Wir sind Götter - Dennis E. Taylor - E-Book

Wir sind Götter E-Book

Dennis E. Taylor

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Beschreibung

Eigentlich hat Bob Johansson nie an ein Leben nach dem Tod geglaubt. Als er nach einem tödlichen Autounfall als Künstliche Intelligenz eines Raumschiffes wieder erwacht, ist er natürlich geschockt. Doch damit nicht genug – er ist der intelligente Computer einer von Neuman Probe, das heißt er wurde tausendfach repliziert. Bob und seine Kopien werden ausgeschickt, um in den Tiefen des Weltalls nach neuen, bewohnbaren Planeten zu suchen. Dabei stoßen sie nicht nur auf ein primitives Alien-Volk, das sie als Götter verehrt, sondern auch auf eine feindliche Spezies, die droht, die Erde anzugreifen – und die Bobs sind die Einzigen, die sie noch aufhalten können ...

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Seitenzahl: 468

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Das Buch

Eigentlich hat Bob Johansson nie an ein Leben nach dem Tod geglaubt. Als er nach einem tödlichen Autounfall als Künstliche Intelligenz eines Raumschiffes wieder erwacht, ist er natürlich geschockt. Doch damit nicht genug – er ist der intelligente Computer einer von Neuman Probe, das heißt er wurde tausendfach repliziert. Bob und seine Kopien werden ausgeschickt, um in den Tiefen des Weltalls nach neuen, bewohnbaren Planeten zu suchen. Dabei stoßen sie nicht nur auf ein primitives Alien-Volk, das sie als Götter verehrt, sondern auch auf eine feindliche Spezies, die droht, die Erde anzugreifen – und die Bobs sind die Einzigen, die sie noch aufhalten können ..

Der Autor

Dennis E. Taylor war früher Programmierer und arbeitete nachts an seinen Romanen. Mit Ich bin viele, dem Auftakt seiner neuen Romanreihe um die künstliche Intelligenz Bob Johansson, gelang ihm der Durchbruch als Schriftsteller. Seither widmet er sich ganz dem Schreiben.

Mehr über Dennis E. Taylor und seine Werke erfahren Sie auf:

DENNIS E.

TAYLOR

WIR

SIND

GÖTTER

ROMAN

Aus dem Amerikanischen übersetzt

von Urban Hofstetter

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

FOR WE ARE MANY

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 01/2019

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Copyright © 2017 by Dennis E. Taylor

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe

und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,

unter Verwendung von Motiven von tsuneomp/Shutterstock

und freestyleimages/Shutterstock

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-22181-2V002

www.diezukunft.de

Ich möchte dieses Buch all jenen widmen,

die – wie ich – die gute alte Space Opera lieben.

»Sie ist auf keiner Karte verzeichnet.

Die wahren Orte sind das nie.«

Herman Melville, Moby Dick

1

Himmelsgott

Bob – Februar 2167

Delta Eridani

Aus dem Totholzhaufen drang ein wütendes Quieken. Die beiden Deltaner hielten kurz inne und bereiteten sich darauf vor, den Rückzug anzutreten. Doch als nichts weiter geschah, bewarfen sie die Stelle gleich darauf erneut mit Steinen.

Dem Jäger, den ich Bernie getauft hatte, sträubte sich vor Aufregung das Rückenfell. »Komm hierher, kutzi, kutzi, kutzi«, lockte er mit aufgestellten Ohren.

Um ihnen nicht die Sicht zu versperren, flog ich mit meiner Überwachungsdrohne ein Stück zurück. Es machte ihnen nichts aus, wenn ich bei der Jagd zusah, aber ich wollte sie nicht ablenken, da selbst die kleinsten Fehler zu Verletzungen führen konnten und nicht selten tödlich endeten. Allein Mike hob kurz den Kopf, als er die Bewegung wahrnahm, wohingegen die anderen Deltaner der fußballgroßen Drohne keinerlei Beachtung schenkten.

Anscheinend hatte einer der Steine sein Ziel gefunden, denn nun stürmte das Quasischwein laut kreischend wie eine wutentbrannte Dampfmaschine aus dem Eingang seines Baus. Sofort rannten die beiden Steinewerfer zur Seite, und die anderen Jäger nahmen ihren Platz ein. Sie stemmten ihre Speere in die Erde und stellten zusätzlich einen Fuß auf die Schaftenden, um die Waffen zu stabilisieren. Danach konnten sie nichts anderes mehr tun, als tapfer die Stellung zu halten. Obwohl ich selbst das Geschehen aus sicherer Distanz durch meine Überwachungsdrohne beobachtete, spürte ich, wie sich meine Eingeweide vor Angst zusammenzogen. Bei Gelegenheiten wie dieser fragte ich mich, ob ich es mit der Authentizität meiner VR-Umgebung vielleicht ein wenig übertrieb. Es war überhaupt nicht nötig, dass ich Eingeweide besaß, geschweige denn, dass sie sich zusammenzogen.

Das Quasischwein rannte ungebremst in die aufgepflanzten Speere. Schnell war es, das musste man ihm lassen, aber nicht besonders klug. Ich hatte noch nie ein Quasischwein gesehen, das den Speerspitzen auszuweichen versuchte. Ein Jäger namens Fred wurde zur Seite geworfen, als sich sein Speer zunächst bog und dann auseinanderbrach. Er schrie, offenbar ebenso sehr vor Überraschung wie aufgrund der Schmerzen, und aus seinem Bein sprudelte Blut. Dabei fiel mir wieder einmal auf, dass sich deltanisches und menschliches Blut farblich fast exakt glichen.

Die anderen Deltaner hielten dem Ansturm stand, und das Quasischwein erhob sich von der eigenen Wucht getragen auf den Speerspitzen in die Luft. Einen Moment lang schien es beinahe zu schweben, bis es mit einem letzten Kreischen zu Boden krachte.

Die deltanischen Jäger zogen die Lippen zurück und entblößten ihre beeindruckenden Fangzähne. Argwöhnisch warteten sie ab, ob sich das Tier noch mal bewegen würde. Denn gelegentlich kam es vor, dass selbst derart schwer verwundete Quasischweine aufsprangen und erneut angriffen.

Vorsichtig schlich Bernie sich an. In einer Hand hielt er seinen Speer, in der anderen einen Knüppel. Aus möglichst großer Entfernung beugte er sich vor und piekte das Quasischwein in die Schnauze. Als es sich daraufhin nicht rührte, drehte er sich grinsend zu seinen Jagdkameraden um.

Natürlich grinste er nicht wirklich, sondern wackelte nach Art der Deltaner mit den Ohren, aber ich war inzwischen so sehr mit ihren gestischen und mimischen Eigenheiten vertraut, dass ich nicht länger über ihre Bedeutung nachdenken musste. Um die gesprochene Sprache kümmerte sich derweil eine Übersetzungssoftware, die Redewendungen und Metaphern zwischen Englisch und Deltanisch hin und her übertrug. Damit ich die einzelnen Deltaner im Auge behalten konnte, hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, ihnen zufällig ausgewählte menschliche Namen zu geben.

Ohne die Übersetzungssoftware war eine Kommunikation zwischen Menschen und Deltanern unmöglich, da ihre Sprache für unsere Ohren wie ein Sammelsurium aus Grunzlauten, Knurren und Schluckauf klang. Und laut Archimedes, meinem Hauptansprechpartner, erinnerten menschliche Stimmen die Deltaner wiederum an leidenschaftlich-wild sich paarende Quasischweine. Reizend.

Mit ihren tonnenförmigen Körpern, den spindeldürren Gliedmaßen, den großen, extrem beweglichen Ohren und einer Mundpartie, die an die Schnauzen von wilden Ebern erinnerte, sahen die Deltaner wie eine Kreuzung aus Fledermäusen und Schweinen aus. Ihre Felle waren größtenteils grau, mit individuellen hellbraunen Mustern im Gesicht und am Rest des Kopfes. Die Deltaner waren die erste nichtmenschliche intelligente Lebensform, auf die ich bislang gestoßen war – und zwar bereits im zweiten Sonnensystem, das ich nach meinem Aufbruch von der Erde vor mehr als dreißig Jahren angesteuert hatte. Vielleicht war intelligentes Leben tatsächlich so verbreitet, wie Star Trek es uns hatte glauben machen wollen.

Bill sendete regelmäßig die neuesten Nachrichten aus Epsilon Eridani, die jedoch neunzehn Jahre lang unterwegs waren, bevor ich sie empfing. Falls mittlerweile auch einer der anderen Bobs auf eine außerirdische Intelligenz gestoßen sein sollte, hatte Bill möglicherweise noch nicht einmal davon erfahren und schon gar nicht den entsprechenden Bericht an uns weitergeleitet.

Nun richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Deltaner, die gerade damit begannen, ihre Jagd nachzubereiten.

Sie untersuchten Fred, der auf einem Felsen saß, deltanische Flüche ausstieß und sich eine Hand auf die Wunde presste, um die Blutung zu stoppen. Ich näherte mich mit der Drohne, und einer der Jäger trat beiseite, damit ich mir Fred genauer ansehen konnte.

Er hatte Glück gehabt. Die Verletzung, die er sich zugezogen hatte, als sein Speer zerbrochen war, wies unregelmäßige Wundränder auf, war jedoch nicht tief und schien sauber zu sein. Wenn das Quasischwein die Zähne in ihn geschlagen hätte, wäre er nun tot.

Mike tat so, als wollte er seinen Speer in die Wunde stoßen. »Tut das weh? Sag schon, tut das weh?«

Fred bleckte die Zähne. »Ja, sehr witzig. Nächstes Mal kannst du ja den kaputten Speer nehmen.«

Ungerührt erwiderte Mike sein Lächeln, und Bernie schlug Fred auf die Schulter. »Komm, sei keine Heulsuse. Es blutet schon fast nicht mehr.«

»Genau, dann lasst es uns mal aufhängen, damit es ausbluten kann«, sagte Mike und wickelte ein Seil ab, das er sich um den Oberkörper geschlungen hatte. Während er es über einen geeigneten Ast warf, schlang Bernie das Ende des Seils um die Hinterläufe des Kadavers.

Knoten binden zählt nicht gerade zu ihren Stärken. Die Verschnürung war sehr simpel und würde sich vermutlich lösen. Ich nahm mir vor, Archimedes ein paar Seemannsknoten beizubringen.

Während Mike und Bernie den Kadaver an dem Seil in die Höhe zogen und begannen, ihn auszunehmen, stimmten die übrigen Deltaner ein Dankeslied an. Einen Moment lang erwartete ich beinahe, dass sie ihrer Beute einen Jagderlaubnisschein ans Ohr heften würden. Aber dafür befand ich mich natürlich im falschen Jahrhundert und auf dem falschen Planeten, wo ich es mit einer anderen Spezies zu tun hatte.

Grinsend wandte ich mich vom Videofenster der Drohne ab und griff nach der Kaffeetasse. Marvin, der mir über die Schulter geschaut hatte, warf mir einen verwirrten Blick zu, aber ich sah nicht ein, wieso ich es ihm erklären sollte. Er müsste sich doch von sich aus daran erinnern können, wie der Ursprüngliche Bob vor langer Zeit mit seinem Dad auf die Jagd gegangen war. Wortlos zuckte ich mit den Schultern. Das musst du dir schon selbst zusammenreimen, mein Freund.

Marvin verdrehte die Augen und kehrte zum Lay-Z-Boy zurück, den er stets erscheinen ließ, wenn er mich in meiner VR besuchte. Ich lehnte mich indes in meinem antiken Ohrensessel zurück und ließ mir von Jeeves Kaffee nachschenken. In allen VR-Umgebungen, in denen die Jeeves-KI zum Einsatz kam, sah sie wie John Cleese im Frack aus.

Während ich an dem Kaffee nippte, der wie immer perfekt schmeckte, betrachtete ich die Bibliothek um mich herum – die bis zur Decke reichenden Bücherregale, den großen, klassischen Kamin und die schmalen, bodentiefen Fenster, durch die permanent spätnachmittägliches Sonnenlicht hereinschien und den Raum erleuchtete. Und inmitten von alledem stand wie ein großes grelles Auge der mit rotem Cord bezogene Lay-Z-Boy, in den sich Marvin lümmelte.

Allerdings nur in der VR. In der echten Welt waren Marvin und ich leuchtende optoelektronische Würfel und in zwei verschiedenen Sonden installiert, die sich derzeit in einer Umlaufbahn um Delta Eridani 4 befanden. Doch früher waren wir Menschen gewesen und brauchten unsere VR-Umgebungen, um bei Verstand zu bleiben.

Spike kam herüber. Er sprang Marvin auf den Schoß und begann zu schnurren. Die KI der Katze agierte absolut realistisch, bis hin zu ihrem völligen Mangel an Loyalität. Ich schnaubte amüsiert und drehte mich zum Videofenster zurück.

Mittlerweile hatten die Jäger ihre Beute ausgeweidet. Im Grunde genommen hatten die Quasischweine nur wenig Ähnlichkeit mit irdischen Wildschweinen. Rein äußerlich erinnerten sie eher an Bären, aber sie besetzten die gleiche ökologische Nische und waren auch ebenso gut gelaunt und anhänglich wie ihre terrestrischen Entsprechungen.

Die Jagd auf diese Tiere war keineswegs eine einseitige Angelegenheit, und die Deltaner gingen dabei jedes Mal ein Risiko ein. Normalerweise unterlagen die Quasischweine, aber manchmal gelang es ihnen auch, einen oder zwei Jäger zu töten. Allerdings waren die Karten bei diesem Spiel noch mal neu gemischt worden, seitdem die Deltaner ihre Speere mit Feuersteinspitzen versahen. Jaja, mir war klar, dass ich damit gegen die Oberste Direktive verstoßen hatte. Blabla. Pfft. Auch wenn sich einer von uns Klonen Riker nannte und seine VR wie die Kommandobrücke der Enterprise gestaltet hatte, war dies hier nicht Star Trek.

Die Deltaner banden ihre Jagdbeute auf zwei Speere, die sich vier von ihnen auf die Schultern hoben. Mike winkte mich zu sich, und ich ließ meine Drohne zu seiner hinüberschweben. Zwei weitere Deltaner schlangen die Arme um Fred und halfen ihm auf. Sein Bein blutete zwar immer noch, und er hinkte arg, aber er würde es bis zum Dorf zurückschaffen.

Unsere Rückkehr glich einem Triumphzug, und ein paar der Jäger sangen ein Siegeslied. Die anderen scherzten und zogen einander freundschaftlich auf. Es erstaunte mich immer wieder, wie menschenähnlich sich die Deltaner verhielten. Manchmal überkam mich deswegen ein Gefühl der Nostalgie und Sehnsucht nach echten menschlichen Kontakten.

Bald hatten wir das Dorf erreicht, wo wir lachend begrüßt und gefeiert wurden. Ein erlegtes Quasischwein war immer ein Anlass zum Feiern. An diesem Abend würden die Hexghi ein Festmahl auftischen und noch eine ganze Woche lang ordentlich zu essen haben. Hexghi bedeutete so viel wie Familien an unserem Feuer. Diese Gruppe von Jägern gehörte zu Archimedes’ Hexghi, das ich mehr oder weniger als meine Familie adoptiert habe.

Mithilfe der anderen schaffte Fred es bis zu der Stelle, wo seine Familie lagerte und seine Gefährtin sich sofort rührend um ihn kümmerte. Einer der Jäger lief los und holte Cruella, die Medizinfrau. Seufzend machte ich mich auf eine meiner üblichen Auseinandersetzungen mit ihr gefasst.

Nach wenigen Augenblicken kehrte er mit Cruella und ihrer Gehilfin im Schlepptau zurück. Als sie sich bückte, um die Wunde zu inspizieren, steuerte ich die Drohne zu ihr hinüber. Anscheinend zu dicht für ihren Geschmack, denn Cruella schlug sie mit ausgestrecktem Arm so fest beiseite, dass sie mehrere Fuß weit davonflog, ehe die KMI sie wieder stabilisieren konnte. Die anderen Deltaner wichen erschrocken zurück. Einer von ihnen sah aus, als wollte er fliehen oder würde gleich ohnmächtig werden. Die Drohne war klein und ließ sich leicht herumschubsen. Aber immerhin war ich, na ja … der Himmelsgott.

Mir war schon seit längerer Zeit bewusst, dass die Medizinfrau nichts und niemanden fürchtete. Und sie zeigte sich auch nicht gerade offen für Ratschläge. Frustriert biss ich die Zähne zusammen und fragte mich, ob Cruella wohl diesmal auf meine Hinweise hören würde.

Fred beschäftigte offenbar der gleiche Gedanke. »Das wäre doch eine gute Gelegenheit, Baabs Vorschlag mit dem heißen Wasser auszuprobieren.«

Cruella warf erst ihm und dann meiner Drohne einen finsteren Blick zu. »Da du mich nicht zu brauchen scheinst, kann er ja vielleicht auch gleich deine Wunde verbinden.«

»Ach, bei den Eiern meiner Vorväter, Cruella«, stieß Mike hervor. »Probier doch wenigstens einmal etwas Neues aus. Schließlich hat Baab uns noch keinen einzigen schlechten Ratschlag gegeben.«

Cruella zischte ihn an, und im nächsten Moment brach zwischen den Jägern und ihr ein lautstarker Streit aus. Die Jäger waren meine treuesten Unterstützer. Kein Wunder, denn schließlich waren die Feuersteinspitzen, die Vorrichtung zur Begradigung von Speerschäften sowie die Faustkeile nur ein paar der Neuerungen gewesen, mit denen ich ihnen das Leben erleichtert hatte. Zumindest sie vertrauten darauf, dass ich nur das Beste für die Deltaner wollte.

Schließlich warf Cruella die Hände in die Luft. »Na schön!«, blaffte sie. »Dann machen wir es eben auf seine Weise. Aber wenn dir die Beine abfaulen, möchte ich kein Gewinsel von dir hören.« Sie drehte sich um und knurrte ihrer Gehilfin etwas zu, worauf die mit angelegten Ohren davoneilte.

Ein paar Minuten später kehrte sie mit einem gefüllten Schlauch und einem weichen Ledertuch zurück.

Cruella deutete auf den Schlauch. »Frisch abgekochtes Wasser.« Als Nächstes hielt sie das gegerbte Ledertuch hoch. »In gekochtem Wasser gewaschen.« Anschließend sah sie zornig in die Kamera der Drohne. »Und jetzt geh mir aus dem Weg.«

Ich konnte es kaum glauben, dass sie sich die Zeit nahm, die Wunde mit dem Tuch und dem gereinigten Wasser zu säubern. Das war wirklich mal ein Fortschritt. Zwar hatte sie sich nur darauf eingelassen, weil die Jäger sie so vehement dazu gedrängt hatten. Aber wenn Cruella es auch in Zukunft so machte, würden die Infektionsfälle dramatisch zurückgehen.

Ich kippte die Drohne kurz nach vorn, um ein Nicken anzudeuten, und schickte sie zum Rand der Siedlung. Danach kehrte ich wieder in meine VR zurück und schloss das Videofenster. Dass die Medizinfrau von ihrer hergebrachten Heilmethode abrückte, war ein riesiger Erfolg, wofür ich ihr gern zum Dank aus den Augen ging. So konnte sie ihre Würde wahren und würde sich nicht genötigt fühlen, bei der nächsten Gelegenheit wieder auf stur zu schalten.

Damit würde ich zwar den Rest der Feierlichkeiten verpassen, aber das Schicksal der erlegten Quasischweine war mir wohlvertraut und mittlerweile gut dokumentiert. Vermutlich schmeckte es köstlich. Als ich an Rippchen in Barbecue-Sauce dachte, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Da ich ein Computer war, benötigte ich natürlich kein Essen mehr, aber in der VR konnte ich tun und lassen, was ich wollte. Und da ich bereits eine Kaffeesimulation geschaffen hatte, konnte ich genauso gut auch noch Spareribs programmieren.

Spike schlich über den Schreibtisch und legte sich mit einem Miauen auf die Tastatur. Ich ließ mir von Jeeves noch einmal Kaffee nachschenken und drehte mich dann zu Marvin um. »Okay, die Show ist vorbei. Was gibt’s Neues? Wolltest du nicht etwas mit mir besprechen?«

Marvin nickte und erhob sich. Er ließ den La-Z-Boy verschwinden und kam zu meinem Schreibtisch herüber. Nachdem er sich einen Ohrensessel herangezogen hatte, ließ er über der Tischplatte einen Globus von Eden erscheinen. Einer der Kontinente war zu einem kleinen Teil rot umrandet. »Das ist das derzeitige Verbreitungsgebiet der Deltaner. Das alte Dorf habe ich aus der Darstellung rausgenommen, da dort niemand mehr ist …«

»Außerdem war es eher ein Flüchtlingslager als eine dauerhafte Siedlung«, fügte ich hinzu. »Sie haben nicht einmal eine ganze Generation lang dort gelebt.«

Marvin nickte. »Ich habe viel nachgeforscht und einige Ausgrabungen unternommen. Daher kann ich die historischen deltanischen Wanderungsbewegungen inzwischen ziemlich genau nachzeichnen.«

Als ich seinen erwartungsvollen Blick bemerkte, bedeutete ich ihm mit einer kreisenden Handbewegung, dass ich gern mehr erfahren würde.

»Sie scheinen ursprünglich nicht aus diesem Gebiet zu stammen«, fuhr er fort. »Offenbar hat sich der vernunftbegabte Zweig der Deltaner vielmehr hier entwickelt …« Marvin ließ den Globus rotieren und deutete auf einen anderen Teil des Kontinents. »… und ist erst anschließend in das derzeitige Areal umgezogen.«

»Und an ihrer Geburtsstätte lebt heute niemand mehr? Wieso?«

»Das ist es, was ich nicht verstehe, Bob. Ich habe zwar zahlreiche Hinweise auf verlassene deltanische Siedlungen entdeckt, aber viel zu wenige Gräber angesichts der Bevölkerungsdichte, von der wir ausgehen müssen.«

»Raubtiere?«

»Das habe ich zuerst auch vermutet. Aber wenn das stimmt, hätte ich doch hier und da auf ihre sterblichen Überreste stoßen müssen. Du hast doch gesehen, was die Gorilloiden von ihren Mahlzeiten übrig lassen. Sie sind nicht gerade sehr gründliche Nahrungsverwerter.«

Ich betrachtete den Globus und strich mir nachdenklich über das Kinn. »Das ergibt alles keinen Sinn. Laut deinen Aufzeichnungen hat es im Ursprungsgebiet überhaupt keine Gorilloiden gegeben. Also haben die Deltaner einen vergleichsweise sicheren Lebensraum zugunsten eines gefährlicheren Gebiets aufgegeben.«

»Und sind anschließend aus diesem gefährlicheren Gebiet geflohen und in ein noch gefährlicheres abgewandert.« Marvin schüttelte ratlos den Kopf. »Sie sind keine Dummköpfe. Vielleicht ist ihre Intelligenz noch nicht ganz auf menschlichem Niveau, aber sie verhalten sich grundsätzlich vernünftig. Irgendetwas übersehen wir.«

Mit einem Schulterzucken versetzte ich den Globus in eine Kreiselbewegung. »Das ist rätselhaft, Marvin, und Bobs lieben Rätsel.« Wir grinsten uns an. »Das Wichtigste ist jedoch, dass sie hier viel sicherer sind als an dem Ort, wo wir sie gefunden haben. Die Deltaner haben sich in Camelot gut eingelebt. Es gibt hier genug Wild für sie, und die Gorilloiden begreifen allmählich, dass es besser ist, sie nicht länger zu jagen.«

»Du willst ihre Siedlung wirklich Camelot nennen?« Marvin sah mich vorwurfsvoll an. »Jedes Mal, wenn du das sagst, muss ich an die Ritter der Tafelrunde denken.«

Ich grinste ihn mit erhobenen Augenbrauen an. »Das wäre doch ein gutes Leitbild.«

Marvin verdrehte die Augen und hielt den Globus an. »Ich werde auf jeden Fall mit meinen Untersuchungen fortfahren, aber die Voraussetzungen hier sind nicht sehr günstig. Auf der Erde konnten die Forscher auf vorhandenem Wissen aufbauen, und sie erkundeten eine Welt, die sie verstanden. Hier auf Eden ist alles neu für uns.«

»Stimmt. Und trotzdem haben sie Jahre gebraucht, um zum Beispiel das Schicksal der Anasazi-Kultur zu ergründen.« Ich ließ mich zurücksinken und schüttelte den Kopf. »Ja, ich verstehe, Marvin. Und es freut mich, dass du dich diesem Projekt widmen willst. Als ich hier ankam, habe ich zwar ein paar erste Erkundungen angestellt, aber das war damals nicht das Wichtigste für mich.«

Schmunzelnd nickte Marvin mir zu und verschwand aus meiner VR.

2

Siedlungsgebiet

Howard – September 2188

Vulkan

In der Science-Fiction-Literatur war die Kolonisierung eines neuen Planeten immer ein Klacks gewesen. Na ja, so ganz stimmte das auch wieder nicht. Leicht hatten es die fiktiven Siedler nie gehabt, da ständig irgendetwas aus der Wildnis hervorbrach und die Kolonie gefährdete. Damit hatten die Geschichten den Nagel auf den Kopf getroffen. Zumindest in gewisser Weise.

Wenigstens platzte bei uns niemandem etwas aus der Brust. Der Versuch, eine menschliche Siedlung auf Vulkan zu errichten, war eher so, als würde man von Enten zu Tode gepickt werden. Riesengroßen Enten, wohlgemerkt. Mit Klauen und Zähnen. Milos Bestandsaufnahme des planetaren Lebens ließ wenig Zweifel daran, dass wir die Bauarbeiten durch Verteidigungsmaßnahmen absichern mussten, denn das hiesige Ökosystem war sehr artenreich und wettbewerbsorientiert.

Die Kolonistenschiffe Exodus-1 und Exodus-2 umkreisten Vulkan, und derzeit befanden sich die meisten Siedler aus der VSE-Enklave noch in Stasis und warteten darauf, dass die Landnahme-Teams einen Wohnort für sie bereitstellten. Tag und Nacht rodeten Bauarbeiter, Sicherheitsmannschaften und Ingenieure den Dschungel und errichteten Behausungen für die erste Welle menschlicher Pioniere.

Von den VSE-Siedlern wurde im Gegenzug erwartet, dass sie die zukünftigen Kolonistenschiffe unterstützen würden. Die Exodus-3 war nur wenige Monate nach uns aufgebrochen, und Riker fabrizierte unter Hochdruck weitere Schiffe, die ihnen nachfolgen sollten.

Dabei hatten wir doch jetzt schon mehr als genug Druck.

Fünf Tage nachdem die ersten Menschen den Fuß auf Vulkan gesetzt hatten, forderte der Planet sein erstes Opfer.

[Ich empfange eine Botschaft des Sicherheitschefs. Es hat einen Angriff gegeben.]

Ich bedeutete Guppy mit einem Nicken, dass ich ihn verstanden hatte. Dann verkleinerte ich das Überwachungsfenster, das vor mir in der Luft geschwebt hatte, und wies die KMIs an, allein weiterzumachen. Die meisten Arbeitsschritte beim Bau des Ackerland-Donuts in der Planetenumlaufbahn konnten sie auch ohne mich ausführen, und sie würden mir eine Textnachricht schicken, sobald sie auf ein Problem stießen, für das ihre Kompetenz nicht ausreichte.

Ich drehte mich im Stuhl herum und sah Guppy fragend an, aber das GUPPI-Interface, dessen Avatar Admiral Ackbar nachgebildet war, schien nicht geneigt, mich mit weiteren Informationen zu versorgen. Stattdessen blinzelte er mich bloß mit seinen großen Fischaugen an und wartete auf ein Kommando. Als ich schließlich aufgab und mit der Hand wedelte, schob er das Videofenster zu mir herüber.

Es zeigte den Leiter der Sicherheit, Stéphane Brodeur, der augenscheinlich gerade eine massive Adrenalinausschüttung erlebte. Seine Augen waren weit aufgerissen, ein Schweißfilm stand ihm auf der Stirn, und seine Nasenlöcher waren gebläht. »Wir wurden angegriffen«, platzte er heraus, sobald er mich sah. »Von den theropodenartigen Raubtieren, die wir als Raptoren eingestuft haben. An der nordwestlichen Ecke des Zauns.«

Brodeur sprach mit einem ausgeprägten Quebec-Akzent, und ich fragte mich, wie er wohl einen Platz in der VSE-Kolonie ergattert hatte. Doch das war jetzt irrelevant. Rasch erhöhte ich meine Wahrnehmungsrate, bis alles um mich herum in Zeitlupe zu geschehen schien, und schickte ein paar Drohnen zu der Stelle, wo der Zaun errichtet wurde, ehe ich gleich darauf wieder in die Echtzeit zurückkehrte. Für einen Menschen war die eine Millisekunde lange Unterbrechung meines Bildes nicht zu bemerken gewesen. »Opfer?«

»Eines.«

»Tot?«

»Nein, aber der Lack muss ausgebessert werden.« Brodeur grinste mich an. Als er meinen neugierigen Blick bemerkte, fuhr er fort: »Ein paar Raptoren haben einen Bagger attackiert. Wir haben die meisten dieser Viecher getötet, und der Rest ist abgehauen. Einen der Kadaver haben wir Dr. Sheehy zur Autopsie geschickt.«

»Und was kann ich jetzt noch tun?«

Der Sicherheitschef schüttelte den Kopf. »Was diesen speziellen Angriff anbelangt, ist alles erledigt. Die Schäden werden behoben, und um die Angreifer haben wir uns auch gekümmert. Es wäre allerdings gut, wenn Sie irgendein Überwachungssystem installieren könnten.«

Ein nachvollziehbarer Wunsch. Ich nickte nachdenklich. »Ich habe ein paar Drohnen, denen ich diese Aufgabe jetzt gleich übertragen kann, Mr. Brodeur. Allerdings sind sie für diesen Zweck nicht optimal geeignet. Bill feilt in Epsilon Eridani mittlerweile schon seit ein paar Jahrzehnten an Überwachungs- und Erkundungsdrohnen herum. Ich lasse mir von ihm ein paar Pläne geben und werde etwas Geeignetes drucken. Dafür werde ich allerdings ein oder zwei Wochen brauchen. Können Sie so lange durchhalten?«

»Ich frage den Bauleiter, ob wir ein paar Arbeiten hintanstellen können, bis Sie fertig sind. Im Moment müssten wir unser Personal zu weitflächig verteilen.«

»Machen Sie das, Mr. Brodeur. Ich halte Sie auf dem Laufenden.«

Unmittelbar nachdem ich die Verbindung unterbrochen hatte, schickte ich Bill eine E-Mail und bat ihn um Informationen zu seinen Überwachungsdrohnen. Eigentlich hatte er sie für die Erkundung neuer Systeme entwickelt, aber sie würden sich für unsere Erfordernisse genauso gut eignen.

Als meine Drohnen beim halbfertigen Zaun eintrafen, wimmelte es dort noch immer von Sicherheitspersonal. Die Erde war feucht von Blut, das zum Glück jedoch von den Raptoren stammte. Am Rande des Geschehens stand ein sehr traurig aussehender Bagger, dessen leuchtendgelber Lack von langen Kratzern verunziert war. Ich fragte mich, ob seine KMI-Steuereinheit wohl eine Therapie benötigen würde.

Ein Trupp Arbeiter hievte mehrere Vogelkadaver auf die Ladeflächen von Transportlastwagen. Die Tiere glichen den Velociraptoren aus Jurassic Park so sehr, dass ihr Anblick jedem, der diesen Film kannte, unweigerlich Albträume bereiten musste. Doch anstelle der stiftförmigen Zähne im Maul jener irdischen Saurier besaßen diese Fleischfresser ein Gebiss, das an Haie erinnerte – dreieckige Hauer, gezackt und scharf wie Rasierklingen. Bislang hatten noch nicht mal unsere Automatikgewehre ihre Freude über das neu aufgetauchte Nahrungsangebot bremsen können.

Ich entdeckte Chief Brodeur, der die Aufräumarbeiten überwachte, und schwebte zu ihm hinüber.

Als die Drohne sich näherte, wandte er sich um und grinste. »Ich darf gar nicht daran denken, dass ich für das hier einen Schreibtischjob abgelehnt habe.«

Ich lachte. »Willkommen im Grenzland. Haben Sie sie alle erwischt?«

»Nein, zwei von ihnen haben wir entkommen lassen, damit sie ihre Freunde mit ihrer Furcht vor Menschen anstecken.«

»Meinen Sie, das funktioniert?«

Chief Brodeur lachte und schüttelte den Kopf. »Heute Nachmittag habe ich eine Unterredung mit dem Colonel. Vielleicht können Sie auch daran teilnehmen.«

»Er hat mich bereits dazu eingeladen, Mr. Brodeur. Wir sehen uns dann dort.«

Der Leiter der Sicherheit nickte der Drohne knapp zu und unterstützte dann seine Leute wieder bei der Arbeit. Ich nutzte die Gelegenheit, um die Baufortschritte zu begutachten.

Um ein Drittel der geplanten Stadt erstreckte sich ein fünf Meter hoher Zaun, der aus einheimischem Holz und Metall gefertigt war. Die vulkanischen Bäume waren ihren irdischen Pendants so ähnlich, dass die Bautrupps sie mit relativ geringem Aufwand bearbeiten konnten. Um die Sicherheit zusätzlich zu erhöhen, waren die Bäume in einem Streifen unmittelbar um den Zaun herum gerodet worden. Ich war mir nicht sicher, ob der Zaun hoch genug war, um die Brontos abzuhalten, aber niemand hatte mich nach meiner Meinung gefragt. Allerdings waren die Brontos wenigstens nicht auf Fleisch aus und würden höchstens aus Versehen auf Menschen treten.

Im Westen zeigte sich Vulkans Nachbarplanet Romulus am Himmel. Seine Wolkendecke und die Meere waren deutlich zu erkennen. Wenn die Exodus-3 eintraf, würden sich dort die Passagiere von der FAITH- und der Spitzbergen-Enklave niederlassen. Sobald die FAITH-Kolonie den Betrieb aufnahm, würde das Leben hier mit Sicherheit sehr interessant werden. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass neunzehn Jahre Stasis aus Pastor Cranston einen anderen Menschen machen würden. Der Führer der FAITH war von Haus aus alles andere als ein geselliger Typ, und sein Verhältnis zu den Bobs war von gegenseitigem Hass geprägt.

Ich ließ eine Drohne ein paar Hundert Meter weit aufsteigen und Kreisbahnen fliegen, um das Gelände nach Anzeichen von einheimischem Leben abzusuchen. Dabei stellte ich fest, dass in der näheren Umgebung keine weiteren Tiere lauerten, was vermutlich am Lärm der Automatikwaffen lag.

Da sich die Lage anscheinend beruhigt hatte, machten sich alle wieder an die Arbeit. Ich verließ die Drohne und kehrte in meine VR zurück. Seufzend rieb ich mir die Stirn. Manchmal vermisste ich es, ein Drittel des Tages zu verschlafen. Diese Auszeit von der Realität hatte sich als sehr angenehm erwiesen.

»Guppy, wir müssen die Arbeitspläne der Drucker anpassen.«

Guppy erschien und wartete stumm auf weitere Informationen. Während ich ihn ansah, überlegte ich, ob ich ihm ein anderes Äußeres verpassen sollte. Aber mir fiel nichts ein, und außerdem hatte sich dieser Admiral-Ackbar-Avatar bei den Bobs inzwischen zu einer Art Tradition entwickelt.

»Wir brauchen mehr Überwachungsdrohnen.«

[Sämtliche Druckergruppen sind derzeit mit der Fertigung von Bauteilen für die Orbitalfarmen beschäftigt. Möchten Sie diesen Prozess zurückfahren?]

»Hmm, nein, eigentlich nicht. Na gut, setz die Hälfte der Drucker auf die Drohnen an, und lass sie vier komplette Geschwader produzieren. Danach sollen sie wieder an den Ackerland-Donuts weiterarbeiten.«

[Aye.]

Guppy begab sich in den Kommandomodus und programmierte die 3-D-Drucker neu. Unterdessen wandte ich mich erneut zu den Videofenstern meiner aktiven Drohnen um. Obwohl ich wie gewünscht nun weitere Drohnen fabrizierte, beschlich mich das ungute Gefühl, dass ein paar Siedler ihr Leben verlieren würden, bevor der Zaun in Gänze errichtet war.

»Guten Tag, Colonel.« Im Videofenster war Colonel Butterworth zu sehen, der wie stets in einer tadellosen und völlig faltenfreien Uniform steckte. Ich fragte mich, wie er das hinbekam.

»Guten Morgen, Howard.« Er nickte meinem Abbild auf seinem Schreibtischtelefon zu. »Schön, Sie zu sehen. Ich habe vom heutigen Angriff gehört.«

Ich war überrascht, da ich mich nicht daran erinnern konnte, dass Riker auf der Erde jemals so freundlich von Colonel Butterworth begrüßt worden war, und ich war mir nicht sicher, ob ich das als Beleidigung für Riker auffassen oder mich darüber freuen sollte.

Der Führer der VSE-Enklave und Riker waren einander vom ersten Tag an nicht grün gewesen. Natürlich teilte ich alle diesbezüglichen Erinnerungen von Riker, bis zu dem Moment, als er mich geklont hatte. Butterworth als penetrant zu bezeichnen wäre eine klare Untertreibung gewesen, aber man musste ihm zugutehalten, dass er sich stets professionell verhielt.

Ich beschloss, mir deswegen keine weiteren Gedanken zu machen. Damals hatten andere Umstände geherrscht, und außerdem war ich nun mal nicht Riker.

»Ja, aber beim nächsten Mal werden wir nicht mehr so glimpflich davonkommen«, entgegnete ich. »Die Raptoren sind nicht dumm, und es wird ihnen sicher noch dämmern, dass Bagger nicht essbar sind. Wenn sie gut zwischen verschiedenen Farben unterscheiden können – wovon wir ausgehen müssen –, werden sie Leuchtendgelb schon bald mit ungenießbar und harte Schale verbinden und sich stattdessen auf die saftig weichen Zweibeiner konzentrieren.«

Butterworth schnaubte. »Ich habe gesehen, welche vorläufige Strategie Sie mit den Drohnen verfolgen, und ich lese gerade Ihre Planung für Beobachtungs- und Überwachungssysteme. Das sieht alles schlüssig aus. Ich hätte noch ein paar kleinere zusätzliche Vorschläge, mit denen wir uns befassen können, wann immer es Ihnen passt.«

Ich nickte wortlos. Die Vorschläge des Colonels waren unter Garantie keine schlechten, und ich würde sie mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgreifen. »Wo ist denn Mr. Brodeur? Sollte er nicht ebenfalls hier sein?«

»Ja, so war es geplant.« Der Colonel zuckte mit den Schultern. »Aber es ist etwas dazwischengekommen. Ich informiere ihn in einem gesonderten Termin und rufe Sie dazu, falls sich dabei weiterer Diskussionsbedarf ergibt.«

Ich nickte und blickte über die Schulter des Colonels auf die Risszeichnung der geplanten Stadt, die hinter ihm an der Wand hing. Ich deutete mit dem Kinn darauf. »Ganz schön veraltete Technik, so ein Papierplakat, meinen Sie nicht?«

»Ausdrucke haben nach wie vor ihre Berechtigung, Howard. Dieses Plakat ist viel größer als ein Bild auf einem Tablet-Bildschirm, und ich kann darauf Notizen mit einem Farbstift unterbringen. Natürlich fotografiere ich es auch regelmäßig.« Der Colonel lächelte mich auf gewohnt humorlose Art an. »Übrigens stehen wir kurz davor, die Agrarexperten aus der Stasis zu holen. Laut Mr. Brodeur wird das Ackerland innerhalb der nächsten Woche umzäunt sein.«

»Gut. Ernie und Bert können es kaum erwarten, endlich alle von Bord zu bekommen.«

Butterworth verzog das Gesicht, als ich die beiden Bobs auf den Kolonistenschiffen erwähnte. Schwer zu sagen, was ich lustiger fand – dass er sich so sehr an ihrer Namenswahl störte oder die Anspielung überhaupt verstand.

»In ungefähr einem Monat können wir diesen Schritt mit gutem Gewissen wagen, Howard.« Der Colonel streckte die Hand nach etwas aus, was außerhalb des Bildausschnitts lag. »Wenn Exodus-1 und Exodus-2 wieder bei der Erde sind, hat inzwischen vielleicht auch schon jemand ein weiteres bewohnbares System entdeckt, und sie können damit aufhören, die Leute zu uns zu transportieren.« Mit diesen Worten beendete er, ohne meine Antwort abzuwarten, das Gespräch.

3

Das Leben in Camelot

Bob – März 2166

Delta Eridani

Archimedes setzte das Knochenwerkzeug sorgfältig an und klopfte mit einem Stein darauf. Als vom großen Feuerstein ein kleines Stück abplatzte, nickte Moses anerkennend. Archimedes platzierte das Werkzeug für den nächsten Schlag und beobachtete Moses mit leicht vorwärtsgewandten Ohren. Auf eine kaum merkliche Geste des alten Deltaners hin versetzte Archimedes das Werkzeug ein winziges Stück nach links. Dann rollte er hochkonzentriert die Ohren ein und klopfte erneut sachte mit dem Stein darauf.

Der andere deltanische Jugendliche, den ich Richard nannte, hatte Archimedes zugesehen und versuchte nun, seine Technik zu kopieren. Aber sein Werkzeug rutschte vom Feuerstein ab und bohrte sich ihm stattdessen in den Fuß, worauf er aufsprang und wild fluchend auf einem Bein herumhopste.

Nach einer Weile bemerkte Richard Archimedes’ Grinsen und sah ihn finster an. Ehe er davonhumpelte, verglich er Archimedes noch fauchend mit den Fäkalien von Quasischweinen.

Moses und Archimedes waren die besten Feuersteinexperten und Werkzeugmacher ihrer Sippe. Und wenn man bedachte, wie Richard sich gerade angestellt hatte, offenbar immer noch die einzigen. Nach deltanischen Maßstäben war Archimedes ein Teenager. Die Pubertät hatte er mittlerweile zwar hinter sich gebracht, aber er war immer noch nicht ganz ausgewachsen. Dennoch war er mit Abstand der intelligenteste Deltaner der ganzen Siedlung und damit, soweit wir wussten, der intelligenteste Deltaner auf dem gesamten Planeten Eden.

Offenbar war Archimedes seit Jahren der Erste, dem Moses erklären konnte, wie man Feuersteine bearbeitete. Ein paar andere Jugendliche, darunter Richard, hatten zwar ebenfalls Interesse an diesem Handwerk bekundet. Doch die konnten sich nicht gut genug konzentrieren, um ein komplettes Werkzeug herzustellen. Höchstwahrscheinlich würde Archimedes erst unter seinem eigenen Nachwuchs weitere geeignete Lehrlinge finden.

»Moses sieht nicht gut aus«, bemerkte Marvin, der mir über die Schulter sah.

»Ja, ich weiß. Der Marsch vom alten Dorf hierher war wohl doch kräftezehrender, als wir erwartet hatten. Seit ihrer Ankunft sind bereits ein paar von den älteren Deltanern gestorben.«

Meine Theorie über Archimedes’ nächste Lehrlinge brachte Marvin zum Lachen. »Mir fallen mindestens zwei Frauen aus Archimedes’ Umfeld ein, die aktiv auf diesen Nachwuchs hinarbeiten.«

Ja, ja, die Adoleszenz war doch eine schöne Zeit … Neben seinen Fertigkeiten bei der Feuersteinbearbeitung und seinem umfassenden Talent als Werkzeugmacher sowie seiner Stellung als wichtigstes Sprachrohr des Baab war Archimedes trotz seiner Jugend auch noch ungewöhnlich charismatisch. All das kam beim weiblichen Geschlecht offensichtlich ziemlich gut an.

Archimedes legte den großen Feuerstein und die Werkzeuge beiseite. Dann stand er auf und reckte sich. Nachdem er und Moses noch ein paar Worte miteinander gewechselt hatten, ging der Ältere davon. Die Deltaner kannten keine Vollzeitarbeit. Stattdessen erledigten sie ihre Aufgaben nur, wenn es ihnen gerade in den Kram passte. Und anscheinend verspürten sie im Augenblick keine Lust.

Archimedes sah sich suchend um, bis er die Drohne entdeckte, mit der ich alles beobachtet hatte. Er grinste zu mir hoch und deutete mit dem Kopf zum Übungsgelände hinüber. Nach einem angedeuteten Nicken meiner Drohne begab er sich auf den Weg dorthin, und ich schwebte ihm hinterher.

Ich brach das Schweigen. »Es läuft wirklich gut. Mittlerweile scheinen sich alle eingelebt zu haben.«

Archimedes nickte und ging einen Augenblick lang still weiter. »Arnold ist glücklich mit der neuen Siedlung«, sagte er schließlich. »Wie nennst du sie doch gleich? Camelot?« Ich hatte meinen Namen für das Dorf einmal erwähnt, ohne das Übersetzungsprogramm dazwischenzuschalten. Archimedes mühte sich redlich, das Wort phonetisch korrekt wiederzugeben, aber kein Mensch hätte ihn verstanden.

»Lass uns bei deinem Namen bleiben, Archimedes. Meine Sprache lässt sich nur schwer ins Deltanische übertragen.«

»Von mir aus. Ich habe mir gerade fast die Kehle verrenkt. Wie auch immer … Arnold findet es gut, dass wir nur noch zwei Zugangswege und nicht mehr die gesamte Umgebung bewachen müssen.«

Camelot befand sich auf einer kleinen Hochebene, die nahezu vollständig von Schotterfeldern und Felsklippen umgeben war. Nicht zuletzt wegen einer Anhöhe im Zentrum, die wie die Kommandobrücke auf einem Schiff aussah, erinnerte mich das Terrain an einen Flugzeugträger. Wer ohne zu fliegen auf die Hochebene gelangen wollte, musste einem der beiden Pfade folgen, die in einem Winkel von ungefähr einhundertzwanzig Grad zueinander verliefen. Die Lage war viel günstiger als die ihres alten Dorfes, das auf einer Waldlichtung gestanden hatte, wo sie sich ständig und zumeist vergeblich gegen die Gorilloiden hatten wehren müssen.

»Dennoch hat es während der letzten zwei Handvoll Tage zwei Todesfälle gegeben, oder?«, fragte ich.

Archimedes zuckte mit den Schultern. »Die Gorilloiden sind nach wie vor ein Problem. Sie haben immerzu Hunger, und auf dieser Seite der Berge gibt es so viele von ihnen. Wenn wir uns vom Dorf wegbewegen, ist es hier schwerer, uns gegen sie zu verteidigen.«

Umso wichtiger war es, dafür zu sorgen, dass sie so selten wie möglich die Siedlung verlassen mussten, und genau aus diesem Grund wollte ich ihnen unter anderem beibringen, wie man Herdentiere hielt. Allerdings musste ich dafür erst einmal eine geeignete Tierart ausfindig machen. Ich wandte den Blick kurz vom Drohnenfenster ab und schüttelte seufzend den Kopf. Meine To-do-Liste wurde immer länger.

Allmählich überkam mich das Gefühl, dass mir die Situation über den Kopf wuchs. Ich hatte mich dazu entschlossen, die Deltaner vor dem Aussterben zu bewahren. Und seither entwickelte sich das, was ursprünglich mit einer kleinen heimlichen Intervention begonnen hatte, unaufhaltsam zu einer Vollzeitstelle als der hiesige Himmelsgott Baab. Irgendwann würde ich sie hoffentlich wieder ihrem Schicksal überlassen können, aber bis dahin verging wahrscheinlich noch mindestens eine Generation.

Da wir mittlerweile das Übungsgelände erreicht hatten, beschloss ich, das Thema für den Moment ruhen zu lassen. Der Begriff Übungsgelände war natürlich ein bisschen zu hoch gegriffen. Tatsächlich handelte es sich nur um ein flaches Areal am Steilhang der zentralen Erhebung, wo die Deltaner Ziele aufstellten, um die neue Technik des Speerwerfens zu trainieren.

Wir sahen ein paar Minuten lang zu. Die meisten Deltaner schleuderten ihre Speere mit der Spitze voran in die richtige Richtung. Jedenfalls meistens. Ein direkter Treffer ins Ziel war jedoch etwas Besonderes und wurde normalerweise mit ausgedehnten Freudentänzen und spöttischen Bemerkungen in Richtung der anderen Übenden gefeiert. Für die Mehrheit blieben präzise Würfe allerdings ein unerfüllbarer Wunschtraum. Einige stellten sich ziemlich dämlich an, und ein paar konnten sich nicht einmal merken, welches Ende des Speers beim Wurf nach vorn zeigen musste. Diese Deltaner wurden meistens zur Jagd auf Quasischweine eingeteilt, wo man die Waffe ständig in der Hand behielt.

Archimedes war außerordentlich geschickt im Umgang mit dem Speer, aber er hatte nicht genügend Kraft im Oberkörper, um ihn weit zu schleudern. Sobald er erwachsen war, würde er jedoch ein großartiger Werfer sein.

Das andere Ausnahmetalent in dieser Disziplin war Arnold. Er besaß ein intuitives Gespür für alles, was mit dem Töten zu tun hatte. Als Krieger war er ein Naturtalent und hatte als erster Deltaner einen Gorilloiden mit einem Faustkeil erlegt, wobei er der Bestie mit einem einzigen Schlag den Schädel gespalten hatte. Arnold war annähernd so groß wie ein jugendlicher Gorilloid, weswegen ihm im Allgemeinen kaum jemand zu widersprechen wagte.

Er lief von einem zum anderen, erteilte Ratschläge und rief aufmunternde Worte. Ich deaktivierte vorübergehend den Lautsprecher der Drohne, damit er mein Kichern nicht ausgab, denn ich hatte das Übersetzungsprogramm so programmiert, dass Arnold Englisch mit österreichischem Akzent sprach. Darüber konnte ich mich immer wieder aufs Neue köstlich amüsieren.

»Wie kommst du mit der Medizinfrau zurecht?«, unterbrach Archimedes meine Gedanken.

Ich erschauderte. Erstaunlicherweise zeigten die Deltaner nur wenig Ehrfurcht vor Baabs göttlicher Autorität, ganz besonders Cruella. Eine Sippe von Urzeitmenschen wäre mir regelrecht an den Lippen gehangen, aber die Deltaner erwiesen sich als ziemlich skeptisch und neigten dazu, alles in Frage zu stellen. Ich erinnerte mich nur ungern an meinen ersten Versuch, sie für den Bau von Zelten zu begeistern. »Nicht sehr gut. Entweder glaubt sie nicht, was ich ihr sage, oder sie beharrt schlicht auf ihren gewohnten Methoden. Zwar macht sie gelegentlich auch Zugeständnisse, aber es bleibt ein harter Kampf.«

Archimedes grinste zur Drohne herauf. »Willkommen in meiner Sippe. Vielleicht solltest du einen deiner fliegenden Felsen auf sie schleudern.«

Ich lachte, nicht nur über seine witzige Bemerkung, sondern auch deshalb, weil sie genauso von mir hätte stammen können. Archimedes hatte meinen trockenen Humor sofort verinnerlicht, aber außer ihm begriffen höchstens noch sechs andere Deltaner, was Sarkasmus war.

Einen Brecher gegen die Medizinfrau einzusetzen war tatsächlich eine verlockende Idee. Wenn man von einer vierzig Pfund schweren Stahlkugel mit eigenem Antrieb getroffen wurde, gingen einem schnell die Argumente aus. »Ich werde darüber nachdenken. Immerhin hat sie sich jetzt darauf eingelassen, Wunden so zu säubern, wie ich es ihr geraten habe. Sie ist also nicht völlig beratungsresistent, sondern lediglich sehr konservativ.«

Archimedes zuckte mit den Schultern. Mit dieser Art von Rückständigkeit hatte er sich bereits sein ganzes Leben herumschlagen müssen. Es belustigte ihn jedes Mal, wenn ich von dieser Haltung seiner Artgenossen überrascht war.

Wir folgten dem Pfad, der auf die Erhebung hinaufführte, deren Grundfläche in etwa so groß war, dass ein kleines Haus darauf Platz gefunden hätte. Als Bauland wäre die Stelle allerdings kaum geeignet gewesen, da sie keinerlei Schutz vor Wind und Wetter bot. Dafür hatte man von dort oben einen spektakulären Ausblick. Und wenn die Sonne schien, versammelten sich auf der Anhöhe die jugendlichen Deltaner, die wie alle Teenager im Universum den Erwachsenen aus den Weg gehen wollten.

Als Archimedes mit der fußballgroßen Drohne neben der Schulter über die Hangkante kam, wurden wir einen Moment lang angestarrt. Aber mittlerweile waren die Jugendlichen unseren Anblick gewöhnt, und so wandten sie sich bald wieder ihrer bisherigen Beschäftigung zu. Anscheinend spielten sie gerade Rinjhaxa, eine Art Mikado, bei der man Wetten abschloss. Es erstaunte mich immer wieder, wie sehr die Deltaner den Menschen glichen. Bislang kannten wir nur zwei Vergleichsgruppen, aber ich fragte mich dennoch, ob die Entwicklung und das Verhalten intelligenter Spezies universellen Mustern folgten.

Archimedes winkte Diana zu, die mit ein paar Freundinnen zusammensaß. Lächelnd winkte sie zurück. Dann warf sie der Drohne einen finsteren Blick zu und wandte sich ab. Sie war sicher nicht mein größter Fan. Soweit ich wusste, hatte ich ihr nie einen Grund gegeben, mich zu hassen, aber vielleicht glaubte sie auch nur, mit mir um Archimedes’ Aufmerksamkeit buhlen zu müssen.

Archimedes setzte sich hin und sah zu der Gebirgskette hinüber, die im Nordosten den Kontinent durchschnitt. Ich ließ die Drohne so tief hinabsinken, dass wir uns bequem unterhalten konnten, und genoss ebenfalls die Aussicht.

Einer der beiden Monde, die Eden umkreisten, leuchtete am Himmel. Er sah doppelt so groß wie der Erdmond aus. Die Sonne, die bereits tief im Westen stand, tauchte die vereinzelten Wolken in ihr goldenes Licht. Der Wald, der sich von einem Horizont zum anderen erstreckte, hätte genauso auf der Erde wachsen können – bevor die Menschen anfingen, den gesamten Planeten zu roden.

Archimedes deutete auf die Berge in der Ferne. Die meisten Gipfel waren hoch genug, um das ganze Jahr über von Schnee bedeckt zu sein. »Das war ein langer und beschwerlicher Marsch. Aber immerhin hatten wir ein Ziel, als du uns hierhergeführt hast. Für unsere Eltern und deren Eltern muss die Reise in die Gegenrichtung noch viel schlimmer gewesen sein, da sie doch keine Ahnung hatten, was am Ende auf sie warten würde.« Er sah zur Siedlung zurück, die sich unter uns auf der Hochebene ausbreitete. »Hier haben wir es viel besser, wenn man von den Gorilloiden absieht.« Archimedes bleckte die Zähne, was ich, ohne nachdenken zu müssen, als besorgten Ausdruck interpretierte.

»Das ist gut, Archimedes. Mir ist wichtig, dass sich dein Volk erfolgreich behauptet. Ich weiß nicht, ob es auf all den Welten im Himmel noch viele andere vernunftbegabte Spezies gibt, aber jede einzelne ist unersetzlich. Bislang haben meine Brüder noch keine weiteren Anzeichen für intelligentes Leben entdeckt.«

»Wie viele Baabs gibt es?«

Die Frage brachte mich zum Lächeln, aber das konnte Archimedes natürlich nicht sehen. »Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht. Bevor ich das letzte Sternensystem verließ, habe ich vier hergestellt, aber die haben hoffentlich noch weitere geschaffen. Hier habe ich bislang drei produziert. Zwei sind mittlerweile weitergezogen, nur Marvin ist noch da und hilft mir.«

»Ihr produziert Brüder?«

»Das ist nicht leicht zu erklären, Archimedes. Ich bestehe nicht aus Fleisch und Blut wie du. Jeder Bruder, den ich schaffe, ist eine Kopie von mir, mit all meinen Erinnerungen. Allerdings haben wir leicht unterschiedliche Charaktereigenschaften. Marvin ist zum Beispiel vorsichtiger als ich und zügelt mich, wenn meine Pläne allzu kühn ausfallen.«

Archimedes starrte die Drohne einen Moment lang an, ehe er den Blick abwandte. »Jede Antwort, die du gibst, wirft neue Fragen auf, und ich komme nicht mehr hinterher. Ich sollte mich auf das konzentrieren, was für meine Sippe wichtig ist.«

Ich lachte, was das Übersetzungsprogramm in den entsprechenden deltanischen Ausdruck von Belustigung umwandelte. »Das verstehe ich gut, Archimedes. Ich habe mit einem ganz ähnlichen Problem zu kämpfen, das ich als meine To-do-Liste bezeichne. Und die wird immer länger.«

Archimedes grinste mich an und wandte sich dann wieder dem Bergpanorama zu. Und so genossen wir in trautem Schweigen den Ausblick, er im Sitzen und ich schwebend.

4

Wasserplanet

Mulder – Oktober 2170

Eta Cassiopeiae

Eta Cassiopeiae war ein Doppelsternsystem mit langer Umlaufzeit. Der hellere der beiden Sterne, Eta Cassiopeiae A, gehörte zur Klasse G3V und war nur ein wenig größer und heller als die irdische Sonne. Die Entfernung zwischen Eta Cassiopeiae und Epsilon Eridani betrug 19,5 Lichtjahre, was nicht gerade ein Katzensprung war, aber alle näherliegenden aussichtsreichen Kandidaten waren bereits vergeben gewesen, und als Mitglied von Bills dritter Kohorte musste ich wohl oder übel mit dem vorliebnehmen, was noch übrig war. Die meisten Sterne verteilten sich auf die Klassen K und M, und ich hatte mir kaum vorstellen können, dass ein Planet mit fixer Rotationsachse, der sich innerhalb der Chromosphäre seines Muttersterns befand, ein lohnendes Reiseziel wäre.

Und so war ich nun also mehr als zwanzig Jahre nach meinem Aufbruch hier angekommen. Inzwischen würden Homer und Riker das irdische Sonnensystem längst erreicht und herausgefunden haben, wie die Lage dort war.

Grinsend dachte ich an die erste Zeit in Epsilon Eridani zurück. Homer war wirklich ein komischer Vogel, und ich ging davon aus, dass er sich seinen Namen unter anderem deswegen ausgesucht hatte, weil er wusste, dass er die anderen Bobs damit vor den Kopf stoßen würde. Als mir die Frage durch den Kopf schoss, ob Riker inzwischen wohl ganz aus Versehen ein paar Brecher auf ihn abgefeuert hatte, musste ich so laut lachen, dass Guppy mir einen besorgten Fischblick zuwarf.

Ich hob Spike von meinem Schoß und setzte sie auf den Schreibtisch. Dann erhob ich mich und trat in die Sonne hinaus. Meine VR war ein tropischer Ort mit Hütten ohne Seitenwände, zu dem mich Gilligans Insel inspiriert hatte. In der wahren Welt wären solche Gebäude natürlich äußerst unpraktisch gewesen, aber in der VR konnte man tun und lassen, was man wollte.

Guppy folgte mir hinaus. [Die Resultate sind da. Wir haben keine jupiterähnlichen Planeten entdeckt.]

»Keinen einzigen?« Ich runzelte die Stirn. »Ist das gut oder schlecht?«

[Diesbezüglich besitze ich keine ausreichenden Informationen.]

Ich nickte gedankenverloren und drehte mich zum Strand um. Einen Augenblick lang genoss ich die Sonne und das Rauschen der Wellen. Irgendwann würde ich mich an dieser Umgebung vielleicht sattsehen, aber bis dahin war es noch lange hin. Der Anblick erfüllte mich mit Bedauern, dass ich zu meinen Lebzeiten nie an einem solchen Ort Urlaub gemacht hatte.

Ich holte tief Luft und ging an Guppy vorbei in die Hütte zurück. Der Holotank zeigte eine Karte des Sternensystems, die mittlerweile zu rund fünfundneunzig Prozent datenbasiert war. Vielleicht gab es noch ein paar kleinere Himmelskörper, die uns entgangen waren, aber ich bezweifelte, dass diese Objekte für uns relevant waren.

Im Periastron betrug die geringste Distanz zum Schwesternstern Eta Cassiopeiae B sechsunddreißig AE, was bedeutete, dass weiter als neun AE von Eta Cassiopeiae A entfernt wahrscheinlich keine Planeten zu finden sein würden. Und es hieß außerdem, dass die Objekte der Oortschen Wolke und des Kuiper-Gürtels wohl mehrfach durcheinandergewirbelt worden waren und infolgedessen auf sämtlichen Planeten in diesem System einige schwere Meteoritenschauer niedergegangen sein mussten. Das Gute daran war, dass es mittlerweile wahrscheinlich nur noch wenig gab, was die Planetenbahnen kreuzen konnte.

»Dieser hier.« Ich zeigte auf den dritten Planeten. »Er liegt genau in der Mitte der bewohnbaren Zone. Wissen wir schon, wie groß er ist?«

[Nein. Aber die spektroskopische Analyse deutet auf Sauerstoff und Wasser hin.]

»Ach, das ist ja hervorragend.«

[Außerdem scheint der Planet in seiner Umlaufbahn leicht zu taumeln, was auf einen Trabanten schließen lässt.]

»Das wird ja immer besser. Okay, Guppy, dann nimm mal Kurs auf den dritten Planeten.«

[Soll ich Schürf- und Erkundungsdrohnen losschicken?]

»Nein, lass uns erst mal rausfinden, ob es sich überhaupt lohnt, in diesem System zu bleiben.«

Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Guppy enttäuscht war, obwohl ich unmöglich hätte beschreiben können, wie ein enttäuschter Fisch aussah.

Nachdenklich betrachtete ich das vor mir schwebende Bild. Wir hatten noch vier weitere Felsplaneten aufgespürt, zwei innerhalb und zwei außerhalb der bewohnbaren Zone, aber keiner von ihnen war jupiterähnlich. Das beunruhigte mich ein bisschen, da Jupiterartige das Innere eines Sternensystems in der Regel relativ sicher machten, indem sie alles ablenkten, was sich vom äußeren System her näherte.

Besorgniserregender war jedoch, dass es keinen nennenswerten Asteroidengürtel gab. Laut Rahmenplan des HEAVEN-Projekts sollten wir die Mineralvorkommen der jeweiligen Asteroidengürtel dazu nutzen, in jedem Sternensystem eine Raumstation und weitere Bobs herzustellen. Dass hier kein Asteroidengürtel existierte, würde möglicherweise zum Problem werden.

Ach was. Ein Schritt nach dem anderen.

Der Flug bis zum dritten Planeten dauerte ein paar Tage, und ich nutzte die Zeit für eine dezidierte systemweite Suche nach weniger dichten Asteroidengürteln, die ich bisher möglicherweise übersehen hatte. Aber dabei kam nichts heraus. Das gesamte System war komplett leergefegt. Also hatte ich fünf Planeten mit einer unbekannten Anzahl von Monden, auf denen ich nach Rohstoffen schürfen konnte. Aber wenn ich das tun wollte, musste ich mir eine völlig neue Herangehensweise einfallen lassen.

Ich nahm auch die Monde des dritten Planeten ins Visier. Zwei von ihnen waren von beträchtlicher Größe, einer halb, der andere etwa ein Fünftel so groß wie der Erdmond. Außerdem gab es noch zwei kleinere, in niedrigerer Umlaufbahn um den Planeten, die im Grunde genommen jedoch nichts als größere Felsbrocken waren. Der Planet selbst war etwas kleiner als die Erde, mit etwa siebenundachtzig Prozent ihrer Oberflächenschwerkraft und einer Rotationszeit von sechsundzwanzig Stunden. Die Atmosphäre war wunderbar erdähnlich, nur der Sauerstoffgehalt fiel ein wenig höher aus.

Als Nächstes ging ich in eine polare Umlaufbahn und begann mit den Tiefenscans. Der Planet war von zahlreichen Wolken bedeckt, genau wie die Erde. Das war ein gutes Zeichen, da Wolken auf stabile Wetterverhältnisse hindeuteten. Es gab auch viel Wasser auf der Oberfläche. Tatsächlich hatte ich bislang nichts anderes als Wasser gesehen.

»Haben wir mittlerweile auch Land entdeckt?«

[Nein.]

»Nun, das ist … nicht gut. Gib mir Bescheid, sobald wir etwas gefunden haben.«

[Aye.]

[Die Scans sind abgeschlossen.]

»Aber du solltest mir doch Bescheid geben, sobald … oh.«

Als ich die Scans durchging, fing ich schallend zu lachen an – was sich übrigens auch in der VR-Simulation erstaunlich gut anfühlte.

Der Planet verfügte über Wasser. Und wie! Was er nicht hatte, waren Landmassen. Nichts. Nada. Nicht mal ein Atoll. Diese Kugel war ein einziger riesiger Ozean. Es gab auch keine Eiskappen, auf denen man stehen konnte.

Was die Frage aufwarf, woher der Sauerstoff in der Atmosphäre stammte. Auf der Erde wurde er von grünen Pflanzen produziert, aber die wuchsen zumeist nur auf festem Boden.

»Guppy, bist du dir sicher, dass es hier Chlorophyll geben muss?«

[Ja.]

Eigenartig. Offensichtlich übersah ich irgendetwas. Das musste ich genauer überprüfen.

Auf dem Hinflug hatte ich eine Nachricht von Bill erhalten, mit Bauplänen für planetare Erkundungsdrohnen. Aber ohne Rohstoffe, aus denen ich sie herstellen konnte, nützte mir das gar nichts.

Seufzend drehte ich mich zu Guppy um, der wie üblich in Rührt-Euch-Stellung dastand. »Am besten nehmen wir das ganze System unter die Lupe. Berechne einen Kurs, der uns zu sämtlichen Planeten führt. Zuallererst sehen wir uns die Monde dieses Planeten an.«

[Aye.]

Es dauerte mehrere Wochen, bis wir die Planeten und ihre Trabanten abgeklappert hatten. Und während ich durch das System düste, fand ich ein paar Asteroiden mit vergleichsweise exzentrischen Umlaufbahnen. Mit einem Kaffee in der Hand lehnte ich mich in meinem Liegestuhl zurück und nahm mir die Erkundungsberichte vor. Im System gab es viel Metall, anscheinend sogar etwas mehr als im irdischen Sonnensystem, allerdings befand es sich ausnahmslos auf den Planeten. Offenbar war hier all der Weltraummüll, der für gewöhnlich in einem Sternensystem herumtrieb, auf den Planeten eingeschlagen. Ich konnte nur vermuten, dass die physikalischen Eigenschaften des Doppelgestirns und das Fehlen eines jupiterähnlichen Planeten irgendeine merkwürdige Ereigniskette in Gang gesetzt hatten, in deren Verlauf das System blitzblank geputzt worden war. Ein Astrophysiker hätte diesen Effekt sicher erklären können, und ich nahm mir vor, gründlich darüber nachzugrübeln, sobald ich die Zeit dafür fand.

Ich flog zum vierten Planeten, dessen Mond dicht unter der Oberfläche reichhaltige Erzvorkommen aufwies. Dort errichtete ich eine autonome Fabrik und fütterte sie mit mehreren Drohnen und Roamern, die sie nach einer Woche zu einer Handvoll kleiner Raumfrachter recycelt hatte. Anschließend schickte ich diese, vollgepackt mit Schürfdrohnen, zur Mondoberfläche hinunter.

Derweil ging ich noch einmal konzentriert die Scans des dritten Planeten durch. Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass sämtliches Wasser auf der Erde möglicherweise von einem einzigen Eiskometen mit einem Durchmesser von tausend Kilometern stammte. Wenn man die Masse aller Objekte in der Oortschen Wolke des irdischen Sonnensystems bedachte, war das kaum mehr als ein Staubkorn. Da es in Eta Cassiopeiae keine Wolke mehr gab, stand zu vermuten, dass die hiesigen Planeten in ihrer Frühzeit von regelrechten Meteoritenstürmen erschüttert worden waren.

Während die Schürfdrohnen auf dem Mond schufteten, überlegte ich, ob es sinnvoll war, den Planeten als mögliches Besiedlungsziel zu melden. Er verfügte zwar über Sauerstoff und Wasser, aber es würde unglaublich aufwendig sein, eine geeignete Basisstation auf ihm zu errichten. Aus den Bibliotheken wusste ich, dass man auf der Erde im zweiundzwanzigsten Jahrhundert mit dem Bau schwimmender Städte begonnen hatte, aber die Industrieanlagen, von denen sie damals versorgt wurden, konnten nur an Land betrieben werden.

Na ja, darüber musste ich mir nicht den Kopf zerbrechen. Ich würde meinen Bericht abschicken und alles Weitere den Entscheidern überlassen – sofern es überhaupt noch jemanden gab, der Entscheidungen traf. Schließlich war es durchaus möglich, dass der Krieg inzwischen die gesamte Menschheit ausgelöscht hatte. In diesem Fall wären meine hiesigen Bemühungen völlig sinnlos.

Irgendwann würde Riker Bill darüber informieren, wie die Dinge auf der Erde standen, und der würde die Neuigkeiten in einem seiner regelmäßigen Blogs an uns alle weitergeben. Doch solange ich keine gegenteiligen Anweisungen erhielt, würde ich weiterhin meinen Verpflichtungen als Von-Neumann-Sonde nachkommen. Das war ich Dr. Landers schließlich schuldig.

[Die KMI zur Fabriksteuerung ist ab sofort in Betrieb.]

»Cool. Vielen Dank, Guppy. Sag ihr, dass sie mit der Produktion von ein paar Bobs beginnen soll. Danach kommt die Raumstation an die Reihe.«

[Aye.]

Bei standardisierten Herstellungsprozessen hielt sich die Künstliche Maschinenintelligenz an genaue Ablaufpläne und würde mich nur kontaktieren, falls sie auf Probleme stieß, für die sie nicht programmiert war.

Da die verschiedenen Fertigungsschritte mehrere Monate in Anspruch nehmen würden, flog ich mit ein paar Erkundungsdrohnen zum dritten Planeten zurück, um ihn noch mal genauer zu inspizieren. Als Erstes machte ich einen Tiefenscan des Ozeans, der sich wirklich lohnte. Alles in allem musste ich die Messgeräte dreimal neu kalibrieren, bis ich endlich den Grund des Meeres aufspürte – und zwar in einer Tiefe von achthundert Kilometern. Das war völlig verrückt. Ich hatte über den Bau künstlicher Inseln nachgedacht, aber sofern dort unten nicht irgendwo ein Mount Lookitthat existierte, würde es dicht genug unter der Wasseroberfläche nichts geben, an dem man sie verankern oder worauf man sie errichten konnte.

Ungläubig starrte ich einen Moment lang die Ergebnisse an, ehe ich mich zu Guppy umwandte. »Erstelle mit den derzeitigen SUDDAR-Einstellungen eine exakte Karte des Meeresbodens. Melde dich bei mir, wenn der Globus komplett ist.«

[Aye.]

Als ich mit einem Teleskop grüne Flecken auf der Meeresoberfläche entdeckte, schickte ich ein paar Drohnen hinunter, die sich die Sache genauer ansehen sollten. Und so fand ich heraus, wie der Sauerstoff in die Atmosphäre kam. Bestimmte Unterwasserpflanzenarten hatten im Lauf ihrer Evolution erkannt, dass sie viel mehr Licht abbekamen, wenn sie auf dem Wasser schwammen, und so verbanden sie sich zu großen Matten, die sich mehrere Kilometer weit ausdehnten. Eine Biodrohne entnahm für mich mehrere Proben.

Für den Einsatz unter der Meeresoberfläche waren die Drohnen leider nicht geeignet, da der SURGE