Ich, Babett, 83 ... - Christine Swientek - E-Book

Ich, Babett, 83 ... E-Book

Christine Swientek

0,0

Beschreibung

Während einer Senioren-Kultur-Kaffeefahrt verliebt sich Babett spontan in ein kleines altes Holzhaus an einem See. Es erinnert sie an ihre Jugendträume von einem Hüttenleben mit Husky in Alaska. Daraus war nichts geworden, warum nicht jetzt mit 83 in einem kleinen Dorf Mecklenburg? Sie mietet das Haus und verbringt den Sommer dort. Sie versinkt in Erinnerungen und lässt alle Männer ihres Lebens Revue passieren, amüsant und frustrierend, eine bunte Sammlung bis hin zu ihrem fast 90-jährigen Jugendfreund, der ihr aus der Ferne noch immer zur Seite steht. Die Dorfbevölkerung begleitet die Initiativen dieser alten Frau, die jeden Tag in den kalten See steigt und einmal wöchentlich in die Kleinstadt fährt, um ihr Beerdigungsgeld unters Volk zu bringen. Bei Pannen und Misslichkeiten im Dorf macht sie sich nützlich, und jeder fragt, woher diese Alte eigentlich kommt. Man liebt sie und macht sie zum Maskottchen des Dorfes. Als sie im Herbst in Richtung heimatliche Stadtwohnung mit Zentralheizung, Badewanne und Fernsehgerät aufbricht, weiß sie, dass das der schönste Sommer ihres langen Lebens war.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 446

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nichts Irrtümlicheres als die allzu umgängliche Vorstellung, in dem Dichter arbeite ununterbrochen die Phantasie, er erfinde aus einem unerschöpflichen Vorrat pausenlos Begebnisse und Geschichten. In Wahrheit braucht er nur, statt zu erfinden, sich von Gestalten und Geschehnissen finden zu lassen, die ihn, sofern er sich die gesteigerte Fähigkeit des Schauens und Lauschens bewahrt hat, unausgesetzt als ihren Wiedererzähler suchen; wer oftmals Schicksale zu deuten versuchte, dem berichten viele ihr Schicksal.

Stefan Zweig

Ungeduld des Herzens

Inhalt

0. Abel

I. Die Hütte

II. Rückkehr nach Hamburg

III. Einzug

IV. Winter in Hamburg

V. Der große Sommer

VI. Der letzte Brief

0. Abel

Ab heute heiße ich Abel. Babett Abel. Vorhin, als der fremde Mann mich nach meinem Namen fragte, und vorhin, nachdem ich meine Hand an die Wand einer alten Hütte gelegt und gefragt hatte, ob ich die haben kann, also vorhin, als mein altes Leben begann, sich zu ändern, konnte ich meinen richtigen Namen nicht nennen. Der gehört der Vergangenheit an. Ab heute ist Zukunft.

Abel – der Name kommt nicht von ungefähr. Nicht, dass ich gerne erschlagen werden möchte, weil mein Rauch höher steigt als der meines Konkurrenten … wieso hat sich in ein paar tausend Jahren eigentlich nichts geändert? ... aber ich will endlich mal vorne stehen. Wenn nicht ohnehin, dann wenigstens im Alphabet. A-B. Noch weiter oben ginge es nur mit A-A, aber da ist mir so schnell nichts eingefallen außer einem See im Münsterländischen.

Ich habe schon als Kind in der Grundschule darunter gelitten, dass mein Name mit W-U begann. Ich gehörte dann immer zu den zwei, drei letzten und manchmal vergaß man uns da unten ganz, wenn es schon bei P wie Polenz zur Pause läutete.

Später habe ich geheiratet. Was hatte ich bekommen? Keinen liebenden Ehemann, der mit B oder D anfing, sondern einen Hurenbock, der Wagner hieß. Wenigstens ein Treppchen höher.

Also Abel. Und Babett? Das ist so schön altmodisch. Und es erinnert mich an eines meiner ersten Kinderbücher, in der die gütige Kinderfrau Babett hieß. Hingebungsvoll betreute sie das zarte, kränkelnde, Blut spuckende kleine Mädchen, das immer am Fenster saß, mit einer Decke über den Knien, und das auf die blühenden Almen und die schneebedeckten Berge schaute.

Bis es starb.

Also Babett Abel, und mein Leben beginnt neu.

Dunkel ist es hier. Und still. Kein winziger Lichtstrahl, kein winziges Piepsen, kein winziges Rascheln. Bevor ich die kleine Nachttischlampe gelöscht habe, habe ich mir meine Herberge genauer angesehen. Ein Zimmerchen von vielleicht sechs Quadratmetern, schräg von beiden Seiten, vorne Tür, hinten Fensterchen. Gott sei Dank ist es offen. Ich würde sonst einen Panikanfall bekommen. Blassrosa Tapete mit mattrosa Rosenranken. Senkrecht. Spitzengardinchen, Minitisch mit weißer Häkeldecke, Stuhl mit altrosa Häkelkissen. Das Waschbecken so klein wie ein Kochtopf für eine Person. Aber mit fließend warm und kalt Wasser.

Alles in allem eine Puppenstube. Das Bett, in dem ich liege, hat jedoch Normalmaße. Ich komme mir vor wie Schneewittchen bei den sieben Zwergen. Nur steht nicht fest, von wessen Tellerchen ich morgen essen werde.

Babett Abel. Die spleenigste Idee meines Lebens, falls ich je in meinen 83 Jahren eine spleenige Idee gehabt haben sollte.

Der Tag fing ganz normal an. Wie alle alten Leute, die sich durch ihre Tage langweilen, hatte ich mich für eine Tagesbustour angemeldet. Garantiert ohne Verkauf von Rheumadecken und Lotterielosen. Eher eine Kulturfahrt. Wie ich so was hasse. Ein ganzer Reisebus voller alter Weiber und nur ein mitgeschleppter Ehemann, der den Eindruck machte, als könne man ihn nicht mehr alleine zu Hause lassen.

Kaum waren wir aus Hamburg raus, stimmte der berufsvergnügte Reiseleiter „hoch auf dem gelben Wagen“ an, und alle dachten an den Bundespräsidenten, der sich mit diesem Lied unsterblich gemacht hatte. Hat ihm nichts genutzt. Er ist trotzdem tot.

Unterwegs dann eine Seenplatte, dann Kaffee mit wahlweise Käse- oder Wurstplatte. Dann große Kirche, dann kleines Museum. Die Kirche groß und kalt. Das Museum klein und kalt. Die Kirche, obwohl seit Jahrhunderten protestantisch, roch noch immer nach Weihrauch. Das Museum roch nach feuchtem Beton. Soweit.

Bei mir hat es erst geklickt, als wir nach dem Museumsbesuch zum zweiten Ausgang hochstapften, weil am ersten der Bus nicht so lange halten durfte.

Da habe ich sie gesehen. Meine Hütte. Mein kleines Haus im Wald am See. Mein Traum seit fünfzehn Jahren. War sie es wirklich? War es ein déjà vu?

Das kleine Haus im Wald am See war über Jahre wie eine Zauberformel gewesen. Sie umspannte meine Sehnsüchte nach einem eingeschneiten Blockhaus am großen Bärensee oder noch weiter nördlich, in dem ich mit meinem Husky lebte und darauf wartete, dass einmal monatlich das Wasserflugzeug vor meinem Steg landete, um Post und Versorgung zu bringen. Und das manchmal nicht kam, wenn widrige Wetterverhältnisse herrschten. Dann legte ich noch ein paar Scheite mehr in den Bollerofen, holte aus dem Anbau ein Stückchen vom Bärenschinken und zwei gefrorene Lachse, passte auf, dass der große Braune mich nicht sah, und lauschte in den Nächten dem Schneesturm.

Ich habe nie einen Husky gehabt und bin nördlich über die Nordsee nie hinausgekommen. Aber das kleine Haus … warum sollte es nicht auch woanders stehen? Ich habe mich erinnert. Es ist fünfzehn Jahre her, eine ähnliche Bustour mit alten Kolleginnen. Klassenfahrt haben sie es genannt. Schon damals waren wir hier, und ich hatte meine Hand an die warme Wand dieser Hütte gelegt. Und seitdem …

Ich habe dem Reiseleiter gesagt, sie müssten ohne mich zurückfahren. Ich würde bleiben. Ich musste ein Freiwilligkeitspapier unterschreiben, damit ich ihn später nicht wegen Altenaussetzung verklagen könne. Und dann fuhren sie schnatternd ohne mich ab. Ich trabte zur Hütte zurück und legte meine Hand auf die sonnenwarme Seite. Rau und still.

Wie lange ich dort gestanden habe, weiß ich nicht. Ich war bei meinem kleinen Haus angekommen. Nicht im Schnee, aber auch in Kanada und Alaska gibt es warme Tage. Und Mücken.

Ob er mir helfen könne, fragte plötzlich eine Männerstimme hinter mir.

Was das für eine Hütte sei?

Die gehört zum Museum.

Was da drin wäre?

Nichts. Die steht leer.

Was sie früher enthielt?

Das sei die Töpferwerkstatt des Meisters gewesen.

Und dann stellte ich die wohl verrückteste und folgenschwerste Frage meines Lebens:

„Kann ich die haben?“

Und der fremde Mann sagte, ohne mit der Wimper zu zucken:

„Ja.“

Und nun liege ich hier in der Puppenstube, weil es morgen noch viel zu bereden gäbe. Ich warte auf den Schlaf, der nicht kommt, weil alles so still und so dunkel ist.

I. Die Hütte

Es war noch eine Weile hin und hergegangen. Smalltalk. Sie konnte sich nicht mehr erinnern.

Die Hütte, ihre Frage und sein Ja hatten sie aus der Bahn geworfen. Ihr Gehirn rotierte. Ab und zu hatte sie das Gefühl, als drehe sich alles. Das ist nur der Blutdruck, dachte sie, mach' dich nicht verrückt. Du hast heute Morgen deine Tablette nicht genommen.

Irgendwann fragte der Mann etwas. Sie sah ihn irritiert an. Was wollte er? Er lächelte und sagte: „Wir hätten dann einiges zu besprechen, wenn Sie es ernst meinen. Unsere letzte Bimmelbahn fährt in einer Stunde ab Stadtbahnhof. Wenn es Ihnen recht ist, können Sie hier übernachten.“

Er sah sie fragend an.

„Hier?“ fragte sie entsetzt und wies auf die Hütte. „Ist denn hier was …?“

Er lachte. „Nein, die Hütte ist leer. Da müssten wir erst noch vieles herrichten. Aber Sie könnten bei Trude übernachten. Die hat zwei kleine Gastzimmer. Soweit ich weiß, sind die im Moment frei. Ist auch nicht teuer.“

„Äh … ich … ich weiß nicht.“

„Sehen Sie“, sagte er geduldig, „zum einen haben Sie die Hütte ja noch gar nicht von innen gesehen. Ich habe auch den Schlüssel nicht dabei. Und dann gäbe es einiges zu besprechen und zu planen. Dafür sollten wir uns Zeit lassen.“

Was er dachte, ahnte sie noch nicht einmal. So eine irre Idee! Steht da ein altes Weiblein, übriggeblieben und hinterlassen von einer Busladung anderer alter Weiblein und ist geradezu entzückt von unserer alten Bude. Da sollten wir erst mal drüber schlafen und sehen, wie es morgen bei Sonne und nach einem starken Trude-Kaffee aussieht.

Sie überlegt. Alles geht so schnell. Ein Leben lang habe ich von einem kleinen Haus im Wald am See geträumt, Kanada, Alaska. Vor fünfzehn Jahren habe ich erstmals diese schwarze Hütte gesehen, hinter der ein alter Buchenwald ansteigt und vor der ein See glitzert. Und nun finde ich sie wieder, die Hütte, von der ich immer wieder träumte und nicht mehr wusste, wo ich sie gesehen hatte. Kann ich die haben? Ja. Übernachtung, Planung. Für Alaska hätte sie länger gebraucht. Ach, Alaska!

„Jaja“, sagt sie schnell und weiß im Moment nicht so genau, zu was sie ja sagte.

„Ich ruf' Trude mal eben an“, sagt er und nickt ihr lächelnd zu.

„Geht klar, wir sollen jetzt gleich kommen. Sie ist noch im Garten, aber es geht in Ordnung.“

„Wie weit ist es?“ fragt sie und spürt die Müdigkeit in den Knochen. Sie ist seit zwölf Stunden auf den Beinen. Ohne Mittagessen. Ohne Mittagsschlaf. Ohne Nachmittagskaffee. Nur mit Adrenalin in den Adern und der Ahnung, dass sich hier etwas Zukunftsweisendes ereignet.

„Ist es weit?“ fragt sie noch einmal, und er hört ihre Erschöpfung.

„Nein, hier ist gar nichts weit. Wir messen unsere Entfernungen noch immer in Metern. Sehen Sie, hier wohnt Trude. Ihr altes Hexenhaus. Wir gehen hinten rum. Ich geh' mal vor, ja? Trude! Ich bringe Dir Deinen Gast!“

Die Antwort kommt aus den Tiefen des Gesträuchs: „Gut. Bring' die Frau schon mal nach oben. Das große Zimmer. Ich komm' gleich.“

Auch eine Form von Hotelrezeption, denkt sie. Hatte ich noch nicht. Hier dreht sich die Welt noch anders.

Oben angekommen öffnet Hans eine Tür.

„Das hier ist das große Zimmer.“ Er grinst. „Ich nenne es immer lieber das rosa Zimmer. Das andere ist noch kleiner. Wollen Sie sich erst mal frisch machen?“

Sie bejaht, bis ihr einfällt, dass sie für einen Tagestrip ausgerüstet ist – keine Zahnbürste, kein Nachthemd, keine frische Unterwäsche. Nichts. Ein kleines Stück Seife liegt auf dem Minibecken, Handtücher liegen dabei, sogar eine Packung Abschminktücher. Die sind das letzte, was sie braucht. Notfalls werden sie zweckentfremdet.

„Die Toilette ist auf der anderen Seite“, ruft Hans die Treppe hoch, „wenn Sie fertig sind, können Sie gerne herunterkommen.“

Unten prallt sie mit einer Frau in bunter Kittelschürze zusammen. So eine hatte ihre Mutter früher auch. Die Frau hält ihr den Ellenbogen entgegen und sagt:

„Ich bin Frau Trude. Sie sind Frau Abel, hat Hans gesagt. Willkommen.“

Dann ruft sie in die Küche: „Machst du Abendessen? Gibt nur Brot und Butter und dann guck' mal, was in der Kammer ist. Gurken und so. ich muss nur eben die Hände waschen. Gehen Sie schon mal durch“, sagt sie zu Babett. So richtig begeistert über einen Übernachtungsgast hört sich das nicht an. Aber Babett lernt im Laufe der Zeit, dass das der übliche Umgangston mit Vertrauten ist. Und andere als Vertraute gibt es hier nicht.

Hans hat den Tisch gedeckt. „Ach, du bleibst auch? Kocht dein Mäuschen heute nicht?“

„Nein, mein Mäuschen ist heute Abend in der Stadt. Volkshochschulkurs. Aber du hast Gurken genug, um mich auch satt zu kriegen, oder?“

Das „Mäuschen“ hatte deutlich hörbar zwei sehr unterschiedlich Bedeutungen, findet Babett. Interessant.

Brot, Butter, eingelegte Gurken, Kürbis, Radieschen, zum Nachtisch Kirschen. Gut für die Verdauung.

„Gesund heute bei dir“, sagt Hans und zu Babett gewandt: „Alles aus dem Garten. Es fehlt nur 'ne Kuh, dann gäbe es auch Käse.“

„Musst du nächstes Mal selber mitbringen“, sagt Trude. „Übernachtung 18 Euro mit Frühstück. Das Abendessen heute geht aufs Haus.“

Was hatte Trude gesagt? 18 oder 80? 18 mit Frühstück? Naja, das Zimmer ist klein, aber …

„Hast du erhöht?“ fragt Hans.

„Ja, zwei Euro. Musste mal sein. Nach sechs Jahren. Man muss mit der Zeit gehen.“

Mehr wird nicht geredet. Keine Konversation, kein Informationsaustausch, keine Fragen. Weiß sie schon alles oder hat sie kein Interesse? Babett ist irritiert. Eine andere Welt hier alles in allem. Oder ein Hirngespinst?

Als sie aufwachte, konnte sie sich nicht orientieren. Wo war sie hier? Was machte sie hier? Rosa Blümchenzimmer und die Sonne voll auf ihrem Bett … sie schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Ein und aus. Als sie die Augen öffnete, war sie noch immer von Rosenrankentapeten umgeben. Was war das gestern gewesen? Bustour, Kirche, Museum. Und dann die Hütte. Ein Wiedererkennen. Ein fremder Mann. Und den hatte sie gefragt. Nein, das kann nicht stimmen. Das hatte sie geträumt, so, wie sie jahrelang vom kleinen Haus am See geträumt hatte. So was fragt man nicht.

Ich stehe jetzt einfach mal auf, dann wird sich alles klären, dachte sie.

Sie wusch sich mühsam über dem Waschbeckchen in Kochtopfgröße. Es war eine ziemliche Plemperei, aber sie fühlte sich erfrischt. Sie zog ihre Sachen von gestern an. Andere hatte sie nicht.

Alles war still. Draußen und drinnen. Sie schob die kleine Spitzengardine beiseite. Ein Garten. Ein Garten wie früher. Ein dejà vu? Sie kniff die Augen zusammen. Nein, es war ein Garten wie bei ihren Eltern damals. Satter Erdgeruch, Gemüsebeete, Beerensträucher, Obstbäume und eine überwältigende Blumenpracht. Zinnien, so lange nicht gesehen.

Herbstastern, jetzt schon? Es war doch noch August. Dahlien in jeder Form und Farbe. Und über allem eine nie gehörte Stille. Sie wanderte mit ihren Augen über die säuberlichen Wege. Nur festgetrampelt ohne Begrenzungssteine oder die entsetzlichen, über Jahre leer getrunkenen Weinflaschen, die mit dem Hals in die Erde gestopft wurden. Hinten glitzerte etwas. Sie sah genauer hin: Wasser. Der See? Dieser Garten endete am See?

Es war das Paradies ihrer Kindheit. Sie kämpfte mit Tränen und rief sich zur Räson. So wie sie sich ihr ganzes Leben lang zur Räson gerufen hatte.

Was mache ich denn nun, dachte sie. Es ist zehn Uhr vorbei. Diese Frau gestern Abend hatte was von Frühstück gesagt. Wie hieß sie noch? Trude. Aber nach zehn? Es rührte sich nichts im Haus und es duftete nur nach Garten, nach Erde, nach Blättern, nach Blumen … aber nicht nach Kaffee.

Ich geh' mal gucken, dachte sie. Vielleicht wache ich doch noch aus diesem Traum auf.

Auf dem Flur gab es noch ein Zimmerchen, zartgelb, das Fenster zur anderen Seite, auch auf Gärten und eine schmale Straße. Und ein Winzbad gab es. Mit größerem Waschbecken, mit schmaler Dusche und dahinter das WC. Alles sauber und glänzend.

In der Küche war niemand. Aber der Tisch war gedeckt. Sie stand davor und dachte, ich träume doch. Das ist wirklich wie bei den sieben Zwergen. Der Brotkorb war mit einer Stoffserviette abgedeckt. Stoffserviette mit Hohlsaum rundum und in einer Ecke mit einer gelben gestickten Blüte.

Wie damals, dachte sie. So was haben wir im Handarbeitsunterricht gemacht. Vor siebzig Jahren.

Vor dem Teller stand eine Karte. „Guten Morgen. Der Kaffe ist frisch in der Kanne. Milch ist im Kühlschrank. Bin nich da. Mus in die Stadt. Hans kommt später nach ihnen sehen. Guten Apetit.“

Derbe Schrift, Rechtschreibfehler und Herzlichkeit. Nein, ich träume nicht. Oder?

Als sie zwei Becher vom starken Kaffee getrunken und zwei Scheiben Brot mit selbstgemachter Marmelade gegessen hatte, wusste sie, dass sie sich in der Wirklichkeit befand. Und gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass gestern etwas Neues in ihrem alten, langweiligen Leben begonnen hatte. Sie empfand mehr Furcht als Neugier.

Während sie sich den nächsten Becher vollschenkte, hörte sie es an der Tür rumpeln. Sie erschrak. Jemand scharrte sich die Schuhe ab und murmelte etwas. Eine Männerstimme. Sie saß starr und atmete flach.

„Guten Morgen, Frau Abel“, rief er. „Ich bin's. Hans. Sie erinnern sich?“ Er lachte, kam zum Tisch und reichte ihr die Hand.

„Ist noch Kaffee da?“ fragte er, wartete aber keine Antwort ab, sondern schüttelte die Kanne, griff sich aus dem Küchenschrank einen Becher, setzte sich, goss Kaffee ein und lachte sie an.

„Gut geschlafen?“ fragte er. „Als Städter hat man mit dem Schlaf hier erst mal so seine Probleme. Zu still. Das geht mir immer so, wenn ich länger fort war. Dafür war es mir in der Stadt immer zu laut. Und zu stinkig. Aber man gewöhnt sich.“

Er rührte sich drei Löffel Zucker in den Kaffee und sah sie an. „Sie wollen also gerne unsere alte Hütte haben, erinnere ich mich da richtig?“

Erinnerte er sich richtig? Wenn er so fragte, musste wohl stimmen, was ihr seit einer Stunde durch den Kopf ging. Im Alter vermischt sich oft alles. So jedenfalls die ewige Furcht, nicht mehr richtig zu ticken. Aber diesmal stimmte es wohl. Sie nickte vage und nahm sich aus Verlegenheit noch eine Scheibe Brot, die sie dünn und in voller Konzentration mit Butter bestrich.

Vor 15 Jahren – ja, da waren sie im Kolleginnenkreis hier. Selbes Programm, Kirche, Museum, nichts Überwältigendes. Bis sie die Hütte sah. Sie stand unangetastet und schwarz und stoisch wie damals, wahrscheinlich wie schon vor achtzig oder hundert Jahren, als der Meister hier noch werkelte.

Alten Fotos nach zu schließen, muss das Museum mal klein und lauschig gewesen sein. Die Exponate dicht an dicht, die Beleuchtung schummrig und den Geist der Zeit vermittelnd, in der alles entstanden war.

Aber dann kam die Aufwertung des Ostens, dann die Aufwertung des ländlichen Raumes und dann die Gelder der EU. Was man kriegen kann, muss man haben. Auf Teufel komm raus. Und er kam in Form von Wasser, Wasser, Wasser. Die Werkstatt des Meisters mit seinem Schauraum hatte in einem kleinen Talkessel auf dem Sandboden der Gegend gestanden. Für den Neubau – spektakulär natürlich – war der Architekt in die Tiefe gegangen. Die unteren Räume waren in ein gewaltiges Betonbecken gebaut, dreihundert Meter Luftlinie von dem See entfernt, der sich um Beton nicht scherte, sondern sich fröhlich und ungehemmt nach starken Regenfällen in alle Richtungen ausbreitete.

Von unten nass und von oben heiß. Die obere Etage mit den Drucken und Blättern, unten standen die Skulpturen, lag unter einem prächtigen gewölbten Glasdach.

Hübsch ausgedacht. Preiswürdig. Jedenfalls als Modell im Architektenatelier.

Es war alles nicht stimmig gewesen. Solange nicht, bis sie aus der feuchtwarmen Talsohle nach oben gestiefelt waren und sie dort die schwarze Hütte gesehen hatte.

Sie stand angelehnt an den ansteigenden Wald, Fenster wie Augen, die Tür dazwischen wie in großer Mund. Rechts stieß die Eingangspforte zum Museumspfad an die Wand.

Aber das Beste war die Treppe gewesen. Sie war genauso breit wie das Haus lang war, von Seite zu Seite. Linkerhand hatte sie sechs klobige Stufen, rechterhand acht. Dazwischen das Gefälle - vom Wald zum See. Alles schien so, als sollte es den dritten Weltkrieg überstehen. Den zweiten hatte es schon hinter sich.

Seitdem hatte sie von einer Hütte geträumt, die sich an den Wald anlehnte und mit den Füßen im Wasser stand. Fast. Nur dreihundert Meter entfernt. Ein Badesee.

So etwas hatte sie sich ihr ganzes Leben lang gewünscht, seit ihre Mutter mit den Kindern aus dem Osten floh und von Ort zu Ort, von Wohnung zu Wohnung gezogen war.

„Sie erinnern sich?“ fragte er noch einmal, während er den Kaffee um und um rührte. „Sie hatten mich gefragt, ob Sie die Hütte haben können, und ich habe ja gesagt. Aber wir müssten das alles in Ruhe besprechen, wenn Sie noch wollen. Und jemanden für die handwerklichen Arbeiten hinzuziehen. Und deshalb habe ich Sie gestern Abend erst mal bei Trude untergebracht, damit Sie es überschlafen, und wir heute Zeit haben.“

Abends hatte er wegen dieser witzigen Begebenheit noch eine Auseinandersetzung mit seiner Frau gehabt, die immer gleich so penetrant grundsätzlich wurde.

„Stell' dir vor ...“ hatte er die Geschichte eingeleitet mit einer Mischung von Amüsement und Besorgnis. Seine Frau, gerade euphorisch wie immer aus ihrem Volkshochschulkurs heimkehrend, hatte ihn skeptisch angeschaut.

„Was ist daran so merkwürdig?“ hatte sie gefragt.

„Alles! Taucht da plötzlich so eine alte Frau auf und ist vernarrt in die Bretterbude. Ich weiß noch gar nicht, wie ich mich morgen verhalten soll, wenn ich sie wiedersehe. So tun, als ob nichts wäre? Oder ihr gleich sagen, dass das nicht möglich ist oder dass der Vorstand abgelehnt hat?“

„Wieso kannst du sie nicht einfach ernst nehmen? Und wieso hast du dich erst auf ein Gespräch mit ihr eingelassen? Und wieso hast du sie deiner alten Trude untergejubelt? Was sollte das denn? Hast du dir mit ihr einen Scherz erlaubt?“

Hans war irritiert. Er erzählte seiner Frau, die immer über die Ereignislosigkeit in diesem Dorf jammerte, endlich mal eine hübsche Geschichte, und sie wurde eklig.

„Nein, kein Scherz. Aber denk' mal an die Situation: Lehnt an der Wand der Bude und fragt, ob sie die haben kann!“

„Und warum hast du nicht nein gesagt?“

Hans überlegte. „Weiß ich nicht. Es war so spontan und so witzig. Eigentlich. Vielleicht habe ich gedacht, mal sehen, wie es weitergeht.“

„Ja, das siehst du jetzt ja. So geht man mit alten Menschen nicht um, Hans! Wie alt ist sie denn?“

„Keine Ahnung, ich hab' sie nicht gefragt. Aber siebzig bestimmt.“

Nach einer Pause fragte er zaghaft: „Und was soll ich morgen früh nun tun?“

„Weiß ich nicht. Ist allein deine Sache. Schlaf' drüber, vielleicht träumst du eine elegante Lösung, oder du nimmst sie ganz einfach ernst.“

Hält der mich für senil, dachte sie. Dann sollte er mir lieber nicht die Hütte überlassen, sonst hat er mich bald als Pflegefall am Bein.

„Entschuldigung“, sagte sie. „Ich bin noch nicht ganz wach. Ich habe so tief geschlafen, und das Koffein hat noch nicht gewirkt.“

„Das kenne ich“, sagte er. „Im Prinzip können wir uns Zeit lassen, aber ich habe das Museum schon offen und muss so langsam sehen, was da los ist. Kommen Sie mit, oder wollen Sie nachkommen?“

„Ich habe mir gestern den Weg nicht gemerkt“, sage sie, „ich komme lieber mit, damit ich mich nicht verlaufe.“

Er lachte laut. „Hier kann man sich nicht verlaufen. Auf dieser Seite vom Museum gibt es den Weg am See entlang, den Seeweg. Da sind wir gerade. Und dann parallel den Weg am Wald lang, den Waldweg. Verbunden sind die beiden in der Mitte durch den Nelkenweg. Auf der anderen Seit des Museums wird es schon komplizierter. Dort gibt es fünf Wege, Straßen genannt. Das hier ist der alte Teil des Ortes, die andre Hälfte der neue. Hier Knusperhäuschen mit Seegrundstück, dort richtige Häuser, sogar mit ein paar Stockwerken.“

Er stand auf, räumte das Geschirr in die Spüle, deckte das Brot zu, stellte die Milch in den Kühlschrank und sagte: „Das war sozusagen eine Führung durch unser Dorf. Mehr gibt es nicht.“

„Schließen Sie nicht ab?“ fragte sie, als sie durch die Küchentür in den Garten traten.

„Abschließen? Hier? Nee, hier schließen wir nicht ab. Noch nicht. Hoffentlich nie.“

Na, da spiele ich mit Sicherheit nicht mit, dachte sie, als sie neben ihm den schmalen Seeweg Richtung Hütte gingen. Ihre Hütte. Am Ende einer kleinen Stichstraße, die am Anfang des Waldes endete.

„Ich hole mal eben den Schlüssel.“, sagte er. „Sie kennen die Hütte ja nur von außen. Aber wenn Sie sie haben wollen, werden Sie ja wohl eher an ihrem Inneren Interesse haben.“ Sie setze sich auf die wuchtige Holztreppe. Sonnenwarm. Sie träumte von dem Leben hier am Rande von See, Wald und Zivilisation.

Wie war es gestern gewesen? Sie hatte ihn nach der Hütte gefragt.

„Kann ich sie haben?“

Als ob sie nach einem Holzstückchen gefragt hatte, das schön geformt war. „Kann ich es haben?“ Und der fremde Mann hatte gesagt:

„Ja, wenn Sie wollen.“

„Ja, ich will!“

Wie vor dem Standesbeamten, zu dem sie mit einem fremden Mann gegangen war, in den sie sich kurz zuvor auf der Straße verliebt hatte.

Sie betrachtete die Bäume. Hohe Buchen, sicher so alt wie diese Hütte, vielleicht so alt wie der Künstler heute wäre, würde er noch leben. Zur Mulde hin Birken und Erlen, die auf Sand und Nässe schließen ließen, aber weit dahinter – hinter dem modernen Dorf mit seinen fünf Straßen – noch einmal hoher Buchenwald. Und links der See, den sie nicht sehen aber riechen konnte.

Tagsüber werde ich hier auf der Treppe sitzen, dachte sie. Mit einem Buch und einem großen Becher mit Kaffee. Und wenn die Sonne hinter dem Wald untergehen wird, werde ich reingehen und mich in meinen gemütlichen Sessel setzen.

Plötzlich stand er vor ihr. Sie hatte ihn nicht kommen sehen.

„So, ich habe den Schlüssel. Ich setze mich einen Moment neben Sie. Ein Bus ist angemeldet, aber ich glaube, die Leute haben wieder Verspätung. Ich muss einfach hinsehen.“

„Gibt es in der Hütte eigentlich Strom?“

„Oh ja.“ Er lachte. „Sie ist technisch auf dem neuesten Stand. Eine Steckdose, ein Schalter, eine Strippe.“

„Und Wasser?“

„Wasser auch. Gleich neben der Tür. Kalt natürlich nur. Wasser brauchte er damals zum Töpfern.“

„Und eine Toilette?“

„Nee, die gibt es nicht. Da ging er wohl runter in die Trockenwerkstatt. Da müssen wir drüber reden. Da findet sich bestimmt eine Lösung. Ach, da ist der Bus. Moment, bin gleich zurück.“

Wasser und Elektrizität. Was will ich mehr? Das sind die Grundlagen der Zivilisation, damit werde ich schon klarkommen. Mehr als in Alaska. Da hätte es das Wasser aus dem See gegeben und acht Monate im Jahr aus geschmolzenem Schnee.

„Wir gehen jetzt rein“, sagte er. „Ach, übrigens, hatte ich mich vorgestellt? Hans, einfach nur Hans. Erschrecken Sie nicht, es ist sehr dunkel da drinnen. Die Holzwände sind innen genauso schwarz wie außen.“

Er schloss auf, sagte „ich gehe mal vor“, und sie folgte. Es war ein Schock. Dunkel trotz dreier Fenster, einer Tür und Sonne. Und es gab nichts. Vier Wände, Fußboden, Decke alles aus dem gleichen nachgedunkelten Holz. Was hatte ich erwartet von einer Hütte, die seit Jahrzehnten leer stand?

Als Hans sie ansah, ließ sie sich nichts anmerken. Think positiv, dachte sie. Der Schlachtruf der 80er Jahre, eine widersinnige Aufforderung. Aber es gelang ihr.

„Gute Luft ist hier drinnen“, sagte sie und Hans lachte.

„Das soll wohl so sein. Sind ja nur Bretterwände. Immer zwei Bretter gegeneinander genagelt. Mehr nicht. Nichts für den Winter. Im Sommer kann es heiß werden, aber nicht ganztags. Sie haben fast rundum hohe Bäume.“

Sie stand da und starrte. Ein altes, tiefes Emailbecken dicht neben der Tür. Eine Steckdose mit Schalter darüber, fertig. Mehr nicht.

„Da muss natürlich einiges getan werden“, sagte er. „Das ist hier sozusagen der Rohbau. Wollen Sie es sich noch einmal überlegen?“ Er dachte an das Gespräch mit seiner Frau. Ernstnehmen!

„Nein“, sagte sie bestimmt und fühlte sich sehr tapfer. „Nein, ich will sie haben.“

„Gut“, sagte er, „dann setze ich mich mit Willem in Verbindung, der macht hier alles. Moment mal.“

„Ja, ich bin's“, sagte er in sein Smartphone. „Ja, sie will. Du kannst nicht? Wieso? Ach so, erst in einer Woche. Und jetzt Vorbesprechung? Wir sind in der Hütte. Zwanzig Minuten. Ist in Ordnung. Wir warten.“

Das hörte sich an, als ob es schon vorbesprochen war. Dann redeten sie miteinander über sie, die Alte? Merkwürdig das Ganze. Aus der Zeit gefallen. Aus ihrer Zeit. Aber wollte sie nicht immer das Abenteuer? Muss ja nicht Alaska sein, für 83 Jahre reicht Mecklenburg.

„Wir können uns nochmal auf die Treppe setzen“, sagt Hans. „Da habe ich den Zugang und das Museum im Auge. Unten ist ein Mitarbeiter. Wenn was ist, ruft er mich.“

Als sie saßen, fragte er plötzlich: „Was wollen Sie hier eigentlich tun?“

Darüber hatte sie nicht nachgedacht. In ihren Gedanken an die Hütte, den Wald und den See hatte sie immer nur an Sein gedacht, nicht an Tun. Aber wenn er so fragte?

„Schwimmen, lesen, schreiben“, sagte sie – Wünsche an ein Leben, das sie so nicht gehabt hatte.

„Schwimmen“, sagte Hans. „Da sind Sie hier richtig. Unser Badesee ist unser ganzer Stolz und eigentlich der Mittelpunkt unseres Lebens im Sommer.“

„Und im Winter?“

„Wenn Sie Schlittschuhlaufen oder so was meinen, nein, er friert nicht zu. Ich erinnere mich jedenfalls nicht. Lesen, ja, das kann man hier in Ruhe und ungestört. In der Stadt haben wir eine Bücherei, noch von damals, aber modernisiert und ganz gut bestückt, und ein Buchgeschäft, klein, aber fein. Da können Sie sich versorgen.“

„Wie komme ich dort hin? Fahren Busse?“

„Wir fahren fast alle Auto, und wer keines hat, wird mitgenommen. Von den Alten und den ganz Jungen fahren einige Rad. Aber das geht nur querfeldein auf Holperwegen oder auf der Straße ohne Radweg. Und die Autos sind hier reichlich aggressiv, gerade Strecke, aber schmal. Wenn sich zwei Autos begegnen, wird’s eng. Auch noch von damals. Aber in der Stadt gibt es zwei Taxiunternehmen. Wie teuer die sind, weiß ich nicht, aber es ist ja nicht weit.“

Das wäre also schon mal geklärt. Man kommt hier weg. Notfalls. Und die Stadt hat einen kleinen Bahnhof, von dem kommt man noch mehr weg. Wegkönnen war eines ihrer Lebensthemen. Nicht eingesperrt sein. Ein stehengebliebener Fahrstuhl versetzte sie in Panik ebenso wie eine abgeschlossene Badezimmertür, in der der Schlüssel hakte.

„Und Sie wollen schreiben“, sagte Hans. „Wenn ich Ihnen mit meiner Frage nicht zu nahetrete – was schreiben Sie denn?“

O Gott, er fragt aber gezielt. Das weiß ich doch selber nicht, dachte sie. Das ist hier ja wie in der Psychotherapie, in der Verborgenes durch Fragen ans Licht des Tages gezerrt wird.

„Äh, ich habe so verschiedene Ideen“, sagte sie und sortierte hektisch. „Als erstes wollte ich unsere Familienchronik schreiben. Wir haben zwar keinen imposanten Stammbaum, aber es gibt einiges für die Nachwelt festzuhalten.“

Familienchronik, pah! Für wen denn? Erlebtes und Erlauschtes, und was vor dem Krieg war, wusste sie sowieso nur bruchstückhaft. Da war alles besser gewesen, und da waren wir noch in der Heimat … Aber sie hatte schon lange eine Aufstellung über 'alle Männer meines Lebens' machen wollen. Interessierte vermutlich auch niemanden, aber das Erinnern und Sortieren – chronologisch – wäre sicher amüsant. Auch wenn damals das meiste alles andere als amüsant gewesen war.

„Das finde ich toll“, sagte er. „Familiengeschichte gibt immer was her, auch ohne Adel und Militär. Es gibt so viele Anekdoten, die es zu sammeln lohnt … Im Übrigen muss ich Ihnen vorsichtshalber sagen, da wir hier schon Nägel mit Köpfen machen, aber ich muss erst noch den Vorstand fragen. Wollen Sie eigentlich kaufen oder mieten?“

Noch so eine Frage. Kaufen? Endlich ein eigenes Häuschen? Sie wollte doch in Hamburg bleiben. Und diese Hütte hier, eine etwas größere Gartenbude …

„Haben Sie Erben?“ fragte er indiskret.

„Ja, hab' ich“, sagte sie und war stolz darauf, einen Nachkommen benennen zu können und nicht als alte Jungfer dazustehen.

„Und die hätten noch … also ich meine … also später … die hätten Interesse?“

Junge, ich bin alt, und du kannst sicher sein, dass ich schon mal an den Tod gedacht habe. Also was soll das Geschwurbel?

„Nein, mein Sohn hätte sicher kein Interesse. Der wohnt in Bayern und seine Reiseziele liegen eher im Süden.“

„Also mieten“, sagte er bestimmt. „Ich werde es dem Vorstand vorlegen.“

„Und wenn die nein sagen?“

„Die sagen nicht nein. Das ist rein formal. Das Sagen habe ich, und die Damen im Vorstand sind froh, dass sie mich haben und ich alles regele. Aber sie wollen gefragt werden.“

„Wer sind Sie denn hier? Ich meine, was tun Sie? Welche Rolle spielen Sie?“

Er lachte. „Ich bin Mädchen für alles. Handwerker, Schließer, Fremdenführer, Billetabreißer, Aufpasser, Ausstellungsmacher, Museumsleiter, notfalls Putzfrau. Ich bin mein eigener Chef, die Nummer Eins, der Trottel, der Schuldige, wenn was schief geht ...“

„Eindrucksvoll“ sagte sie. „Ich glaube, da will jemand zu uns.“

„Ach ja, das ist Willem. Der andere Mann für alle Fälle hier im Dorf.“

Er stand auf und stellt sie einander vor.

„Das ist Willem, das ist Frau Abel. Sie will die Hütte.“

Willem sieht wenig vertrauenerweckend aus. Irgendwo zwischen fünfzig und siebzig. Schmuddeliger Blaumann, eingerissene Hosentaschen, schiefe Mütze, schiefe Augen, schiefer Mund. Im Mundwinkel ein kalter, nasser Stumpen. Er stinkt.

Er sieht sie scheel an und deutet ein Nicken an. Handgeben ist eher nicht angesagt.

Hans ergreift die Initiative. „Dann wollen wir mal. Du kennst die Hütte ja von Innen. Es geht jetzt darum, sie bewohnbar zu machen. Da brauchen wir deine Ideen und deine Tatkraft.“

O mein Gott, denkt sie. Da ist er ja gerade der Richtige. Der sieht weder nach Ideen noch nach Tatkraft aus. Ich kann ja immer noch nein sagen.

Was die Männer bereden, versteht sie nicht. Spricht man hier platt? Oder was? Egal, was Willem von sich gibt, ist ohnehin keine ausgeformte Sprache. Willem grummelt.

Hans zeigt hierhin und dorthin, erklärt, fragt, zeigt und Willem grummelt. Er kratzt sich am Kopf. Er schiebt den nassen Stumpen von links nach rechts und zurück. Hans, Willem, Hans, Willem … wo bin ich hier eigentlich gelandet? Mein kleines Haus im Wald am See menschelt auf eigentümliche Weise. Aber es stimmt schon … so eine tieftraurige, schwarze, leere Bretterbude war nicht ihr Traum gewesen.

Irgendwann scheint es so weit zu sein. Hans dreht sich zu ihr um und sagt:

„Sie haben wohl nicht alles verstanden. Es ist so: Das Wichtigste, sagt Willem, ist ein Klo. Sonst können Sie hier nicht leben. Wenn es regnet oder dunkel ist, ist der Weg runter in die Museumstoiletten nicht empfehlenswert. Willem sagt, zwischen Haus und Waldanstich ist ein Meter Platz. Da kommt das Klo hin, Biotoilette, hat Willem gesagt. Abwasser können wir hier nicht legen, ist zu teuer. Also Durchbruch der Wand hier an der Ecke. Bioklo etwas mit Brettern ummanteln wie eine kleine Bude und vom Zimmer aus eine kleine Tür. Alles klein und schmal, aber Sie sind ja auch klein und schmal. Willem meint, Sie müssten rückwärts rein, etwas gebückt und sich dann gleich setzen. Dafür können Sie dann vorwärts wieder raus. Durch die Tür. Tür auf, Tür zu. Fertig. Ich stelle Ihnen regelmäßig Gras und Holzspäne auf die Treppe. Da will Willem sich noch erkundigen. Das Gute ist, dass Sie bei Regen und Kälte nicht raus müssen. Kalt wird es aber sowieso sein.“

Abenteuer Alaska? Toilette mit Streu und daraus wird dann Kompost gemacht, um die Gurken zu düngen?

Hans wendet sich wieder an Willem. Willem kaut und grummelt. Hans – Willem – Hans – Willem …

„Gut“, sagt Hans, „er macht Ihnen an der Seite noch ein ganz kleines Fenster rein So wie 'ne Katzenklappe. Das reicht zum Lüften, ist ja sowieso alles nicht dicht.“

Er strahlt sie an. „Na?“

Sie strahlt zurück.

„Alles klar? Sie sind doch noch in einem Alter, in dem Sie nach draußen aufs Plumpsklo gingen, wo man als Kind nie rein wollte, weil es so kalt und so dunkel war und man Angst hatte, reinzufallen. Und dann die Ratten! Dagegen wird Ihr Kabäuschen hier eine Luxussanitäranlage. So und nun wollen wir weitersehen.“

Hans – Willem – Hans – Willem.

Die Männer konferieren weiter und sie stellt sich ihr Miniklo mit Gras und Streu vor. Nur gut, dass ich diesbezüglich keine Alterserscheinungen habe. Festfrieren werde ich auch nicht, im Winter gehe ich lieber in meinem beheizten Bad in Hamburg auf die Toilette.

„Aber sehr, sehr dunkel“, sagt Hans, ihre Klophantasien unterbrechend. „Altes Holz, nachgedunkelt, bestimmt älter als Sie.“

Was hat er immer mit meinem Alter, denkt sie.

„Aber Qualität und keine Holzgifte dran. Also Willem findet es auch sehr dunkel zum Wohnen. Er wäre bereit, alles außer der Decke in gebrochenem Weiß auszumalen. Und dann zu lackieren. Gibt'n tollen Ton, sagt Willem, strahlend, aber matt. Mattleuchtend, sagt er. Alle Wände von unten bis oben. Tür bleibt so, wird nur abgezogen. Fensterrahmen einmal überlackiert. Dunkelholz in strahlend weiß.“ Willem unterbricht. „Ach so, also nicht strahlend. Sieht aus wie Küche, sagt Willem. Gebrochen weiß.“

Ich glaub', ich hör' nicht recht. Das hat dieser schmuddelige Zausel vorgeschlagen? Hans scheint ihre Gedanken erraten zu haben.

„Willem hat einen guten Blick. Er hat viel Erfahrung. Hat sich weitergebildet. Zu Hause. Mit Einrichtungszeitschriften. Hat sich viel mit Altem beschäftigt. Wir hängen hier am Alten und wollen es erhalten. Was sagst du?“

„Er fragt, ob Sie die Bilder und Bücher von Carl Larsson kennen? Dem Dänen, oder ist er Schwede? War Maler und kaufte ein Haus auf dem Lande. Und immer, wenn seine Frau ein neues Kind kriegte, und die kriegte eine Menge, baute er ein Holzzimmer an. Mit Treppen drinnen und draußen, weil das Gelände zum See abfiel. Ja, wie hier, nur war alles auf seinem Grundstück. Er ist damit berühmt geworden. War in der Vorkriegszeit oder sogar vor dem vorigen. Und jetzt wird er wieder modern, sagt Willem. Die jungen Leute mögen das, wenn sie mit Kindern aufs Land ziehen.“

Er sieht sie an.

„Na ja, Alte vielleicht auch. Vielleicht nicht so romantisch. Aber Willem sagt, er fände das gleiche gebrochene Weiß wie beim Larsson gut, vielleicht einen Ton heller.“

Willem nuschelt was.

„Er sagt, da Sie ja bleiben, kann er morgen was anmischen und neben der Tür einen Probeanstrich machen. Er muss vorgrundieren und dann ein paar Mal drübergehen bei diesem dunklen Holz … Willem sagt was … ja, und vorher abschleifen, klar, aber damit Sie schon mal einen Eindruck kriegen. Wenn er heute Abend ein Stück abschleift und morgen fertig macht ...“

Sie will angesichts dieser handfesten Männer nicht überschwänglich werden. Das ist städtisch, und passt nicht zu ihrem Alter. Aber sie sagt und sieht dabei den scheel-zerknautschten Willem an:

„Das hört sich sehr gut an. Ja, ich würde mir den Probeanstrich gerne morgen ansehen. Ich kann es mir gut vorstellen.“

Willem nickt und sagt was.

„Er fragt, ob Sie gerne lüften und ob Sie bei offenem Fenster schlafen.“

Sie kriegt einen Schreck. Was bahnt sich denn da an? „Er meint, wenn Sie gerne bei offenem Fenster schlafen, also dieses hier vorne ist Drehkipp, bloß nachts nicht ganz aufstellen, dann würde er Ihnen ein Fliegengitter davor setzen. Feiner Stahldraht, abschließbar. Hier ist Sumpfgelände, fängt gleich hinterm Museum an und zieht sich bis zum See.

Und die Mücken sind das Vierfache von dem, was Sie von der Stadt gewöhnt sind.“

Mein Gott! Ich habe mir ein kleines Haus im Wald am See gewünscht, und du schickst mir lauter scheelguckende, aber fürsorgliche Engel. Sie nickt.

„Das ist eine gute Idee, danke!“

„Das ist keine gute Idee“, sagt Hans. „Das ist eine Notwendigkeit. Das haben wir hier alle. In jedem Zimmer mindestens ein Fenster.“

Er wendet sich zu Willem. Der nickt.

„Willem würde Ihnen auch ein Fliegengitter ins Klofenster setzen, sagt, das würde wohl nicht größer als ein Teesieb.“ Er lacht.

Sie sieht Willem an. Der hat einen Mundwinkel verzogen. Sie lächelt ihn an. Er sieht weg.

„War's das erstmal?“

„Die Kosten“, sagt sie, „wie viel wird es kosten?“

Die beiden Männer sehen sich an.

„Das hält sich bei uns sehr in Grenzen“, sagt Hans. „Wir wollen, dass Sie sich hier wohlfühlen. Aber noch eines, sagt Willem. Bevor er anfängt, muss geputzt werden, sonst hat er die ganze Farbe voll Dreck.“

Sie nickt. Klar … aber … äh …

„Willem sagt, das würde seine Frau machen. Die kennt das schon. Die weiß, wie sauber das sein muss, wenn Willem mit dem Farbeimer kommt. Die würde dann extra Geld kriegen, ein paar Euro. Oder ein paar mehr. Aber nicht so viel, wie Sie in der Stadt zahlen müssen. Geht aber alles unter der Hand, klar?“

Sie nickt. Wie auch sonst?

Die beiden probieren noch die Gängigkeit der Fenster aus, öffnen und schließen die Tür, rumsen sie zu, lehnen sie an. Sie scheinen zufrieden. Dann betrachten sie eingehend die Treppe.

Meine Kaffeebechertreppe, denkt sie.

Nach geraumer Zeit sagt Hans: „Die Treppe ist in Ordnung. Da machen wir nichts. Die muss nur geschrubbt werden. Das macht Erna, also Willems Frau. Sie müssen nur bei Nässe selber achten, da könne wir Ihnen nicht helfen. Holz wird glitschig.“

Er bringt Willem an die Eingangspforte. Sie debattieren heftig. Streiten sie? Sie klopfen sich auf die Schultern, dann kommt Hans zurück.

„Wir lieben hier die kurzen Wege. Sonst kommt doch nichts in die Gänge. Willem wird es alles so machen. Er ist sehr zuverlässig, und seine Erna ist hinter ihm her wie der Teufel hinter der armen Seele, wenn er nicht spurt. Wenn Sie mit ihr klarkommen, hilft sie Ihnen später vielleicht ab und zu.“

Er macht eine Pause und fügt entschuldigend hinzu: „Wir wollen hier niemanden ausnehmen. Aber hier sind alle froh, wenn mal ein paar Euro hinzukommen. Die Ost-Renten … Sie wissen ja. Also ich meine nicht mich, ich habe mein festes Gehalt. Und meine Frau auch. Aber Trude und Willem und Erna. Aber das können Sie selber entscheiden. Es wird Ihnen im Notfall jeder sofort helfen, und keiner wird was berechnen.“

Da bin ich hier für die Leute ein gefundenes Fressen, denkt sie. Eingefangen wie am Flughafen und in Touristenzentren im Maghreb. Einer schiebt mich zum anderen, und jeder verdient an mir. Ihr ist unbehaglich. So hatte sie es sich nicht gedacht. Sondern? Alles Quatsch, es hat niemand versucht, mir die Hütte aufzuquatschen. Es war meine Schnapsidee, und alle sind über die Maßen hilfsbereit. Mir scheint, ich muss umlernen. Umdenken.

„Ich muss runter“, sagt er, „da unten stehen ein paar Leute, die reinwollen. Was machen Sie jetzt?“

„Ich weiß noch nicht“, sagt sie und fühlt sich schon wieder gedrängt. „Mal sehen.“

„Ist gut“, sagt Hans und denkt daran, was seine Frau ihm jetzt schon wieder sagten würde.

„Dann bis später.“ Er lächelt sie an und rennt den Weg runter.

Sie setzt sich noch einmal auf die sonnenwarme Treppe. Jetzt hier einen Becher Kaffee in der Hand … aber das wird nicht mehr lange dauern. Stattdessen gucke ich mir den See an. Meine neue Heimat.

Sie war eingeschlafen und hatte wirres Zeug geträumt. Unten am Museum liefen noch Leute herum, aber die Sonne hatte sich schon hinter die hohen Buchen verzogen und flirrte durch das Blattwerk. Sie erhob sich mühsam. Die Treppe war hart, die Wand hinter ihr auch und ihren Gelenken fehlte schon die Schmiere. Jetzt zum See, dachte sie, und dann nach links den Seeweg. Das würde sie finden.

Der See war ein Traum in blau mit himmlischen Wolkengebilden und grün umschlossen von allen Seiten. Vorne die Badestelle mit rauem Gras, Natur, kein Schwimmbadflair. Linkerhand die letzten kleinen Häuschen vom Seeweg, alle direkt am Wasser, einige mit kleinem Steg. Rechts ein Maisfeld, noch nicht abgeerntet und gegenüber, weit, weit Felder, auf denen Erntemaschinen unterwegs waren. Aber sie waren so weit entfernt, dass nur ein leises Brummen zu hören war. In der Mitte ein langer Badesteg in den See rein.

Außer ihr war nur ein Pärchen auf der Wiese. Das war mit sich selbst beschäftigt. Sie zog Schuhe und Socken aus, krempelte die Hosenbeine hoch und machte den ersten Schritt in den See mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl. Mein See, dachte sie. Hier werde ich leben. Davon habe ich ein Leben lang geträumt.

Sie watete langsam, bis sie merkte, dass es plötzlich bergab ging. Sie blieb stehen. Und stand und stand. Der See hatte eine angenehme Kühle. So hat man früher Reitpferde ins Wasser gestellt und sie angebunden. Die überanspruchten Beine wurden gekühlt, und die Besitzer schworen auf diese Maßnahme. Die Pferde schienen auch nichts dagegen zu haben. Sie standen ruhig mit gesenktem Kopf und dösten. So wie ich.

Sie wusste nicht, wie lange sie so gestanden hatte. Als sie aus dem Wasser kam, war das Pärchen fort, und neben ihren Schuhen lag ein zusammengefaltetes Gästetuch.

Trudes Hexenhäuschen zu finden war kein Problem. Es war das vierte von der Badestelle aus, und es war das einzige mit einem kleinen Giebeldach. Dort wohne ich, dachte sie. Dort oben ist mein rosa Rosenrankenzimmer.

„Kommen Sie rein“, rief Trude, als Babett sich der Hintertür näherte. „Ich dachte schon, dass Sie kommen würden. Ich bereite gerade das Abendessen vor.“

Babett trat in die Küche, die erfüllt war von den Düften ihrer Kindheit, noch ein bisschen ländlich, aber schon mit einem Hauch städtischer Arroganz und einem Bus, der alle zwei Stunden ins Zentrum fuhr.

„Das riecht aber gut“, sagte sie, und Trude murmelte etwas, was sich anhörte wie 'muss ja'.

„Setzen Sie sich“, sagte sie. „Ich hoffe, es ist alles genehm. Ab heute kostet das Abendessen fünf Euro, wenn es genehm ist. Ich weiß ja nicht, wie lange Sie bleiben wollen, aber geben Sie mir bitte Bescheid. Sie können bleiben. In zwei Wochen kommt meine Tochter mit den Kindern, dann brauche ich den Platz oben.“

Babett setzte sich. Dicke Teller, große Suppenlöffel. Unter der Gabel eine gefaltete Serviette … mit Hohlsaum und Blümchen in einer Ecke.

„Oh“, sagte sie. Entfaltete das Tuch und bewunderte die akkurate Handarbeit.

„Noch von früher“, sagte Trude. „Muss ja mal gebraucht werden und nicht immer nur geschont. Die haben eine gute Qualität, die halten noch lange.“

Dann nahm sie Babetts Teller – das ist das alte Steingutgeschirr, dachte sie. Das hatten meine Eltern gleich nach dem Krieg auf Bezugsschein bekommen. Pro Person einen Teller und für die ganz Familie eine Schüssel dazu. Dick, gräulich und schwer. 'Fressnäpfe' hatte ihr Vater sie genannt. Aber was Anderes hatte es nicht gegeben.

„Gemüseeintopf“, sagte Trude. „Alles aus dem Garten. Sieben Gemüse müssen es sein, Kartoffeln nicht eingerechnet.“

„Und Wurst auch nicht“, dröhnte Hans von der Hintertür. „Ich hoffe, dass Frau Abel hier bei dir ist?“ Es hörte sich besorgt an.

„Hast du sie aus den Augen verloren?“ fragte Trude mit kleinem Spott. „Ja, sie ist hier. Willst du auch was? Dann setz' dich. Oder ist deine Frau heute mal zu Hause?“

„Meine Frau ist zu Hause, aber deiner Siebengemüsesuppe kann ich nicht widerstehen. Sie ist nur an einem Abend in der Woche weg.“

Er sagte es friedlich. Aber da liegt doch ein kleiner Konflikt, dachte Babett. Eifersucht? Doch nicht in diesem Alter? Aber dann sah sie sich die beiden an, Mitte bis Ende fünfzig – und wie war es damals bei mir? Alle Männer meines Lebens? Der letzte gehörte in diese Altersstufe. In ihre. Nicht in seine. Seine lag zwei Jahrzehnte niedriger.

Als die Siebengemüsesuppenteller ausgelöffelt waren, erhob Hans sich.

„Entschuldigung, ich muss dann doch mal. Danke für die Suppe.“

„Da nich' für“, sagte Trude. „Grüß' dein Mäuschen.“

„Mach' ich. Und wir sehen uns morgen nach Ihrem Frühstück“, sagte er an Babett gewandt. „Willem ist schon mächtig am Wirbeln. Ich bin auch gespannt.“

„Diese Männer“, seufzte Trude, „ernähren sich aus allen Schüsseln. Hier ein bisschen, da ein bisschen. Möchten Sie noch einen Schlag Suppe? Ich habe noch Grießbrei mit Sahne und eingeweckten Kirschen.“

Als sie im Bett lag, hatte sie ein Gefühl von Unwirklichkeit. Das war kein Heute, das war ihr Leben von vor siebzig Jahren. Im Erinnern schlief sie ein. Aber eigentlich hätte ich doch fragen sollen, wer das Handtuch neben meine Schuhe gelegt hat. Sie hatte sich damit die Füße abgetrocknet und es zusammengefaltet an der Stelle liegengelassen. Der Besitzer würde es zu finden wissen.

Der nächste Morgen war schon vertrauter. Ihre kleine rosa Dachkammer. Die Katzenwäsche überm Minibecken. Runter in die Küche. Dort war niemand, es lehnte auch keine Karte an der Tasse, aber es war vollständig gedeckt. Und ein Becher stand ihrem Gedeck gegenüber. Also würde noch jemand kommen.

Er kam. Sie hörte ihn schon von weitem. Er war präsent und ließ es alle wissen.

„Schon im Gange?“ rief er, aber es schien nicht ihr zu gelten. Aus dem Garten kam eine Antwort.

„Zucchini?“ fragte er. „Die sind durch. Warum hast du nichts gesagt. Es waren nicht viele dieses Jahr, aber ...“

Eine kritisierende Stimme.

„Trude, sei nicht so, ich hab' nicht dran gedacht. Tut mir leid. Willst du dafür lieber einen Kürbis?“ Er lachte laut und kam in die Küche.

„Schönen guten Morgen! Mein fast erster Gang des Tages führt zu Ihnen“, sagte Hans und lachte. „Aber es gibt auch noch viel zu regeln. Kaffee? Ach ja, da steht schon mein Becher. Trude weiß, was Männer brauchen.“

„Red' nicht so'n Quatsch“, sagte Trude, die mit erdigen Händen in die Küche kam. Das Guten Morgen ersparte sie sich, ist ja auch schon lange her. Aber diese Fremden, die muss man schlafen lassen. Städter verstehen nichts von der Natur, die früh erwacht.

„Was war das doch gleich mit den Zucchini? Was hast du gesagt?“

„Es gab in diesem Jahr nicht so viele. Und sie waren nur klein. Wir haben zwei- oder dreimal davon gehabt. Und deswegen habe ich nicht an Dich gedacht. Tut mir leid.“

„So ist es eigentlich nicht gemeint. Immer nur vom Überschuss, den man selber nicht braucht.“

Trude ist deutlich gekränkt. Was geht mich das hier eigentlich alles an, fragt sich Babett. Gehöre ich schon so sehr dazu, oder werde ich so missachtet, dass die Alltagsquerelen vor mir erörtert werden? Ich bin hier Gast. Zahlender. Und die zanken sich um Zucchini.

Hans scheint ihr Missbehagen zu fühlen. Er lenkt ein. „Wir teilen und tauschen hier alles“, erklärt er. „Jeder hat neben dem Üblichen auch was Besonderes. Das haben wir seit Jahrzehnten so gehalten. Das war früher lebensnotwendig. Wir waren weitgehend Selbstversorger. Schwierig war es nur mit Milchprodukten. Tauschwirtschaft wie vor Jahrhunderten. Bargeldlos mit 'ner anderen Bedeutung. Ist gut so …“

„Außer Zucchini“, wendet Trude nochmal ein.

„Jaa! Ich hab's verstanden. Nächstes Jahr! Ich schreib's mir in den Kalender.“

„Sag es lieber deinem Mäuschen, damit es auch klappt.“

Hans überhört diesen Hinweis.

„Diese Selbstversorgung ist ein hohes Gut. Man ist nicht auf Andere angewiesen und vor allem nicht darauf, was gerade der offizielle Markt hergibt. Und wir wissen, was wir essen. Nicht gespritzt, nicht gedüngt, nur Brennnesselsud und Komposterde. Deswegen sind wir hier auch so eigen mit Fremden.“

Babett sah ihn an.

„Nein, nicht so wie mit Ihnen. Sondern mit Leuten, die sich hier einkaufen wollen. Leute aus der Stadt. Sie wollen an den See. Nicht auf die Liegewiese, sondern mit eigenem Zugang vom eigenen Grundstück. Wir wollen wirklich keine Inzucht, wie man uns immer vorwirft, aber wir wollen die gesunde Selbstversorgungswirtschaft erhalten.“

„Und das geht mit neu Zuziehenden nicht?“

„Wenn man das vorher wüsste. Sie können einem vor dem Kauf den Jahrmarkt im Himmel versprechen. Aber wenn ihnen das Grundstück dann gehört, können sie machen, was sie wollen. Und die meisten, vor allem die Jungen, wollen keine Arbeit, sondern chillen. Das heißt Bäume fällen, Sträucher, Obstbäume, Johannisbeeren raus … und Rollrasen rein. Statt ihren Kindern zu zeigen, wie man frisches Obst heranzieht und erntet, gibt es Hüpfburgen und Planschbecken, Plastik, Plastik, Plastik ...“

„Du redest heute wieder wie 'ne Zeitung“, wendet Trude ein. „Soll ich nochmal neuen Kaffee kochen?“

Sie nicken.

„Ich will Frau Abel nur ein bisschen hier auf unsere Gemeinde einstimmen, damit sie Bescheid weiß, wenn sie hierherzieht. Was wollte ich noch sagen? Ach ja, diese neuen Leute mit unseren alten Gärten. Wenn wir nach getaner Arbeit zufrieden und müde reingehen, geht bei denen das Remmi-Demmi los. Grillen bis das ganze Dorf stinkt, Musik, lautes Gerede und Gelache, die übermüdeten Kinder drehen durch, und wir machen unsere Fenster zu, damit wir schlafen können.“

„So schlimm ist es doch nicht“, sagt Trude beschwichtigend.

Hans hat sich in Rage geredet.

„Oh doch! Schlimmer! Denk' an die beiden Grundstücke ganz vorne am Seeweg. Nacheinander verkauft, und schon begann der Ärger. Sie wollten abreißen, kriegten aber nicht die Genehmigung. Sie taten sich zusammen und terrorisierten einen Sommer lang die Anwohner, jedes Wochenende bis drei Uhr morgens. Dann gab es Ärger, weil sie einen Steg bauen wollten, den aber wieder abreißen mussten, weil es keine Uferbefestigung gab. Und so weiter, und so weiter. Was haben wir im Gemeinderat mit denen für Krieg geführt.“

„Ich erinnere mich. Aber es ist doch inzwischen still geworden, oder?“

„Ja, weil sich die beiden Neuen in die Flicken gekriegt haben und letztlich beide wieder wegzogen. Man muss eben vorher klären, wenn man was will, wenn man was ändern will. Wir haben ja nichts gegen Veränderungen ...“

„Nee“, sagte Trude, „aber sie müssen sich schon einfügen. Nur kommen und sagen, wir zeigen euch jetzt mal, wo es lang geht, ihr dummen Dorfleute, das geht nicht. So eine Entwicklungshilfe brauchen wir nicht.“

Trude schenkt frischen Kaffee in die Becher und sieht Babett an: „Nun aber mal was Anderes. Sie wollen also die Hütte?“ Babett nickt. „Das freut uns. Gerade weil Sie schon alt sind. Da gibt es keine Scherereien. Mit'm jungen Mann würden wir es nicht machen.“ „Nee“, lacht Hans. „Da würden wir bei jeder Mehltüte denken, dass es sein Stoffvorrat ist, den er unters Volk bringen will.“

„Haben Sie denn keine Angst, da so alleine im Haus?“ fragt Trude. „Wenn das Museum zu ist, ist weit und breit nichts. Und niemand. Und keiner hört sie, wenn Sie rufen.“

„Mal' den Teufel nicht an die Wand“, sagt Hans, „hier passiert nichts. Sie kann ja abschließen. Ich kann noch'n extra Sicherheitsschloss einbauen.“

„Ja, mach' das. Ich habe vorne jetzt auch eine ganz neue Schließanlage.“

„Du hast was? Ich lach' mich tot. Vorne eine teure Schließanlage, und hinten kommen durch die offene Küchentür die Mörder mit ihren langen Messern. Ich glaub's nicht.“

„Du brauchst gar nicht so zu lachen. Abends schließe ich ab. Doppelt. Und lass' den Schlüssel von innen stecken.“

„Ach Trude! So, Frau Abel, ich glaube, wir müssen mal. Willem wird schon warten mit seinem Probeanstrich. Ich bin gespannt, wie es Ihnen gefällt. Wenn Sie dann nichts mehr vorhaben, ich meine ein Fußbad im See oder so, dann fahre ich Sie zur Regionalbahn.“

„Überheb' dich nicht“, murmelt Trude und deckt den Tisch ab.

„Ich muss sowieso in die Stadt“, sagt Hans trotzig, „da ist es ein Abwasch.“

Trude dreht sich vom Spülbecken um. „Sag' mal, was du noch gar nicht gesagt hast vor lauter Sabbelei, was kostet die Hütte eigentlich?“

Babett ist konsterniert. Was geht das diese Frau an. Das ist eine Sache zwischen ihr und Hans oder dem Vorstand. Hans scheint Ähnliches gedacht zu haben.

„Das muss ich noch klären“, sagt er, und Trude murmelt: „Wer das glaubt!“