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Sie kommt von der ukrainischen Krim und ist ganz von der russischen Kultur geprägt. An der Kyjiwer Universität begegnet sie einer Frau, die nur drei Jahre älter ist – und die sie jahrelang in ihren Bann schlägt. Für die Erzählerin ist es die erste Liebe, die auch die einzige bleiben soll. Die Dozentin jedoch besteht auf ihrem Recht, mehrere Frauen gleichzeitig zu lieben. Um sich ihrer Kontrolle zu entziehen, geht sie nach dem Studium nach Moskau, doch kommt sie nicht von ihr los. Mit den Maidan-Protesten und dem Kriegsbeginn 2014 wird der Konflikt zwischen ihnen zu einem politischen. Während die ehemalige Lehrerin der Erzählerin jede Identität abspricht, vor allem die ukrainische, wehrt sie sich nicht nur gegen sie, sondern auch ihren russlandtreuen Vater. Ich ertrinke in einem fliehenden See ist die berückende Selbstbefragung einer Ich-Erzählerin, der die Gewissheiten ihrer Sozialisierung ins Wanken geraten. Aus den Fragmenten ihrer Vergangenheit und den Dokumenten einer zerstörerischen Liebe schreibt sie ein Buch – und gewinnt damit ihre Unabhängigkeit.
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Seitenzahl: 769
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ANNA MELIKOVA
Aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann
Von der Autorin um deutschsprachige Passagen ergänzte Originalausgabe
2007–2023
2005–2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014–2021
2022
Die Tatsachen hätten, als sie geschahen, die Wörter,mit denen man sie später aufschreibt, gar nicht ertragen.
Herta Müller, Der König verneigt sich und tötet
Im Grunde ist meine Heimat nicht die Sprache […],sondern das, was gesprochen wird.
Jorge Semprún, Federico Sánchez verabschiedet sich
ich bin dein einziges buch.du wirst dein ganzes leben lang ausschliesslichueber mich schreiben.
aus einer ihrer Mails
Ich habe dieses Buch in verschiedenen Zeiten meines Lebens auf Russisch, d. h. in meiner Muttersprache, geschrieben. Nach dem 24. Februar 2022 habe ich beschlossen, nicht mehr mit dieser Sprache zu arbeiten. Den Prolog habe ich von vornherein auf Deutsch verfasst. Der russische Text wurde von Christiane Pöhlmann ins Deutsche übersetzt, neben der inhaltlichen Überarbeitung der Übersetzung habe ich dem Roman neue deutsche Passagen hinzugefügt. Erschiene der Roman in seinen Originalsprachen, bestünde er aus einem Gewebe aus russischen, ukrainischen und deutschen Fragmenten. Die ukrainische Sprache ist im Roman markiert, die russische und die deutsche sind es nicht.
Anna Melikova, Berlin 2024
31. Dezember 2022, abends. Meine Hände sind rotbeetig. Purpurrot. Sie riechen nach Fisch. Unter meinen hellgrau lackierten Fingernägeln ziehe ich feine Gräten hervor. Hering im Pelzmantel. Pflaume mit Nüssen in Sauerrahm. Zwei sowjetische Gerichte, die ich mit nach Deutschland genommen habe und immer an Silvester zubereite. Bald kommen die Gäste. Deutsche und Ukrainer*innen. Einheimische und Geflüchtete. Früher haben meine Ehefrau und ich um 22.00 Uhr begonnen zu feiern. Zuerst Silvester nach Moskauer Zeit, eine Stunde später nach Kyjiwer Zeit, erst dann tranken wir auf das deutsche neue Jahr. Diesmal beginnen wir um 23.00 Uhr. Wir werden um 22.55 Uhr unseren Beamer einschalten und uns Selenskyjs Rede anhören. Am Ende werden wir alle »Slawa Ukrajini, Herojam slawa« ausrufen. Auch diejenigen, die kein Ukrainisch können. Und danach »S Novym rokom«.
Girlanden leuchten in den Fenstern der Nachbar*innen. Wir sollen nicht vergessen, unsere bunten Glühbirnen und Kerzen – gelb und blau – aus dem Kämmerchen zu holen. In diesem Jahr die beliebteste Farbkombination. Ich skype mit meinem Vater. Auf die Frage, ob es was Neues gibt, antwortet Papa, dass er einen neuen Fernseher gekauft hat, noch größer als der davor. Vielleicht war der vorige nicht mehr in der Lage, die Realität zu überschreien, sein Bild von der Welt so auszustrahlen, dass jede*r weiterhin an dessen Wahrhaftigkeit glaubte. Aber der neue, der große, der kann es. Wie viele russische Kriegsverbrechen ist er imstande zu vertuschen? Wann wird Papa gezwungen sein, nach einer neuen Marke, nach einem noch größeren Fernseher zu suchen? Ich sehe die Spiegelung des Fernsehers in Papas Brille und ich sehe Putin in diesem Fernseher. Ich bitte Papa, entweder den Fernseher auszuschalten oder seine Brille abzunehmen. Er nimmt die Brille ab.
Die elektronische Uhr zeigt die letzten Stunden vom Jahr 2022, die letzten Stunden von Tag 331. Seit dem 24. Februar haben alle Tage dieses Jahres zwei Ordnungszahlen: der wievielte Tag des Monats, der wievielte Tag der russischen Invasion. Vielleicht dachte die Presse, die diesen Kriegstagen sofort, von Anfang an, Seriennummern gab, dass es wie der fünftägige Krieg in Georgien werden würde. Mein Vater sagt, dass der Donbas-Krieg am 2. Juni 2014 begann, als die ukrainische Armee das Regierungsgebäude der Separatisten von Luhansk in die Luft sprengte. Meine ukrainischen Freund*innen meinen, dass er am 12. April 2014 begann, als der russische FSB-Offizier Igor Strelkow-Girkin mit seinen Soldaten die ukrainische Grenze überquerte und Slowjansk einnahm. Für mich aber hatte jener Krieg keinen Anfang. Irgendwann wurde klar, dass er schon lange da ist. Aber dieser Krieg jetzt hat einen Anfang, den Tag kennt die ganze Welt. Bedeutet dies, dass es bei jenem Krieg, der keinen Anfang hatte, deswegen auch kein Ende gab, und dieser Krieg genau aus diesem Grund doch ein Ende haben wird? In einer Textnachricht erkundige ich mich bei meinem Mieter nach meiner Wohnung in Kyjiw, wo ich sechs schlichte Jahre meines Studiums und anderthalb unerträgliche Jahre meiner Liebe verbracht habe. Die Wohnung liegt in dem Bezirk, der am häufigsten von Raketen getroffen wird, nicht weit vom SBU. Die Wohnung steht noch, antwortet er nach einer Pause. Ich weiß nicht, ob ich insgeheim gehofft habe, dass sie nicht mehr existiert.
Etwas nervös reibe ich die Rote Beete für die vorletzte Salatschicht, danach kommen die gekochten Eier und Erbsen als Garnierung. Ich schaue wieder auf die Uhr und versuche, mich zu beeilen. Ich habe zu spät angefangen, das Essen vorzubereiten. Ich hatte heute eine Deadline. Bis zum späten Abend habe ich an einem Drehbuch für einen Workshop gearbeitet. Neben meinem Foto und Namen stehen zwei Länder: Germany and Ukraine. Als ich mich beworben hatte, sollte ich eine Frage an eine*n Filmemacher*in aus meinem Land formulieren. Ich entschied mich für Kira Muratowa, eine sowjetisch-ukrainische Regisseurin, die 2018 gestorben ist.
Dear Kira, back in 2014 you supported the Maidan and the Ukrainians’ desire for freedom, but you called yourself a pacifist (like I used to call myself). You said: »No territory – let it be called the Motherland – deserves people to be killed because of it«, and that there can be no creative impulsehere. What would you do now? Would you still consider yourself a pacifist like some Western feminists? Or would this war leave no space for your pacifism, like for many Ukrainians? Would you still find it impossible to make films during the war?
In meinem Drehbuch geht es um den Krieg. Seit fast einem Jahr geht es immer nur um den Krieg, egal, in welcher Sprache ich schreibe. Ich schreibe fehlerhaftes Deutsch, wie in diesem Moment. Ich schreibe fehlerhaftes Ukrainisch, wenn ich Artikel über ukrainische Filme auf Festivals schreibe. Ich schreibe fehlerhaftes Englisch, wenn ich mich für etwas bewerbe. Auf Russisch schreibe ich fehlerfrei. Aber ich schreibe nicht mehr auf Russisch. Das ist vorbei.
Ich koche und meine Frau wählt eine Playlist aus. Bald kommen meine ukrainischen Freundinnen. Ich habe sie vor Jahren über Zemfira, eine russische Rocksängerin kennengelernt. Wir waren 18. Wir waren Fans. Wir schrieben einander Briefe, weil wir in verschiedenen Städten in der Ukraine wohnten, und besuchten ihre Konzerte mit rosa Luftballons, auf denen unsere Nicknames und der Buchstabe Z gemalt war. Überall. Unsere Körper und Notizbücher waren mit Zs übersät. Viele Jahre brachten wir diesen Buchstaben nur mit Zemfira in Verbindung. Am 24. Februar 2022 haben wir uns davon verabschiedet: Als dieser Buchstabe sich über die russischen Staatsmedien verbreitete, auf Panzer kletterte, in Militärflugzeuge stieg, sich in Mehrfachraketenwerfersysteme quetschte und in die Ukraine flog. An diesem Tag hat Zemfira ihr in Moskau geplantes Konzert nicht abgesagt. Sie hat die Illusion normalen Lebens nicht brechen wollen. Das haben ihr meine ukrainischen Freundinnen, die lange Zeit ihre Fans waren, nicht verziehen. Zemfira ist danach aus Russland geflohen und hat öffentlich Stellung bezogen gegen die russische Aggression. Vor Kurzem war ich auf ihrem Konzert in Berlin. Ich denke, meine ukrainischen Freundinnen, haben das Recht, Zemfira zu verurteilen. Ich nicht. Sie wissen, wie Luftalarm und Explosionen klingen. Ich weiß es auch. Aber anders. Mir wurden diese Töne von Freundinnen beschrieben, und danach von deren Kindern, die es ganz anders, in anderen Oktaven sangen. Die Ausstellungen und Theateraufführungen, die ich in Berlin besucht habe, die vom Krieg erzählten, beginnen oft mit der Imitation von Sirenen. Bedeutet das, dass ich Luftalarm gehört habe?
Draußen explodieren die Silvesterraketen. Ich reagiere gelassen. Ich verstecke mich nicht unter dem Tisch. Die Freundin, die bald mit ihren Kindern kommt, schreibt mir eine Nachricht: Ihr kleiner Sohn sitzt im Flur – er hält sich an die »Zwei Wände«-Regel, da gibt es größere Überlebenschancen während eines Raketenangriffes. Ich schneide ein Baguette auf und beschmiere es mit Butter. Dazu wird auch roter Kaviar kommen. Deutsche Freund*innen sollen ihn bald mitbringen. Ich konnte ihn nicht selbst kaufen, weil ich nicht mehr in russische Läden gehe. Wie viele von diesen »Nicht-mehrs« gab es im Jahr 2022? Ich arbeite nicht mehr mit Russland zusammen, ich lese keine russische Literatur mehr, ich schaue keine russischen Filme mehr, ich kommuniziere nicht mehr mit gewissen russischen Bekannten, ich antworte meinen Kyjiwer Freund*innen nicht mehr auf Russisch, wir sprechen nur noch Ukrainisch. Ich weiß nicht mehr, wann ich wieder nach Hause kommen kann, auf die Krim. Wann wird es diese »Nicht-mehrs« nicht mehr geben? Welche werden nach dem Ende des Krieges annulliert? Welche werden für immer bleiben? Heimweh besteht aus zwei Teilen: »Heim« erinnert dich an den Abstand, »weh« – an die Unmöglichkeit, dahin zu gehen, wo dein Heim ist. Ich lebe schon lange nicht mehr auf der Krim, aber erst jetzt habe ich verstanden, was Heimweh eigentlich ist. Erst jetzt gibt es Weh. Das ganze Jahr lang fuhr ich an fremde Meere. Alle diese Meere sind salziger als mein Schwarzes Meer. Wärmer. Völlig unbekannt. Aber sie sind zugänglich. Sie sind nicht besetzt. Ich habe Meerweh.
An Weihnachten spielten wir Scharade. Jemand bekam die Wortverbindung »Russlandsanktionen«. Eine Frau aus der DDR. In der Schule hatte sie Russisch gelernt. Früher zählte sie mir oft die russischen Wörter auf, an die sie sich noch erinnerte, sang sowjetische Lieder über Pioniere und sprach mit mir über russische Literatur. Seit dem Krieg führe ich diese Gespräche nicht mehr. Jetzt stellte sie das Wort »Russisch« durch den Tanz dar: zuerst durch russischen Volkstanz, danach Ballett. Aber niemand verstand es. Dann zeigte sie auf mich, ich sollte das Wort »Russisch« symbolisieren, aber sie winkte sofort ab: Nein, vergesst es, es stimmt nicht. Sie gab den Versuch auf, »Russisch« zu erklären, und wandte sich dem Wort »Sanktionen« zu. Sie zerlegte es in Silben. Die Finger zu einem Kreis geformt, hob sie die Hände über ihren Kopf, um einen Heiligenschein zu bilden. Ich verstand, was sie meinte: Sankt – heilig. Aber niemand erriet das Wort. Sie musste aufgeben. Und ich fragte: Warum hast du russische Kunst und Heiligkeit gezeigt, statt Waffen, Bomben, Raketen und Tod?
Meine deutschen Freund*innen trauern um die große russische Kultur. Egal, wie viel wir über den Krieg reden, das Gespräch kommt immer wieder auf die russische Kultur. Sie sei nicht schuld am Krieg. Als ob meine deutschen Freund*innen, nicht ich, in der Schule zehn Jahre lang fünfmal pro Woche russische Literatur gelernt hätten und nur einmal ukrainische Literatur, und das auch nur in den letzten beiden Schuljahren. Als ob sie, und nicht ich, von der russischen Literatur geprägt wären von Kopf bis Fuß. Als ob für sie, und nicht für mich, die beiden wichtigsten Personen im Leben Vertreterinnen dieser Kultur wären. Aber nicht ich, sondern sie sind es, die diese große Kultur beweinen. Mit den Namen Dostojewski und Tolstoi endet jedes unserer Gespräche über den Krieg. An dieser Stelle steige ich immer aus.
Meine Hände sind pflaumig. Schwarz. Ich dekoriere den Nachtisch mit Granatapfelkernen und wasche meine Hände. Jetzt sind sie wieder sauber, beige. Ich schreibe meinen Kyjiwer Freund*innen auf Telegram. Seit fast einem Jahr wünschen wir einander immer dasselbe, egal ob es Silvester, Geburtstag oder Ostern ist – den Sieg. Aber unsere Vorstellung vom Sieg ändert sich beinahe jeden Monat, mit jeder Zerstörung, mit jedem befreiten Gebiet. Meine Freund*innen werden Silvester in einer Kyjiwer Bar feiern. Sie befindet sich im Untergeschoss und ist gleichzeitig ein Luftschutzbunker. Für alle Fälle, sagen sie. Wir müssen damit rechnen, dass Russland in der Nacht zum 1. Januar 2023 mit Raketen angreifen wird.
Ich scrolle durch Instagram. Ein Flashmob – alle posten Fotos von 2022, die in den letzten Tagen vor der Invasion entstanden sind. Ich schaue bei mir nach. 13. Februar, Premiere eines Films, den meine Ehefrau und ich gemacht haben. Fotos von der Pressekonferenz, von der Premiere, vom feierlichen Abendessen. Ich bin mal allein, mal mit meiner Frau, mal mit dem Filmteam. An dem Tag hatte ich morgens die Nachrichten gelesen und spontan beschlossen, nicht das anzuziehen, was ich mir am Abend zuvor vorgenommen hatte, sondern die ukrainische Wyschywanka. Ich hatte sie 2014 in Kyjiw auf dem Andrijiwskyj uswis gekauft – sofort nach dem Maidan. Was genau hatte an diesem Tag in den Nachrichten gestanden? Warum war es mir an diesem Morgen so wichtig, meine Zugehörigkeit zu der Ukraine zu zeigen, meine Haltung zu betonen? War bereits klar, dass der Krieg unvermeidlich ist? Ich weiß es nicht mehr.
Unter diesen Fotos stehen Kommentare mit Glückwünschen zu unserer Premiere. Manche wurden von Menschen geschrieben, mit denen ich nun schon fast seit einem Jahr nicht mehr rede. Sie sind trotz des Krieges in Russland geblieben. Sie schweigen oder reden weiter über Literatur, Filme, Philosophie, Feminismus und weibliche Orgasmen. Einen Kommentar hatte ich gelöscht. Aber aus einem anderen Grund. Er war auf Ukrainisch. Ihn hat eine Frau geschrieben, die einmal immense Macht über mich gehabt hatte und viele Jahre namenlos für mich geblieben war. Sie war alles. Sinn meines Lebens und meiner Träume. Grund meiner Worte und meiner Stummheit. Die treibende Kraft für meine Umzüge und Verwandlungen, für meine Fragen an die Welt und an mich selbst. Um diese Frau wird es in diesem Buch gehen. Aber eigentlich nicht um sie.
Welches Recht hast du, über dein Glück zu schreiben und eine ukrainische Wyschywanka zu tragen? Hast du dieses Land mit deinem eigenen Körper verteidigt? Ich verbiete es dir für immer. Du bist nicht einmal Ukrainerin. Dass du den ukrainischen Pass hast, bedeutet nichts. Du hattest sogar ein Heft mit Putin. Wenn du es vergessen hast, gibt es mich, die es immer noch weiß. Ein Mensch kann sich nicht ändern – das hat mich meine Lebenserfahrung gelehrt. Und du konntest es auch nicht. Falls wir uns wieder irgendwo begegnen, dann bist du tot. Bis dahin werde ich überall hingehen und allen erzählen, wer du bist.
Sie weiß nicht, dass ich es bereits getan habe. Ich habe alles in diesem Buch erzählt. So aufrichtig, wie ich nur konnte, und soweit mein Gedächtnis es mir erlaubt. Fünfzehn Jahre habe ich dafür gebraucht. Dieser Text ist von der Zukunft verwundet. Wenn ich seine Kapitel jetzt wieder lese, möchte ich alles infrage stellen. Nicht nur ich und meine Ansichten haben sich verändert, sondern auch die Ortsnamen oder ihre Schreibweise. Dieser Text ist wie eine Stadt, in der man überall Inschriften darüber sieht, was hier zerstört wurde.
Mein Lebenslauf? Eher mein Lebensstolpern. Lebensstehenbleiben, Lebensrunterfallen, Lebensaufbau, Lebenssprung.
Das Buch erscheint auf Deutsch, eine Sprache, die weder diese Frau noch meine Familie auf der Krim kann. Dieser Sprache, die mich geherbergt und behütet hat, bin ich dankbar.
Wie du habe ich mir ein untröstliches Erinnern gewünscht, ein Erinnern der Schatten und der Steine.
Marguerite Duras, Hiroshima mon amour
* * *
Sie saßen ständig in Cafés. Tee, Kaffee, in ihrer Langeweile manchmal auch Glühwein. Sie beide hassten Cafés, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: Die eine, weil ein Café ihr Zeit raubte, die andere, weil es ihr sie raubte. Das identische Pronomen »sie« tilgte jede Grenzlinie, schuf die Illusion, zwischen ihnen bestünde kein Unterschied. Doch den gab es.
Tagtäglich saßen sie in irgendeinem Café. Zwischen ihnen der Tisch, der Aschenbecher, Tassen, Gläser, Worte und Schweigen. Kein Bissen wollte die Kehle hinuter. Gewöhnliches Essen verursachte bloß Brechreiz. Ebenso wie die Sinnlosigkeit dieser Begegnungen. Immerhin überlagerten die Gerüche an diesem Ort vorübergehend all die verhassten Gerüche: die von fremden Küssen und eigener Hysterie.
Sie saßen im Café, umgeben von anderen Menschen, in deren Anwesenheit es peinlich gewesen wäre, laut über das zu sprechen, was zählte: ob es sie überhaupt noch gibt, ihre Gefühle. Ob sie nicht längst vergeudet ist, ihre Zeit. In solchen Momenten hätten sie einander gern in Ausländerinnen verwandelt, damit nicht sie, sondern allein die unbekannte Sprache schuld an ihrer Entfremdung war. Doch ihre Muttersprache einte sie wie zum Hohn: Russisch bei der einen, Russisch bei der anderen. Nur die fremden Gesichter um sie herum rechtfertigten ihr Schweigen mithin.
Sie saßen im Café wie in Untersuchungshaft und hassten alles: die Cafés, die Sprache, die Menschen, die Getränke, sich. Dieses Gefängnis einer vereinsamten Menschenmasse. Am liebsten hätten sie nach ihrer mit heißer Flüssigkeit gefüllten Tasse gegriffen und mit der kochenden Brühe das Innenleben all der zahllosen Einrichtungen verbrüht, das Interieur all der verhassten Bars mit Pusteln und Brandblasen überzogen. Zu gern hätten sie das. Aber am Ende trug nur die eigene Leber davon Schaden.
Auf diese Weise klang ihre Geschichte aus. Zumindest glaubten sie das. Glaubten, dies wäre das Ende.
Wann war das? In welchem Jahr?
Und wer von ihnen ist sie? Wer ich?
* * *
Das war die erste Seite eines Textes, den ich 2007 geschrieben hatte. Damals wusste ich noch nicht, dass jene Worte vom Ende lediglich den Beginn eines langen Weges markierten, der sich über viele Jahre hinziehen sollte. Wann immer ich rein zufällig auf diese Datei in meinem Notebook stieß und den Text noch einmal las, hätte ich ihn am liebsten gelöscht. Doch er hat um sein Existenzrecht gekämpft und überlebt. Deshalb weiß ich nach wie vor, wie das Gefühl damals von innen aussah. Was ich mir erst noch vergegenwärtigen muss: Wie sah es von außen aus? Wer war ich damals?
Eine Philologiestudentin. Banaler ging es kaum.
Es schien mir, dass man aus Verzweiflung Philologie studiert, wenn man nicht weiß, was man mit dem eigenen Leben anfangen soll. Sprachen interessierten mich zu diesem Zeitpunkt kaum. Wie auch alles andere mich nicht interessierte, von der Rocksängerin Zemfira abgesehen. Meine Ohren waren mit Kopfhörern verwachsen, meinen Körper bemalte ich mit dem Buchstaben Z, mein Studium des Lebens folgte ihren Regeln: Worauf es ankommt, ist, nicht den Code zu switchen und sich nicht zur Hure machen zu lassen. Da es nun mal noch kein Institut für Zemfirologie gebe, wie mir meine Mutter sagte, solle ich mir bitte etwas einfallen lassen. So habe ich mich für Germanistik eingeschrieben und wurde dann zur Musterstudentin. Nicht etwa, weil mich die Fächer begeistert hätten – Stilistik, Lexikologie, Sprachgeschichte, Sprachtheorie, deutsche Grammatik, Latein, antike Literatur und das Mittelalter –, sondern einfach, weil ich es so gewohnt war: auf Einsen zu lernen. Mich von nichts ablenken zu lassen. Zu tun, was gesagt wird. Erst Vertrauen aufbauen, dann Erwartungen rechtfertigen. Die Semester absolvierte ich problemlos. Wegen meiner guten Leistungen im Unterricht war ich von den meisten Prüfungen befreit. Vor allem in den Fächern, in denen ich auf Ukrainisch während der Prüfung Rede und Antwort hätte stehen müssen, setzte ich alles daran, Bestnoten zu erhalten. Als Studentin von der Krim konnte ich keinen einzigen Satz anständig auf Ukrainisch formulieren, so fremd war mir die Sprache. Und wenn die Dozentinnen in ihren Vorlesungen so hingerissen über deutsche Phonetik sprachen, als gäbe es nichts Interessanteres im Leben, beschäftigte mich nur ein Gedanke: ob sie vor ihrem Tod noch begreifen, dass es hier bloß um Phonetik geht, um irgendwelche Laute, um Knacklaut, Umlaut und Nasal. Dass es im Leben viel wichtigere Dinge gibt, denen sich zu widmen lohnen würde. Welche – das wusste ich damals leider auch nicht.
Großstädte verderben Kleinstädter, jene, die aus kleinen Orten kommen, aus kleinen Welten und von kleinen Meeren. Sagt man. Aber für mich, war ich mir sicher, würde das nicht gelten. Während der ersten vier Jahre in Kyjiw bin ich die geblieben, die ich war: keine schlechten Angewohnheiten, kein Alkohol, keine Dates. Wann immer es ging, kaufte ich mir eine Fahrkarte nach Hause, kehrte auf die Krim zurück, zu meinen Eltern, an mein Meer. Kyjiw fand ich kalt und abweisend. Im Grunde kannte ich es überhaupt nicht. Nur die Uni, den Weg dorthin – die einzige fest eingeprägte Aussicht aus dem Busfenster.
Doch manchmal kaufte ich statt einer Fahrkarte auf die Krim eine in irgendeine andere ukrainische Stadt, wenn Zemfira dort ein Konzert gab, in Charkiw vielleicht, in Saporischschja, Donezk, Odessa oder Dnipropetrowsk, das im Jahr 2016 im Rahmen des Entrussifizierungsprogramms in Dnipro umbenannt werden sollte. Dann stand ich in Konzertsälen, Stadien, Clubs, mit nervös klopfendem Herzen und einem rosa Luftballon, darauf mit schwarzem Edding der Buchstabe Z und mein Nickname. Durch Zemfiras Auftritte machte ich mir ein Bild von der ukrainischen Geografie.
Schließlich kam das letzte Jahr an der Uni. Was ich danach machen würde, wusste ich nicht. Außer Deutsch hatte ich nichts gelernt. Was aber konnte mir das nutzen?
Die Seminare zur ukrainischen Literatur und Postmoderne sollte im vorletzten Semester eine junge Dozentin übernehmen. Das gefiel mir nicht, junge Lehrkräfte waren mir suspekt, denn dass jemand kompetent sein könnte, ohne Erfahrung zu haben, glaubte ich nicht. Ich bin unbedingt für die Vertikale. Irgendjemand muss über mir stehen, das aber mit gutem Grund. Obendrein interessierte mich die ukrainische Literatur nicht. Bei der Postmoderne sah das anders aus.
Am ersten Tag kehrte ich gerade von einem Konzert aus Dnipro zurück. Im Zug hatte ich kein Auge zugemacht. Noch immer klangen mir alle Songs im Ohr, sah ich noch immer das Gesicht am Mikro, durch Spots erhellt. Und ich wollte nichts anderes hören als diese Lieder. Nichts anderes sehen als dieses Gesicht. Ich spielte mit dem Gedanken, zu Hause zu bleiben und die erste Veranstaltung zu schwänzen. Ich überwand mich: Wenn ich den Einstieg verpasste, würde ich die Theorie der Postmoderne nie durchdringen. Der Begriff selbst hatte für mich keinerlei Verbindung mit der Realität. Die Zeit, in der ich lebte, schien keine eigene Bezeichnung zu verdienen. Im Grunde glaubte ich, es gäbe überhaupt keine Zeit …
… Und dann läutet es zum Unterricht. Alle sind vorm Seminarraum. Niemand weiß, wie sie aussieht. Als ich mich umschaue, bemerke ich eine Gruppe, die aus dem Fahrstuhl steigt. Studentinnen, junge Frauen, und ein paar Professorinnen. In dieser Gruppe entdecke ich sie, eher eine Studentin als eine Dozentin. Ich verkünde: Das ist sie. Woher weißt du das denn?, fragen die anderen. Von mir nur ein Achselzucken. Ich weiß es halt. Sie betritt den Raum. Ihr Rucksack landet auf dem Fußboden, mit einer Hand fährt sie sich durch ihr kurzes, kastanienbraunes Haar. Ein ironischer Blick auf uns. Ich sitze in der ersten Reihe. Sie riecht nach Tabak und Parfüm. Beides kam für mich nie infrage. Schon als kleines Mädchen habe ich mir geschworen, niemals eine Zigarette anzurühren. Parfüms wiederum finde ich zu körperlich, zu weiblich, zu verführerisch. Sie sind mir einfach fremd.
Am Daumen der Dozentin prangt ein Ring, genau wie bei Zemfira – und vielleicht bei mir. Ja, vielleicht. Ich vermute, dass ich auch so einen Ring hatte. Obwohl ich mir nicht sicher sein kann. Ich weiß noch genau, wie sie an diesem Tag aussah, bis ins kleinste Detail. Aber ich? Kein Bild. Ich hatte mich noch nicht von außen betrachtet, war noch nicht für andere da, ich existierte nur in mir drin. Und jetzt verraten Sie mir mal, was Sie über die Postmoderne wissen, fordert ihre Stimme. Rundum Schweigen. Von wem stammt der Begriff Intertextualität? Derrida? Barthes? Kristeva? Sagen Ihnen diese Namen überhaupt etwas? Weiteres Schweigen. Sie trägt einen Passus aus einem Text von Italo Calvino vor. Was fällt Ihnen dazu ein? Schweigen. Irgendeine Meinung werden Sie doch haben. Schließlich weckt alles, was Sie sehen und hören, einen Gedanken … Ich stehe hier in einem Männerjackett vor Ihnen. Dazu müssen Sie sich doch etwas denken. Ich hebe die Hand und sage: Was wir denken, weiß ich nicht, aber ich denke, dass jeder Mensch eine männliche und eine weibliche Seite hat und dass selbst bei einer Frau nicht unbedingt die weibliche dominieren muss. Sie nickt: Genau das tut die Postmoderne, sie zerstört die binären Oppositionen, dekonstruiert sie, wie Derrida es genannt hat. Dann analysieren Sie bitte jetzt einmal diesen Text.
26. Oktober 2005. Alles begann mit …
Alles begann mit einem überdimensionalen Nadelstreifenjackett für Männer. Mit ihm trat sie vor die Studentinnen, stellte sich gar nicht erst vor, sondern tauchte auf der Stelle in ihr Thema ein … Nein, grundfalsch.
Alles begann mit den Ringen, mit diesen silbernen Ringen an ihren langen, schmalen Fingern, die die Luft einfingen und sie festzuhalten schienen. Diese Ringe schufen sofort Vertrauen. Die Trägerin erst ein klein wenig später. Sie legte ihre beringten Hände auf den Tisch im Seminarraum und fragte nach den wesentlichen Merkmalen der Postmoderne … Nein, grundfalsch.
Alles begann mit diesem Blick, der bereit war, jederzeit zum Angriff überzugehen. Ein entschlossener, gut kontrollierter Blick, den du sofort von dir aus suchst. Ein Blick, dessen Objekt du unbedingt sein möchtest. Mit ihm erfasste sie alle im Raum, ohne jemanden hervorzuheben … Nein, das stimmt auch nicht.
Alles begann mit den ersten Worten, mit denen sie geradezu beiläufig alle im Raum hypnotisierte. Aus ihrem Mund klangen all diese philosophischen und literaturwissenschaftlichen Termini, als gehörten sie zur Alltagssprache und als gäbe es in der Sprache sonst keine Wörter. Sie schuf die Illusion eines Gesprächs, bei einer Tasse Tee in einem Café. Ungezwungen, fast ein wenig gelangweilt parlierte sie über komplexe Phänomene, als wären es Binsenweisheiten … Nein, auch das nicht.
Alles begann mit ihrem Geruch, mit dem Geruch von weiblichen Parfüms und Zigarettentabak. Mit einem straßenzarten Geruch. Mit ebenjenem Geruch, den sie später wieder und wieder auf dem Kopfkissen zurücklassen sollte. Zu dem sie später zurückkommen würde. Der ganze Kurs schwamm in diesem Geruch … Nein, das stimmt auch nicht.
Eigentlich spielt es keine Rolle, womit alles begann. Es passierte, es begann. Und einmal begonnen, ließ sich nichts mehr stoppen. Allein im Moment des Beginnens ist es möglich zu sagen: Stopp.
* * *
Sie hat sich nicht in sie verliebt. Sie hat sie vom ersten Tag an geliebt. Geliebt, ohne zu wissen, wie das geht: zu lieben, zu verbergen, zu danken, zu berechnen, zu fingieren, zu erdulden. Sicher, es wäre verlockend einfach zu behaupten, dann sei eben die Zeit für sie gekommen, es zu lernen. Doch das Gegenteil war der Fall: Die Zeit für eine derart kindliche Vergötterung, für dieses erste unbezwingbare Begehren war längst vorbei. Damals, als sich sämtliche Mitschülerinnen von ihr zum ersten Mal verliebten und über ihre Qualen tuschelten, hatte sie bloß die Schultern gezuckt, verbissen für ihre goldenen Medaillen und rot gebundenen Diplome gelernt und sich über alle altersbedingten zarten Verliebtheiten erhaben gefühlt. Erst als einige ihrer ehemaligen Mitschülerinnen bereits verheiratet waren, Kinder bekamen oder eine Abtreibung hinter sich hatten, wurde sie schwach und verriet ihre bisherigen Ideale: Sie liebte von nun an diese Frau. Eine andere konnte es nicht sein.
Jedes Leben hat seine Wendepunkte. Dann kann alles einen anderen Gang nehmen, nimmt aber unbeirrbar jenen einen.
31. Dezember 2005. Ich half meiner Mutter, den Salat für den Abend vorzubereiten, und wünschte zwei Frauen, die mich interessierten, per SMS ein gutes neues Jahr. Das hatte nichts mehr mit jener Zuneigung zu tun, die ich seit meiner Kindheit kannte. Nein, meine Sympathie für diese beiden Frauen war anderer Natur. Welcher genau, hätte ich selbst nicht zu sagen vermocht. Die eine von ihnen – eine Fotografin – hatte ich auf einem Konzert von Zemfira kennengelernt. Im Laufe des Jahres waren wir uns in verschiedenen Städten und auf verschiedenen Konzerten immer wieder begegnet. Sie hatte Locken und ein Zungenpiercing. In ihren Augen und in ihren Worten lag etwas Kindliches. Eher ein Mensch der Intuition als des Verstandes. Bei der anderen handelte es sich um meine Dozentin. Sie sah ich einmal in der Woche beim Seminar. Bei meinem Siemenstelefon gab es eine Option: Konnte eine Nachricht nicht innerhalb einer Stunde zugestellt werden, kam sie wieder zurück. Die erste Nachricht landete wieder bei mir in Jewpatorija, auf der Krim: Die Frau saß da gerade im Flieger und war unterwegs zu einer fernen russischen Stadt, um Menschen an der russisch-chinesischen Grenze zu fotografieren. Der zweite Gruß kam. Die Empfängerin wünschte mir: Пусть Ваша жизнь качнется вправо, качнувшись влево. Auf dass Ihr Leben schwinge, mal nach links, mal nach rechts, eine Anspielung auf Zeilen von Brodsky. Nur bezweifelte der Dichter im Original, dass dies möglich und erlaubt sei: im Leben Fehler zu machen, hin und her zu schaukeln, zunächst die falschen Wege zu wählen, dann aber den richtigen Pfad zu finden. Sie aber bestand auf diesem Recht und wünschte es mir. Und bleiben Sie so wunderbar, wie Sie sind, hatte sie noch hinzugefügt, lassen Sie sich vom Leben nicht verbiegen.
In dieser Silvesternacht begriff ich, dass ich in diejenige verliebt war, die meine Nachricht erhalten hatte. Unser Fernseher war wie immer auf den russischen Sender Channel One eingestellt. Als Putin mit seiner Rede fertig war, wünschte ich mir etwas, trank zum ersten Mal ein Glas Sekt auf ex, und zwar noch bevor im Fernsehen die Kreml-Glocken läuteten. Mir wurde wohlig warm im Bauch und so geheimnisvoll im Kopf. Mein Leben begann zu schwingen – mal nach rechts, mal nach links. Was hast du dir gewünscht?, fragte meine Mutter, als wir gerade ein Silvestermusical mit russischen und ukrainischen Stars sahen, Transit Moskau–Kyjiw. Meine Antwort war: Das verrate ich nicht.
Wer weiß, welchen Gang mein Leben genommen hätte, wenn es bei diesen beiden Nachrichten umgekehrt gewesen wäre?
Anfang Januar bin ich zum Studium nach Kyjiw zurückgekehrt. Ich dürstete damals nach Parallelwelten und Magie, deshalb gingen wir ins Kino »Zhovten« und schauten Die Chroniken von Narnia. Meine Kommilitoninnen, ich und unsere Dozentin: sie. Anschließend sind wir alle zu mir in die Solomenskaja, um noch mehr Filme zu sehen …
Ihr Gesicht ist rot. Vor Kälte, nicht vor Scham. Wir entscheiden uns für Dolls von Takeshi Kitano. Endlose Gespräche. Gemeinsamkeiten, Überschneidungen bei bestimmten Leidenschaften, gegenseitiges Inswortfallen, Widerspiegeln ineinander. Filme, Musik, Bücher. Selbst unsere Geburtstage liegen an den beiden Eckpunkten desselben Monats im Frühling. Sie ruft jemanden an und erklärt, sie habe heute »Kino und die Deutschen«, also uns aus der Fakultät für Germanistik. Ich bin für sie lediglich ein Teil der Gruppe. Das reicht mir nicht. Als es Zeit zum Schlafen ist, teilen sich meine Freundinnen zu dritt das große Bett, wir beide uns das schmale Sofa. Ich gebe ihr mein weißes T-Shirt mit den blauen Blumen. Das wird Ihnen stehen, genau die Farbe Ihrer Augen, sage ich. In ihrem Nacken prangt ein Tattoo mit einem unbekannten Namen, der sowohl ein weiblicher als auch ein männlicher sein kann. Als sie meinen Blick bemerkt, sagt sie, dies sei eine ihrer Jugendsünden. Haben Sie noch keine Fehler gemacht?, fragt sie mich. Da ich nicht weiß, was ich ihr darauf antworten soll, knipse ich wortlos das Licht aus. Sie berührt meine Füße mit ihren und schläft ein. Ich liege stocksteif da. Mein Leben sickert in meine Fersen, verwandelt sie in Achillesfersen, die Quelle all meiner künftigen Verletzbarkeit. Sie liegt neben mir. Eine neue Galaxie. Noch nicht einmal richtig entdeckt, aber schon gibt es nur noch sie. Ihr Scheitel und mein Scheitel, ihre Zehen und meine sind auf derselben Höhe. Wir sind gleich groß, nach dem gleichen Schnittmuster hergestellt, fähig, einander zu verstehen. Am nächsten Morgen wachen wir vor den anderen auf und diskutieren im Flüsterton über die Filme, die wir uns angesehen haben. Sie deutet auf meinen alten Schrank: Was ist, wollen wir uns dort vor allen verstecken? Sie sagt, ich führe ein Luxusleben, weil ich nicht wie alle anderen ein Bett im Studentenwohnheim habe, obwohl das doch eine gute Schule des Lebens sei, die dazu beitrage, Charakter und Nerven zu stählen. Oder haben Sie die schon, Charakter und gute Nerven? Auch diesmal weiß ich nicht, was ich ihr sagen soll: Meinen Charakter habe ich einzig und allein beim Studium einem Test unterzogen – ob das zählt? Als die anderen aufwachen, geht sie. Mich bringt heute nichts dazu, aufzustehen und mich auf die Prüfungen vorzubereiten. Auf dem Kissen liegt noch ihr Geruch, der alle meine Gedanken wegätzt, der jeder Bewegung ihren Sinn nimmt. Mein Magen knurrt. Trotzdem kriegt mich den ganzen Tag nichts vom Sofa. Erst am Abend trete ich auf den Balkon hinaus. Gerade fängt es an zu schneien. Noch nie waren die Flocken so schön. Ich schicke ihr eine Nachricht. Снег пошел, и значит, что-то поменялось. Doch dann der Schnee, und nichts ist wie bisher. Daraufhin fragt sie: Wie geht’s weiter? Sofort mache ich einen Rückzieher und behaupte, mich an die nächsten Zeilen des Refrains nicht zu erinnern. Aber natürlich habe ich Zemfiras Song Samoljot, Flugzeug ständig im Ohr und möchte ihr nur mit der nächsten Zeile antworten: Я люблю – твои запутанные волосы. Ich liebe – eine lange Pause – deine verwuschelten Haare.
Ende Januar, als es immer noch schneite, hatte sie mich das nächste Mal besucht. Sie erzählte da viel von sich, erwähnte ab und an auch eine Beziehung oder enge Freundschaft, aber mit wem, das blieb unklar, weil sie auf jedes Pronomen verzichtete und auch sonst nur Wendungen wählte, die nichts über das Geschlecht verrieten. Außerdem sprach sie von einer Frau, ihrer Doktormutter, die sie insgeheim anbetete. Ihretwegen sei sie überhaupt an unserem Institut, eigentlich habe sie nämlich Philosophie studiert. Sie sprach auch von Dozentinnen, mit denen sie noch als Studentin Liebesgeschichten gehabt hatte. Sie würde, das hat sie ohne Umschweife versichert, als sie auf meinem Sofa hockte, sich von reiferen Frauen angezogen fühlen. Am stärksten von denjenigen, die doppelt so alt seien wie sie. Über jede sagt sie mit Faszination, indem sie die Worte Myschkins aus dem Idioten wiederholt: Sie hat gelitten. Und das ist der höchste Wert, warum diese Frauen ihrer Liebe würdig sind … Sobald sie gegangen ist, starre ich mich im Spiegel an und hasse mich für mein faltenfreies Gesicht. Nicht ein graues Haar entdecke ich. Keine Brüste, die nach Geburten schlaff herabhängen. Keine Erfahrung, kein Trauma, kein Leid. Ein Wesen völlig ohne Geschichte, blutjung, überflüssig, hohl. Am nächsten Tag kaufe ich mir von dem Geld, das ich fürs Essen zurückgelegt habe, als Erstes Zitronenparfüm.
Immer öfter schwänzte ich meine Seminare, nur um sämtliche Veranstaltungen von ihr zu besuchen, auch die in unteren Jahrgängen. Auf diese Weise hörte ich noch einmal etwas zur Philosophie des 20. Jahrhunderts, zur Literaturgeschichte, zur Moderne und zum Poststrukturalismus, manchmal sogar mehrmals, weil ich in alle Seminare ging, die sie für unterschiedliche Gruppen eines Jahrgangs abhielt. Sie schien mir die Erste zu sein, die mir all die Namen und Werke, die theoretischen Grundlagen und möglichen Interpretationen, ja, die ganzen wissenschaftlichen Methoden tatsächlich nahebrachte. In den Jahren zuvor hatte an der Uni niemand so über Philosophie und Literatur gesprochen wie sie. Irgendwann erschien es mir unvorstellbar, dass sich jemand außer ihr überhaupt zu unterrichten traut. Genauso unvorstellbar war es, irgendjemand anderen zu lieben außer ihr. Sie gab sich wie ein Rockstar. Durch die Gänge der Uni lief sie mit einem schwarzen Hoodie und Sonnenbrille, als wollte sie nicht auffallen, nicht erkannt werden. Als wollte sie in der Menge untergehen. Sobald sie jedoch vor die Gruppe trat, stand sie auf der Bühne. Sie posierte wie für ein Fotoshooting, legte perfekt getaktete Pausen ein, tanzte beinahe. Heimste Beifall ein. Wenn sie nicht in Stimmung war, kam sie nur langsam auf Touren, geradezu träge – bis sie sich von sich selbst mitreißen und inspirieren ließ, ihren Ton fand und einen spektakulären Auftritt hinlegte. Dann verwandelte sich das Auditorium in einen Fanclub, sie war dann kurz davor, Autogramme zu verteilen.
Häufig ging sie nicht nach Plan vor, sondern entwickelte aus eigener Initiative Themen für eine Veranstaltung oder einen ganzen Kurs. Der Einfluss von Faulkners Poetik auf Toni Morrison. Die moderne schottische Literatur und der Posthumanismus im Licht der Theorien von Haraway und Tipler. Der Twelve-bar Blues in den Romanen von Alice Walker. Die Unmöglichkeit der Autobiografie am Beispiel von Jacques Derridas Zirkumfession und Judith Butlers Rechenschaft von sich selbst. Besonders diese Vorträge haben mich beeindruckt.
Sie zog die dunklen Vorhänge zu und schaltete den Projektor ein. Die Gesichter von Derrida und Butler blickten uns an. Mich erstaunte, wie sehr sie der Philosophin ähnelte, von der ich zuvor noch nie gehört hatte. Sogar das Muttermal an der Lippe stimmte überein. Als hätte sie es sich angeklebt … Diese Rechenschaft von mir selbst, die ich im Diskurs gebe, fing ein Zitat Butlers an, drückt also das lebendige Selbst nie vollständig aus, enthält es nie vollständig. Noch während ich Antwort gebe, sind mir meine Worte genommen; ins Wort fällt mir die Zeit eines Diskurses, die nicht dieselbe ist wie die Zeit meines Lebens. Diese »Unterbrechung« widerspricht dem Gefühl, die Rechenschaft beruhe allein auf mir, ich sei ihr einziger Grund, da die indifferenten Strukturen, die mein Leben ermöglichen, einer Sozialität angehören, die mich übersteigt. Automatisch notierte ich die Worte, auch wenn ihr Sinn mir verborgen blieb. Dabei schaute ich nicht einmal in mein Heft, sondern nur auf sie. Dann lud sie einen Film über Derrida und drückte an ihrem Computer auf Enter. Das Bild geriet in Bewegung. Ich spreche davon, dass die Autobiografie unmöglich ist, sagte Derrida auf Französisch, während am unteren Bildrand die ukrainischen Untertitel entlangliefen, die sie in der Nacht zuvor kurzerhand selbst angefertigt hatte, wir sollen sie nicht allzu streng beurteilen, bat sie, weil eine Autobiografie impliziert, dass ein Ich weiß, wer es ist, sich entweder identifiziert, bevor es schreibt, oder zumindest eine bestimmte Identität vermutet. Wir schreiben eine Autobiografie in dem Wunsch, einem Ich zu begegnen, das am Ende ebendas wird, was es zu sein scheint. Wenn es mir oder jemand anderem gelungen ist, diese Persönlichkeit mit einer gewissen Sicherheit zu identifizieren, dann würde ich selbstverständlich nicht mehr schreiben, nicht mehr Ausschau halten und in gewisser Weise nicht mehr leben. Das Schreiben eines Buches, fuhr sie fort und zitierte Derrida nun selbst, wobei sie, auf dem Tisch sitzend, ihre Converses durch die Luft fahren ließ, ist Selbstbeschneidung, Autochirurgie. Das Ich, das sich dem Papier anvertraut, ist ein beschnittenes Ich in Bezug auf das historisch-biografische Ich. Das Ich ist damit der Mohel meines Opfers. Ich schreibe mit zugespitzter Schneide. Wenn das Buch kein Blut verströmt, ist es nicht geglückt, endete sie. Das war der Moment, wo ich meinen Blick doch von ihr zu meinem Heft schickte, in dem die Wörter hüpften, als wollten sie sich aufeinander stürzen. Ich konnte nicht eine Zeile entziffern.
Manchmal saß in einer hinteren Ecke des Raums eine Frau, Mitte vierzig, knabenhaft, wirkte jung. Sie gefiel mir. Sie strahlte etwas Gutes und Edles aus, Würde und Traurigkeit. Besuchte diese Frau unsere Veranstaltung nicht, gingen wir zu zweit auf einen Nescafé 3in1 in die Mensa. Saß sie in ihrer Ecke, verschwanden die beiden anschließend, sobald sie mir noch kurz zugenickt hatte: Bis morgen, Sie kommen doch, oder?
Es dauerte nicht lange, bis ich den anderen Studentinnen auffiel. Einmal an meine Anwesenheit gewöhnt, überließen sie mir rasch einen Platz in der ersten Reihe. Wenn alle schwiegen, nachdem sie eine Frage zu den gelesenen Texten gestellt hatte, wandte sie sich gelegentlich an mich: Immerhin eine hat etwas zu sagen. Mir war das peinlich. Am liebsten wäre ich durchsichtig gewesen, unsichtbar, ohne Körper, ohne Stimme, ohne Namen. Schließlich wollte ich sie doch bloß hören. Sehen. Andererseits konnte ich sie natürlich auf gar keinen Fall enttäuschen. Deshalb antwortete ich immer.
Nach meinem Empfinden zog sich das Ganze ewig hin, doch eigentlich waren es nur zwei Monate. Ich konnte keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen, wollte niemanden sonst mehr sehen, ertrug mich selbst nicht mehr. Da endlich beschloss ich, dass die Zeit gekommen war, etwas zu tun, das ich noch nie in meinem Leben getan hatte: Ich bat um ein Treffen. Und zwar möglichst bald. Morgen, falls Sie es einrichten können, es wird auch nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Welcher Tag das war, wusste ich nicht: Ich maß ihm keine Bedeutung bei.
* * *
14. Februar. Das Tonsignal für eine eingegangene Nachricht riss sie aus dem nachmittäglichen Schlaf, der sie vor der quälenden Warterei bewahrt hatte. »In einer Stunde bin ich frei. Wir können uns treffen, ganz wie Sie gewünscht haben, in irgendeinem Café. Schlagen Sie etwas vor.« Aha. Können wir also. Sie erhob sich vom Sofa und betrachtete sich im Spiegel. Wischte noch einmal mit dem Lappen über ihre Schuhe und schaltete das Licht aus. Öffnete die Tür und schloss hinter sich ab. Sie machte sich auf den Weg, um Abschied zu nehmen und einen Schlussstrich unter etwas zu ziehen, das nie begonnen hatte. Von vornherein war ihr klar gewesen, dass sie dieses Gespräch nicht in den eigenen vier Wänden würde führen können, sondern dafür das Haus verlassen musste. Alles an einem Ort zur Sprache bringen, an dem sie nicht bleiben würde und zu dem sie nicht zurückzukehren brauchte. Ein Café. Dort hätte sie genug Kraft, dort brächte sie nichts von der einmal getroffenen Entscheidung ab. Damals verachtete sie diese Einrichtungen noch nicht. Sie hatte alles genau geplant. Und glaubte aufrichtig an ihren Erfolg.
Sechs Uhr abends. Um diese Zeit sind alle Cafés überfüllt. Handlinien und Zigaretten, der Dampf warmer Getränke und heißen Atems. Worte, die Anlauf nehmen, Worte, die keinen Sinn erkennen lassen.
Geschenke und Blumen. An jedem Tisch, in jeder Beziehung. Sie fanden einen Platz im Souterrain.
»Endlich! Der ganze Tag heute war ein einziges Gehetze, ein Kurs nach dem nächsten, zwischendurch Belagerungen von studentischer Seite … Alles nicht ganz unkompliziert.«
Sie erzählte lange von ihrem Tag und gab ihr damit die Zeit, ihre Entscheidung ein letztes Mal gründlich abzuwägen. Gestattete ihr, noch ein Weilchen zu schweigen, schob mit ihrem Geplauder über Seminarinhalte und Hausaufgaben das Unvermeidliche hinaus. Doch irgendwann sind alle Worte versiegt, endet jeder Aufschub.
»Was wollten Sie denn nun mit mir besprechen?«
»Wären wir also an dem Punkt? Nun muss ich wohl anfangen, oder?«
»Wie gesagt, ich habe nur eine Stunde, dann muss ich wieder los zu einer Verabredung mit jemand anderem.«
»Gut … also dann … aber ich muss mir Mut antrinken … Wo steckt diese Kellnerin?«
»Sie wird schon auftauchen.«
»Dann ist es zu spät. Also gut … Sie werden ahnen, warum ich Sie um dieses Treffen gebeten habe …«
»Nein.«
»… komisch … ich dachte, das liegt auf der Hand … Und dass ich Sie vor allem treffen muss, um Ihnen zu bestätigen, dass Sie mit Ihrer Vermutung richtigliegen. Um ehrlich zu sein, mir selbst gegenüber und auch Ihnen gegenüber … Das ist alles so schwierig … Irgendwie habe ich es mir leichter vorgestellt … Eigentlich wollte ich Ihnen schreiben, aber ich habe so oft die falschen Worte geschrieben, zur falschen Zeit, in der falschen Weise, aus falschem Anlass … Deshalb wollte ich unbedingt mit Ihnen sprechen und Ihnen dabei in die Augen sehen. Diese Bedingung habe ich mir selbst gestellt … wobei … verzeihen Sie, das ist noch nicht der Punkt. Aber jetzt …«
»Warten Sie! Sie sind sich wirklich sicher, dass Sie mir das sagen wollen?«
»Ja. Mein Entschluss steht fest, denn es übersteigt meine Kräfte, weiterhin zu schweigen … Aber Sie müssen doch wissen, worum es geht.«
»Ich glaube, ich ahne es.«
»Gut. Das macht es leichter.«
Sie saßen in ihrem ersten Café. Voller Furcht, bestimmte Worte zu hören oder auszusprechen. Voller Furcht, sich zu bekennen, zu erkennen, zu erfahren. Einander fremd, das jedoch aus Mangel an gemeinsam verbrachter Zeit, nicht aus Überdruss.
Für ihr erstes Geständnis nutzte sie unzählige Wörter, nur nicht jene drei, um die es eigentlich ging. Drei völlig banale Wörter, auf denen eine völlig banale Welt fußt. Der Verzicht auf sie wurzelte nicht in fehlender Gewissheit. Und auch nicht in Furcht vor der Verantwortung, die jene Worte ihr wie eine Schlinge um den Hals legen würden, wären sie erst einmal ausgesprochen. Nein, sie verzichtete darauf aus einem für sie ganz und gar untypischen Taktgefühl. Um ihr Gegenüber nicht in eine peinliche Lage zu bringen. Denn was antworten auf ein unvermitteltes »Ich liebe Sie«?
Ihr ausschweifendes Geständnis wurde von einem Anruf unterbrochen. Sie hörte schweigend zu, während ihr Gegenüber bei einer Zigarette zärtlich mit jemandem sprach. Irgendwann landete das Telefon wieder auf dem Tisch.
»Also gut, wenn Sie erlauben, dann würde ich jetzt gern etwas erwidern. Ich will ganz offen zu Ihnen sein. Gerade habe ich mit der Frau gesprochen, mit der ich seit einigen Jahren eine Beziehung habe. Sie ist verheiratet und hat zwei kleine Töchter. Mit dem ersten Mutterschutz hat die Familie beschlossen, in eine andere Stadt zu ziehen, die aber nicht weit von hier entfernt ist, sodass wir uns häufig treffen. Sie haben sie schon bei etlichen Veranstaltungen gesehen. Neben dieser Frau gibt es noch eine andere, die ich sehr liebe, wenn auch einseitig. Meine Doktormutter. Auch das wissen Sie. Außerdem gibt es in meinem Leben – und das mag etwas pathetisch klingen – noch die Wissenschaft, also die Literatur, der ich einen großen Teil meiner Zeit widme. Es gibt folglich keinen freien Platz mehr. Borges sagte, es gebe nur vier Geschichten. Und meine Geschichte ist diese. Sie ist nicht neu … Warum also haben Sie mir das alles erzählt?«
»Warum …? Ich habe kein bestimmtes Ziel verfolgt. Ich dachte, ich würde bloß aussprechen, was ohnehin klar ist. Ich verlange rein gar nichts von Ihnen. Ich brauche Sie, das ist das Einzige, was ich sicher weiß. Wie es weitergehen soll, weiß ich dagegen nicht. Ich will in Ihrer Nähe sein, aber wie diese Nähe aussehen könnte, weiß ich nicht. Ich will mit Ihnen zusammen sein, aber was dieses Zusammensein bedeutet, weiß ich auch nicht. Ich weiß überhaupt nichts. Im Gegensatz zu Ihnen … Das sollte also wohl besser unsere letzte Verabredung sein, denn ich habe keine Ahnung, was ich damit im Leben anfangen soll. Ich weiß, wie sich so etwas liest, aber ich weiß nicht, wie sich so etwas leben lässt. Ich hatte geplant, mich mit diesen Worten von Ihnen zu trennen, bevor es zu spät ist.«
»Ist es immer noch Ihr Plan?«
»…«
»In dem Fall muss ich vehement widersprechen. Es besteht kein Grund, warum wir uns nicht weiterhin sehen sollten. Unsere Gespräche sind anregend, und Sie gefallen mir. Ich verbringe meine Zeit gern mit Ihnen. Sie inspirieren mich. Glauben Sie mir, ich möchte jetzt wirklich nicht gehen, aber diese andere Frau wartet auf mich. Es ist übrigens das erste Mal, dass ich nicht gern zu ihr gehe. Aber ich muss. An einem Tag wie heute … Doch es tut mir sehr leid. Was ist, begleiten Sie mich hinaus?«
»Ja.«
Es schneite sanft. Aber diese Kälte … Ihr noch untrainierter Magen rebellierte nach dem einen Bier. Aber diese Kälte … Das diffuse Licht der Laternen nahm den Häusern ihre harten Konturen. Aber diese Kälte … Die beiden achteten darauf, einander nicht in die Augen zu sehen, doch die vier Pupillen fanden ihren Weg von selbst.
»Ich würde den Kontakt zu Ihnen nur ungern abbrechen. Aber da Sie den ersten Schritt gemacht haben, liegt die Entscheidung ganz bei Ihnen. Willkommen in der Welt der Erwachsenen. Lassen Sie sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen.«
Diese Kälte, diese Eiseskälte …
Ihre Rücken brachten entschlossen Distanz zwischen sich. Die schwarzen Silhouetten bewegten sich in entgegengesetzte Richtungen, in Gedanken schon beim Ende dieser Geschichte. Jetzt oder später? … Gegen Mitternacht schickte sie eine Textnachricht. В каждой музыке Бах, в каждом из нас Бог. In jedem Ton steckt Bach, in uns allen Gott … Danke für Ihren Mut und Ihre Offenheit. Sehen wir uns am Donnerstag?
Um nicht zu lieben, war es längst zu spät.
* * *
Zwei Tage später gingen sie nach dem Seminar in ein Café. In ein anderes. Eines ohne Kaffee oder Tee, dafür mit Trommeln und Schnaps.
»Sagen Sie nicht, Sie waren noch nie in einer Bar«, bemerkte sie. Die andere schüttelte den Kopf und musste wegen des Zigarettenqualms husten. Daraufhin lächelte die eine, klopfte ihr sanft auf den Rücken und ließ ihre Hand auf ihrer Schulter. »Ihre Unschuld gefällt mir, und Sie gefallen mir. Eigentlich würde ich gern mit Ihnen etwas trinken und dann zum Du übergehen, aber es gefällt mir auch, dass wir uns siezen, deshalb sollten wir ganz ohne Brüderschaft etwas trinken. Ich werde Ihnen zeigen, wie das geht. Diese Bar heißt übrigens »Bei Erik«. Erik ist Deutscher, deshalb habe ich gedacht, es müsse Ihnen hier gefallen. Wegen der deutschen Sprache. Sie sehen, auch ich denke an Sie.«
Sie sprach von Literatur und Philosophie, von der Frankfurter Schule und vom Existenzialismus, benutzte ständig irgendwelche Wolkenkratzerwörter, lange komplizierte Betonsäulen, aus deren Fenstern die Straße kaum noch zu erkennen war. Die andere hörte gebannt zu, trug ihr im Gegenzug Gedichte vor, in denen sich »Sünde« auf »besser um uns stünde« reimte und »diese Nacht« auf »Verführungskünste, fatale Macht«. Die Trommeln gaben einen völlig irren Rhythmus vor, doch sie hielt, ohne sich beirren zu lassen, auf das Ende zu:
Я Вас люблю.
За эту дрожь, за то — что — неужели
Мне снится сон? —
За эту ироническую прелесть,
Что Вы — не он.
»Ich liebe Sie.
Für dieses Zitternde – muss ich jetzt träumen?
Ist alles leer? –
Für diese Ironie, den Reiz, den neuen:
Sie sind – kein Er.«
Sie lachte und bestellte die nächste Runde.
»Das ist ein gutes Gedicht. Von Zwetajewa, oder? Ich ziehe ja Brodsky vor. Doch wie erhaben unsere Beziehung auch sein mag, wir wissen beide, dass sie im Bett endet«, sagte sie und fügte dann hinzu: »Wie Sartre es gern ausdrückt.«
Die andere dachte mit Sicherheit nicht ans Bett. Das Bett war ihr viel zu klein. Ihre schon zu diesem Zeitpunkt gewaltige Liebe hätte sie darin gar nicht untergebracht. Ihr Körper stand in keiner Beziehung zu ihrem Geständnis. Trotzdem lief sie nach diesem Satz rot an. Zum ersten Mal knurrte in ihrem Bauch ein Verlangen, das wie das Meer brandete und ihre Schenkel zusammenpresste. Sie war unsagbar verlegen. Allein die Tatsache, dass diese Worte von Sartre stammten, dessen Texte sie vor Kurzem im Seminar behandelt hatten, beruhigte sie. Als sie ihre Unsicherheit bemerkte, beugte sie sich zu ihrem Ohr vor.
»Glauben Sie etwa am Ende womöglich«, flüsterte sie, »zwei Menschen würden sich, wenn sie alleine sind, gegenseitig etwas aus Büchern vorlesen? Russische Lyrik etwa? Aber auch wenn – sie werden sich dabei wohl ausziehen dürfen?«
Das Meer schoss beinahe aus ihr heraus und drohte, alles zu fluten.
* * *
Sie betrat ihr erwachsenes Leben und ihre noch kindliche Wohnung mit einer Flasche Rotwein. Nach und nach wird die Menge an Alkohol bei ihren Begegnungen zunehmen. Nach und nach. Denn noch war es nicht so weit. Noch war da das Verlangen. Und der Wein. Wein und Verlangen. Es fehlte nichts, damit alles geschah.
28. Februar. Der abgehackte Monat im Kalender schlich auf Zehenspitzen davon. Der Winter schmolz und floss über die Dächer ab.
Vor ihren Verabredungen schickten sie sich Textnachrichten.
В эту зиму с ума я опять не сошел. А зима, глядь, и кончилась. Auch im vergangenen Winter bin ich nicht verrückt geworden. Und der Winter – sieh an! – ist schon vorbei.
Wir haben noch den ganzen Tag vor uns, um verrückt zu werden.
Ich erinnere mich noch an das Kleid, das ich trug. Ich erinnere mich, wie wir auf unterschiedlichen Sofas saßen. Wein tranken. Schokolade dazu aßen, Marke Korona, mit Äpfeln und Zimt. Seom – Die Insel von Kim Kiduk sahen. Belanglose Gespräche führten, wie immer über Literatur und Film. Wie ich ein paar Gedichte vortrug, um wenigstens etwas von mir zu geben. Welche, weiß ich nicht mehr. Vermutlich wie immer auch eines von Zwetajewa. Eifersuchtsversuch etwa. Как живётся вам с другою, — Проще ведь? Und wie lebt sich’s mit der andern – leichter doch?, habe ich vermutlich gefragt. Ich weine. Sie sagt, sie kenne niemanden sonst, der Gedichte so vortragen würde wie ich, und kommt zu mir herüber. Streichelt mich. Ich presse ihre Hand an meine Lippen. Ihr Telefon klingelt die ganze Zeit. Und jedes Mal antwortet sie. Sie lügt. Behauptet, zu Hause zu sein. Gleich schlafen zu wollen. Wünscht eine gute Nacht. Sie sieht mich mit traurigen Augen an. Dann legt sie sich auf den Boden. Nun rinnen ihr die Tränen über die eine Wange. Ich kann Ihnen nichts geben, sagt sie mir. Wenn, erwidere ich, dann kann ich Ihnen nichts geben, denn ich vermag das nicht und weiß nichts, und Sie haben ja schon alles. Was sind Sie nur für ein Kind, antwortet sie. Sie lächelt und schließt die Augen. Langsam gleite ich hinunter. Beuge mich über sie, streiche die Tränen fort, betrachte ihr Gesicht, fahre mit meinen Fingern darüber – über die Stirn, die dunklen Brauen, die Nase mit dem Höcker, das Muttermal am Mund – und küsse ihre kalten Lippen. Nun, es ist passiert, denke ich. Ich will mir diesen Moment einprägen, ihn verstehen. Wann haben die Menschen beschlossen, alle Liebe stecke in einem Kuss? Warum die Lippen? Warum küssen einander nicht die Hände, sondern ausgerechnet die Lippen? Weil die Lippen eine Öffnung bedeuten? Ein Außen, das nach innen geht? Eine Grenzzone zwischen den Welten? Sie erwidert den Kuss. Sie fragt: Verstehe ich das richtig, dass Sie nie zuvor jemanden geküsst haben? Ich nicke. O Gott, was richte ich bloß an, sagt sie, während sie mich schon weiterküsst.
»Sie wissen, dass Sie mich mit anderen Frauen teilen müssen?«
»Ja.«
»Ich werde Ihnen niemals gehören.«
»Ja.«
»Wir werden niemals ein Paar sein.«
»Ja.«
»Ist Ihnen klar, was das heißt?«
»Ja.«
Eigentlich hätte sie mit Nein antworten sollen. Aber sie sagte Ja. Es war nicht schwer, sich auszumalen, was das wirklich hieß.
»Haben Sie Angst?«
»Ja.«
»Geht es Ihnen gut?«
»Ja.«
»Wir wissen doch beide, was wir hier tun, oder?«
»…«
Eine Bewegung mit dem Kopf.
»Ja, gute Nacht.«
»Gleichfalls.«
Wäre es ein Film, die Kamera würde zunächst das Panorama der Stadt einfangen, dann durch sämtliche Straßen und Gänge in diese nächtliche Wohnung fahren und bei jenen beiden Schatten innehalten, für die sich just in diesen Minuten eine neue Welt auftat.
»Woran denken Sie jetzt gerade?«, schob sie den heranrückenden gemeinsamen Schlaf beiseite. Die andere antwortete nicht, sondern lächelte in der Dunkelheit und küsste tastend das neue Leben. Zum ersten Mal dachte sie an gar nichts. Die Leere in ihrem Kopf bot Raum für die Fülle ihrer Empfindungen. Wie auch denken, Worte wählen, den geringsten Sinn formulieren, wenn in ihren Armen ein Mensch lag, eine Frau, ein Schicksal – wohin von nun an jede Minute ihres Lebens streben würde … Solange die Stunden nicht platzten und die Minuten nicht aus ihnen herausrieselten.
Weder eine feste, nachtlange Umarmung noch gemeinsamen Schlaf hatte es gegeben. Warum ich das damals in dieser Weise beschrieben habe, weiß ich heute nicht mehr. Wahrscheinlich wollte ich zumindest ansatzweise der klassischen Narration von Liebesgeschichten folgen. In jener Nacht hat sie mir angeboten, mit ihr zusammen auf dem Sofa zu schlafen, das ich für sie zurechtgemacht hatte. Ich habe abgelehnt. Ich habe mich im Bad umgezogen, damit sie mich nicht nackt sah, mich in mein Bett gelegt und zu ihr hinübergeschaut, anfangs in fast vollständiger Dunkelheit, später in der Morgendämmerung. Niemals hätte ich diese Nacht neben ihr verbringen können. Das ist der Stoff, aus dem die Liebesromanzen im Kino sind: nach den ersten Küssen Sex, anschließend die gemeinsame Nacht. Aber in meinem Kopf lief ein Arthouse-Film, in dem ich mich immer noch als diejenige von eben sah, deren Körper stets abgeschirmt war gegen die Blicke anderer und auch gegen die eigenen.
Am Morgen bat sie mich, meine Creme benutzen zu dürfen. Diese Worte eröffneten mir eine völlig neue Welt: Meine Mutter verteilte Creme im Gesicht, aber auf meinen Vater warteten im Bad Schaum und Rasierwasser. Zwei Regale, vollgestellt mit unterschiedlichen Utensilien, eine obligatorische Komponente aller Beziehungen. Doch schau an, manchmal reicht eine Tube für beide. Sie massierte meine Creme in ihr Gesicht und roch plötzlich wie ich. Anschließend zog sie ihre Socken an, die unterschiedliche Farben und ein comicartiges Muster zeigten. Sie erklärte mir, gay people würden lustige Ornamente mögen, das könne ich mir schon mal merken. Da ich nur die üblichen beigefarbenen Socken besaß, verzichtete ich auf sie und blieb erst einmal barfuß. Sie trat auf den Balkon hinaus, um eine Zigarette zu rauchen und die andere Frau anzurufen. Ich starrte auf meine Zehen. Der große war lustig, fast wie einer dieser alten Fernseher, der kleine nur ein Stummel. Die dazwischen waren … ganz normal, wie jeder Mensch sie hat.
Am ersten Frühlingstag sagten sie einander: Guten Morgen! Und auch: Guten Tag! Schließlich: Guten Abend! Alles schien ihnen an diesem Tag gut, deshalb legten sie Wert darauf, es einander zu versichern, bevor die Welt sie wieder wütend machte.
»Schon sechs. Verrückt! Wo ist die Zeit geblieben?«
»Sie haben die Frage selbst beantwortet. Der Tag hat den Verstand verloren. Genau wie wir.«
»Dann sollte ich jetzt aus dem Bett. Es wird Zeit.«
* * *
In der Schule sollten wir uns im Russischunterricht einmal in zehn verschiedenen Sätzen vorstellen. Ich bin Frau/Mann, Schüler/Schülerin, Sohn/Tochter … Ein Junge aus meiner Klasse, der ständig gemobbt wurde, weil er klein und dick war und dazu noch lispelte, hat zehn Mal hintereinander nur ein einziges Wort geschrieben: Mann. Auch ich habe zehn Mal nur ein Wort geschrieben: Mensch. In keiner der anderen Gruppen wollte ich mich auf die Liste setzen lassen, in keine der Rollen, die die Gesellschaft für mich bereithielt, schlüpfen. Schon gar nicht in die der Frau. Wenn wir mit dem Ballettensemble, in dem ich seit meiner Kindheit getanzt habe, zu Auftritten in anderen Städten eingeladen waren, freundeten sich die übrigen Mädchen mit Jungs an, tranken mit ihnen Alkohol, rauchten und flirteten. Wie konnte man nur so tief sinken? Meinen Protest brachte ich offen zum Ausdruck: Alkohol ist schlecht, Rauchen ist schlecht, Jungen in unserem Alter sind das Allerschlimmste. An der Uni behielt ich diese Regeln bei. Zwetajewas Worte über die Natur der Frau einerseits, über Zwetajewas eigene andererseits nahm ich mir zu Herzen. Meine Devise lautete:
Не смущаю, не пою
Женскою отравою.
Руку верную даю —
Пишущую, правую.
Ich berausche keinen
Mit dem Gift anderer Weiber.
Ich geb’ meine treue Hand,
Die rechte, die schreibende.
Но может, в щебетах и в счетах
От вечных женственностей устав —
И вспомнишь руку мою без прав
И мужественный рукав.
Vielleicht, im Raunen und Registern
Von dem, was Frauen gestattet ist,
Dass Du meine Hand da nicht vergisst,
Die rechtlos, doch Mannes Rist.
Ohne mich um Raunen oder Gift zu scheren und voller Verachtung für jedes Register – wer wem was gab, wer wem was schuldet –, verteidigte ich das Territorium meines Körpers und meiner Seele. Interessierte sich ein Mann für mich, betrachtete ich das als Beleidigung, im Grunde als Anschlag. Als mir am 14. Februar mal jemand anonym 51 weiße Rosen vor meine Tür legte, bin ich voller Entsetzen im Kopf meine Bekannten durchgegangen. Wer konnte das gewesen sein? Bei denjenigen, zu denen ich eine gute und freundschaftliche Beziehung hatte, dachte ich bloß: Alle, nur er nicht, ich würde ihn dafür hassen. Als ich dann erfuhr, dass es ein Kommilitone war, einer der verschwindend wenigen Jungs in unserem Jahrgang voller junger Frauen, wollte ich nicht mehr zur Uni gehen. Ich konnte ihn einfach nicht mehr sehen. Nicht mehr mit ihm in einem Raum sein. Seinen Blick auf mir spüren. Er aber hat noch angekündigt, mir weitere Aufmerksamkeiten zukommen zu lassen. Nach einem kurzen Austausch von Textnachrichten war er es dann, der keinen Fuß mehr in die Uni setzte. Ein halbes Jahr später wurde er wegen seines Fehlens exmatrikuliert.
Natürlich dachte ich, irgendwas stimmt mit mir nicht. Mir war jedes Kompliment widerlich, weil es mich um meine Besonderheiten als Mensch brachte und aufs Frausein reduzierte. Auf ein Objekt.
Aber mit ihr – mit ihr war alles anders. Nun wollte ich eine Frau sein. Zusammen mit ihr.
Einmal hat sie über die andere Frau gesprochen – und zwar derart hingebungsvoll, dass sich die Worte in ihrem Gesicht widerspiegelten, es erleuchteten und weichzeichneten, bis es kaum wiederzuerkennen war. Wenn sie ihren Namen aussprach, wurde sie so schön, dass es fast zum Kotzen war. Einmal … aber nein: Eigentlich sprach sie jeden Tag über sie. Jeden Tag, den Gott schuf, jeden Tag, den der Teufel werden ließ. Und wenn sie nicht von dieser Frau sprach, dann schwieg sie von ihr. Jeden Tag, den der Teufel, den Gott … Aber nein, es klingt besser, zu sagen: Einmal sprach sie von ihr. Und wie viel besser ist es erst, auch daran zu glauben. Denn dann ließe sich sagen, wann es zum ersten Mal geschah … Auch wenn es scheint, es sei nie anders gewesen …