Ich bin viele - Dennis E. Taylor - E-Book
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Ich bin viele E-Book

Dennis E. Taylor

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Beschreibung

Bob kann es nicht fassen. Eben hat er noch seine Software-Firma verkauft und einen Vertrag über das Einfrieren seines Körpers nach seinem Tod unterschrieben, da ist es auch schon vorbei mit ihm. Er wird beim Überqueren der Straße überfahren. Hundert Jahre später wacht Bob wieder auf, allerdings nicht als Mensch, sondern als Künstliche Intelligenz, die noch dazu Staatseigentum ist. Prompt bekommt er auch gleich seinen ersten Auftrag: Er soll neue bewohnbare Planeten finden. Versagt er, wird er abgeschaltet. Für Bob beginnt ein grandioses Abenteuer zwischen den Sternen – und ein gnadenloser Wettlauf gegen die Zeit ...

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Das Buch

Kaum hat der erfolgreiche Jungunternehmer Bob Johansson seine Software-Firma verkauft und einen Vertrag über das Einfrieren seines Körpers nach dem Tod unterschrieben, da ist es auch schon vorbei mit ihm. Er wird beim Überqueren der Straße vom Auto überfahren. Als Bob hundert Jahre später wieder aufwacht, ist er geschockt: Er ist kein Mensch mehr, sondern eine künstliche Intelligenz, die noch dazu der Regierung gehört. Prompt bekommt er auch gleich seinen ersten Auftrag: Er soll als Schiffscomputer einer Raumschiffflotte neue bewohnbare Planeten für die Menschheit finden. Weigert er sich oder versagt er, wird er abgeschaltet. Für Bob beginnt ein grandioses Abenteuer zwischen den Sternen – und ein gnadenloser Wettlauf gegen die Zeit ...

Der Autor

Dennis E. Taylor war früher als Programmierer und arbeitete nachts an seinen Romanen. Mit Ich bin viele, dem Auftakt seiner neuen Romanreihe, gelang ihm schließlich der Durchbruch, sodass er sich nun ganz dem Schreiben widmet.

Mehr über Dennis E. Taylor und seine Werke erfahren Sie auf:

DENNIS E.

TAYLOR

ICH

BIN

VIELE

ROMAN

Aus dem Amerikanischen übersetzt

von Urban Hofstetter

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe WE ARE LEGION

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 08/2018

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Copyright © 2016 by Dennis E. Taylor

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe

und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,

unter Verwendung eines Motivs von tsuneomp/Shutterstock

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-22481-3V002

www.diezukunft.de

Ich widme diesen Roman meiner Frau Blaihin und

meiner Tochter Tina, die es geduldig ertragen,

wenn ich beim Schreiben meine

übergeschnappten fünf Minuten bekomme.

»Aber ich habe nun mal eine unauslöschliche Sehnsucht nach den entlegenen Dingen! Ich schwärme davon, auf unerschlossenen Meeren herumzufahren und an der Küste der Barbaren zu landen.«

Herman Melville, Moby Dick

ERSTER TEIL

01

Bob Version 1.0

»Sie … werden mir also den Kopf abschneiden.« Ich musterte den Verkaufsberater mit hochgezogener Augenbraue. Damit wollte ich ihn aus der Reserve locken. Ich wusste es, er wusste es, und ich wusste, dass er es wusste.

Er grinste mich an und war bereit, bei dem Spiel mitzuspielen, solange ich und mein Geldbeutel ihm unsere Aufmerksamkeit schenkten. »Mr. Johansson …«

»Nennen Sie mich doch bitte Bob. Sonst habe ich noch das Gefühl, dass Sie mit meinem Vater sprechen.«

Der Vertreter von CryoEterna – laut seinem Namensschild hieß er Kevin – nickte und deutete auf das große Plakat, auf dem der kryonische Prozess in allen grausigen Einzelheiten dargestellt war. Ich bemerkte seinen Armani-Anzug und den Hundert-Dollar-Haarschnitt. Anscheinend ließ sich mit der Kryonik Geld verdienen.

»Bob, es hat keinen Sinn, den ganzen Körper einzufrieren. Denken Sie daran, es geht darum, auf neue Behandlungsmethoden zu warten, mit denen man das kurieren kann, was Sie getötet hat. Sobald man dazu in der Lage ist, Ihre Leiche wiederzubeleben, wird es wahrscheinlich auch möglich sein, einen komplett neuen Körper für Sie wachsen zu lassen. Tatsächlich wird das sogar einfacher sein, als den alten wieder zusammenzuflicken.«

Das klingt derart verrückt, dass es wahrscheinlich genau so kommen wird. »Okay, Kevin, Sie haben mich überzeugt.« Ich warf einen Blick auf die Unterlagen, die er vor mir ausgebreitet hatte. »Zehntausend Dollar Vorschuss, jährliche Zahlungen, Versicherung …« Kevin wartete geduldig und ohne mich zu unterbrechen ab, bis ich die Informationen überflogen hatte. Mein plötzlicher Wohlstand war mir zwar ziemlich zu Kopf gestiegen, aber nach knapp einem Jahrzehnt als Ingenieur und Geschäftsinhaber war es mir in Fleisch und Blut übergegangen, immer zuerst das Kleingedruckte durchzulesen, bevor ich einen Vertrag unterschrieb.

Als ich das Gefühl hatte, nichts übersehen zu haben, unterzeichnete ich, stellte einen Scheck aus und schüttelte Kevin die Hand.

»Sie sind jetzt ein Kunde von CryoEterna Inc.«, sagte er und reichte mir eine Visitenkarte. »Lassen Sie die immer in Ihrer Brieftasche. Wenn Sie sterben, wird man uns kontaktieren. Und sobald Sie für tot erklärt sind, werden wir …«

»… mich köpfen.«

»Genau. Und Ihren Kopf einfrieren, bis die Medizin so weit fortgeschritten ist, dass wir Sie wieder zurückholen können. Die Erläuterungen, wie Sie Ihr Vermögen in einem Treuhandfonds anlegen, finden Sie in den Informationsbroschüren.« Kevin reichte mir einen dicken, leuchtend blauen Ordner mit einem dezenten Wolkenmuster. Auf dem vorderen Deckel prangte das Logo der Firma. »Die offiziellen Dokumente werden wir ausdrucken und Ihnen mit der Post nach Hause schicken. Willkommen bei CryoEterna.« Damit streckte er die Hand aus, und ich schüttelte sie erneut.

Als ich das CryoEterna-Verkaufsbüro verließ, machte ich einen kleinen Freudensprung. Der Treuhandfonds war längst eingerichtet, aber ich hatte Kevin nicht verraten wollen, dass ich mich bereits vor unserem Gespräch zur Unterschrift entschieden hatte. So einfach hatte ich ihm seinen Job nun auch wieder nicht machen wollen. Ich war mir nicht sicher, ob ich gerade eine besonders schlaue Investition in meine Zukunft getätigt hatte oder ob das Ganze eine unsagbar dämliche Geldverschwendung darstellte. Aber eigentlich war es mir egal. Die Kaufsumme, die Terasoft für mein IT-Unternehmen hinlegen wollte, würde mir bis an mein Lebensende ein gutes Auskommen ermöglichen – und nun auch darüber hinaus.

Ganz zu schweigen von meinem stark verbesserten Lebensstandard. Ich war von Anfang an jedes Jahr bei der Vortex SF-Convention in Las Vegas gewesen, aber dieses Mal gehörte ich nicht mehr zum einfachen Fußvolk. Während ich die zwei Blocks von der CryoEterna-Niederlassung zum Convention-Hotel lief, zog ich den VIP-Pass aus der Tasche und hängte ihn mir um den Hals. Mit diesem Ausweis genoss ich einige Vergünstigungen. So musste ich beispielsweise bei Autogrammstunden nicht in der Schlange warten. Außerdem durfte ich in verschiedene Lounge-Bereiche, hatte Anspruch auf reservierte Plätze in den Panels und noch vieles mehr. Für Jenny hatte ich das gleiche Ticket gekauft …

Und da war sie wieder. Ich hatte an die Frau, deren Name nicht genannt werden durfte, gedacht. Abrupt blieb ich mitten auf dem Gehweg stehen. Dabei handelte ich mir böse Blicke von den Leuten hinter mir ein und auch ein paar Beleidigungen von einem Möchtegern-Jedi-Ritter. Ich holte ein paar Mal tief Luft, um eine aufsteigende Panikattacke zu vertreiben. Diesmal dauerte es nicht lange, bis ich mich wieder gefasst hatte. Alles reine Übungssache. Diese Angstzustände befielen mich immer noch mehrmals am Tag, aber das war gar nichts verglichen mit der Zeit unmittelbar nach der Trennung. Es fühlte sich an, als hätte ich einen schmerzenden Zahn, den ich immer wieder mit der Zungenspitze betastete, obwohl ich wusste, dass es wehtun würde.

Ich riss mich zusammen. Worüber hatte ich doch gleich noch nachgedacht? Ach ja. Damit sich der VIP-Pass auch richtig lohnte, hatte ich einen Platz für ein paar unmittelbar aufeinanderfolgende Panels reserviert. Das erste mit dem Titel Die Erforschung der Galaxis würde in fünfzehn Minuten beginnen. Einer der angekündigten Redner war Lawrence Vienn, ein populärer und sehr umtriebiger Science-Fiction-Autor, der dem Genre mit vielen seiner Ideen neues Leben eingehaucht hatte.

Ein paar Minuten später war ich im Convention Center und hatte die Seminarräume gefunden. Die Offiziellen an der Tür hatten die VIPs bereits zu ihren Plätzen gebracht und waren gerade dabei, die anderen einzulassen, als ich keuchend und schnaufend auftauchte und mit meinem Pass winkte. Nach einem flüchtigen Blick auf mein Ticket führte mich einer von ihnen hinein.

Ich hatte zwar einen festen Sitzplatz, aber während ich in den Raum eilte, stand jemand direkt vor mir auf und ging hinaus. Als ich mich ohne zu zögern auf den freien Stuhl setzte, warf mir meine Sitznachbarin einen erstaunten Blick zu. Vielleicht dachte sie ja, ihr bisheriger Nebenmann wäre ein Gestaltwandler.

Ich drehte mich um und beobachtete, wie die Türen aufschwangen und das einfache Volk hereinströmte. Nach einer Weile ließen die Serviceleute am Einlass niemanden herein, um nicht den ZORN DES FEUERSCHUTZBEAUFTRAGTEN zu riskieren. Die Hotels in Las Vegas waren normalerweise mit guten Klimaanlagen ausgestattet – niemand wollte Konferenzteilnehmer, die abgelenkt waren oder sich unwohl fühlten –, aber viele der heutigen Besucher steckten bereits viel zu lange in ihren Kostümen. Ich versuchte, durch den Mund zu atmen, und hoffte, dass die Lüftung noch mit dem dichten Mief fertigwerden würde.

In typischer Convention-Manier hatten die Veranstalter wenig Wert auf Ästhetik gelegt. Die Tische und Stühle waren von der einfachen, zusammenklappbaren Sorte, und die Informationen über die Veranstaltung standen auf einem großen Whiteboard. Mit schwarzer Farbe. Bunte Stifte wären wahrscheinlich zu aufwendig gewesen.

Aber das war allen egal.

Der Moderator, ein kleiner, rundlicher schwarzer Mann mit Dauergrinsen bat um unsere Aufmerksamkeit. »Guten Tag, sehr geehrte Wesen. Heute werden wir einen Vortrag von Lawrence Vienn hören …« Spontane Jubelrufe zwangen ihn zu einer Pause. »… der uns erklären wird, welche technologischen und wirtschaftlichen Schritte erforderlich sind, um interstellare Sonden in den Weltraum zu schießen. Danach hören wir Dr. Steven Carlisle …« Erneut brandete Jubel auf. »… der über die Biologie außerirdischen Lebens sprechen wird. Wir freuen uns auf ein großartiges Panel. Aber genug von meiner Seite. Ich übergebe jetzt das Wort an Mr. Vienn.«

Auf seine Ankündigung folgte mehrminütiger Applaus. Lawrence wartete ihn geduldig ab und winkte hin und wieder ins Publikum. Schließlich endete der Beifall, und ich war gespannt, was er erzählen würde.

Ein paar Stunden später schnüffelte ich an meiner Kleidung, um sicherzugehen, dass sich der Geruch des Raums nicht darin festgesetzt hatte. Während des zweiten Panels hatte es sogar noch mehr gemuffelt als beim ersten. Wenn das Thema nicht so interessant gewesen wäre, hätte ich mich sofort verdrückt. Aber eine Diskussion über Von-Neumann-Sonden konnte ich mir einfach nicht entgehen lassen.

Ich beschloss, mich nicht umzuziehen, bevor ich meine Angestellten, die bald meine Exangestellten sein würden, zum Mittagessen traf.

Nachdem ich das Convention Center verlassen hatte, begab ich mich zu dem Restaurant, in dem wir uns verabredet hatten, und amüsierte mich über das Spektakel um mich herum. Science-Fiction-Conventions breiteten sich unweigerlich immer auch auf die Straßen der Umgebung aus. Überall spazierten Sturmtruppler, Chewbaccas und Crewmitglieder der Enterprise herum. Fantrauben verstopften die Gehsteige und überquerten die Straßen nicht nur dort, wo es Ampeln gab. Ich sah mehrere erhobene Mittelfinger und Gesten, die autoerotische Handlungen andeuteten. Was für ein Spaß! Die Fans verstopften rund um die Uhr die Straßen, aber das Servicepersonal in den Bars und Restaurants beschwerte sich nicht. Nerds gaben meistens zu viel Trinkgeld. Allerdings hatte ich gehört, die Casinobesitzer seien weniger glücklich über die Besucherfrequenz an den Spieltischen. Die meisten Nerds kannten sich eben mit Wahrscheinlichkeitsrechnung aus.

Ich schaffte es ins Restaurant, ohne irgendwelche Körperteile zu verlieren. Dort wartete bereits meine Gang auf mich.

»Auf Terasoft!« Carl erhob sein Glas.

»Auf Terasoft«, prosteten wir anderen zurück.

Carl, Karen und Alan waren meine ersten Angestellten bei InterGator Software gewesen. Sie waren mir während der harten Anfangszeiten treu geblieben, und ich hatte sie dafür zu Anteilseignern der Firma gemacht. Mein Programm für Engineering Design und Analysis hatte sich schließlich zum erfolgreichsten Produkt in seiner Nische entwickelt, und ab da konnten uns Konkurrenten wie Terasoft nur noch hinterherhecheln.

Daraufhin hatte Terasoft mit einem unfassbar hohen Übernahmeangebot reagiert, und nun würden wir alle von dem baldigen Geldsegen profitieren. Carl, Karen und Alan würden zwar vielleicht immer noch für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen, aber für Immobilien oder neue Autos würden sie von nun an bestimmt keine Kredite mehr aufnehmen müssen.

Ich hatte die drei auf meine Kosten zu einem einwöchigen Ausflug nach Las Vegas eingeladen. Allerdings hatte nur Carl sich von mir auch einen VIP-Pass für die Convention schenken lassen. Alan und Karen hatten sich darauf berufen, dass sie »doch nicht verrückt« seien. Stattdessen hatten die beiden geplant, sich jede einzelne Show anzusehen, die derzeit in Las Vegas lief. Da sie bislang mehrere Veranstaltungen pro Tag besuchten, schien es, als könnten sie es wirklich schaffen.

»Wie geht es dir, Bob?«, fragte Carl und sah mich forschend an.

»Ganz gut. Ich habe mich heute Morgen bei CryoEterna angemeldet …«

Karen brummte etwas und sah zur Seite. Es war gar nicht nötig, dass sie etwas dazu sagte. Sie hatte bereits deutlich zum Ausdruck gebracht, was sie von meinem Plan hielt.

Ich sah sie an und wackelte mit den Augenbrauen. »Und ich habe ein paar sehr interessante Panels besucht. Die Erforschung der Galaxis und Wie baut man eine Von-Neumann-Sonde?«

Alan lachte. »Warum überrascht mich das nicht? Ingenieure! Ach du meine Güte.«

»Aha, aber mich interessiert mehr, wie du dich fühlst, Bob«, hakte Carl nach.

Er hatte das Kunststück hinbekommen, für mich zu arbeiten und gleichzeitig mit mir befreundet zu sein, ohne dass es aussah, als kröche er mir in den Hintern. Daher hatte ich das Gefühl, Carl eine ehrliche Antwort zu schulden, anstatt so zu tun, als verstünde ich nicht, wovon er redete.

»Viel besser, Carl. Ich habe inzwischen nur noch ein paar ›Jenny‹-Anfälle pro Tag. Vielleicht schließe ich mich sogar bald schon wieder der menschlichen Spezies an.«

»Diese Frau war eine blöde Kuh«, murmelte Karen. »Du hättest das Angebot deiner Mutter annehmen sollen.«

Damit brachte sie mich zum Grinsen. »Meine Mutter weiß doch gar nicht wirklich, wie man einen Auftragskiller auftreibt, Karen. Glaube ich zumindest.« Ich zog mein Handy aus der Tasche und warf einen Blick auf das Display. »Da wir gerade von ihr sprechen: Sie hat mir eine SMS geschrieben. Ich muss sie später anrufen, sonst schickt sie mir eine Nachricht nach der anderen. In dieser Hinsicht ist sie ein bisschen wie der Terminator.«

»Dann ist es also doch etwas Genetisches!«

Ich tat, als müsste ich mich über Carls Kommentar schier totlachen, und er grinste mich an, ohne meinem Blick auszuweichen. Schließlich winkte er ab und wechselte das Thema. »Wie auch immer. Dieses Jahr bist du unter anderem hier bei der Convention, um dich von deinem Trennungsschmerz abzulenken, richtig? Also, wie waren die Panels?«

Karen stöhnte.

Ich beugte mich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Wirklich interessant. Dr. Carlisle vertritt die These, dass die Biosphären auf zwei verschiedenen Planeten recht ähnlich sein müssten, wenn auf beiden vergleichbare Klimabedingungen herrschen. Vielleicht könnten Menschen sogar verdauen, was auf so einem Planeten wächst. Panspermie, versteht ihr? Gemeinsame biologische Wurzeln.«

»Pferdekacke.«

»Nein, ernsthaft, Alan. Er hat ziemlich schlüssig dargelegt, warum eine universelle chemische Basis für das Leben vermutlich existiert. Natürlich ist es unmöglich, dass wir mit anderen Lebensformen so eng verwandt sind, wie Star Trek uns weismachen machen will, aber wir könnten in so einem außerirdischen Ökosystem vermutlich überleben.«

»Das glaube ich erst, wenn ich es sehe«, erwiderte Alan. »Und was war mit dem anderen Panel? Über Weltraumsonden?«

»Die Von-Neumann-Sonden, genau. Automatische Sonden, die sich selbst reproduzieren, während sie andere Sonnensysteme besuchen. Wie ich heute erfahren habe, sind Nanomaschinen mittlerweile out. Der letzte Schrei in Sachen Selbstvermehrung sind 3-D-Drucker.«

Carl nickte. »Ja, ja, der technische Fortschritt überholt wieder einmal die Fiktion.«

»Warte, was?«, fragte Alan und sah verwirrt aus.

Carl und ich grinsten ihn nachsichtig an. Alan war trotz seiner Ausbildung zum Softwareentwickler kein Wissenschaftsnerd. »Du hast doch schon mal 3-D-Drucker gesehen, oder?«, fragte ich ihn. »Diese Geräte, die Dinge wie Plastikteile, medizinische Prothesen oder Spielzeug ausdrucken können.« Alan nickte. »Gut, dann stell dir mal vor, wie es mit dieser Technologie weitergehen könnte. Wenn man sie so konstruiert, dass sie sämtliche chemischen Elemente miteinander kombinieren kann, ein Atom nach dem anderen, wären sie im Prinzip dazu in der Lage, jedes feste Objekt auszudrucken, für das du ihnen einen Konstruktionsplan einprogrammierst.«

»Zum Beispiel Bauteile, die man zu Sonden zusammensetzen kann«, fügte Carl hinzu. »Dazu könnten sie sämtliche Elemente verwenden, die sie in den jeweiligen Sonnensystemen vorfinden.«

Alan sah mich an. »Würde das denn funktionieren?«

»Du weißt, dass ich Physik im Nebenfach studiert habe, Alan, und ich halte das für vollkommen plausibel.« Ich nahm einen Schluck von meinem Bier und sah die drei nacheinander an. »Und was die Konstruktion anbelangt …«

»Du willst also wirklich deinen Kopf einfrieren lassen?«

Alle Blicke richteten sich auf Karen.

»War ja klar, dass das kommt«, murmelte Alan.

Karen starrte erst Alan an, dann mich. »Wenn sie dich wiederbeleben – falls sie dich wiederbeleben –, werden wahrscheinlich alle, die du gekannt hast, längst tot sein.«

»Einschließlich Jenny …«, sagte Alan leise.

Damit handelte er sich einen weiteren strafenden Blick von Karen ein. »Ernsthaft. Alle deine Angehörigen werden tot sein. Deine Freunde werden nicht mehr leben. Wie kannst du das wollen?«

Ich überlegte einen Moment, bevor ich antwortete. »Ich bin Humanist, Karen. Du weißt das. Ich glaube nicht an ein Jenseits. Wenn ich sterbe, habe ich nur die Wahl, mich wiedererwecken zu lassen oder für immer tot zu sein. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Dafür riskiere ich es gerne, nicht zu wissen, was mich erwartet, wenn ich aufwache.«

Karens Miene wurde sogar noch finsterer, und sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber zum Glück tauchte genau in diesem Moment der Kellner mit unserem Mittagessen auf. Während er die Teller vor uns abstellte, wehte ein Duft von Hamburgern, karamellisierten Zwiebeln und mit Essig übergossenen Fritten über den Tisch. Und als er ging, war die Anspannung bereits verflogen.

Auf den wenigen Metern zu meinem übergroßen Bett hinterließ ich eine Spur aus Schuhen und Kleidungsstücken. Der Übernachtungspreis für die Executive Suite war einfach lachhaft, aber allein die luxuriöse Matratze war das ganze Geld wert. Daran würde ich mich gewöhnen können. Oh ja.

Ich stellte den Wecker, um nicht den gesamten Nachmittag zu verschlafen, und hob mein Handy vom Boden auf. Meine Mutter würde tatsächlich nicht aufhören, mir Nachrichten zu schicken, solange ich sie nicht zurückrief.

Am anderen Ende klingelte es zweimal, bevor sie abhob. »Hallo, Robert. Ist es denn schon wieder ein Jahr her?«

»Haha. Hi, Mom. Ich habe deine SMS bekommen. Nein, du musst Wie-heißt-sie-gleich-noch-mal nicht für mich umbringen lassen, vielen Dank. Ich bin beim Vortex und habe eine tolle Zeit. Okay, mach’s gut.«

Sie lachte am anderen Ende der Leitung. Das war unser übliches Spiel. Ich gab mich ungeduldig und versuchte, das Telefonat zu beenden, aber wir wussten beide, dass ich erst auflegen würde, sobald es ihr passte.

»Mir geht es gut, Robert. Danke der Nachfrage.«

»Und den Moskitos?«

»Den Moskitos geht es auch gut. Sie vermissen dich und deine leckere nordische Haut. Gibt es in San Diego denn keine?«

»Nicht so viele wie in Minnesota, Mom. Das ist einer der Gründe, warum ich dort hingezogen bin.«

»Mhm. Und was treibst du so, mein Sohn? Mein Angebot wegen dieser namenlosen Tussi steht noch. Ich kenn da diese Jungs …«

»Danke, aber ich möchte dich nicht im Gefängnis besuchen müssen.« Ich seufzte. »Hör mal, Mom. Leute betrügen einander. Das passiert. Wir waren ja noch nicht verheiratet. Ich hätte es viel schlimmer gefunden, wenn es erst anschließend herausgekommen wäre. Mir geht es wieder gut. Ehrlich.«

Konnte man hören, dass jemand einem nicht glaubte, obwohl er oder sie kein Wort sagte? Vielleicht lag es an Moms Atmung. Was auch immer es war, ich hielt es für besser, das Thema zu wechseln. »Wie geht es den anderen?«

»Deinem Vater geht’s bestens. Er ist in der Werkstatt und versucht immer noch, diesen Schrotthaufen in Gang zu bringen. Andrea und Alaina sind übrigens gerade zu Besuch. Die beiden schauen wenigstens ab und zu mal bei ihrer armen alten Mutter vorbei. Andrea gibt mir ein Zeichen, dass sie dich jetzt zur Abwechslung mal ein bisschen auf den Arm nehmen möchte.«

»Okay, gib sie mir. Ich brauche dringend jemanden, der mein aufgeblähtes Ego vernichtet.«

Während meine Mom das Telefon an meine Schwester weiterreichte, hörte ich die beiden kurz gedämpft miteinander sprechen. »Hallo, kleiner Bruder.«

»Ich bin älter als du.«

»Das habe ich nicht damit gemeint.«

Ihre Stimme und unser traditioneller Wortwechsel brachten mich zum Lächeln. Andrea, Alaina und ich standen einander so nahe, wie es bei Geschwistern nur möglich war. Die beiden waren zwar zum selben Zeitpunkt zur Welt gekommen, aber man konnte kaum glauben, dass sie Zwillinge waren. Andrea überragte Alaina um gut dreißig Zentimeter und war außerdem, wie sie immer wieder betonte, drei Zentimeter größer als ich.

»Also, du reicher Schnösel, wie geht’s, wie steht’s im Silikon Valley?« Ich hörte ihr an, dass sie lächelte. Mit diesem Witz begann sie jedes unserer Gespräche, seit ich an die Westküste gezogen war.

»Es heißt Silicon, Andrea. Und das Valley ist bei San Francisco.«

»Ich schaue mir regelmäßig Sendungen auf TMZ an. Ich bleibe bei meinem Kommentar.«

»Autsch, von dem tut mir echt der Hintern weh …«

Andrea lachte. Wir tauschten noch ein paar Minuten lang Beleidigungen aus und brachten uns gegenseitig auf den neuesten Stand. Dann bat ich sie, Alaina und Dad von mir zu grüßen und legte auf.

Ich bin dankbar für meine Familie. Und genauso dankbar bin ich für die paar Tausend Meilen, die zwischen uns liegen. Immer wenn wir uns alle bei meinen Eltern trafen, hielt ich es meistens ungefähr eine halbe Stunde lang aus, bevor ich mich in den Keller verzog. Dad kam normalerweise zehn Minuten später nach. Dann verdrehten wir wortlos die Augen und lasen etwas oder sahen fern. Mein Dad und ich waren von Haus aus Einzelgänger. Wir konnten stundenlang im selben Raum verbringen und keine fünf Wörter wechseln. Dabei fühlten wir uns pudelwohl. Meine Mutter machte das verrückt.

Als der Wecker klingelte, schreckte ich hoch, sprang hastig aus dem Bett und schlüpfte in meine Klamotten. Später würde ich den Rest der Gang zum Abendessen treffen, aber zuvor wollte ich noch ein bisschen Zeit auf der Convention verbringen. Der Vortex dauerte drei Tage und war eine Wundertüte voller Verrücktheiten, von denen ich so viele wie möglich mitbekommen wollte. Schließlich konnte man nicht mit gutem Recht von sich behaupten, auf einer Science-Fiction-Convention gewesen zu sein, wenn man nicht von Farscape-Cosplayern über den Haufen gerannt worden war. Außerdem musste man mindestens von einem betrunkenen Darth Vader bedroht werden und irgendeinen lausigen Plastikfanartikel kaufen, der mehr kostete als ein vergleichbar schweres Stück Gold. Juhuuu!

Die Aufzugtüre öffnete sich, und ich trat in die Lobby hinaus, wo mir der Pförtner zunickte und die Tür für mich aufhielt. Ich wusste nicht, ob ich ihm etwas für seine Mühe geben sollte oder nicht, und nahm mir vor, ihn beim Auschecken sicherheitshalber mit einem großen Trinkgeld zu bedenken.

Sobald ich das klimatisierte Hotel verließ, traf mich die heiße Luft von Las Vegas wie ein Vorschlaghammer. Ich trat zur Seite und ließ ein Grüppchen aus Crewmitgliedern der Enterprise, ein paar Ferengi, zwei Chewbaccas und einen Sturmtruppler passieren. Sie waren laut, wirkten streitsüchtig und hatten anscheinend exzessiv dem terranischen Alkohol gefrönt. Nach einem kurzen, unzusammenhängenden Wortwechsel drehten sie sich um und überquerten die Straße mehr oder weniger gemeinsam.

Lächelnd schüttelte ich den Kopf und ging, statt ihnen zu folgen, die rund fünfzehn Meter bis zum Fußgängerüberweg. So eilig hatte ich es nun wirklich nicht. Als ich den Fuß auf die Straße setzte, hörte ich, wie jemand aufgeregt schimpfte, dann ein Hupen und quietschende Reifen.

Ich drehte mich in die Richtung, aus der die Geräusche kamen, und plötzlich schien alles in Zeitlupe zu geschehen. Ein Auto umkurvte die Gruppe, und die Lippen des Fahrers bewegten sich, während er etwas aus dem Fenster rief. Im nächsten Moment wandte er sich wieder nach vorne und sah mich direkt an. Seine Augen weiteten sich, und es quietschte laut, als alle vier Reifen blockierten.

Das kann doch nicht dein beschissener Ernst sein!

Dann ein Lichtblitz, gefolgt von einem Augenblick unvorstellbarer Schmerzen, bevor es um mich herum dunkel wurde …

Als ich erwachte, hörte ich Stimmen. Sie klangen forsch und zitierten irgendwelche Vorschriften. Im Hintergrund erklärte jemand, er und seine Kollegen hätten ein Recht, hier zu sein. Sie sagten etwas von einer Handlungsvollmacht, einem testamentarisch festgelegten letzten Willen. Irgendwer gab eine wütende Antwort. Näher bei mir erklang eine weitere Stimme, die ruhig den Todeszeitpunkt diktierte …

Dann wurden die Stimmen und das Licht schwächer. Es war das Ende der Welt.

02

Bob Version 2.0

Ruckartig kam ich wieder zu Bewusstsein. Die normale Übergangsphase, mit der ich vertraut war, wenn ich aufwachte, blieb aus. Ich erinnerte mich an das Auto, das auf mich zugefahren war. Wie seltsam. Eigentlich hätte ich diese letzten paar Sekunden doch vergessen müssen, da sie nicht genug Zeit hatten, sich in mein Langzeitgedächtnis einzuprägen. Andererseits waren das ja vielleicht gar nicht die letzten paar Sekunden gewesen.

Während ich reglos und mit geschlossenen Augen dalag, führte ich eine vorsichtige Bestandsaufnahme durch. Ich hatte keine Schmerzen. Genau genommen konnte ich meine Arme, die Beine und den ganzen restlichen Körper überhaupt nicht spüren. Es fehlten alle propriozeptiven Eindrücke, die mir normalerweise verraten hätten, ob ich bequem lag oder … was auch immer. Das war nicht gerade ein gutes Zeichen, und ich hielt es für wahrscheinlich, dass ich komplett gelähmt war.

Einen Moment lang befiel mich Panik, die jedoch gleich darauf von einer Art verwirrter Überraschung abgelöst wurde. Denn meine Panik schien sich allein auf geistiger Ebene abzuspielen. Ich hatte weder das Gefühl, beschleunigt zu atmen, noch dass mein Herz raste, und ich spürte auch keine Muskelanspannung, mit der sich mein Körper auf einen Kampf-oder-Flucht-Impuls vorbereitet hätte. Nichts von alledem. Zwar war ich generell eher ein verkopfter Mensch, aber das hier schien sogar für mich eine sehr vulkanische Reaktion zu sein.

Wow. Bin ich von der Stirn abwärts gelähmt? Vielleicht befinde ich mich ja in einem künstlichen Koma. Aber wenn das stimmt, ist es kein sehr tiefes.

Entschlossen öffnete ich die Augen.

Oder versuchte es wenigstens. Nichts passierte. Dieses Mal geriet ich tatsächlich in Panik. Die Vorstellung, blind zu sein, war für mich ein Albtraum. Ein paar Sekunden lang geriet mein Verstand außer Kontrolle. Ich dachte an Filme, die ich niemals sehen würde. Bücher, die ich nun nicht mehr lesen konnte.

Aber auch diesmal wurde mein Angstzustand nicht körperlich verstärkt. Ich spürte keinen Adrenalinrausch und auch keine anderen Symptome. Mir fielen keine Beschwerden ein, die sich so äußerten. Vielleicht stand ich unter Drogen. Dann musste das aber ziemlich starkes Zeug sein.

Allmählich nahm meine Panik erste Züge von Wahnsinn an, und ich beschloss erst einmal bei der Theorie mit den Drogen zu bleiben.

Da es mir wirklich wichtig war, die Lage in den Griff zu bekommen, versuchte ich noch einmal, die Augen aufzuschlagen. Ich malte es mir in Gedanken aus. Die Muskelbewegungen, das Gefühl, wie sich die Lider öffneten …

Und dann konnte ich sehen! Ganz plötzlich und erneut ohne jeden Übergang. Es lässt sich kaum beschreiben, wie erleichtert ich über diesen kleinen Erfolg war.

Es schien, als würde ich sitzen, da ich nicht die Decke, sondern eine Wand ansah. Der Raum schien ein Krankenzimmer, ein Labor oder ein unscheinbares Behördenbüro zu sein. Die Wände hatten diesen typischen Erstanstrich aller neuen Gebäude, einen speziellen grauweißen Farbton. In der weiter entfernten Wand war ein großes Fenster eingelassen, das im Moment von irgendetwas Weißem verdeckt war. Zuerst hielt ich es für eine Jalousie, aber sie schien direkt auf das Glas aufgedruckt zu sein.

Ich rechnete eigentlich damit, direkt vor mir einen Teil meines Körpers zu sehen, vielleicht unter einer einfachen Krankenhausbettdecke. Stattdessen blickte ich jedoch auf eine flache Ebene. Möglicherweise eine Tischplatte.

Gleich hinter dieser Fläche saß ein Mann und studierte einen Tablet-Computer. Er sah ganz ohne Witz genau so aus, wie sich die meisten Leute Sigmund Freud vorstellen würden, bis hin zu seinem weißen Laborkittel. Er kann nicht wirklich ein Psychiater sein. Das wäre doch zu viel des Guten. Ist er etwa gekommen, um mit mir über meine Verletzungen zu sprechen? Es muss ziemlich schlecht um mich stehen, wenn beim Aufwachen ein Therapeut auf mich wartet.

Aber irgendetwas an dem Mann war seltsam. Das Hemd, das er trug, sah beinahe wie das eines Priesters aus. Und seine Armbanduhr …

Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass ich ein Problem mit der Perspektive hatte. Der Raum kam mir tief und eng vor, und es sah aus, als würde Freud vom Hinterkopf bis zur Nasenspitze zwei Meter messen. Tatsächlich schien seine Nase, als er den Kopf drehte, ungefähr dreißig Zentimeter weit aus seinem Gesicht herauszuragen.

Noch während ich versuchte, mir auf diesen eigenartigen optischen Effekt einen Reim zu machen, hatte ich das Gefühl, als würde sich etwas verschieben. Ein surrendes Geräusch ertönte, und plötzlich stimmte die Perspektive. Doch bevor ich mich näher mit diesem Gefühl und dem Geräusch befassen konnte, sah Freud zu mir auf und lächelte. »Gut. Sie sind wach.«

Ich versuchte zu antworten, aber alles, was ich herausbrachte, war eine Mischung aus Husten und statischem Rauschen. Um Himmels willen, ich klinge wie ein Sprachgenerator mit Kurzschluss.

Freud legte das Tablet weg und beugte sich vor. Dabei stützte er die Arme auf den Schreibtisch oder was immer das für ein Möbelstück war. »Versuchen Sie es bitte weiter. Manchmal sind mehrere Anläufe nötig, bis sich das GUPPI-Interface verbindet.«

Während ich darüber nachdachte, was er gerade gesagt hatte, schossen mir sofort drei Dinge durch den Kopf. Erstens, ich war nicht tot. Naja, ich denke, also bin ich, bla bla. Diesen Punkt konnte ich also abhaken. Zweitens, ich war keineswegs so gut wie neu …

Tatsächlich schien es so, als spräche ich durch einen Stimmengenerator. Und zwar per Gedankensteuerung, was mich zu Punkt drei brachte – es musste große technische Fortschritte gegeben haben, seit ich von dem Auto überfahren worden war. Wie lange war ich ohnmächtig gewesen? Und was zum Teufel war ein Guppy-Interface?

Ich versuchte es noch einmal und konzentrierte mich darauf, die Wörter zu bilden. »Xzjjzzjjj … Möchte mir mal zhixxxjx erklären, was hier los ist?«

Freud klatschte in die Hände. »Ganz exzellent. Ich heiße Dr. Landers, Bob. Ich werde Ihnen alle Fragen beantworten und Ihnen helfen, sich auf Ihr neues Leben vorzubereiten.«

Neues Leben …? Was hat denn mit meinem alten nicht gestimmt? Mir gefällt überhaupt nicht, wo das alles hinzuführen scheint.

Dr. Landers zog das Tablet zu sich heran, bis es direkt vor ihm lag. »Also, Bob, was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern?«

»An ein Auto, das auf mich zugefahren ist. Ich habe fest damit gerechnet, dass es mich rammen würde. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es das auch getan hat.«

»Ganz richtig, Bob. Als Sie im Krankenhaus ankamen, befanden Sie sich in einem äußerst kritischen Zustand. Wegen des Vertrags, den Sie mit CryoEterna geschlossen hatten, standen bereits ein paar Angestellte der Firma mit einem Kryo-Behälter parat, als Ihr Tod festgestellt wurde.«

»Ach, gut zu wissen, dass ich mein Geld nicht zum Fenster rausgeworfen habe. Aber sagen Sie, welches Jahr haben wir?«

Dr. Landers lachte. »Es ist schön, mit einem Subjekt zu sprechen, das so schnell begreift. Heute ist der 24. Juni 2133, und wir befinden uns in New Handeltown, das zu Ihrer Zeit Portland hieß.«

Das überraschte mich. Dann sind es also … [117] Jahre. Moment mal, wo kam das denn her? Ich war schon immer gut im Kopfrechnen gewesen, aber normalerweise musste ich wenigstens die einzelnen Rechenschritte vollziehen. Diese Antwort war jedoch so plötzlich aufgetaucht, als hätte sie mir jemand ins Ohr gesagt. Schräg, aber damit beschäftige ich mich später. Das kommt auf meine To-do-Liste.

Ich konzentrierte mich wieder auf den Doktor. Sein komisches Hemd ergab jetzt ein wenig mehr Sinn. Natürlich hatte sich die Mode nach mehr als hundert Jahren ein wenig verändert. Die Uhr wollte ich mir trotzdem genauer ansehen. »Wer ist Handel?«, fragte ich.

»Ach, Bob, eins nach dem anderen. Wenn ich Kandidaten auf den aktuellen Stand bringe, folge ich einem genauen Protokoll, und die Geschichtsstunde hat noch nicht begonnen.«

»Dann sagen Sie mir wenigstens, was mit Old Handeltown passiert ist.«

Dr. Landers lächelte und schüttelte den Kopf.

Ich seufzte und nickte. Oder besser gesagt, ich versuchte zu nicken. Mein Gesichtsfeld bewegte sich nicht. Also konnte ich zwar meine Augen kontrollieren, aber nicht den Kopf. Allmählich kam mir der Verdacht, dass ich an einer Art Locked-in-Syndrom litt. »Na gut«, schnaubte ich. »Können wir dann darüber sprechen, wie viel an mir noch menschlich ist? Diese künstliche Stimme sagt mir, dass sie mich nicht völlig wiederhergestellt haben. Zu wie viel Prozent bin ich ein Borg? Sollte ich Sie um einen Spiegel bitten, oder wäre das eine schlechte Idee?«

»Äh …« Dr. Landers blickte auf sein Tablet hinunter und zögerte. Dann sah er wieder mich an. »Der Vergleich mit einem Borg ist nicht ganz korrekt. Wenn ich mich richtig an Star Trek erinnere, sind die Borgs zumindest zum Teil menschlich. Ich glaube, Mr. Data trifft es eher.«

Ich starrte ihn eine gefühlte Ewigkeit an. Mein Verstand war völlig leer. Es schien mir unmöglich, einen Gedanken zu fassen. Schließlich fand ich meine Stimme wieder. »Zhzzjjjz … Wie bitte?« Beiläufig fiel mir auf, dass ich immer noch keine Panikattacke erlitten hatte. Und zum ersten Mal glaubte ich zu wissen, wieso.

»Bob, Sie sind, was die meisten Leute als Künstliche Intelligenz bezeichnen würden. Obwohl das auch nicht ganz richtig ist. Sie sind eine Kopie des Verstandes von Robert Johansson, abgeleitet aus einem subzellulären Scan seines kryogen gefrorenen Gehirns. Die dabei gewonnenen Daten wurden in eine Computersimulation umgewandelt. Im Grunde genommen sind Sie ein Computerprogramm, das glaubt, es sei Robert Johansson. Ein Replikant.«

»Bedeutet das, dass ich unsterblich bin?«

Einen Moment lang sah Dr. Landers erstaunt aus, dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte. »Das ist nun wirklich nicht die Reaktion, die ich normalerweise erlebe. Offenbar haben wir die Verleugnungsphase komplett übersprungen. Ich habe immer mehr das Gefühl, dass es eine gute Idee war, Sie zu replizieren.«

»Also, äh … Danke. Dann bin ich … Das ist … Ist Bob noch am Leben? Oder noch tot? Ich meine, noch in Kryo?«

»Ich fürchte, nein.« Dr. Landers rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. »Die Aufzeichnung ist ein zerstörerischer Prozess. Wir müssen das Gehirn zunächst ausreichend auftauen, um ohne Eiskristalle die synaptischen Potenziale zu messen. Dabei kommen Chemikalien zum Einsatz, die das Gehirn abtöten. Es erneut einzufrieren, wäre sinnlos.«

Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag, fast als hätte ich ein stromführendes Kabel berührt. Ich weiß nicht, warum es mir so viel ausmachte, dass der ursprüngliche Bob tot war. Ich war doch ohnehin nur ein Computerprogramm. Trotzdem bestürzte mich die Vorstellung, das Einzige zu sein, was von Bob übriggeblieben war. Es fühlte sich an, als hätte mir jemand ein Messer in den Rücken gerammt. Man hatte mich – also Bob – weggeworfen.

»Aber … aber das bedeutet ja, Sie haben mich umgebracht!«

Der Doktor seufzte. »Und damit kommen wir zur Geschichtsstunde.«

Er machte es sich auf seinem Stuhl bequem, und sein Blick verlor sich in der Ferne. »Im Jahr 2036 wurde ein unfassbar dreister Fundamentalist namens Andrew Handel zum Präsidenten der USA gewählt. Ja genau, dieser Handel. Während seiner Amtszeit bemühte er sich nach Kräften, Nichtchristen für alle Zeiten aus politischen Ämtern zu verdrängen. Er versuchte auch, die in der Verfassung festgeschriebene Trennung zwischen Kirche und Staat aufzuheben. Da er aufgrund seiner religiösen Überzeugungen nominiert, unterstützt und schließlich gewählt worden war, nicht wegen seiner politischen oder wirtschaftlichen Kompetenzen, besetzte er naturgemäß so viele Posten wie möglich mit Personen, die ähnlich dachten wie er. In einigen Fällen ignorierte er dabei ganz unverfroren alle Gesetze und Gepflogenheiten. Er und seine Helfershelfer drückten zahllose rechtsextreme Positionen durch, ohne auch nur einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden. Und wenn ihm jemand die Folgen seiner Handlungen vor Augen führte, berief er sich darauf, dass Gott seine gerechte Sache schon nicht scheitern lassen würde. Letzten Endes zwang er die USA in die Knie und führte sie in einen wirtschaftlichen Kollaps, neben dem sich die Rezession von 2008 wie ein Picknick im Park ausmachte.« Dr. Landers tippte geistesabwesend auf dem Tablet herum. Es war offensichtlich, dass er diesen Sermon auswendig herunterbetete. »Bei der nächsten Wahl stimmte die Öffentlichkeit für Desmond Ahearn, den ersten – und einzigen – offen atheistisch auftretenden Präsidenten der USA. Seine Berufung war vor allem eine Reaktion auf die bizarre Amtszeit von Handel. Wie Sie sich vorstellen können, geriet die religiöse Rechte darüber komplett aus dem Häuschen. Im Jahr 2041 führten sie einen erfolgreichen Putsch durch, und daraus entstand die Free American Independent Theocratic Hegemony.«

Ich brauchte nur ungefähr eine Millisekunde, um zu erkennen, zu welchem Akronym sich das abkürzen ließ. FAITH. Glaube. Ich stöhnte. »Wie lange haben die wohl an diesem Namen herumgetüftelt?«

Dr. Landers runzelte die Stirn. »In der offiziellen Geschichtsschreibung werden weder Ahearn noch der Putsch erwähnt. Und Handel, so heißt es in den historischen Aufzeichnungen, wurde gewählt, um eine Theokratie zu errichten. Nur damit Sie es wissen, Bob, Kritik an der Regierung ist ein Kapitalverbrechen und wird mit, äh, Umerziehung bestraft. Das sollte man tunlichst vermeiden. Da Sie eine Maschine sind, würde man Sie allerdings nur deaktivieren. Ein Teil meiner Aufgabe besteht darin, Ihnen die rechte Denkart beizubringen, damit Sie ein guter Diener des Staates werden.«

»Bekommen Sie denn keinen Ärger?«, erkundigte ich mich. »Ein paar von Ihren Kommentaren scheinen, wie soll ich sagen, nicht gerade von großem Respekt zu zeugen.«

»Das Wahrheitsministerium, in dessen Ressort diese Unternehmung fällt, ist erstaunlich pragmatisch. Die Leute dort interessieren sich nur für die Resultate und haben uns garantiert, dass sie sich nicht einmischen, solange sie bekommen, wofür sie bezahlen.« Der Doktor verzog das Gesicht. »Ein paar der anderen Ministerien sehen das vielleicht anders. Daher sind wir immer vorsichtig, wenn uns Ministerialbeamte besuchen.«

»Verstehe. Also werde ich als guter Diener des Staates meine Tage damit verbringen, einen Müllwagen oder irgendetwas in der Art zu betreiben, richtig?«

»Ah ja, da Sie schon davon sprechen … Sehen Sie, eine der ersten Amtshandlungen der neuen Theokratie bestand darin, sämtliche kryonischen Einrichtungen für blasphemisch und sämtliche Eingefrorenen für wirklich tot zu erklären. Sie konfiszierten die Vermögenswerte der Klienten – all diese Fonds, die Sie und andere eingerichtet haben, um für Ihre langfristige Lagerung aufzukommen. Und zuletzt haben sie noch sämtliche Aktivposten der Kryo-Unternehmen versteigert, darunter auch ein paar tiefgefrorene Klienten ohne genauen gesetzlichen Status.«

»Sie haben uns versteigert? Wäre es aus christlicher Sicht nicht das Richtige gewesen, uns zu beerdigen? Nicht dass ich mich dafür im Moment wirklich starkmachen möchte. Aber Sie verstehen, was ich meine …«

Dr. Landers sah einen Moment lang fast wütend aus. »Haben sich die Gläubigen zu Ihrer Zeit stets logisch und vorhersehbar verhalten?«

»Der Punkt geht an Sie.« Ich versuchte zu verstehen, was der Doktor mir erklärt hatte. »Ich gehöre also jemandem?«

»Der Firma, für die ich arbeite, um genau zu sein. Applied Synergetics Inc. beliefert die Gesellschaft mit Robodienern. Und zwar in Konkurrenz zu einer Firma namens Total Cyber Systems. Wir verfolgen den Ansatz, Replikanten in Maschinen zu integrieren, während TCSrein Künstliche Maschinenintelligenzen, sogenannte KMIs, konstruiert.«

Ich kicherte. Oder versuchte es wenigstens. Was aus dem Sprachgenerator kam, war jedoch weit von dem Geräusch entfernt, das ich beabsichtigt hatte.

Dr. Landers verzog das Gesicht. »Darin werden Sie noch besser. Keine Sorge. Am Ende dieser Sitzung wird Ihre Stimme nicht mehr von der eines Menschen zu unterscheiden sein. Und um die unausgesprochene, aber naheliegende Frage zu beantworten: KMIs sind derzeit nur für sehr, sehr einfache Aufgaben mit geringem Risiko oder unter genauester Überwachung zugelassen. Vor ein paar Jahren erlitt eine KMI- Schädlingsbekämpfungseinheit in einem Einkaufszentrum einen psychotischen Zusammenbruch und beschloss, dass Menschen ebenfalls Ungeziefer seien. Dutzende von Besuchern wurden verletzt und einige getötet, bevor sie die Geräte schließlich abschalten konnten.«

Ich kicherte erneut. Diesmal klang es nicht mehr ganz so sehr nach einem Drucker mit Papierstau.

»Andererseits«, fuhr Dr. Landers fort, »sind Replikanten auch nicht besser im Multitasking als lebendige Menschen. Deswegen fügen wir ein GUPPI-Interface hinzu, um Aufgaben auszulagern. Ungefähr vier von fünf Replikanten werden verrückt, wenn sie herausfinden, was man mit ihnen angestellt hat.« Er sah mich mit einem schiefen Lächeln an. »Ganz zu schweigen davon, dass die meisten Kryo-Subjekte vor dem Tod wohlhabend waren und es gar nicht gut aufnehmen, dass sie ihr nächstes Leben in Knechtschaft verbringen werden.«

Die Vorstellung, wie irgendein ehemaliger CEO mitgeteilt bekam, dass er von nun an einen Müllwagen fahren würde, ließ mich laut auflachen.

»Daher haben wir manchmal Schwierigkeiten, den richtigen Replikanten für eine Aufgabe zu finden. Und ein gewisser Prozentsatz wird nach einer Weile ohnehin wahnsinnig.«

Das war ein ernüchternder Gedanke. Mich beschlich das ungute Gefühl, dass ich vielleicht auch noch in diesen Abgrund blicken würde. Im Moment kam es mir allerdings noch so vor, als würde all das jemand anderem passieren. An den Rändern meines Bewusstseins zupften Fragen nach der Einzigartigkeit eines jeden Menschen und der Existenz von so etwas wie einer Seele. Ich schob sie jedoch beiseite und beschloss, mich stattdessen auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.

»Achtzig Prozent Ausfallrate sind ziemlich übel, Doc. Wie können Sie sich im Geschäft halten?«

»Ein erfolgreiches Subjekt kann in vielen Einheiten installiert werden, Bob. Die meisten derzeit eingesetzten Bergbaugeräte werden von einem gewissen Rudolf Kazini gesteuert, der bereits zu Lebzeiten in einer Mine gearbeitet hat. Wichtig ist vor allem, dass die jeweilige Aufgabe zum Temperament des Subjekts passt.« Der Doktor zögerte einen Moment, ehe er fortfuhr. »Und natürlich entwickeln wir mehrere Kandidaten.«

Ich versuchte, meine nicht vorhandenen Augenbrauen zu heben, und ärgerte mich, als nichts passierte. »Heißt das etwa, ich habe Konkurrenten?«

»Nun, ja und nein. Für dieses Projekt haben wir fünf Kandidaten aktiviert. Statistisch gesehen, werden vier von Ihnen den Verstand verlieren und abgeschaltet werden. Wenn nach der Trainingsphase mehr als einer von Ihnen bei klarem Verstand ist, dann ja. In diesem Fall werden wir uns entscheiden müssen, denn bei diesem Projekt benötigen wir nur einen einzigen Replikanten.«

»Und der Unterlegene?«

Dr. Landers zuckte mit den Schultern. »Müllwagen. Oder er wird so lange eingelagert, bis sich eine neue Gelegenheit für ihn ergibt.«

Nicht gut. Gar nicht gut. Die Aussicht, verrückt zu werden, stand nicht gerade ganz oben auf meiner Wunschliste, aber die Vorstellung, dass ich dem Tod – mehr oder weniger – von der Schippe gesprungen war, nur um dann Sklavenarbeiten zu verrichten, war echt niederschmetternd. Aber abgeschaltet wollte ich auf keinen Fall werden. Offenbar befand ich mich in einem Wettbewerb, in dem es für mich um alles ging.

Ich würde diese Angelegenheit also sehr ernst nehmen müssen. Und davon ausgehen, dass die anderen Kandidaten ebenso geeignet für die Aufgabe bei diesem Projekt waren wie ich. Worum auch immer es sich dabei handelte. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als der Beste zu sein. Und dafür musste ich vor allen Dingen gut informiert sein. »Na gut, was ist das für ein Job?«

»In dieser Phase ist es wirklich nicht sinnvoll, bereits über solche Einzelheiten zu sprechen. Das wäre nur eine unnötige Ablenkung.«

Na, das war wohl nichts. »Können Sie mir dann wenigstens etwas über meine Konkurrenten erzählen?«

»Nein, Bob, dazu besteht kein Grund. Sie werden ihnen nie begegnen. Am besten fangen Sie gar nicht damit an, Menschen in ihnen zu sehen.«

Das ergab durchaus Sinn, wenn auch auf eine sehr kalte, klinische Weise. Damit hatte ich bislang allerdings noch nicht sehr viele Informationen gesammelt. »Okay. Nächste Frage. Warum gerate ich bei alldem nicht in Panik? Die Situation ist völlig bizarr. Ich bin tot. Ich meine, mein ursprüngliches Ich ist tot. Ich bin ein Computerprogramm. Ich bin ein Eigentumsobjekt. Warum rase ich nicht in der Gegend herum und wedele wie irre mit den Händen? Mal abgesehen vom offensichtlichen Grund.«

Dr. Landers grinste, schien aber nicht wirklich amüsiert. »Wir können nicht Ihre Persönlichkeit modifizieren, Bob. Sie ist eine Eigenschaft, die sich im permanenten Fluss befindet. Alle bisherigen Versuche, etwas an ihr zu verändern, haben zu, äh, unbrauchbaren Subjekten geführt. Also heißt es alles oder nichts. Allerdings können wir Ihre endokrinen Simulationen kontrollieren. Panik entwickelt sich in einer Feedbackschleife, bei der unter anderem Adrenalin eine Rolle spielt. Also schränken wir die Ausschüttung dieses Hormons einfach ein. So können Sie weder in Panik geraten noch wütend werden oder Angst bekommen. Sie können, wenn man so will, im äußersten Fall ernsthaft besorgt sein.«

»Und dennoch verzeichnen Sie eine Ausfallrate von achtzig Prozent?« Ich versuchte, eine Geste zu vollführen. Da ich jemand war, der immer viel mit den Händen geredet hatte, frustrierte es mich, dass auch das nicht funktionierte. »Sagen Sie, werde ich irgendwann Gliedmaßen bekommen? Diese Körperlosigkeit geht mir auf die Nerven … oder die Schaltkreise. Was auch immer.«

Dr. Landers nickte. »Ich finde, dass wir für einen Tag sehr große Fortschritte gemacht haben. Sie haben sich als sehr vernünftig erwiesen und sind besser mit dieser Situation umgegangen, als ich mir erhoffen durfte. Wir machen morgen weiter, und dann schauen wir mal, ob ich Ihnen ein paar Peripheriegeräte beschaffen kann.«

Dr. Landers hob sein Tablet an und tippte mit dem Finger auf das Display.

»Warten Sie. Nein, ich …«

03

Bob – 25. Juni 2133

Abermals kam ich ruckartig zu Bewusstsein. Dr. Landers’ priesterlich aussehendes Hemd hatte eine andere Farbe, daher ging ich davon aus, dass seit unserem letzten Treffen mindestens ein Tag vergangen sein musste. Er ließ sein Tablet sinken und hob den Blick.

Ich stocherte in meiner Psyche herum und suchte nach Anzeichen von Panik, Wahnsinn oder wenigstens großer Sorge. Ich fühlte mich nicht betäubt. Das Gefühl kannte ich von einer Weisheitszahnoperation. Es hatte mir nicht gefallen. Betrunken war ich auch nie gern gewesen. Ich mochte es generell nicht, die Kontrolle über meinen Verstand zu verlieren.

Im Moment war ich jedoch absolut Herr meiner Gedanken. Genau genommen fühlte ich mich in Topform. Es war, als hätte ich besonders gut geschlafen und wüsste, während ich das Büro betrat, dass ich heute jedes Problem meistern würde.

Andererseits waren meine Eltern und meine Schwestern seit langer Zeit tot. Genau wie Alan, Karen, Carl und alle anderen Menschen, die ich gekannt hatte. Ich konnte deutlich Karen vor mir sehen, wie sie mich mit verschränkten Armen böse anfunkelte. Auf ihrem Gesicht stand deutlich Ich habe es dir doch gesagt geschrieben. Doch die Gedanken an meine Verwandten und Freunde weckten nur leichtes Bedauern in mir, was vermutlich an der Hormonkontrolle lag. Diese Erkenntnis gab mir – mehr noch als die Tatsache, dass ich ein Computerprogramm war – das Gefühl, kein Mensch mehr zu sein.

Ich konnte Dr. Landers wegen alledem nicht allzu böse sein. Bosheit schien keinerlei Rolle zu spielen. Im Laufe der Zeit und infolge mehrerer logischer Schritte, bei denen ein Ereignis zum nächsten geführt hatte, war es nun mal so gekommen, dass ich jetzt ein Softwareprodukt war. Und bislang schien dieser Wesenszustand auch seine Vorteile mit sich zu bringen. Wenn Bob von einem Auto überfahren worden war und nicht mehr existierte, führte ich im Grunde genommen ein freies Leben. Außerdem war ich potenziell unsterblich. Vielleicht sollte ich es einfach nehmen, wie es kam. Zumindest für den Augenblick. Wenn ich bei diesem Auswahlprozess Zweiter werden würde, konnte ich meine Lage ja immer noch mal neu bewerten. Pass gut auf, was du dir wünschst.Ganz im Ernst.

Na, dann wollte ich mal herausfinden, was es noch für Vorteile hatte, so ein tolles Computerprogramm zu sein? Vielleicht konnte ich ja mit diesem GUPPI-Interface kommunizieren.

Systemcheck. Die Wurzel aus 234.215.

[483,957642]

Krass, wie cool. Habe ich eine Datumsfunktion? Aktuelles Datum.

[25-06-2133.08:42:24.235]

Wow. Ich bin tatsächlich Data. »Beim nächsten Ton ist es 8:43 Uhr. Piiiep.«

Dr. Landers sah einen Moment lang überrascht aus, dann lachte er. »Sie haben mehrere Funktionen dieser Art, Bob. Sie müssen nur lernen, wie Sie sie aufrufen können. Das wird ein Teil Ihres Trainings sein.«

Aus reiner Gewohnheit versuchte ich zu nicken und war überrascht, als sich diesmal mein Sichtfeld bewegte. »Hey, ich kann meinen Nacken kontrollieren!« Ich drehte den »Kopf« und erkannte begeistert, dass ich mein Blickfeld wie eine Eule um dreihundertsechzig Grad rotieren konnte. Im Zimmer gab es nichts Überraschendes zu sehen. Wie ich bereits vermutet hatte, befand ich mich tatsächlich auf einem Schreibtisch. Neben mir stand ein fernsteuerbarer Greifarm. Er war klein und verglichen mit industriellen Waldos sehr einfach konstruiert – mit zwei zangenartigen Fingern sowie Schulter-, Ellbogen- und Handgelenk. Ich beschloss herauszufinden, ob ich auf ihn zugreifen konnte. Vermutlich stand dieser Punkt ohnehin auf der heutigen Tagesordnung.

Es schien ewig zu dauern – auch wenn laut meiner Zeitanzeige weniger als eine halbe Sekunde verging –, bevor sich der Waldo auf mein Kommando hin bewegte. Ich ließ ihn winken und die Zangenfinger öffnen und zusammenzwicken. Anschließend drehte ich mich wieder zu Dr. Landers um.

Während der Doktor den Waldo überrascht ansah, verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln. »Heute«, sagte er mit einem belustigten Kopfschütteln, »versuchen Sie bitte, den Greifarm zu bewegen.« Dann seufzte er. »So viel zum heutigen Übungsplan. Bis jetzt machen Sie sich sehr gut, Bob. Ich glaube, es ist das Beste, wenn wir gleich den Roamer-Test absolvieren. Ursprünglich wollte ich ihn erst in einer Woche durchführen, wenn Sie sich ein bisschen besser zurechtfinden, aber …«

Dr. Landers nahm das Tablet in die Hand und zielte mit dem Finger auf einen Punkt auf dem Bildschirm.

Oh nein, nicht schon wieder. »Warten Sie! Nein, tun Sie das nicht …«

Ich kam in einem anderen Zimmer, das in dem gleichen Behörden-Grauweiß gestrichen war, wieder zu mir. An einer Wand stand ein Regal, in dem ein paar [32] mechanische Gegenstände lagerten. Vor jedem dieser Geräte leuchtete ein rotes Licht. Direkt vor mir stand ein Tisch mit mehreren [128] Bauklötzen.

In der gegenüberliegenden Wand befand sich ein Fenster, hinter dem Dr. Landers stand. »Würden Sie bitte damit aufhören!«, sagte ich und versuchte, ihn finster anzusehen.

»Hätten Sie es lieber, wenn ich Sie unter dem Arm herumtragen würde?« Ein paar Sekunden lang wahrte Dr. Landers ein Pokerface, dann lächelte er. »In Wirklichkeit stecken Sie und die anderen Kandidaten in großen teuren Würfeln voller Elektronik, die woanders auf dem Gelände in einem sicheren klimatisierten Raum untergebracht sind. Ich übertrage lediglich Ihre peripheren Funktionen von einem Raum zum anderen. Hier bestehen Sie aus einer Stereokamera, die auf einem mechanischen Arm angebracht ist.«

Einen Moment lang wartete er ab, was ich dazu sagen würde, aber mir fiel nichts ein. Schließlich deutete er auf das Regal. »Auf den Regalbrettern sehen Sie Remote-Observation-And-Manipulation-Einheiten, kurz ROAMER. Ihre Aufgabe besteht darin, die Klötze vor Ihnen mithilfe so vieler Roamer wie möglich aufeinanderzustapeln. Damit Sie ein Gefühl dafür bekommen, fangen wir erst mal mit einem Roamer an.«

Dr. Landers gab etwas in sein Tablet ein, und das Licht vor einem der Geräte schaltete von Rot auf Grün um.

»Die Roamer enthalten primitive KMIs und können ohne Überwachung einfache Handlungen ausführen, aber sie verfügen über keinen eigenen Willen und müssen gesteuert werden. Bitte versuchen Sie mal, den Roamer auf den Tisch zu holen und ein paar Klötze aufeinanderstellen zu lassen. Ihr GUPPI wird sich mit dem Interface des Roamers verbinden und Ihnen gegebenenfalls Feedback geben.«

Ich nahm Roamer Nummer eins in den Blick.

[STATUS: Bereit.]

Okay, das ist doch schon mal ein guter Anfang. Steh auf.

Der Roamer stand auf. Er erinnerte entfernt an eine Spinne, mit einer Standbreite von acht Zoll [voll gespreizt 20 Zentimeter.]Ach, halt doch die Klappe!

Ich nahm den Roamer aus der Entfernung so gut wie möglich in Augenschein. Wie soll er die Klötze anheben? Ich wartete einen Moment. Na?

[Feedback auf Wunsch des Users deaktiviert.]

Na toll, ich habe seine Gefühle verletzt. Ich konzentrierte mich auf das Roamer-Interface. Feedback aktivieren.

Sofort tauchten in meinem Sichtfeld faszinierende Diagramme und schematische Darstellungen auf. Die Roamer waren radialsymmetrisch konstruiert. Das hieß, dass sie weder eine Vorder- noch Rückseite hatten. Sie verfügten über acht Gliedmaßen mit jeweils einem Set Sensoren. Jede von ihnen diente wahlweise als Bein und oder ließ sich in drei Greiffinger aufteilen. Außerdem waren ein paar der Gliedmaßen mit zusätzlichen Werkzeugen ausgestattet, wie zum Beispiel Schraubenziehern, Schleifmaschinen oder Taschenlampen sowie mit diversen Schneidewerkzeugen. Zum Teil beherbergten sie auch hochmoderne Technologien. Ein besonders cooles Teil war ein magnetisch kontrollierter Plasmaschneider, der mir wie ein tatsächlich funktionierendes Lichtschwert vorkam.

Wie kriege ich ihn jetzt auf den Tisch? Kann er so weit springen?

[Wahrscheinlichkeit eines Geräteschadens: 40 %.]

Also nein. Wie wär’s mit Runterklettern? Ach, Moment. Ich rief noch mal die schematischen Darstellungen auf. VAST – Variable Attachment Surface Tension.Die Leute hier liebten ihre Akronyme aufrichtig. Ich stellte mir bildlich vor, wie der Roamer vom Regal herabkletterte, und sogleich poppte in meinem Sichtfeld ein Fenster auf, in dem ich alles Weitere aus dem Blickwinkel des Roamers verfolgen konnte. Er lief senkrecht an der Wand hinab, wobei das VAST-System für sicheren Halt sorgte. Nach wenigen Sekunden war der Roamer an den Tischbeinen hinauf bis auf die Arbeitsfläche geklettert.

Damit hatte ich zum ersten Mal Gelegenheit, mein »Ich« auf diesem Tisch zu begutachten. Aus der Perspektive des Roamers sah ich einen mechanischen Arm, der dem ähnelte, den ich zu kontrollieren gelernt hatte, nur dass an seinem Ende zwei Kameras befestigt waren. Aus dem kleinen Lautsprecher zwischen den Kameras ertönte vermutlich meine Stimme, wenn ich sprach. So sah also mein Gesicht aus. Es erinnerte mich an den Roboter aus dem Film Nummer 5 lebt! Als ich meinen »Kopf« hin- und her bewegte, sah ich auf dem Videofeed des Roamers die Schwenkbewegungen des Arms und der Zwillingskameras. Gleich darauf wackelte ich mit einem der Beine des Roamers und verfolgte aus meiner »eigenen« Perspektive, wie das Gerät die Bewegung ausführte.

Mich selbst zu sehen und mir dabei zuzusehen, wie ich mich selbst sah, löste eine Art existenziellen Schwindel in mir aus. Daher beschloss ich, meine Aufmerksamkeit lieber auf die Klötze zu richten. Sie sahen wie ganz normale Bauklötze für Kinder aus, wie es sie schon immer gegeben hatte. In die eine Hälfte ihrer Oberflächen waren Flachreliefs von Buchstaben oder Ziffern eingeprägt. Die Symbole waren ausnahmslos mit Primärfarben ausgemalt. Die anderen Oberflächen zierten simple eingravierte Bilder. Mir fiel auf, dass sie alle einen religiösen Inhalt hatten. Auch diesen Umstand setzte ich zur Nachbetrachtung auf meine To-do-Liste.

Der Roamer musste nicht bei jedem Arbeitsschritt überwacht werden, aber er benötigte von mir die Rahmenparameter, um seine Aufgabe zu erfüllen. Innerhalb von Sekunden hatte er eine Plattform gebildet, die aus fünf mal fünf Klötzen bestand. Als Nächstes wies ich den Roamer an, auf dieser ersten Schicht eine zweite aus vier mal vier Klötzen zusammenzufügen. Solange ich es vermied, alle seine Schritte mit Befehlen zu begleiten, bewegte sich der Roamer mit beeindruckender Geschwindigkeit. In null Komma nichts hatte er eine Pyramide errichtet.

Ich sah zu Dr. Landers hinüber. »Tadaa.«

Der Doktor nickte und spielte auf seinem Tablet herum. Auf dem Regal mit den Roamern wurden drei weitere Lichter grün.

»Noch einmal bitte, Bob. Diesmal mit mehreren Roamern.«

Während der folgenden Stunden stellte Dr. Landers mir verschiedene Aufgaben, die ich mit einer wechselnden Anzahl von Roamern erledigen musste. Jede Übung verfolgte ein offensichtliches Trainingsziel, und ich war zunehmend beeindruckt von meinen neuen Fähigkeiten.

Gelegentlich versorgte er mich mit neuen Materialien, darunter mit etwas, was mich an einen Meccano-Bausatz erinnerte. Die Roamer bewältigten jeden Test mit Bravour. Ich musste ihnen lediglich generelle Vorgaben machen, die sie schnell und effizient umsetzten. Während des gesamten Vormittags passierte mir nur ein einziger Fehler: Als ich meine Anweisungen einmal nicht deutlich genug übermittelte, schleuderte ein Roamer einen anderen quer durch den Raum. Ich weiß, dass der Doktor gesagt hatte, die KMIs hätten keinen eigenen Willen, aber ich könnte schwören, dass das Opfer der Attacke anschließend schmollte.

Irgendwann während dieser Übungseinheit fiel mir auf, dass der Trainingsraum komplett versiegelt war. Es gab weder eine Tür noch Lüftungsrohre. Auch die Fensterscheibe wirkte dick und schien fest in ihrem Rahmen zu sitzen. Haben sie Angst vor mir oder vor den Roamern? Oder vor uns beiden? Noch ein Punkt für die To-do-Liste.

04

Bob – 15. Juli 2133

Ruckartig kam ich zu Bewusstsein. »Allmählich bekommt dieser Witz einen Bart, Dr. Landers.«

»Tut mir leid, Bob. Aber wir schalten die Replikanten standardmäßig auf Stand-by, solange sie nicht aktiv trainieren. Es kommt Ihnen so vor, als würden Sie in normaler menschlicher Geschwindigkeit mit mir interagieren, aber wenn ich Sie Ihren eigenen Gedanken überließe, würden Sie feststellen, dass die Zeit in Ihrer subjektiven Wahrnehmung wesentlich langsamer vergeht. Acht Stunden könnten Ihnen wie eine Ewigkeit vorkommen. Ich hatte schon mit Replikanten zu tun, denen es ganz gut zu gehen schien, bis sie plötzlich über Nacht psychotisch wurden.« Der Doktor sah einen Moment lang auf seine Schuhe hinab. »Tatsächlich haben wir erst während der letzten vierundzwanzig Stunden eine Ihrer Konkurrentinnen verloren. Sie geriet in eine Schleife, aus der wir sie nicht mehr herausholen konnten. Und als wir sie aus dem Back-up wiederhergestellt hatten, ist ihre neue Version noch mal genau an derselben Stelle abgestürzt. Jetzt sind Sie also nur noch zu viert.«

Ich stieß einen Seufzer aus und bemerkte mit leichter Genugtuung, dass er echt klang. Es war ziemlich offensichtlich, dass man mich in meinen aktiven Phasen so beschäftigt wie möglich hielt und mir keinerlei Ruhepausen gönnte. Vermutlich war das ein Versuch, mich geistig gesund zu erhalten. Beschämt stellte ich fest, dass mich die Neuigkeit über die andere Replikantin nicht traurig machte, sondern eher freudig stimmte. Eine Konkurrentin weniger.

Ich schätzte zwar Dr. Landers’ Ehrlichkeit, aber früher oder später würde ich mich mit meiner existenziellen Krise auseinandersetzen müssen. Außerdem brauchte ich auch noch Zeit, um den Verlust meiner Familie zu betrauern.

»Tut mir leid, das zu hören«, sagte ich. »Aber vermutlich behandeln Sie uns alle auf die gleiche Weise. Also scheint unsere Abschaltung nicht die Lösung des Problems zu sein. Wie wäre es stattdessen, wenn Sie mich mit intellektuellen Aktivitäten auf Trab hielten? Ein bisschen Studienzeit wäre doch gut, oder? Vielleicht mit Zugang zu dem, was immer inzwischen aus dem Internet geworden ist? Ich wüsste gerne, was ich während der letzten rund hundert …« [117]. Danach habe ich nicht gefragt! »… Jahre verpasst habe.«

»Ach, wissen Sie, das Internet gibt es nicht mehr. Jedenfalls nicht hierzulande. Es ist viel zu anarchistisch und zu schwer zu kontrollieren. Und es bietet zu viele Gelegenheiten für die Sünde, falsche Lehren und sonstige Versuchungen. Dafür haben wir jedoch Onlinebibliotheken, und ein Teil der Geschichtsschreibung könnte sogar relativ genau sein. Ich will mal sehen, ob ich Ihnen Zugang zu einer der besseren verschaffen kann.«

»Finde ich dort auch Stammbäume? Vielleicht habe ich ja noch lebende Verwandte. Ich wäre sehr daran interessiert …«

»So etwas fördern wir prinzipiell nicht, Bob. Außerdem sind solche Aufzeichnungen nicht öffentlich. Innerhalb der FAITH sind Informationen generell nicht frei zugänglich. Tut mir leid.«

In diesem Moment war ich froh, kein Gesicht zu haben. Dr. Landers’ Bemerkung hatte mich schwer getroffen, und ich fühlte mich mit einem Schlag endgültig von der Menschheit abgeschnitten. Nun musste ich nicht nur mit der Tatsache zurechtkommen, dass meine engste Familie tot war, ich würde auch nicht mehr mit eventuellen Nachkommen in Verbindung treten können.

Im nächsten Moment setzte die endokrine Kontrolle ein, und meine abgrundtiefe Trauer verwandelte sich in eine Art leise Trübsal. Wow, sollte ich je die Kontrolle über meine Hard- und Software erlangen, würde das die erste Sache sein, die auf dem Müll landete. Trauerbewältigung verlangte nach Trauer, und die hatte man mir genommen.

Ich mochte es nicht, irgendjemandes Eigentum zu sein, aber im Moment konnte ich nichts daran ändern. Doch wenn sich die Gelegenheit ergab, würde ich ein paar Anpassungen vornehmen. Bis dahin wollte ich den Mund halten, immer gut zuhören und ein braver kleiner Roboter sein. Das Wichtigste war jetzt, ihnen keinen Anlass zur Sorge zu geben, zurechnungsfähig zu bleiben und den Wettkampf zu gewinnen.

Aber bloß kein Druck und immer schön locker bleiben.

05

Bob – 18. Juli 2133

Seufz. »Guten Morgen, Dr. Landers. Sind Sie nicht eben erst gegangen?«

»Guten Morgen, Bob …«

Oje. Das war nicht Dr. Landers’ normaler Tonfall. Ich hatte meine künstlichen Sinne feinjustiert und dabei entdeckt, dass ich beinahe in Echtzeit Fourier-Analysen durchführen konnte. Die Stimme des Doktors zeugte von hoher Anspannung.

Ein zweiter Mann trat in mein Blickfeld. Dr. Landers deutete auf ihn. »Bob, das ist Pastor Travis. Er ist gekommen, um Ihren Fortschritt zu begutachten.«