Die Singularitätsfalle - Dennis E. Taylor - E-Book

Die Singularitätsfalle E-Book

Dennis E. Taylor

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Beschreibung

Schon sein ganzes Leben lang wird Bergmann Ivan Pritchard vom Pech verfolgt. Um seiner Familie endlich ein komfortableres Leben zu ermöglichen, möchte er sein Glück nun mit Asteroiden versuchen und heuert auf der »Mad Astra« an. Doch der Neue auf dem Schiff zu sein, ist gar nicht so einfach: Die Crew schikaniert ihn, und gewöhnt man sich eigentlich jemals an diese Schwerelosigkeit? Als sich aus den Tiefen des Alls eine dunkle Bedrohung nähert, die die Erde auszulöschen könnte, beschließt Ivan, sein Schicksal endlich selbst in die Hand zu nehmen ...

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Seitenzahl: 504

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Das Buch

Schon sein ganzes Leben lang wird Bergmann Ivan Pritchard vom Pech verfolgt. Um seiner Familie endlich ein komfortableres Leben zu ermöglichen, möchte er sein Glück nun mit Asteroidenbergbau versuchen und heuert auf der Mad Astra an. Doch der Neue auf dem Schiff zu sein, ist gar nicht so einfach: Die Crew schikaniert ihn, und gewöhnt man sich eigentlich jemals an diese Schwerelosigkeit? Dann wird der frischgebackene Weltraum-Bergmann bei einer Expedition auch noch von einer seltsamen Substanz berührt. Ivan hat sich mit Naniten, zellengroßen Minirobotern, infiziert und verwandelt sich nach und nach in einen Mann aus Chrom. Nachdem seine Umwandlung abgeschlossen ist, beginnt eine Art Supercomputer mit ihm zu kommunizieren, der ihm mitteilt, dass der Kalte Krieg der irdischen Nationen sich zu einem Konflikt zwischen den außerirdischen Uploads und den Künstlichen ausweiten wird und dass dies – egal, welche Seite gewinnt – den Untergang der Menschheit bedeutet ...

Der Autor

Dennis E. Taylor war früher Programmierer und arbeitete nachts an seinen Romanen. Mit Ich bin viele, dem Auftakt seiner neuen Romanreihe um die künstliche Intelligenz Bob Johansson, gelang ihm der Durchbruch als Schriftsteller. Seither widmet er sich ganz dem Schreiben. Von Dennis E. Taylor ist bereits im Heyne Verlag erschienen: Ich bin viele, Wir sind Götter, Alle diese Welten.

Mehr über Dennis E. Taylor und seine Werke erfahren Sie auf:

DENNIS E. TAYLOR

DIE

SINGULARITÄTS-

FALLE

ROMAN

Aus dem Amerikanischen übersetzt

von Urban Hofstetter

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe

THE SINGULARITY TRAP

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter

enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine

Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen,

sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der

Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 03/2020

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Copyright © 2018 by Dennis E. Taylor

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe

und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,

unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-22391-5V001

www.diezukunft.de

Wie immer möchte ich dieses Buch meiner Frau Blaihin und meiner Tochter Tina widmen.

»Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden?«

Markus 8,36

Abkürzungsverzeichnis

IHM

Interplanetare Handelsmarine

IBS

Interplanetare Behörde für Seuchenschutz

IWI

Interplanetares Wissenschaftliches Institut

NVEN

Navy der Vereinten Erdnationen

RV

Raketengetriebe Vektoranpassung

SSR

Sino-Sowjetisches Reich

SWK

Strategisches Weltraumkommando

VEN

Vereinte Erdnationen

WQRT

Weiterentwickelte Quantenresonanz-Tomografie

Personenverzeichnis

Besatzung der Mad Astra

Andrew Jennings

Captain

Dante Aiello

Erster Maat

Albert Micoroski

Pilot, Astrogator

Lita Generus

Co-Pilotin, Kabinenchefin

Charlie Kemp

Arzt

Duncan MacNeil

Ingenieur

Ivan Pritchard

Computerspezialist

Seth Robinson

Mannschaftsmitglied und Freund

Tennison Davies

Mannschaftsmitglied

Arcadius Geiger

Mannschaftsmitglied (der andere Neuling)

Raul Alfaro

Mannschaftsmitglied

Willoughby Todd

Mannschaftsmitglied

Robert Sala

Mannschaftsmitglied

Fredric Robertsson

Mannschaftsmitglied

Aran Sokal

Spezialist für Steuerungssysteme

Aspasia Nevin

Scooter-Pilotin

Lorenza Raske

Spezialistin für Minenroboter

Cirila Heinrichs

Geologin

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Interplanetaren Behörde für Seuchenschutz

Madhur Narang

Leitende forensische Pathologin, IBS

Karin Laakkonen

Direktorin, IBS

Haruki Nakamura

Stellvertretender forensischer Pathologe, IBS

Noelia Sandoval

Ärztin

Henry Samuelson

Arzt

Alwin Schulze

Physiker

Matt Siegel

Computerspezialist

Personal der Navy der Vereinten Erdnationen

Admiral Theodore Moore

Vorsitzender der Quarantäne-Kommission

Commodore Michael Gerrard

Quarantäne-Kommission

Admiral Alan Castillo

Quarantäne-Kommission

Rear Admiral Georgia RichardsQuarantäne-Kommission

Commodore Alice Nevin

Quarantäne-Kommission

Lieutenant Colonel Neil Martinson

Quarantäne-Kommission

Lieutenant George Bentley

Moores Adjutant

Captain Xuân Lê

Kommandeur der Fregatte Outbound

Captain Norman Harding

Kommandeur des Kreuzers Resolute

Commodore Rani Mandelbaum

Leiter der Task Force

Lieutenant Ernest Voigt

Verhörspezialist

Merkur-Bewohner

Emilia Jonquers

Bürgerin von Vulkanschmiede

Bruce Jonquers

Bergbauspezialist, Emilias Ehemann

Ian & Caleb Jonquers

Emilias Söhne

Erde

Judy Pritchard

Ivans Ehefrau

Josh & Suzie Pritchard

Ivans Kinder

Roger

Tennisons Lebensgefährte

1

Abgesandter

Nach einem letzten Schubs des Sonnenwindes trieb der Reisende in der Umlaufbahn. In dieser Entfernung zum hiesigen Stern war er nur eins von vielen unbedeutenden Treibgutstücken. Ein Stromfluss in den Leitungen brachte das Segel dazu, sich zu einem kompakten Paket zusammenzufalten.

Der Flug bis hierher hatte Jahrtausende gedauert, aber dem Reisenden war es nicht möglich, Langeweile oder Ungeduld zu empfinden. Und er war auch nicht nervös wegen der vielen weiteren Flüge, die noch vor ihm lagen. Er ging seine Checkliste durch, fuhr einige Systeme herunter und aktivierte andere. Ein paar Wartungsarbeiten standen an, für die es auf den Asteroiden in der Umgebung mehr als genug Rohstoffe geben würde.

Der Reisende suchte das Sternensystem nach Planeten oder Monden ab, die zu einer der vorgegebenen Kategorien passten. Fast unverzüglich hatte er Erfolg. Ein blaugrüner Planet mit starken spektroskopischen Linien, die auf Sauerstoff und Wasser hinwiesen sowie auf eine von vielen biologischen Strategien, Sonnenlicht zu speichern. Er entdeckte weder künstliches Licht noch Funkverkehr, aber das kümmerte den Reisenden nicht. Er wusste nicht, ob sich auf diesem Planeten intelligentes Leben entwickeln würde. Doch er selbst würde ohnehin längst weg sein, wenn es sich entschied.

Der Reisende schickte eine Drohne zum nächstgelegenen Asteroiden. Nachdem die nötigen Rohstoffe abgebaut und die Reparaturarbeiten durchgeführt waren, konstruierte er einen Abgesandten, der auf die Entstehung irgendeiner intelligenten Lebensform warten sollte.

Der Reisende fühlte keine Freude oder Zufriedenheit – die Schöpfer hatten sehr sorgfältig darauf geachtet, seine Empfindungsfähigkeit einzuschränken. Das war ihm bewusst, aber er hatte keine Meinung dazu.

Auf jeden Fall war dieser Zwischenstopp erfolgreich gewesen. Er hatte verschiedene Punkte auf der Checkliste abgehakt und weitere Zielbäume aktiviert.

Nun war es an der Zeit, wieder aufzubrechen. Ein Spannungsanstieg in den Ankerleitungen, und das Segel entfaltete sich. Langsam, beinahe unmerklich begann der Reisende seinen jahrtausendelangen Flug zum nächsten Kandidatenstern.

Er konnte warten.

2

Start

»Eine Minute bis zum Start.«

Ivan umklammerte seine Armlehnen noch fester. Trotz seiner Panik spürte er, dass ihm die Finger wehtaten. Also zwang er sich dazu, den Griff zu lockern und langsamer zu atmen.

Er betrachtete die Ärmel seines blauen Overalls und war erleichtert, dass der Stoff immer noch trocken war. Wenn er sich nicht bald zusammenriss, würde der Anblick seiner tropfnassen Uniform die anderen Mannschaftsmitglieder unweigerlich zu weiteren, in ihren Augen lustigen Kommentaren anregen.

Außerdem ergab seine Angst überhaupt keinen Sinn. Das Katapult schleuderte bereits seit vierzig Jahren Shuttles ohne größere Zwischenfälle in den Orbit. Tatsächlich war er in diesem Shuttle sicherer als in einem Flugzeug. Und er flog in den Weltraum! Das würde sicher ein riesiger Spaß.

»He, Neuer. Du hast doch keinen Herzinfarkt, oder?«

Ivan sah nach links zu Tennison Davies, der auf der anderen Seite des Mittelgangs saß. Tenn war ein muskulöser Texaner mit rotem Gesicht, ein Veteran im Asteroiden-Bergbau, der sich gerade zu seiner zehnten Tour aufmachte.

Tatsächlich hatten sämtliche Mannschaftsmitglieder der Mad Astra bereits mindestens vier Touren auf dem Bergbauschiff absolviert. Alle bis auf ihn und Arcadius Geiger. Kady sah aus, als würde er gleich einschlafen. Dieser Angeber.

Ivan und seine Mannschaftskollegen besetzten zwei komplette Sitzreihen. Von seinem Platz aus konnte er auch Crews von verschiedenen anderen Schiffen sehen, die ähnliche blaue Dienstoveralls trugen und ebenfalls zu einer sechsmonatigen Bergbautour aufbrachen. Die Overalls waren Standardmodelle und stammten vermutlich alle vom selben Hersteller. Sie glichen einander wie ein Ei dem anderen, abgesehen von den Schiffsabzeichen auf der linken Brust. Das Symbol der Mad-Astra-Crew war eine stilisierte Hand, die nach einem Stern griff.

Als mehrere dumpfe Aufprallgeräusche erklangen und ein Zittern durch das Shuttle lief, krallte sich Ivan erneut an die Armlehnen. Es überraschte ihn fast, dass er nicht das Metall verbog. Ein Geruch von Angstschweiß stieg ihm in die Nase, und er merkte, dass er den Kampf gegen die Panik erneut verlor.

»Noch fünfzehn Sekunden«, schallte es aus den Lautsprechern.

Ivan schloss die Augen und versuchte es wieder mit Atemübungen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Selbst wenn er sich noch abschnallte und schreiend Richtung Ausgang lief, würde das Shuttle dennoch pünktlich abheben und er platt wie eine Flunder am hinteren Schott kleben. Die Simulationen während seines dreimonatigen Trainings, das sich wie ein großes Abenteuer angefühlt hatte, schienen nun nicht mehr viel mit der Realität zu tun zu haben. Er stand kurz davor, in einer Blechdose in die Luft geschossen zu werden. Fünfzehn Minuten lang würde er die Kontrolle über sein eigenes Schicksal komplett aus den Händen geben und währenddessen nicht einmal den Weltraum sehen können.

»Entspann dich, Neuer«, sagte Davies. »Wir haben schon seit Wochen kein Crewmitglied mehr verloren.« Das Grinsen des erfahrenen Bergmanns reichte nicht bis zu seinen Augen. Er schien Ivan damit auch nicht beruhigen zu wollen. Stattdessen sah er aus wie eine Katze, die ihre nächste Mahlzeit beäugt.

Ivan öffnete den Mund zu einer Antwort, doch in diesem Moment löste das Katapult aus. Während das Shuttle auf den Schienen beschleunigte, wurde sein Körper in den Sitz gepresst. So würde es während der gesamten Fahrt im fünf Kilometer langen Starttunnel weitergehen. Riesige Pumpen reduzierten den Luftwiderstand, indem sie die Atmosphäre vor dem Shuttle aus dem Tunnel saugten und hinter ihm wieder hineinbliesen. Ivan hörte vereinzeltes Stöhnen und versuchte, sich damit zu trösten, dass er offensichtlich nicht als Einziger litt.

Zum Glück verlief dieser Teil des Starts ohne größere Erschütterungen – im Gegensatz zu den Raketenstarts in der Vergangenheit, als die Astronauten noch auf einem explosiven Zylinder voller Treibstoff gesessen hatten und derart stark durchgerüttelt worden waren, dass es ihnen vorgekommen sein musste, als würden ihnen jeden Moment die Zähne aus den Ohren fallen. Ivan konzentrierte sich darauf zu atmen und nicht ängstlich zu wimmern. Er hatte bislang noch keinen Spitznamen verpasst bekommen und wollte seine Mannschaftskollegen auf keinen Fall auf diesem Weg zu einem inspirieren. Schon gar nicht, bevor sie die Erdatmosphäre verlassen hatten.

Als das Shuttle die Stelle im Katapult erreichte, von der an es nach oben ging, änderte sich der Beschleunigungsvektor, sodass er nun zugleich nach unten und hinten in seinen Sitz gepresst wurde. Der Druck währte nur wenige Sekunden, doch es schienen die längsten seines Lebens zu sein.

Sobald das Shuttle das Katapult hinter sich ließ, sprangen die Raketentriebwerke an. Gleichzeitig erhitzten und verdünnten speziell konfigurierte Mikrowellen-Emitter die Luft vor dem Bug und verringerten weiterhin den Luftwiderstand, während sich das Raumgefährt immer höher in den Himmel schwang.

Je weiter das Shuttle in der Atmosphäre aufstieg, desto weniger wackelte es. Als nach fünf Minuten die Raketen ausgingen, befanden sie sich in einem Zustand der Schwerelosigkeit. Und auf einmal war es so still, dass Ivan sich fragte, ob sein Gehör Schaden genommen hatte.

Doch zum Glück dauerte es nicht lange, bis Davies diese Angst auf seine typische Art ausräumte. »Wie’s aussieht, hat der Neue überlebt. Ich glaube, er hat sich nicht einmal in den Anzug gepinkelt.«

Ivan fuhr herum, um Davies die Meinung zu sagen.

Doch das war ein böser Fehler.

Der Druck, dem er während des Starts ausgesetzt gewesen war, und die anschließende Schwerelosigkeit hatten seinem Magen bereits stark zugesetzt. Und nun brachte er mit der ruckartigen Drehung des Kopfes auch noch sein Innenohr durcheinander. Mit einem erstickten Schrei griff Ivan nach der Kotztüte in der Tasche vor ihm und begann, sich lange und heftig zu übergeben.

Bedauerlicherweise animiert der beißende Geruch von Erbrochenem andere Menschen in der Regel dazu, sich selbst zu übergeben. Und so ertönten in der Passagierkabine bald immer mehr Würgelaute. Deswegen würde er sich später vermutlich ganz schön was anhören müssen.

Schließlich erholte er sich wieder einigermaßen. Mit schweißnassem Gesicht rollte er die Tüte zusammen und steckte sie in den dafür vorgesehenen Aufnahmebehälter. Dann drehte er sich zu Seth Robinson um, der rechts von ihm auf dem Mittelplatz saß. »Na toll, damit habe ich wohl meinen Spitznamen weg.«

»Nee. Wenn wir für so etwas Spitznamen verteilen würden, hieße jeder von uns Kotzi. Du hast zwei Tage, um das in den Griff zu bekommen, Neuer. Wenn es dir am Abflugtag immer noch hochkommt, bist du raus. Dann bekommst du das Geld für deine Anteile zurück, abzüglich der Standardstrafe. Und wir sind auf unserer sechsmonatigen Tour einer weniger. Alles klar?«

Ivan nickte wortlos. Die Vertragsstrafe würde den kleinen Gewinn auffressen, den er mit seinem Anteil bislang gemacht hatte. Wenn er zurückgeschickt wurde, hatte er gar nichts mehr.

Er sah Robinson an. Im richtigen Licht hätte man den schlaksigen Rothaarigen mit Sommersprossen, der gut fünfzehn Zentimeter größer war als Ivan, leicht für einen Teenager halten können. Schwer zu glauben, dass er alt genug für eine Spacer-Lizenz war. Wenn Robinson es schaffte, konnte Ivan das auch.

»Dreißig Sekunden bis zum Andockmanöver«, ertönte es aus den Lautsprechern.

Ivan hob den Blick – ganz vorsichtig diesmal – und ärgerte sich, dass es keine Fenster gab. Er war im Weltraum. Der Beruf des Asteroiden-Bergmanns galt zwar nicht als besonders glamourös, doch ansonsten gelangten nur Militärangehörige oder sehr wohlhabende Personen ins All. Und natürlich speziell ausgebildete Fachkräfte, die auf den Raumstationen oder in den Kolonien benötigt wurden. Als Kind von Klimaflüchtlingen, die alles verloren hatten, als der Ozean ihre Heimat überflutete, blieben Ivan nicht viele Optionen.

Er dachte an seine Familie und seinen bisherigen, zermürbenden Job, der das höchste der Gefühle für ihn gewesen war, obwohl er seinen Abschluss in Computerwissenschaften als Jahrgangsbester gemacht hatte. Die zu kleine, völlig verwanzte Wohnung, die Judy und er sich mit ihren zwei Gehältern gerade noch hatten leisten können. Dies hier war ihre einzige Chance, und er würde sie nutzen. Das Grundgehalt war höher, und wenn sie noch dazu auf ein nennenswertes Mineralvorkommen stoßen würden …

Die Steuerdüsen zündeten, und durch das Shuttle ging ein Ruck. Danach mussten die Passagiere mehrere Minuten lang unvorhersehbare Flugmanöver über sich ergehen lassen, die – zum Glück für Ivans Magen – alle mit wenig Schub ausgeführt wurden.

»Dieser Pilot ist scheiße«, murmelte jemand aus seiner Mannschaft. Ivan reckte den Hals, um über die Sitzlehnen hinwegblicken zu können, und erkannte, dass Raul Alfaro diesen Kommentar abgegeben hatte. Er besaß dunkles Haar, einen olivfarbenen Teint und sprach mit leichtem spanischem Akzent.

»Halt die Klappe, Alfaro«, blaffte jemand zurück. »Du bist als Gast hier.«

Der Rüffel kam von Albert Micoroski, dem Piloten der Mad Astra, der auf der anderen Seite des Gangs saß. Piloten hielten zusammen und duldeten es nicht, wenn jemand über die Flugkünste eines Kollegen herzog. Und damit diese Botschaft auch deutlich ankam, schickte die Co-Pilotin der Astra, Lita Generus, seinen Worten einen finsteren Blick hinterher.

Bevor Alfaro etwas erwidern konnte, ertönte ein dumpfer Knall. Das Shuttle hatte angelegt. Erneut wünschte Ivan sich, es gäbe Fenster. Denn so hatte er fast das Gefühl, immer noch in einem der Simulatoren auf der Erde zu sein.

Sie hatten gerade an der Olympus-Station angedockt, dem Drehkreuz für sämtliche Raumflüge im System. Die zwei riesigen Wohnringe, mit einem Durchmesser von jeweils einem Kilometer, waren das bekannteste Wahrzeichen der gesamten zivilisierten Welt. Ihr Anblick musste während des Anflugs spektakulär gewesen sein.

»In der Station gibt es jede Menge Fenster, Neuer.« Offenbar konnte Robinson seine Gedanken lesen. »Dort kannst du in den nächsten zwei Wochen den Shuttles und Schiffen beim Kommen und Gehen zuschauen. Solange du die Flugtauglichkeitsprüfung bestehst, kannst du mit deiner Zeit anfangen, was du willst. Aber davor treffen wir uns noch mit dem Captain, für den üblichen Segensspruch. In einer halben Stunde in der Star Lounge. Weißt du, wo das ist?«

Ivan schüttelte den Kopf.

»Immer diese Neulinge …« Robinson verdrehte die Augen. »Bleib bei mir, wenn wir in der Station sind. Mit Schwerelosigkeit kommst du doch zurecht, oder?«

Astronomisch. Dieser Begriff galt nicht nur für Sterne und Planeten. Ivan überflog die Getränkekarte und spürte, wie sich seine Augenbrauen hoben. Er hatte schon mal Steaks gegessen, die günstiger gewesen waren. Und zwar echte.

Davies, der ihm gegenübersaß, lachte. »Ja, Neuer, das ist nur eines der vielen Dinge, an die du dich gewöhnen musst. Aber mach dir keine Sorgen. Die auf der Station produzierten Sachen sind deutlich billiger.«

»Und wo finde ich die?« Ivan wedelte mit der Karte.

»Hier nicht. In den Bars für die Arbeiter genießt man natürlich nicht so einen schönen Ausblick …« Davies deutete auf die großen Fenster ein paar Tische weiter. Der im gedämpften Licht gut sichtbare Sternenhimmel benötigte etwas mehr als eine Minute für eine komplette Rotation. »… und so angenehme Gravitationsverhältnisse wie hier.« In dem Lächeln, mit dem er Ivan bedachte, war immer noch keine Spur von Freundlichkeit zu erkennen. »Du solltest dich noch ein bisschen intensiver mit niedriger Schwerkraft vertraut machen, bevor du zur Achse aufbrichst, Neuer.«

Der Kellner kam mit den Getränken zurück. Für jedes Crewmitglied gab es einen Tequila. Er stellte die Gläser vor ihnen ab, aber niemand griff danach. Vermutlich war das irgendein Brauch. Ivan behielt Robinson im Auge.

Captain Andrew Jennings stand von seinem Platz an einem Ende des langen Tisches auf. Dem großen feingliedrigen Mann mit den grauen Haaren war deutlich anzusehen, dass er bereits sein ganzes Leben lang ein Spacer war. Mit seinem Bürstenhaarschnitt und dem buschigen Schnurrbart wirkte er wie ein Cowboy aus einem Western, gleichzeitig schaffte er es irgendwie, dass der Standard-Arbeitsoverall an ihm wie eine Uniform aussah.

»Meine Herren und Damen.« Er hielt inne und sah sich am Tisch um, wobei er jede einzelne Person eingehend betrachtete. Möglichweise, um sich alle Gesichter einzuprägen. »Wir haben bei der Schürfrecht-Verlosung für diese Tour Glück gehabt und einen vergleichsweise unerforschten Abschnitt zugewiesen bekommen. Unsere letzten paar Trips sind nicht gerade glänzend gelaufen, und wir mussten uns von ein paar Mannschaftskameraden verabschieden. In diesem Zusammenhang möchte ich unsere Neuzugänge, Ivan Pritchard und Arcadius Geiger, willkommen heißen.« Der Captain zeigte auf die beiden. »Arcadius ist ein altgedienter Spacer. Er war bereits mehrere Male mit der ForwardMotion und der SereneStarlight unterwegs.«

Geiger nickte in die Runde und murmelte irgendetwas Unverbindliches auf Deutsch.

Nun deutete der Captain auf Ivan. »Für Ivan ist es zwar das erste Mal, aber dafür ist er ein hervorragender Computerspezialist. Vielleicht können wir uns diesmal also auf ein bisschen weniger Dramatik bei der Programmierung der Minenroboter-KIs freuen.«

Mehrere Crewmitglieder johlten und klatschten. Die plötzliche Aufmerksamkeit war Ivan unangenehm. Er grinste verlegen und neigte den Kopf.

»Wie Sie wissen, braucht es nur einen einzigen guten Treffer, und wir haben alle fürs Leben ausgesorgt. Deswegen tun wir das hier. Ach ja, und natürlich wegen des luxuriösen Lebensstils.« Der Captain quittierte das allgemeine Gelächter mit einem dünnen Lächeln. Dann hob er sein Glas, und alle anderen standen mit ihren Gläsern in der Hand ebenfalls auf. »Auf die Mad Astra und ihre Crew. Möge diese Tour unser großer Durchbruch werden.« Die Mannschaftsmitglieder prosteten einander zu und tranken dann alle gleichzeitig ihre Gläser aus.

Ivan, der Tequila nicht gewöhnt war, tränten die Augen, und nur mit großer Willenskraft gelang es ihm, nicht zu husten, während er sich wieder hinsetzte.

Als er sich umdrehte, sah er, dass Robinson ihn lächelnd beobachtete. »Tequila ist nicht dein Ding, was, Sprössling?«

Ivan stieß den Atem aus. »Mir ist Whisky lieber.«

Davies beugte sich vor. »Der erste Drink geht auf den Captain. Aber danach können wir tun, was wir wollen, Sprössling.«

Ivan bekam große Augen. Offenbar hatte er gerade seinen Spitznamen verpasst bekommen. Er warf Robinson einen genervten Blick zu.

Der grinste und zuckte die Achseln. »Tut mir leid.«

In diesem Moment erhob sich der Captain für eine weitere Ansprache. »Ich weiß, dass Sie sich diesen Laden nicht ausgesucht hätten. Und das kann ich durchaus nachvollziehen. Schließlich bekämen Sie in anderen Lokalen für das gleiche Geld komplette Mahlzeiten. Also lasse ich Sie jetzt Ihre letzten Stunden in Freiheit genießen. Wir sehen uns dann hoffentlich alle in zwei Tagen auf der Mad Astra wieder.«

Nun standen auch die Crewmitglieder auf. Der Captain nickte allen noch einmal kurz zu und ging.

Robinson stieß Ivan den Ellbogen in die Seite. »Dann holen wir mal unsere Sachen und beziehen die Quartiere. Danach machen wir es uns lustig.«

Ivan verabschiedete sich mit einem Nicken von Davies, der seinen Blick ausdruckslos erwiderte. Dann verließ er hinter Robinson das Lokal.

Die Transit-Unterkünfte auf Olympus waren sauber, effizient – und unfassbar winzig. In Japan existierten sie bereits seit dem zwanzigsten Jahrhundert, und sie waren ideal für einfache Übernachtungen. Ivan musterte seinen Schlafplatz, eine tiefe, rechteckige Nische in der Wand, die ungefähr doppelt so breit war wie seine Schultern. Das Ganze bestand aus einer dünnen Matratze, ein paar Ablagefächern mit Schiebetüren in den Wänden und einer herunterziehbaren Luke, die man aus Sicherheitsgründen und zum Schutz der Intimsphäre abschließen konnte. Die Schlafnischen waren in drei Ebenen übereinander in die Wände eingelassen. Zu den oberen Betten führten Leitern hinauf. Die Beleuchtung war rund um die Uhr gedämpft und die Wände in matten Herbstfarben gestrichen, was zum Schlafen, jedoch nicht zu Gesprächen anregte. Gemeinschaftswaschräume auf jedem Stockwerk vervollständigten die Einrichtung.

Wenigstens war alles gepflegt. Ein leichter Geruch nach Desinfektionsmitteln bewies, dass das Reinigungspersonal am Ball blieb. Die Toiletten wirkten gut in Schuss, und die Wandfarben waren zwar nicht gerade fröhlich, blätterten aber immerhin nicht ab. Und natürlich gab es nirgends Rost, da Korrosion auf einer Raumstation tödliche Folgen haben konnte. Die entsprechenden Inspektions- und Wartungsarbeiten wurden garantiert übergründlich durchgeführt.

Man nannte diesen Ort die Baue. Als jüngster Neuzugang musste Ivan sich mit dem obersten Bett begnügen. Da die Schwerkraft auf Ebene 17 ein Viertel g betrug, war der Aufstieg auf der Leiter zwar nicht anstrengend, aber unpraktisch, wenn man mitten in der Nacht auf die Toilette musste. Ivan schlang sich seufzend den Rucksack über die Schultern und kletterte die schmale Leiter hinauf. Nachdem er in die Nische geschlüpft war und seine Habseligkeiten in den passenden Fächern verstaut hatte, zog er die Luke zu und schloss einen Moment lang die Augen.

Jemand hämmerte gegen die Luke und riss ihn aus dem Schlaf.

»Lebst du noch, Sprössling? Oder müssen wir einen Ersatzneuling bestellen?«

Ivan blinzelte und warf einen verschwommenen Blick auf seine Armbanduhr. Offenbar hatte er mehr als zwei Stunden geschlafen. Er drehte sich auf der Matratze um. Als er die Luke aufklappte, sah er sich Davies gegenüber, der mit einer Hand an der Leiter hing und ihn angrinste. Dieses Grinsen hatte Ivan bereits jetzt gründlich satt.

»Auf geht’s, Sprössling, wir gehen zu Callahan’s hinauf. Das ist für dich die Chance, dich umzusehen, während wir auf deinen jungfräulichen Arsch aufpassen.«

»Sollte ich das jetzt schon tun? Du hast doch gesagt …«

»Irgendwo musst du schließlich anfangen«, rief Robinson einen Stock tiefer.

Ivan nickte und zog sich aus der Nische. Davies stieg die Sprossen hinab, um ihm Platz zu machen.

Am Fuß der Leiter warteten außer Davies und Robinson auch der andere Neue, Arcadius Geiger, die Geologin Cirila Heinrichs und die Scooterpilotin Aspasia Nevin auf ihn.

Ivan warf einen Blick in die Runde. »Das sieht nach einer ernsten Sache aus.«

»Nur was das Trinken anbelangt«, antwortete Nevin und betrachtete ihn mit einem finsteren Blick, der – wie Ivan allmählich begriff – ihr normaler Gesichtsausdruck war. Ohne das Einverständnis der anderen abzuwarten, drehte sie sich um und hielt auf den Ausgang zu. Trotz ihrer geringen Körpergröße kam Aspasia sehr zügig voran, und es hatte den Anschein, als drängelte sie sich lieber zwischen anderen Leuten hindurch, als um sie herumzugehen.

Geiger folgte ihr und kicherte über einen geflüsterten Kommentar von Kady, der sich als Nächster auf den Weg machte.

Robinson und Ivan bildeten das Schlusslicht. Bevor sie ebenfalls aufbrachen, gab Robinson ihm einen Klaps auf die Schulter. »Wir werden sechs Monate lang auf der Astra sein. Also stoß dir vor dem Abflug lieber noch mal die Hörner ab.«

Von den Bauen war es nicht weit bis zu einem der Aufzüge, die zwischen dem Rand des Rades und der Achse pendelten. Als sie einstiegen, studierte Ivan die Anzeigentafel. Das Rad hatte dreißig Ebenen, neben jedem Knopf war außer der Geschossnummer auch die jeweilige Schwerkraft vermerkt. Davies drückte auf die 27. Die Türen schlossen sich, und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung.

Ivan geriet leicht ins Taumeln, da die Kabine sich zu drehen schien. Robinson stützte ihn und lachte leise. »Die Kabine ist schwenkbar, damit der Boden trotz der Corioliskräfte immer unten ist. Du wirst dich schon noch daran gewöhnen.«

Das Callahan’s entsprach nicht dem Klischee einer Spacer-Kneipe, die angeblich immer dunkel, verraucht und voller zwielichtiger Gestalten waren, die in dunklen Ecken halbseidenen Geschäften nachgingen. Stattdessen war das Lokal sauber, gut beleuchtet und mit zahlreichen Tischen ausgestattet. An den Wänden hingen mehrere Bildschirme, auf denen verschiedene Sport- und Nachrichtenkanäle liefen. Die Gäste waren ganz normale Menschen, die etwas tranken und sich miteinander unterhielten. Dieses Lokal hätte genauso gut auch überall auf der Erde sein können, wenn man von dem zehntel g Schwerkraft und den Bergbau-Overalls absah, die das Gros der Gäste trug. Und natürlich auch von der sichtbaren Krümmung des Bodens.

Ivan schaute sich um. »Keine Fenster?«

»Fenster kosten Geld, Neuer. Die Bau- und Materialkosten für eine potenzielle Schwachstelle in der Hülle treiben die Immobilienpreise in die Höhe. In dieser Gegend sind die Mieten billig.« Davies deutete auf einen leeren Tisch. »Und die Auswahl alkoholischer Getränke ist beschränkt, da alles im Weltraum synthetisiert werden muss. Hier oben wachsen nicht viele blaue Agaven.«

Sie nahmen Platz, Ivan und Seth auf einer Seite, Cirila und Kady ihnen gegenüber. Tenn und Aspasia setzten sich jeweils allein an die verbliebenen beiden Enden des Tischs. »Fünf Synthol und einen Saft für den Sprössling.« Während der Kellner kommentarlos davonging, grinsten die anderen Ivan an.

Dieser betrachtete einen nach dem anderen. »Warum habe ich bloß das Gefühl, dass ihr irgendwas mit mir vorhabt?«

»Das ist kein großes Geheimnis, Ivan«, sagte Kady. »Dein erster Schluck bei niedriger Schwerkraft kann ziemlich, äh, unterhaltsam sein.«

Der Kellner kam mit den Getränken und stellte eine gelbliche Flüssigkeit vor Ivan hin. »Ist das ganz normaler Saft?«

Der Kellner lächelte knapp. »Wir servieren das, was gerade hergestellt wird. Meistens ist es eine Mischung aus allem Möglichen. Heute ist es Orangensaft.«

Ivan erhob resigniert sein Glas. »Darauf, dass mir das hier gleich zur Nase rausspritzt!« Unter dem überraschten Gelächter seiner Mannschaftskollegen leerte er den Saft in einem Zug.

Einen Moment lang herrschte erwartungsvolles Schweigen. Dann zuckte Ivan die Achseln. »Während des Trainings an der Akademie haben wir alle möglichen Niedrig-Schwerkraft-Übungen machen müssen. Dabei habe mich schon zur Genüge vollgespritzt.«

Um den Tisch herum erklang enttäuschtes Stöhnen, und Seth gab dem Kellner ein Zeichen, Ivan nun ein anständiges Getränk zu bringen.

Was der Kellner daraufhin brachte, roch wie etwas, mit dem man eine Wunde desinfizieren könnte. Ivan spürte, wie sich seine Nasenlöcher versuchten, sich zusammenzuziehen. Seine Mannschaftskameraden machten sich über seinen ungläubigen Gesichtsausdruck unverhohlen lustig.

»Das ist Synthol, Neuer.« Davies grinste wie immer höhnisch. »Normalerweise hat er ein bisschen mehr als siebzig Prozent. Wohl bekomm’s.«

»Wenn ich das trinke, kann ich dann als Nächstes etwas nicht Tödliches bekommen?«

Seth lachte. »Der Whisky-Ersatz ist tatsächlich gar nicht mal so schlecht. Aber jetzt hauen wir erst mal diesen Scheiß hier weg, okay?«

Ivan hob das Glas und kippte es in einem Zug. Nur mit Mühe gelang es ihm, den Inhalt nicht gleich wieder auf seine Tischgenossen zu spucken. Im Rückblick kam ihm der Tequila nun gar nicht mehr so schlimm vor.

Nachdem er die Flüssigkeit runtergeschluckt hatte, dauerte es eine Weile, bis sich seine geschundenen Organe wieder einigermaßen beruhigten. Er wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Gut, die Haut ist nicht geschmolzen. Jetzt hätte ich gerne doch wieder einen Saft, wenn das möglich ist.«

Seth drehte den Kopf zu Davies. »Ich glaube nicht, dass du ihn in die Knie zwingst, ohne zu echten Foltermethoden zu greifen. Was hältst du davon, wenn wir jetzt mit dem normalen Trinken anfangen?«

Davis zuckte die Achseln. Dann bedachte er Ivan mit einem Blick, der wohl ein Lächeln sein sollte, und winkte erneut den Kellner herbei.

»Na schön«, sagte Aspasia, »du bist also ein Computer-Fuzzi. Das ist gut.«

Ivan neigte fragend den Kopf zur Seite. »Weil ich die Roboter schneller einsatzbereit machen kann?«

»Nein, weil Lorenza dann nicht uns, sondern dich töten wird.«

»Weißt du«, antwortete Ivan, »allmählich habe ich das Gefühl, dass ich bei den Psychos von der Interplanetaren Handelsmarine angeheuert habe. Ist denn jeder in dieser Crew ein mordlüsterner Irrer?«

Aspasia schnaubte. »Nein, nur Lorenza.« Sie nickte zu Davies hinüber. »Tenn ist bloß ein Arsch.«

Davies zwinkerte ihr zu. »Es ist schön, wenn man Fans hat.«

Heinrichs lachte, und Ivan sah, wie Geiger bei diesem Geräusch verständlicherweise zusammenzuckte. Cirilas Lachen klang wie Fingernägel, die über eine Tafel kratzten, und Kady saß direkt neben ihr. Hoffentlich war sie keine Frohnatur.

Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann hob Seth entschuldigend die Hände. »Wir sind alle ein bisschen nervös, Ivan. Ich nehme an, du hast dich bei der Mad Astra eingekauft, weil die Anteile billiger waren als bei allen anderen Bergbauschiffen, die nach Crewmitgliedern gesucht haben, oder? Hast du dich gefragt, warum das so ist?«

Ivan schüttelte den Kopf. »Meine Frau ist Versicherungsmathematikerin, Seth. Ich weiß, dass die Astra in finanziellen Schwierigkeiten steckt. Aber wir hatten keine andere Wahl. Wir hätten mindestens noch einen Zyklus lang warten müssen, um Anteile zum regulären Preis kaufen zu können. Wir gehen zwar ein Risiko ein, aber Judy meint, die Chancen stehen nicht schlecht. Ehrlich gesagt findet sie sogar, dass die Anteilspreise der Astra gemessen an ihren betriebswirtschaftlichen Zahlen zu niedrig angesetzt sind.«

Die anderen sahen sich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Davies schien Ivan mit neuen Augen zu betrachten. »Na dann.« Tenn ließ eine Runde synthetisierten Whisky kommen und hob sein Glas. »Auf Ivans Frau. Wollen wir hoffen, dass sie recht behält.«

Ivan grinste über die unerwartete Anerkennung. Dann leerte er das Glas und stellte es mit einem Knall auf den Tisch.

Nicht schlecht. Zumindest nicht furchtbar. Daran könnte er sich gewöhnen.

Anschließend wurde alles ein bisschen verschwommen.

Auf der Promenade, die um die erste Ebene des öffentlichen Rades verlief, war immer viel los. In beiden Richtungen waren Fußgänger unterwegs. Auf einer Straße unterhalb der Promenadenebene verkehrten automatische Transportfahrzeuge, die man an gleichmäßig verteilten Traxi-Ständen besteigen konnte.

Die Promenadenebenen der beiden Wohnringe waren die Kronjuwelen der Olympus-Station und eine beliebte Sehenswürdigkeit. Überall sah man teure Restaurants, exklusive Boutiquen und Kunstgalerien, die solvente Touristen anlocken wollten. Auf jedem der beiden Räder gab es ein Fünfsternehotel.

Auf den Freiflächen zwischen den Geschäften hatten die Architekten öffentliche Sitzbereiche eingefügt. Dekorative Farne und weniger leicht zu identifizierende Pflanzen unterteilten sie in intime kleine Sitzgruppen, sodass die erschöpften Reisenden das Gefühl hatten, sich ungestört ausruhen zu können, während sie den Ausblick durch die riesigen Panoramafenster aus transparentem Aluminium genossen.

Auf dieser Ebene hatte das Budget für Fenster gereicht. Und das Beste war, dass man auf diesen Freiflächen nichts kaufen musste, um sich hinzusetzen.

Ivan beobachtete hingerissen die vielen Schiffe, die gravitätisch in die Andockbuchten an der Achse hineinflogen oder wieder von dort ablegten. Besonders erstaunte ihn, wie unterschiedlich diese Gefährte waren: Von uralten Klapperkisten, die unmöglich weltraumtauglich sein konnten, bis zu den neuesten High-End-Modellen von Benz-Gilmore war alles vertreten.

Allerdings keine Militärschiffe, da sich die Andockbuchten der Navy am anderen Ende der Achse befanden. Er hätte gerne welche gesehen, aber um durch die Achse dorthin zu gelangen, hätte er eine Unbedenklichkeitsbescheinigung gebraucht.

Um ihn herum kamen und gingen Leute, die sich grob in drei Kategorien einordnen ließen. Besonders leicht waren die Passagiere und Touristen zu erkennen – abgesehen von wenigen Ausnahmen zeugten ihre Kleidung und der Schmuck, den sie trugen, von sehr viel Geld. Daneben gab es die Stationsbediensteten, deren Garderobe geschmackvoll und von guter Qualität war, allerdings ganz bewusst weniger edel ausfiel. Damit brachten sie zum Ausdruck, dass sie zwar Angestellte waren, aber ebenfalls einer gutbürgerlichen Schicht angehörten.

Und dann gab es noch die Gruppe, zu der Ivan gehörte: Raumfahrer, die man an ihren blauen Reiseoveralls oder gelegentlich auch an den T-Shirts und Shorts erkannte, die sie an Bord ihrer Schiffe trugen. Wo sich das Führungspersonal der Navy und die Schiffsoffiziere in dieser Hierarchie einordneten, war ihm noch nicht ganz klar.

»Hey, Sprössling. Was geht?«

Ivan drehte sich um und sah Seth Robinson kommen. Obwohl er Ivan den Spitznamen verpasst hatte, der inzwischen wie Pech an ihm zu kleben schien, wirkte Seth wie ein netter Kerl, der andere nicht mehr als unbedingt nötig schikanieren wollte.

Ivan deutete auf das Fenster vor ihm. »Ich schwelge in der Aussicht.«

Seth nickte vorsichtig, während er sich hinsetzte.

»Tut dir der Kopf weh?«

Seth lächelte, ging aber nicht auf die Frage ein. »Ich komme jedes Mal hierher, wenn ich in der Station bin. Wenn wir unterwegs sind, ist der Weltraum meistens hinter pastellfarbenen Metallwänden verborgen. Von der niedrigen Schwerkraft und dem gekrümmten Deck abgesehen, könnten wir uns genauso gut auf der Erde befinden. Dies hier« – Seth zeigte zum Fenster – »macht das All erst real für mich.«

Ein paar Minuten lang blickten sie schweigend hinaus. Ivan störte die Stille nicht. Ehrlicherweise hatte er ebenfalls Kopfschmerzen und hätte gerne gewusst, wie viel sie in der Nacht zuvor getrunken hatten, aber er traute sich nicht, Seth danach zu fragen.

Als er um sich herum Leute nach Luft schnappen hörte, setzte Ivan sich aufrecht hin. Seth erklärte, worauf die anderen deuteten: »Eine SSR-Fregatte. Wow, mit so einer hätte ich hier nicht gerechnet.«

Ivan nickte bedächtig und versuchte, das Militärschiff in allen Einzelheiten in sich aufzunehmen. Mit seiner schweren Panzerung und den massiven Geschützständen war es ein typisches Beispiel für Sino-Sowjetisches Design, das keinen Wert auf Ästhetik legte. Die Struktur der mattgrauen Oberfläche war nur im direkten Sonnenlicht zu erkennen.

Passanten blieben stehen und versammelten sich vor den Aussichtsfenstern, während der Koloss langsam vorüberglitt und auf eine Andock-Bake zuhielt. Ivan hörte geflüsterte Fragen und abfällige Bemerkungen. Die Beziehungen zwischen dem Sino-Sowjetischen Reich und den Vereinten Erdnationen waren bestenfalls frostig und in der Regel offen feindselig. Obwohl es unwahrscheinlich war, dass sich SSR-Angehörige frei auf der Olympus-Station bewegen durften, sorgte offenbar schon allein die Vorstellung, einem von ihnen über den Weg zu laufen, für spürbaren Unmut unter der Bevölkerung.

Eine Minute später war das Schiff außer Sicht, und die Menge löste sich wieder auf. Hier und da hörte Ivan noch ein paar Kommentare über unwillkommene Gäste. Seth und er lehnten sich auf ihren Plätzen zurück und erfreuten sich erneut am Anblick der kommenden und ablegenden Schiffe. Nach einer Weile beendete Seth das Schweigen. »Und was ist deine Geschichte?«

»Äh, wie bitte?«

»Wieso Asteroiden-Bergbau? Pech in der Liebe? Abenteuerlust? Geldmangel? Möchtest du dich der Fremdenlegion anschließen? Dem langen Arm des Gesetzes entfliehen?«

Ivan sah Seth mit gerunzelter Stirn an. »Was? Dann hätten mich doch die Grenzer aufgehalten.«

»Die letzte Frage war ein Witz.«

»Ah.« Ivan schwieg einen Moment. »Es geht ums Geld. Du weißt ja, wie es ist.«

Seth nickte. »Ja, die gute alte Realität. Mehr Menschen, weniger Jobs, weniger Ressourcen und immer weniger Platz für alle.«

»Was ist mit dir?«

»Für mich gilt mehr oder weniger das Gleiche, so wie für die meisten hier oben. Wenn einem der Job gefällt und man das Ganze als Abenteuer betrachten kann, ist das natürlich ein Bonus. Bei mir ist es so.«

Ivan wurde bewusst, dass Seth und er betont beiläufig nach Gemeinsamkeiten suchten, um herauszufinden, ob sie Freunde werden könnten. Nun, es war immer gut, einen Freund zu haben.

»Ich muss eine Familie versorgen, mit Abenteuern habe ich da nicht viel am Hut.«

»Das ist schade.«

Ivan sah Seth fragend an. »Was meinst du damit?«

»Die Familie. Ich habe keine. Mein Einkommen fließt direkt auf mein Bankkonto. Das wenige, was ich zwischen den Touren oder auf der Olympus-Station ausgebe, fällt nicht weiter ins Gewicht. Und an Bord kann man mit Geld nicht viel anfangen. Außer du spielst Poker.«

»Lädst du mich etwa zu einer Pokerrunde ein? Ich nehme an, ihr seid alle schreckliche Amateure, aber vielleicht könnt ihr ja was von mir lernen.« Ivan versuchte, nicht zu sarkastisch zu klingen.

»Ich? Ganz bestimmt nicht. Ich will dich nur warnen. Lass dich nicht auf Tenn Davies’ Pokerpartien ein. Dabei machen nur Haie mit. Die Stammspieler sind alle ungefähr gleich gut, sodass das Geld die meiste Zeit nur hin und her fließt. Aber Frischfleisch wie dich würden sie bis auf die Unterhose ausziehen. Und sie hätten deswegen nicht mal ein schlechtes Gewissen.«

Ivan grinste. »Ich werde es mir merken. Danke. Spielst du auch?«

»Einmal habe ich mitgemacht. Dabei habe ich den halben Lohn von meiner ersten Tour verzockt. Seitdem halte ich mich tunlichst raus.«

»Mhm.« Während Ivan sich umsah, hörte er seinen Magen knurren. »Kann man hier irgendwo was essen, ohne ein ganzes Monatsgehalt auszugeben?«

»Einen halben Abschnitt in Drehrichtung entfernt gibt es einen Sandwichladen. Sie verwenden Bleisch, aber es schmeckt alles ganz okay. Ich könnte auch was vertragen.«

Auf der Erde war in Bottichen gezüchtetes Fleisch nichts Ungewöhnliches mehr. So viel, wie es kosten musste, echtes Fleisch hier heraufzuschicken, war es auf der Station wahrscheinlich noch verbreiteter. Ivan warf einen letzten Blick auf die großen Schiffe. Dann seufzte er und folgte Seth.

3

Finanzielle Sorgen

Captain Jennings sah vom Tablet in seiner Hand auf. Lita Generus, die an ihrer Station saß und die Checkliste durchging, wich seinem Blick aus. Im gedämpften Brückenlicht war ihr dunkelhäutiges Gesicht nur schwer auszumachen. Die anderen Stationen, die einen Halbkreis um den Kommandosessel bildeten, waren unbesetzt und warteten auf die Ankunft der restlichen Brückencrew.

Jennings nutzte die Chance, einen Moment lang seine Schwäche nicht verbergen zu müssen, und rieb sich die Stirn. Er hob den Kopf und warf einen Blick auf die unter der Decke angebrachten Statusmonitore. Die sanft leuchtenden Anzeigen ließen auf ein intaktes, gut gewartetes Schiff schließen, das bereit war abzufliegen und Träumen hinterherzujagen. Es befand sich in einer Halteposition in einiger Entfernung von der Verbindung zwischen den Wohnringen und rotierte mit der Achse. Doch nicht einmal die Schwerkraft von einem halben g, die ihm normalerweise fast wie ein Luxus vorkam, konnte heute seine Stimmung heben. Er wedelte mit dem Tablet. Es würde nichts bringen, noch weiter darauf zu starren. »Sind dass die endgültigen Zahlen, Ms. Generus?«

Generus drehte sich zu ihm um und nickte. Wie die meisten Spacer trug sie eine kurz geschnittene Helmfrisur. An den Schläfen wurden ihre dichten Locken allmählich grau, was überhaupt nicht zu ihrem faltenlosen, jugendlich wirkenden Gesicht zu passen schien. »Ja, Sir. Die Zahlen sind alle bestätigt. Der letzte Trip hat einfach zu viel Kapital verbrannt. Wenn wir bei dieser Tour keinen Erfolg haben, wird es wahrscheinlich unsere letzte sein.«

Jennings lehnte sich zurück und sah zu der Metallwand zwischen den Monitoren und den Brückenstationen hinauf. »Damit wollen Sie wohl sagen, dass unsere Gläubiger ihr Geld sehen wollen, oder?«

»Ziemlich sicher, Sir. In der Schuldverschreibung ist ganz genau festgehalten, wann es zur Zwangsvollstreckung kommt.«

»Was ist nötig, um das abzuwenden?«

»Nicht viel mehr als der Break-even. Im Moment sind wir ganz knapp unterhalb der Schwelle, ab der die Vollstreckungsklausel greift.«

»Und statistisch gesehen ist eine von drei Touren erfolgreich. So mies wie die letzten beiden waren, muss es diesmal einfach hinhauen.«

»Sie wissen, dass man das so nicht sagen kann, Sir.«

Jennings erwiderte ihren Blick mit einem angedeuteten Lächeln. »Natürlich, aber könnten Sie mir bitte kurz meine Illusionen lassen?«

Nichts davon überraschte ihn. Mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung, zunächst als Mannschaftsmitglied und dann als Kommandeur von Bergbauschiffen, hatte Jennings ein gutes Gespür dafür entwickelt, wie viel Profit eine Tour abwarf. Daher hatte er bereits vor ihrer Rückkehr zur Erde gewusst, dass die letzte eine Pleite gewesen war. Doch nun hatten die endgültigen Zahlen auch seine letzte Hoffnung auf eine Galgenfrist zunichtegemacht.

Es gefiel ihm, Captain eines Raumschiffes zu sein. Doch die finanziellen und administrativen Herausforderungen seines Jobs waren bisweilen ganz schön kräftezehrend. Seit fünfundzwanzig Jahren kommandierte er nun schon seine eigenen Schiffe – sein erstes war noch mit dem alten Ionenantrieb geflogen –, aber er hatte noch nie so kurz davorgestanden, alles zu verlieren.

Natürlich war seine Profession alles andere als ein sicherer Broterwerb. Zwar konnte man mit einem einigermaßen erfolgreichen Fund mehrere Folgetouren finanzieren. Und auf ungefähr einem Drittel der Touren holte man die Kosten wieder herein oder machte sogar Profit. Fatal waren allerdings echte Pechsträhnen, bei denen man mehrmals hintereinander in die roten Zahlen geriet. In solchen Fällen blieb einem nichts anderes übrig, als erst sämtliche Ersparnisse aufzubrauchen und dann schließlich alles, was man noch hatte, auf einen allerletzten Würfelwurf zu setzen …

Und immer träumte man von dem einen großen Treffer – dem Fund, nach dem man sich nie wieder Sorgen machen musste.

Jennings stellte sich vor, wie er die Würfel in der hohlen Hand hielt, und blickte mehrere Sekunden lang in den unendlichen Weltraum hinaus. Er war zu alt, um noch einmal neu anzufangen. Wenn sie ihm die Astra wegnahmen, war er erledigt.

Aber das musste doch zu verhindern sein. Erfahrungsgemäß ging es immer irgendwie weiter.

»Wann erwarten wir die Brückencrew, Ms. Generus?«

»Die Ersten kommen mit der nächsten Fähre, Sir. Um zwölfhundert sollten alle an Bord sein. Dr. Kemp muss noch ein paar abschließende Untersuchungen durchführen und wird als Letzter eintreffen.«

Jennings nickte. »Schicken Sie bitte allen eine Nachricht. Lagebesprechung um fünfzehnhundert. Dann haben sie noch Zeit, ihre Ausrüstung zu verstauen und sich frischzumachen. Unsere finanzielle Situation hat meines Erachtens oberste Priorität. Sagen Sie ihnen, sie sollen ein paar wirklich gute Ideen mitbringen.«

4

Aufbruch

Und wieder keine Fenster. Allmählich bezweifelte Ivan, dass er jemals etwas von der Action mitbekommen würde. Wer immer Raumschiffe entwarf, schien nicht zu begreifen, worum es dabei ging.

Die kleine Fähre war mit der Mannschaft der Mad Astra bis zum letzten Platz besetzt. Die Brückencrew war bereits an Bord der Astra und erledigte dort alle Startvorbereitungen, um die sich echte Astronauten kümmern mussten. Im Gegensatz zum Weltraumshuttle, das ein auf Hochglanz poliertes Schiff mit geschmackvoller Innenausstattung gewesen war, wirkten die im Umfeld der Olympus-Station verkehrenden Fähren eher wie zusammengeschweißte Gokarts. Die Sitze erinnerten an Strandstühle, und die Einrichtung bestand größtenteils aus nacktem Metall.

Angesichts der hohen Anlegegebühren hatte sich der Captain der Mad Astra für eine Halte-Bake im vorgeschriebenen Abstand zur Station entschieden. Damit sparten sie mehr ein, als die Fährflüge für die Besatzung kosteten.

Seth reagierte auf Ivans enttäuschtes Gemurmel. »Auf der Astra wirst du mehr sehen. Shuttles und Fähren sind so zweckmäßig wie möglich konstruiert. Langstreckenschiffe müssen dagegen ein bisschen mehr an die Bedürfnisse der Menschen angepasst sein.«

»Sag mal, du scheinst ja viel darüber zu wissen. Bist du etwa der Schiffspsychiater oder so was in der Art?«

Seth lachte. »Ja klar, das bin ich. Deswegen werde ich auch so fürstlich bezahlt.« Er machte es sich auf seinem Sitz bequem. »Auf dem Schiff haben wir viel Freizeit. Ich nehme mir zum Spaß immer etwas zum Lesen und Filme mit. Ich kann dir was leihen, wenn dir deine Pornos ausgehen.«

Ivan kicherte. Dann dachte er an die Sticks in seinem Gepäck, die komplett mit Fernlehrgängen in Computerwissenschaften, Astronomie und Physik und dem dazugehörigen Referenzmaterial bespielt waren. Er war erleichtert, dass er damit nicht der absolute Außenseiter sein würde. »Danke, ich habe was zum Lernen dabei. Ich mache ein paar Kurse und freue mich schon auf die freie Zeit.«

Tennison Davies reckte den Kopf über seine Rückenlehne. »Aber vergiss nicht, dass du dich unterwegs um die Hydrokulturen kümmern musst. Ich und die Jungs wollen unser Futter haben.«

»Danke, Tex, ich werde den Trog immer gut für dich füllen.«

Seth lachte laut auf, und ein paar von Tennisons Freunden kicherten. Tennison wurde rot und sah einen Moment lang wütend aus. Doch dann grinste er Ivan an. »Touché, Sprössling. Aber behandle diese Pflanzen gut, hörst du?«

Seth stieß Ivan mit dem Ellbogen an. »He, wieso fragst du Tenn nicht, wer das einzige Mannschaftsmitglied ist, das es geschafft hat, abgepackte Fertiggerichte falsch zuzubereiten?«

Tennison tat, als würde er sich lautlos über Seths Bemerkung totlachen, und setzte sich wieder hin.

»Die Anflugmanöver beginnen in fünfzehn Sekunden.«

Nach dieser Durchsage lehnten sich alle auf ihren Beschleunigungsliegen zurück und überprüften, ob sie auch gut angeschnallt waren. Ein paar Minuten lang mussten sie die üblichen Raketenschübe und unberechenbaren Zuckungen der Fähre erdulden, bis schließlich ein letztes Klonk ertönte.

Dann erfolgte eine erneute Durchsage. »Anlegemanöver beendet. Im Namen von Captain Crash und der überlebenden Crew danken wir Ihnen, dass sie mit Mad Dog Airways geflogen sind. Sämtliche Hühner an Bord verbleiben im Besitz der Fluggesellschaft. Stolpern Sie auf dem Weg nach draußen nicht über den Betrunkenen. Wir wünschen Ihnen einen guten Weiterflug.«

Ivan und Seth lachten.

»Eine Fähre zu fliegen ist vermutlich ein bisschen langweilig«, sagte Seth.

Ivan verfolgte auf dem Monitor, wie die Olympus-Station langsam hinter ihnen zurückfiel. Die Mad Astra beschleunigte nur mit einem zehntel g, aber diesen Schub konnte sie stundenlang aufrechterhalten. Da während der Beschleunigungsphase nur entlang der Schiffsachse Schwerkraft herrschte, würde sich die Mannschaft so lange in den dortigen Quartieren aufhalten. Der Captain hatte gesagt, dass sie vier Stunden lang beschleunigen würden. Danach wollten sie den Antrieb abschalten, den Wohnring des Schiffes in Rotation versetzen und sich fast den gesamten restlichen Weg bis zum Ziel treiben lassen. Der Flug sollte ungefähr drei Wochen dauern.

Derweil würde die Crew im Mannschaftsraum in der Achse zusammenbleiben. Da der Raum am Beschleunigungsvektor des Schiffes ausgerichtet war, konnten sie darin ihre Tätigkeiten in künstlicher Schwerkraft verrichten. Er bot die gleichen Annehmlichkeiten wie der Mannschaftsraum im Wohnring: eine Kaffeemaschine nebst anderen Getränkespendern, einen automatischen Geschirrspüler, Essenspakete und eine Heizeinheit sowie Tisch-Bank-Kombinationen zum Hinsetzen. Wie in allen Räumen des Schiffs war auch hier die Deckenfarbe heller als der Teppichboden, um ein Gefühl von oben und unten zu erzeugen.

Der Erste Maat Dante Aiello trat ein. In der geringen Schwerkraft sah er wie eine Traumgestalt aus, die mit jedem Schritt sechs Meter zurücklegte. Er war ein teigiger Mann mittleren Alters, der immer ein wenig wirkte, als würde er aus dem Universum nicht recht schlau.

Er sah sich um. Seine Lippen bewegten sich, während er leise zählte. Zufrieden, dass alle da waren, berührte er das Display seines Tablets.

»Okay, dann zur Aufgabenverteilung. Pritchard, Geiger und Todd – ihr inspiziert die Ladung. Bewegt eure Ärsche, wir haben nicht viel Zeit, bevor die Rotation beginnt.«

Ivan und die beiden anderen sprangen auf – Ivan mit zu viel Schwung, sodass er sich zur allgemeinen Belustigung von der Decke abstoßen musste. Dann machten sie sich auf den Weg zum Frachtbereich. Als sie den Mannschaftsraum verließen, hörte Ivan noch, wie Aiello weitere Jobs vergab.

Ein paar Tage später gab es immer noch viel zu tun. Immerhin hatte Ivan heute eine etwas anspruchsvollere Aufgabe übertragen bekommen, während die Crew die Schürfroboter auspackte, sie untersuchte und hochfuhr.

Die heutige Schicht war besonders für diejenigen anstrengend gewesen, die nicht an kleinteilige Arbeiten gewöhnt waren. Die Schürfroboter auszupacken und einen Testlauf mit ihnen durchzuführen war eine heikle und kleinschrittige Aufgabe, bei der man lange Zeit in einer verkrampften Position ausharren musste, während man mit Instrumenten, die an Spielzeuge erinnerten, immer wieder minimale Feinjustierungen vornahm. Eine gute Arbeit für kleine Feen.

Stöhnend lehnte sich Seth zurück, bis einer seiner Rückenwirbel hörbar knackte. Anschließend ließ er die Schultern kreisen und seufzte, sichtlich zufrieden mit der erfolgreichen chiropraktischen Eigentherapie.

Ivan schüttelte sich theatralisch. »Oh Mann, Seth, das Geräusch war ja kaum zu ertragen.«

»Entschuldige. Mein Rücken wird immer schlimmer. Lorenza und ihre dämlichen Schürfroboter …«

»Spar dir dein Gewinsel«, warf Tenn ein. »Ich habe Touren erlebt, bei denen die Roboter nicht funktioniert haben und wir alles händisch erledigen mussten. Ein bisschen Arbeit mit dem Schraubenzieher ist nichts dagegen.«

Davies schien es nicht auf Ivan abgesehen zu haben, zumindest im Moment. Vielleicht, weil der gerade an den Robotern arbeitete und einen Job, der normalerweise zwei bis drei Tage in Anspruch nahm, in knapp vier Stunden erledigen musste. Gegen Ende hatte Lorenza sich fast gar nicht mehr über Ivans »mangelnde Unterstützung« beklagt. Er grinste. Es war ein tolles Gefühl, der Held zu sein.

»Heute Nacht werde ich schlafen wie ein Baby«, sagte er, während sie sich nach der Dusche abtrockneten und anzogen.

»Dass deine Unterkunft so eng ist, macht dir gar nichts aus?«

Ivan sah Davies fragend an. »Wieso sollte mich das stören? Verglichen mit den Bauen finde ich sie geradezu luxuriös.«

Tenn lachte. »Ja, mag sein, aber wir hatten ein paar Fälle von Klaustrophobie. Wenn du mitten in der Nacht im Dunkeln aufwachst – bei niedriger Schwerkraft und mit Wänden um dich herum –, kann es sein, dass du Angst bekommst, bevor sich dein Gehirn einschaltet. Dann schreist du vor Panik und weckst uns alle auf. Und wir müssen dann aufstehen und dir erklären, was wir davon halten.« Er sah Ivan vielsagend an. »Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«

Ivan grinste den wesentlich größeren Mann an. »Nachts nicht schreien. Kapiert.«

Ein paar der anderen Mannschaftsmitglieder hatten zugehört und lachten. Davies zog die Augenbrauen hoch, ersparte sich aber weitere Kommentare.

»Um 13:20 Uhr versammelt sich die gesamte Besatzung im Gemeinschaftsraum.« Alle sahen zur Lautsprecheranlage hinauf.

»Das ist, äh, ziemlich ungewöhnlich. Dann machen wir mal schnell.« Seth warf sein Handtuch in den Wäschekorb, und die anderen Besatzungsmitglieder folgten seinem Beispiel. Der Wäsche-Mech hob die Handtücher vom Boden auf und bedachte jeden einzelnen von ihnen mit einem vorwurfsvollen Blick. Aspasia warf ihr Handtuch direkt auf ihn und grinste über den stummen Tadel, den sie sich damit einhandelte.

Sie zogen sich alle das Standard-Schiffsoutfit an, das aus einem T-Shirt, Shorts und Schlappen bestand, und gingen zum Mannschaftsraum. Der Wohnring auf der Mad Astra war mit seinen hundert Metern Durchmesser wesentlich kleiner als der Ring der Raumstation. Dadurch stach die Biegung des Bodens selbst auf der äußersten Ebene wesentlich mehr ins Auge, und auch die Corioliskräfte spielten eine größere Rolle. Während sie in Drehrichtung gingen, nahm ihr Gewicht merklich zu, da ihr eigenes Lauftempo zur Rotationsgeschwindigkeit hinzu kam. Und so gerieten ein paar Crewmitglieder unterwegs ziemlich außer Atem.

Seth sah zurück. »Na, hört mal. Der eine oder andere von euch muss wohl ein bisschen mehr Zeit in der Tretmühle verbringen.«

»Du kannst mich mal«, schnauzte Tenn.

Seth lachte, als sie den Mannschaftsraum erreichten. Sie gingen hinein, zapften Kaffee aus der wie immer gut gefüllten Maschine und setzten sich hin.

Exakt zur angekündigten Zeit trat der Captain ein. Er ließ den Blick durch den Raum schweifen und nickte. »Ich möchte über die Strategie sprechen. Als Captain ist es natürlich mein Vorrecht, allein zu entscheiden, aber mir ist es lieber, wenn alle an einem Strang ziehen.«

Er blickte sich um, ob es Fragen oder Kommentare gab. Niemand sagte etwas.

»Während der letzten Touren haben wir Pech gehabt und den Break-even nicht geschafft. Wenn diese Tour wieder so ausgeht, wird das wohl die letzte Reise der Mad Astra gewesen sein, fürchte ich – zumindest unter meinem Kommando. Daher bitte ich Sie, einer möglichen Verlängerung unserer Tour von zwei bis drei Monaten zuzustimmen. Ich weiß, dass das hart ist – Sie werden diese zusätzliche Zeit praktisch ohne Lohn arbeiten. Aber wenn wir mit leeren Händen zurückkehren und die Gläubiger ihre Forderungen geltend machen, bekommen Sie bestenfalls einen Bruchteil von dem wieder, was Sie für Ihre Anteile bezahlt haben. Ich lasse Sie jetzt allein, damit Sie sich besprechen und in Ruhe über alles nachdenken können. In einer Woche werden wir darüber abstimmen. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.« Der Captain sah sich noch einmal um, nickte in die Runde und ging hinaus.

Sofort wurde es unruhig im Raum.

Ivan ließ den Kopf hängen und ballte die Fäuste. Er kämpfte mit den Tränen.

»He, Ivan, was ist los?«, fragte Seth.

Ivan rieb sich die Augen, bevor er antwortete. »Das bedeutet, dass ich im Endeffekt weniger pro Monat verdiene als in meinem alten Job. Das hier sollte eine Verbesserung sein, kein Rückschritt. Außerdem verliere ich am Ende vielleicht den gesamten Anteilspreis.«

»Ja, wenn man für eine Familie sorgen muss, wird alles gleich viel schwieriger. Hör mal, Junge, ich habe ja bereits gesagt, dass mein Lohn unberührt auf mein Bankkonto fließt. Ich kann dir was leihen. Und du zahlst mir das Geld später entweder nach dem Verkauf deiner Anteile oder mit einem Teil deines Profits zurück, falls wir Erfolg haben. Ohne Zinsen oder sonstige Verpflichtungen.«

Ivan spürte, dass ihm erneut die Tränen kamen, schaffte es jedoch, sich zusammenzureißen. »Danke, Seth. Ich weiß das zu schätzen. Und ich bin auch nicht zu stolz, dein Angebot anzunehmen. Diesen Luxus kann ich mir nicht leisten.«

Aus dem Augenwinkel sah er, dass Tenn zumindest einen Teil ihrer Unterhaltung mitgehört hatte. Doch er machte keinen seiner üblichen bissigen Kommentare. Stattdessen schaute er Ivan nur einen Moment lang in die Augen und blickte dann zur Seite.

Ivan runzelte die Stirn. Es sah Tenn gar nicht ähnlich, so eine Steilvorlage ungenutzt zu lassen. Vielleicht hatte er ja doch nicht nur eine große Klappe.

Ivan stieß sich gekonnt ab und schwebte durch den Achsengang. Er war stolz darauf, dass er inzwischen die gesamte Strecke vom Maschinenraum bis zum Wohnring schaffte, ohne ein einziges Mal die Seitenwände zu berühren. Langsam glitt er an den verschiedenen Ausgängen vorbei – Abkürzungen zu den verschiedenen großen Null-g-Bereichen des Schiffes.

Die Mad Astra war mehr oder weniger eiförmig und hundertfünfzig Meter lang. Die Fusionsgondeln waren am schmalen Ende angebracht; der Wohnring, der einen Querschnitt von fünf Metern hatte, verlief um die dickste Stelle des Ovals. Wenn er sich in Rotation befand, war der Ring nur vom Korridor aus zugänglich, der vom Maschinenraum bis zur ebenfalls in der Achse untergebrachten Brücke verlief. Aus Sicht eines Ingenieurs mochte die künstliche Schwerkraft des Wohnrings zwar unpraktisch erscheinen, aber sie war unerlässlich für die Gesundheit der Besatzung auf Langstreckenflügen.

Erst unmittelbar vor dem kreisrunden Schott des Wohnrings berührte Ivans ausgestreckte Hand die Seitenwand. Wieder eine perfekte Flugbahn. Er fasste nach einem Haltegriff und kam sanft zum Stillstand. Mit den Füßen voran glitt er durch das Schott auf die Gangway, die um die Achse herumführte, und hangelte sich bis zur nächsten Sprossenleiter.

Nachdem er sie hinuntergerutscht war, befand er sich im Mannschaftsraum. Seth, der gemeinsam mit Tenn und Dr. Kemp an einem Tisch saß, winkte ihm zu.

Ivan wunderte sich nicht mehr über die Anwesenheit des Arztes. Obwohl er nominell ein Offizier war, verbrachte Charles Kemp die meiste Zeit in Gesellschaft der Crew. Angeblich, weil bei ihnen der Kaffee besser schmeckte.

»In zwei Stunden beginnen wir mit dem Bremsmanöver, Sprössling. Bald bist du keine Jungfrau mehr.«

Ivan grinste Tenn auf dem Weg zur Kaffeemaschine an. »Vorausgesetzt natürlich, wir finden etwas, das es wert ist, darin herumzustochern.«

Dr. Kemp sah Ivan vorwurfsvoll an. »Was ist denn das für eine Einstellung? Lita hat mir übrigens erzählt, dass sie ein paar aussichtsreiche Asteroiden ausgemacht haben, die wir von unserer voraussichtlichen Parkposition aus in Raumanzügen erreichen und untersuchen können. Bei unserem ersten Stopp werden wir drei Wochen lang nach Bodenschätzen suchen.«

Alle sahen hoch, als es im Lautsprecher knisterte. »In zehn Minuten beenden wir die Rotation des Wohnrings. Bitte verlassen Sie den Wohnring.«

Ivan war nicht der Einzige, der bei dieser Ankündigung seufzte. Das halbe g im Wohnring war ein Luxus, auf den sie ab nun verzichten mussten, bis sie eine Stelle erreichten, wo es sich lohnte, den Ring wieder in Rotation zu versetzen. Er sah auf die immer noch leere Kaffeetasse in seiner Hand hinab und gab sie dem Geschirrspüler. Der Mech nahm die Tasse und wischte sie kurz ab. Nachdem er sie aufs Regal zurückgestellt hatte, starrte er Ivan so lange an, bis er wegging.

Die Beendigung der Rotation dauerte eine halbe Stunde. Unterdessen hatte die Crew nichts anderes zu tun, als sich das unheimliche Ächzen der Mad Astra anzuhören. Für Ivan klang es, als würde das Schiff langsam in Stücke gerissen werden. Da sich jedoch niemand aus der Crew daran zu stören schien, gab er sich Mühe, ebenfalls entspannt und unbesorgt auszusehen.

Kurz nachdem die Geräusche verklungen waren, ertönte eine weitere Durchsage: »Rotation beendet. Bereiten Sie sich auf das Umkehrmanöver vor.«

Von allen Seiten raschelte es, als die Crewmitglieder ihre Gurte und Sitzpositionen überprüften. Seth sah grinsend zu Ivan herüber. »Dann wollen wir mal hoffen, dass sich dein Magen vollständig an die Weltraumbedingungen angepasst hat. Vielleicht solltest du sicherheitshalber eine Kotztüte in die Hand nehmen.«

Seth hatte recht. Was nun folgte, war der ultimative Test für einen Neuling. Um mit ihren Antriebsdüsen bremsen zu können, musste sich die Astra um hundertachtzig Grad drehen. Das Manöver war weder besonders gefährlich noch schwierig, solange der Wohnring sich nicht drehte, aber die Crew musste in der Zwischenzeit fest angegurtet bleiben. Dass sich das Schiff langsam in einer ungewohnten Richtung drehte, verursachte bei den meisten ein schwer zu beschreibendes Übelkeitsgefühl. Gerade unerfahrene Mägen konnten sehr widerwillig auf diese langwierige Prozedur reagieren.

Ivan erinnerten die Symptome an eine leichte Seekrankheit, aber er kam dennoch ohne die Kotztüte aus.

»Das Bremsmanöver beginnt in fünfzehn Sekunden.«

Auf diese Ankündigung reagierten die meisten Mannschaftsmitglieder mit einem Lächeln. Während des Bremsvorgangs lag die Schwerkraft bei einem zehntel g, und sobald sie das Ziel erreicht hatten, würde der Wohnring wieder zu rotieren beginnen.

Die Schubdüsen zündeten und würden das Schiff so lange abbremsen, bis es in den Orbit des hiesigen Asteroidengürtels einschwenkte. Nach vier Stunden sollte die Mad Astra die durchschnittliche Bahngeschwindigkeit von Objekten im entsprechenden Abstand zur Sonne erreicht haben.

Bis dahin gab es noch einiges zu erledigen und keinen Grund, untätig herumzusitzen. Also versammelte sich die Crew im Mannschaftsraum in der Achse und wartete auf Befehle. Ohne Schub herrschte zwar Schwerelosigkeit, aber das war um Längen besser, als stundenlang auf einer Beschleunigungsliege festgeschnallt zu sein.

Ivan ließ sich auf einer Bank nieder und klemmte seine Beine darunter fest. Mehrere Mannschaftsmitglieder setzten sich zu ihm an den Tisch, aber niemand war auf ein Gespräch aus. Alle wollten bloß, dass dieser Teil der Reise möglichst schnell vorbeiging.

Wenig später ertönte Dantes Stimme aus der Sprechanlage: »In zehn Minuten beginnt die Rotation, alle Crewmitglieder bereiten sich darauf vor. Pritchard, Robinson. Bake aussetzen. Hopp.«

Die beiden richteten sich auf und gaben Acht, dass sie nicht davonschwebten, bevor sie sich in Richtung Ausgang abstießen. Seth jubelte. »Sie würden keine Bake aussetzen, wenn es in der Gegend nichts gäbe, was man sich ansehen sollte.«

»Dann haben sie also etwas gefunden?« Bei dieser Vorstellung schlug Ivans Herz schneller.

»Na ja, sie haben irgendetwas gefunden. Das heißt aber fürs Erste nur, dass es dort draußen nicht bloß leeren Raum oder Geröll gibt. Mit der Bake stecken wir unseren Claim ab und halten andere Schiffe fern. Aber wenn dort lediglich kohlenstoffhaltiges Chondrit zu finden ist, bringt uns das gar nichts. In dem Fall würden wir als Nächstes einen intensiven Radarscan durchführen.«

An das meiste davon erinnerte sich Ivan aus seinem Training, obwohl die technischen Details damals nur oberflächlich abgehandelt worden waren. In den Kursen hatte er vor allem erfahren, welche Aufgaben die Brückencrew ihm und den anderen Neulingen übertragen würde. Weshalb oder wie etwas funktionierte, war dabei nicht wichtig gewesen.

Sie erreichten den Frachtraum und holten sich dort Druckanzüge. Ein kleiner Stromstoß dehnte das Material so weit aus, dass sie problemlos hineinschlüpfen konnten. Nachdem sie sich angezogen hatten, inspizierten sie sich gegenseitig, ob auch alles richtig saß, und schalteten zuletzt die Ladegeräte ab. Daraufhin zogen sich die Anzüge sofort zusammen und bauten den nötigen Druck auf, um das Vakuum im Weltraum auszugleichen. Bei dieser Methode bestand kein Risiko eines Luftverlusts. Außerdem war das Gewebe minimal porös, sodass der Schweiß im Weltraum verdampfen und sich nicht im Inneren des Anzugs sammeln würde.

Handschuhe, Stiefel, Rucksack und Helm schnappten in Befestigungen ein, die angeblich allesamt keine Fehlbedienung zuließen. Da sich aber natürlich niemand darauf verlassen wollte, stand vor jedem Weltraumspaziergang ein Buddy-Check an.

Ivan und Seth überprüften einander noch ein zweites Mal, um sicherzugehen, dass auch wirklich alles passte und funktionierte. Dann gingen sie durch eine Luftschleuse in den drucklosen Bereich des Frachtraums. Ivan glaubte zu fühlen, dass seine Haut fester gegen den Anzugstoff drückte.

»Dort hinüber«, sagte Seth über Funk und deutete zum Ende des Raums. Während Ivan ihm folgte, konzentrierte er sich ausschließlich auf die Steuerung seines Jetpacks. Diese Technologie hatte sich seit Anbeginn der Raumfahrt zwar enorm weiterentwickelt und funktionierte inzwischen weitestgehend intuitiv, dennoch wollte er in einer geschlossenen Umgebung mit harten Metalloberflächen keinen Fehler riskieren.

Seth kam schwebend neben einem Objekt zum Stillstand, das wie eine altertümliche Meeresboje aussah. Die Bake hatte einen Durchmesser von zwei Metern, war sechs Meter lang und annähernd zylindrisch geformt. Sobald sie im Weltraum war, würde sie ihre Antenne ausfahren und dadurch auf ungefähr doppelte Länge anwachsen.

Die Bake war mit mehreren Metallbändern am Schott befestigt. Seth wies auf die gegenüberliegende Seite des Geräts. »Die Verschlüsse sind dort drüben, Ivan. Fang oben an, und mach einen nach dem anderen auf, wenn ich das Kommando dazu gebe, okay?«

»Verstanden.«