »du bist verrückt. Selbst ich, in meiner US-Army, würde so nicht reden zu einem Vorgesetzten, besonders einem, an dessen Denkvermögen ich meine Zweifel hab.«

»Petruschkin kann nicht funktionieren ohne mich«, sagt Grinberg. »Jetzt, in seinem neuen Amt, noch weniger als früher.«

»Eben deshalb«, sage ich, »würde ich vorsichtig sein.«

Ich schweige, damit er Zeit hat, sich seine Antwort zu überlegen; doch auch er schweigt. Schließlich sage ich: »Also war er dabei, als du das alte Buch gefunden hast.«

»Wenn du so willst – Petruschkin war im gleichen Raum, aber total mit sich selber beschäftigt. Wir waren, nach dem Obelisken, auf einem sonderbarerweise recht gut asphaltierten Weg die paar hundert Meter den Hügel hinab gefahren zum Schloß und inspizierten dort die Räume, hohe, weite Räume, angefüllt mit einem Gewirr von offensichtlich kostbaren antiken Möbeln und raren Kunstgegenständen, das Parkett ausgelegt in höchst dekorativen Mustern. Petruschkin hatte nur Augen für was er mitgehen lassen könnte als persönliche Beute, und erkundigte sich, wenn er stehenblieb vor einem der angestaubten Gemälde, Und von wem ist dies Bild, schätzen Sie, Grinberg, und das da von wem, und was glauben Sie, ist es wert, und in dem Schrank, das Porzellan, aus welcher Zeit stammt das, und ist es, auf Eid und Ehr, eine gute, wie nennt man das, Manufaktur, und das Silber, ist es auch echt, ja? –, und Empire, sagen Sie, Grinberg, was zum Henker ist Empire? Und ich erklär ihm, woher hätte er es auch wissen sollen, er stammt vom Dorfe und war hochgekommen in der Armee, nachdem die andern in den höheren Rängen, die Gebildeten, erschossen worden waren als Verräter zusammen mit dem Marschall Tuchatschewski oder krepiert in den sibirischen Lagern; und das Buch in seinem ledernen Einband lag da ganz unauffällig, und in einer Sekunde hatt ich’s verstaut in meiner Umhängetasche, ich weiß nicht, warum es mich so lockte, ich könnt ja erst später das Titelblatt lesen, Josef Gottfried Baron von Pargfrider stand da in altertümlicher Schönschrift, Seine Gedanken und Aufzeichnungen, und die Jahreszahlen, 1857–58.«

»Und du würdest es mir leihen?« frag ich ihn.

»Ich schenk’s dir«, sagt er. »Du kannst was damit anfangen, ich nicht.«

Ich würd ihm dafür zahlen, biet ich ihm an. In Scotch. Die beste Währung im heutigen Österreich, ließe sich in alles konvertieren. Eine ganze Kiste Scotch, aus dem amerikanischen Armeeladen. Sie besäßen ja alle keine Reichtümer in ihrer Roten Armee, und was für Gelegenheit hätte er schon, sich eine kleine Reserve zuzulegen?

Aber er wehrt ab. Zahlen, sagt er, ich, ihn zahlen für eine Gefälligkeit einem amerikanischen Kameraden gegenüber, das ginge ihm gegen die Ehre. Für ihn wär es genug zu wissen, daß sein Material mir nützlich sein würde für einen neuen Roman oder auch für eine Erzählung nur. Und erkundigt sich, wie lange ich noch in Wien bliebe, damit er das Buch mir bringen könnte.

Nicht lange, leider, sag ich, und sehe, daß die höheren Herren am andern Ende des Raums sich zum Aufbruch rüsten. Auch Petruschkin hat sich aus seinem Sessel gehievt. »Mußt du auch gehen, Wolodja«, frag ich, »zusammen mit ihm?«

»Ich muß nicht«, sagt er, »aber es wäre nützlich. Sergej Nikititsch sagt immer, als eigene Weisheit natürlich und nicht als Zitat eines bekannten Klassikers: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.« Und schlägt mir vor, »Am nächsten Mittwoch, um halb vier Uhr nachmittags.«

»Und wo?« frag ich und offerier ihm die Halle im Hotel Bristol, wo man mich einquartiert hat.

»Besser nicht.« Er schüttelt den Kopf; auch im Imperial, dem sowjetischen Hauptquartier, sei ein Treff wie der unsere doch etwas zu auffällig; und nennt mir statt dessen das Café Central, ein Café sei neutraleres Territorium.

Ich nicke. Das Café Central, wie der Name schon sagt, im Zentrum der Stadt gelegen, war zu der Zeit eines der wenigen Lokale, in welchen alliiertes Personal, Amerikaner, Sowjets, Engländer, auch ein paar Franzosen, natürlich überwacht von ihren jeweiligen Geheimdiensten, miteinander verkehren konnten; österreichische Zivilisten hielten sich zumeist fern.

Wolodja stützt sich auf meine Schulter, um aufzustehen von dem Sofa, auf dem wir beide gesessen haben; seine Beine tragen ihn zwar, scheinen aber Schwierigkeiten miteinander zu haben; doch ebenso unsicher wirkt Petruschkin, als der betont langsam an uns vorüberzieht, wobei er mir huldvoll zunickt, ohne seinem Leutnant auch nur die geringste Beachtung zu schenken.

Dieser hat sich inzwischen seine Kappe aufgesetzt, schief überm Ohr, viel zu schief, hebt die Hand zum Salut und ruft, »Hurra für Pargfrider!«

Es war, wie ich heute weiß, auf lange Zeit sein letztes Hurra.

*

Ich wartete, wie verabredet, auf Grinberg. Ich wartete seit drei Uhr schon, ich bin ein pünktlicher Mensch, und ziehe es vor, lieber selber zu warten als andere auf mich warten zu lassen.

Halb vier verstrich, der Zeiger kroch gegen vier Uhr. Zunächst tröstete ich mich, indem ich all derer gedachte, die hier, im Café Central zu Wien, schon gesessen und auf ihre Partner gewartet hatten – zum Schachspiel, zu Besprechungen, politischen oder geschäftlichen, zu Interviews, seltener, viel seltener schon zu kurzem Liebesgetechtel. Trotzki war hier Stammgast gewesen in seiner österreichischen Zeit, und als die Nachricht von der russischen Revolution am Ballhausplatz eintraf, so geht die Geschichte, lachte der Herr Außenminister, Czernin hieß er, Graf Czernin, Aber gehen’s, wer soll denn die gemacht haben, der Dr. Bronstein vom Café Central vielleicht? Auch Lenin, hörte man, hätte mehr als einmal Kaffee getrunken im Central und die Zeitungen studiert, allein oder auch in Begleitung eines Mannes, der bei der k. k. Polizei als sein Diener geführt wurde und der, später dann, unter dem Namen Stalin selbständig Geschichte machen sollte, gar nicht zu reden von den zahllosen Literaten und Journalisten, Hofmannsthal und Peter Altenberg und Karl Kraus und wie sie alle hießen, die hier ihre Zeit verbracht hatten, nütz oder unnütz; nicht daß die Räumlichkeiten und das Mobiliar des Hauses so behaglich und das verrauchte Halbdunkel über dem Ganzen so angenehm gewesen wären; wer wüßte schon, ohne ernsthafte Recherchen, zu sagen, weshalb gewisse Lokale in gewissen Städten zu gewissen Zeiten der Welthistorie ein gewisses Publikum an sich ziehen?

Nach über einer Stunde wurde das Warten mir lästig und ich begann zu überlegen, ob es sich lohnte, der Angelegenheit noch mehr Zeit und Gedanken zu widmen; vielleicht war der Band alter Notizen, den der Leutnant Wolodja Grinberg im Schloß Wetzdorf aufgestöbert hatte und den er dem Baron Pargfrider zuschrieb, doch nicht so interessant, wie er es mir dargestellt, und sowieso mochte die Geschichte von Pargfrider und dessen makabren Neigungen durch unser beider Trunkenheit an jenem Abend aus jeder vernünftigen Relation geraten sein, so daß er sich jetzt genierte, mir unter die Augen zu treten.

Andererseits aber, dachte ich, gab es auch genügend sehr ernsthafte Anlässe, die einen in einen militärischen Apparat eingebundenen Subalternoffizier wie Grinberg zwingen konnten, einen Termin zu versäumen, und er hatte einfach keine Möglichkeit mehr gehabt, mich hier im Café oder in meiner Dienststelle oder beim Portier im Hotel Bristol zu benachrichtigen. Womit mir sofort der Oberst Petruschkin, Sergej Nikititsch, einfiel, dem, vorausgesetzt er hatte Kenntnis davon erhalten, ein erneutes Rendezvous Grinbergs mit mir höchst bedenklich erschienen sein mochte.

Und gesetzt dies war der Fall, überlegte ich weiter, was würde Petruschkin unternommen haben, ein solches Tête-à-tête zu verhindern? Ein entsprechender direkter Befehl von ihm hätte ja schon genügt, aber der Mann war, nach Grinbergs Schilderung, ein Feigling, und Feiglinge vermieden direkte Konfrontationen; eher würde Petruschkin, folgerte ich, andere Stellen seiner Armee einschalten, geheime wahrscheinlich, und ich befürchtete plötzlich, daß, während ich im Café Central noch auf den armen Grinberg wartete, dieser bereits in eine weit weniger anheimelnde Atmosphäre geraten sein mochte. Und alles wegen Pargfrider und dessen morbider Heldenverehrung und meines – und Grinbergs – Leichtsinn!

Ich ließ mir einen Kognak kommen gegen den kalten Schauder, der mir auf einmal im Nacken saß, und beschloß, Grinberg noch eine Stunde zu geben. Es wurde eine der bösesten Stunden meiner Armeezeit. Die Phantasie eines Schriftstellers ist ja schon von Berufs wegen ausschweifend und farbig, und ich stellte mir die Situationen vor, in die ich Grinberg gebracht haben könnte, eine hochnotpeinlicher als die andere, und sah ihn bereits vor dem Militärrichter, angeklagt wegen Staatsverleumdung und Hochverrats und was noch, und degradiert und in Ketten auf dem Weg in die finstersten Teile der Sowjetunion, und die Aufzeichnungen des Baron Pargfrider, in ihrem alten Ledereinband, in den Schmutz getreten von irgendwelchen Soldatenstiefeln. Und da war nichts, absolut nichts, was ich tun konnte für ihn; wie und über welche Stäbe und mit welchen Argumenten hätte ich auch durchdringen sollen zu dem Wiener alliierten Kontrollrat wegen einer Intervention bei dem sowjetischen Marschall für einen kleinen Leutnant; außerdem würde morgen schon mein wackeliger offener Zweisitzer auf dem Flugplatz stehen, mich zurückzufliegen nach Bad Nauheim.

Schließlich entschloß ich mich zu einem stillen Stoßgebet zu unserm, Grinbergs und meinem, gemeinsamem Gott, Gott möge doch bitte eine schützende Hand halten über ihn, und zahlte meine Rechnung und ging.

*

Wenn mich einer fragte, was ich als die größte Leistung eines Menschen unsres Jahrhunderts betrachte, würde ich sagen: daß er es fertiggebracht hat, bis dato zu überleben. Welch Zähigkeit, welch Mut und Geist, welch innere Balance benötigt man schon, um die Gefahren auch nur eines einzigen Alltags zu bestehen; wie erst, um nicht hinabgerissen zu werden in den Abgrund von den tosenden Strudeln im Gefolge jener größeren Ereignisse, denen man gewöhnlich das Adjektiv historisch beiordnet.

Wladimir Dawydowitsch Grinberg, erfuhr ich zu meiner freudigen Überraschung fast auf den Tag genau fünfzig Jahre nach unsrer mißglückten Verabredung im Wiener Café Central, gehörte trotz meiner schlimmen Befürchtungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu der nicht allzu großen Schar dieser noch Überlebenden. Ich war nach Wien gekommen, um einen Vortrag zu halten, und saß in meinem Hotelzimmer, als das Telefon auf dem Nachtschränkchen läutete und eine Stimme sich meldete, deren Akzent in den entsprechenden Zellen meines Gehirns eine ferne Erinnerung wachrief, »Stjepan? Hier spricht Wolodja! Wolodja Grinberg!«

»Wolodja!« rief ich und, dies zwar ein Fauxpas, aber doch ein verständlicher, »Du lebst!«

»Ja«, sagt er, »etwas abgeschabt schon an den Ecken wie der Einband von dem Pargfrider-Buch, aber noch vorhanden. Du wirst ja auch nicht schöner geworden sein über die Jahre.«

Ich staune, daß er sofort wieder von Pargfrider redet nach so langer Zeit, und fange an ihm Fragen zu stellen, ein Durcheinander von Fragen: Wie’s ihm ergangen ist inzwischen und was mit dem Buch von dem Pargfrider sei, ob er’s noch habe, und warum er, Grinberg, an dem Mittwochnachmittag damals mich hat sitzenlassen im Café Central und was geworden ist aus dem Oberst Petruschkin, Sergej Nikititsch, und ob er, Grinberg, etwa in Österreich lebe oder jetzt erst aus Rußland gekommen sei, und wenn ja, wieso, und wie er herausgefunden hätte, daß ich auch in Wien bin dieser Tage und in welchem Hotel, und wann er Zeit hätte sich mit mir zu treffen, und wo, und er erregt sich und fragt zurück, weshalb ich wohl glaub, daß er mich angerufen hat, und schlägt vor, morgen, Mittwoch, wieder um drei Uhr dreißig nachmittags und wieder im Café Central; dort würde er mir Rede und Antwort stehen. Und fängt an zu husten, und sein Husten klingt mir nicht gut und ich frag ihn, ob er krank ist, und hoffentlich wäre es nichts Ernsthaftes, und er sagt, in seinem Alter ist alles ernsthaft, und in meinem wohl auch, und wie er seinem, und meinem, Gotte dankbar ist, daß der uns zusammengeführt hat noch einmal auf dieser Welt.

*

Zuerst erkannte ich ihn nicht. Ich sah nur, daß ein kleiner alter Jude, dessen zerknittertes, graues Gesicht auf einmal zu leuchten begann, mir quer durch das Café zustrebte.

»Stjepan!«

Ich stand hastig auf und eilte ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen. »Wolodja!«

Dann spürte ich, als wir uns küßten nach alter Soldatenweise, die Feuchtigkeit unter den weißen Stoppeln auf seinen Wangen. Und log, »Du hast dich kaum verändert!«

Er gab mir das Kompliment zurück, und ich brachte ein Lachen, das glücklich klingen sollte, zustande, und ganz allmählich begannen die Furchen sich zu glätten, welche die Jahre und das Leid ihm ins Gesicht gegraben hatten, und vor meinem Blick erschien das Gesicht des Leutnants Wolodja Grinberg, der ein jugendlicher Sieger gewesen war damals und voller Witz und Selbstvertrauen.

»Wodka?« fragte ich, nachdem wir uns auf der gepolsterten Bank niedergelassen hatten, die Kreuz und Hintern verwöhnte. »Oder Scotch?«

»Weder noch. Auch die Innereien sind nicht mehr, was sie mal waren. Ich werd einen Tee nehmen, wenn du gestattest.«

»Zwei Tee«, bestellte ich, und Kipferln, die er dankbar akzeptierte. Es ging ihm wohl nicht so gut, finanziell; sein Anzug sah abgetragen aus, ordentlich gepflegt allerdings, gebürstet und gebügelt; ich wartete, daß er zu erzählen anfinge, aber er schien nicht zu wissen, wo beginnen, und wartete seinerseits auf meine erste Frage.

»Fünfzig Jahre«, sag ich endlich, »es ist wie ein Wunder.«

»Ein Wunder«, nickt er, »daß wir noch leben, beide.«

»Hast es schwer gehabt, was?«

»Anderen«, sagt er, »ging es noch schlimmer. Und du?«

»Ich hab geschrieben«, sag ich. »Da ist die einzige Gefahr der Mangel an Bewegung.«

Er lacht. »Bewegung hab ich genug gehabt. Und in frischer Luft. Beim Holzfällen in Sibirien. Dabei könnt ich noch froh sein: Zehn Jahre haben sie mir gegeben, statt Erschießen wie sie gedroht hatten, und später noch mal zehn, zum guten Ende. Aber dann hat der Chruschtschow seine Rede gehalten auf dem Zwanzigsten Parteitag, und ich war einer von denen, welche sie danach entlassen haben ohne soviel wie ein, Pardon Genosse, und es wär nur ein kleiner administrativer Unfall gewesen; und sogar das Buch von Pargfrider hab ich wiedergekriegt, meine Kusine, die Eda, hat es aufgehoben die ganze Zeit, nachdem sie mich abgeholt hatten zum Verhör in die Lubjanka, und hat mir’s zurückgegeben, nachdem ich heimgekommen bin aus Sibirien, damit ich was hätt zum Verkaufen, hat sie gesagt, aber ich hab’s nicht verkauft, Stjepan, weil ich es dir doch schenken wollte an jenem Nachmittag hier im Café Central, woran ich allerdings verhindert war, weil der Schuft, der Petruschkin, den ich fälschlicherweise für nichts als einen Durák gehalten hab, mir in der Früh um sechs schon an jenem Mittwoch eine Order vom Armeestab hat aushändigen lassen, Abkommandiert in die Heimat, und einen Propusk für den Frühzug nach Moskau, Polsterklasse, bittesehr, nicht Viehwaggon, ich sollt noch nicht wissen, was sie vorhatten mit mir.«

Sein Atem kommt um so kürzer, je stärker die Erinnerung an die Ereignisse ihn aufwühlen, von welchen er spricht, bis ihn wieder der Husten schüttelt, der ihn schon gestern am Telefon gequält hat.

»Wolodja, Lieber« – ich streichle das flächige Muster der braunen Altersflecken auf dem Rücken seiner zerbrechlichen Hand – »jetzt bist du in Wien, und wir beide haben uns wiedergetroffen im Café Central, und die Vergangenheit ist vergangen.«

Er schluckt und blickt mich an, dankbar für den Trost.

»Und was«, sag ich, »hat dich nach Wien gebracht, alter Junge? Oder lebst du etwa hier? Und wie hast du erfahren, daß ich in Wien bin?«