Ich glaub, mich knutscht ein Troll - Charly von Feyerabend - E-Book

Ich glaub, mich knutscht ein Troll E-Book

Charly von Feyerabend

4,4
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ina ist Anfang dreißig und seit drei Wochen Single. Um ihren Liebeskummer zu vergessen, flüchtet sie sich für ein paar Tage zu ihrer Freundin Ronja nach Oslo. Und die hat bereits den perfekten Plan, um Ina aus ihrem Tief zu holen: Sie vermittelt ihr einen Job in dem Hotel, in dem sie selbst arbeitet. Schnell geht Ina auf das Angebot ein – und Ronjas Plan auf: Nach dem Umzug in die norwegische Hauptstadt hat Ina kaum mehr Zeit zum Nachdenken. Sind ihre Gedanken in den letzten Wochen ausschließlich um ihren Exfreund Sven gekreist, der sie nach acht Jahren Beziehung verlassen hat, so muss sie sich nun mit den Eigenarten der Norweger im Allgemeinen und denen ihrer kauzigen Mitbewohner im Speziellen herumschlagen. Hinzu kommt, dass sie ihre neue Arbeit weit mehr beansprucht als gedacht. Kein Wunder, immerhin hat Ronja die Wahrheit etwas zurechtgebogen und in der Chefetage des Hotels erzählt, Ina hätte bereits Erfahrung als Veranstaltungsmanagerin. Als Ina obendrein den charismatischen Jon kennenlernt, scheint sie im hohen Norden tatsächlich glücklich zu werden. Doch dann taucht Sven plötzlich in Oslo auf und Ina muss sich bald fragen: Will ihr der Himmel ein Zeichen geben, dass sie um ihre Beziehung kämpfen sollte, oder spielt ihr das Schicksal nur einen fiesen Streich? Charly von Feyerabend ist mit Ich glaub, mich knutscht ein Troll ein erfrischender Roman gelungen, der von der Schönheit Norwegens, den Schwierigkeiten einer Auswanderung und der Unberechenbarkeit der Liebe erzählt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 279

Bewertungen
4,4 (16 Bewertungen)
11
1
4
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Charly von Feyerabend

Ich glaub, mich knutscht ein Troll

Roman

»Draußen im Sonnenstrahl ruft man sich zu Als heimlichste Weisheit: ›Mensch, sei Du!‹ Hier aber unter uns Trollen heißt klug Geredet: ›Troll, sei Du – Dir genug!‹«

Henrik Ibsen

Vorrede

Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, werden Sie den dringlichen Wunsch verspüren, in Oslo mal Urlaub zu machen, Ihre Wertsachen nicht im Bad rumliegen zu lassen und allem mit größtem Misstrauen zu begegnen, was nur im Entferntesten nach Troll riecht. Denn so entzückend die heutigen Trolle auch aussehen: Was allzu niedlich ist, hat meistens einen Haken.

Kapitel 1

Puderzuckerberge

»Rose is a rose is a rose is a rose. Was ich an Dir liebe? Du bist Du bist Du bist Du.« Frei nach Gertrude Stein

Und das brachte die Reiseführer zum entzückten Frohlocken? Wald, Wald, Wasser, Wasser, Schnee, Schnee, Schnee ‒ grün, blau, weiß … Eigentlich verdammt viel Weiß, aber trotzdem: laaangweilig.

Für mich sah der Oslofjord aus wie ein dicker Wurm, der sich durch die weiß-grüne Suppe fraß und eine schlängelige blaue Schleimspur hinter sich herzog, eingebettet in Unmengen von kaltem Schaum.

Eine Männerstimme ließ mich aufhorchen. Der Pilot verkündete feierlich, dass es nur noch wenige Minuten bis zur Landung seien. So meinte er zumindest.

Wenn man den Geschichten meiner Freundin Ronja Glauben schenken durfte, konnte man als Fluggast froh sein, wenn sich ein Pilot der Landebahn auch nur auf wenige Kilometer annäherte. Der Alkohol floss wohl gern in die Kehlen solcher Autopilot-Flieger – gern und flaschenweise. Was sollten die auch in der Zwischenzeit treiben, wenn sie gerade mal für das Abheben und das Landen gebraucht wurden? Im Cockpit ein Nebenstudium beginnen, die Stewardessen vernaschen oder aus dem Weinsatz die Zukunft lesen?

Ich musste aufstoßen und spürte den säuerlichen Geschmack von vergorenem Traubensaft in meiner Mundhöhle. Aus reinen Studienzwecken hatte ich eine Weinflasche aus dem Sortiment der Stewardess ausgetrunken. Und musste enttäuscht feststellen, dass kein Weinsatz auffindbar war – auch nicht in der zweiten Flasche.

Da war keine mysteriöse Botschaft, wie mein Leben in Zukunft weiter verlaufen könnte. Vielleicht war das auch besser so – meine Vergangenheit war schon schwer verdaulich genug.

Ich zog ein Stofftaschentuch aus meiner Jacke und starrte den kleinen Zettel an, der zerknautscht daran festhing. Ich strich ihn glatt und las:

Rose is a rose is a rose is a rose. Was ich an Dir liebe? Du bist Du bist Du bist Du.

Wie konnte in so wenigen Zeilen so viel Poesie stecken – und gleichzeitig so viel Lüge? Sven hatte wohl an die stachligen Rosendornen gedacht, die sich ins Fleisch bohrten und tiefe Wunden rissen. Oder an verfaulte Rosen, die mit ihrem Gestank bereits die ersten rot-gelb gefleckten Totengräberkäfer anlockten. Verfaulte Rosenkadaver, das Aas der Liebe.

Scheißliebe!

Scheißrosen!

Scheißliebesfäule!

Ich schluckte einen Kloß hinunter, der in meiner Kehle festklemmte, knüllte das Papier zusammen und steckte es in die leere Mini-Weinflasche: Rubbish is rubbish is …

Das Flugzeug sackte ab und ich schaute aus dem Bullauge: Oslo! Die Stadt schmiegte sich halbkreisförmig um das Fjordende, eingebettet in ein Meer aus schneebedeckten Bäumen. Grün, grün, weiß, weiß … Aber das hatten wir ja schon.

Ich schluckte noch mal. Es war gut, mal rauszukommen. Wurde auch Zeit – bevor meine schlechte Laune noch chronisch wurde. Hoffentlich hatte meine allerbeste Freundin Ronja ihr ansteckendes Lachen behalten. Vielleicht sprang ein Funke ihrer guten Laune auch auf mich über.

Eiskalt sah es draußen aus. Aber ich war ja vorgewarnt worden und hatte die Daunenjacke und die dicken Boots eingepackt. Allein beim Anblick der Puderzuckerberge kroch mir ein Frösteln von den Zehen- bis in die Haarspitzen.

Neben mir schmatzte es. Ich drehte den Kopf: Mein Sitznachbar schlief tief und fest. Wie er so im Schlaf die Nase krauszog und mit den Zähnen auf der Unterlippe herumnagte, sah er aus wie ein dösender Hase. Eindeutig: ein Hase. Ob der wohl auch im Bett so drauf war? Kraus und nagend?

Mein Blick schweifte wieder aus dem Fenster. Ich zwinkerte. Etwas juckte mir im Auge. Vorsichtig rieb ich mit dem Zeigefinger darin herum. Eine verirrte Wimper blieb an meinem Fingernagel hängen. Ich pustete sie weg und wünschte mir was – ein Ritual, das ich schon seit dem Kindergarten pflegte. Allerdings ließ die Wunscherfüllung mittlerweile zu wünschen übrig. Vielleicht lag es aber auch nur an der Veränderung der Zielobjekte. Was früher der Lutscher gewesen war, war inzwischen ein neuer Privat-Hase, ein Liebster, ein Gefährte, ein Liebeshasengefährte.

Ein Seufzen stieg tief aus meinem Bauch herauf. Zurzeit gab es nur wenige Dinge, die mich noch weniger interessierten als Sex … Schnee vielleicht.

*

So ein blöder Scheiß! – Gerade gelandet, stand ich am Gepäckband des Osloer Flughafens Gardermoen und motzte lautstark mein Handy an: »So ein blöder Scheiß!«

Eine weißhaarige Dame neben mir, die ebenfalls auf ihr Gepäck wartete, drehte sich zu mir um und rümpfte die Nase. Eine Falte mehr in ihrem sowieso schon faltigen Gesicht. Wenn sie das noch mal machte, würden mir gleich noch ganz andere Flüche einfallen, international verständliche. Damit hatte ich zurzeit kein Problem – also mit dem Fluchen. Ich war quasi fluchgeübt.

Ich hatte mich echt gefreut, von Ronja am Flughafen abgeholt zu werden. Und jetzt? Musste Ronja länger arbeiten und ich sollte selbst zu ihrem Arbeitsplatz finden. Tolle Wurst! In einer fremden Stadt schwer beladen herumzusuchen machte echt keinen Spaß – trotz ausführlicher Wegbeschreibung per SMS.

Doch zunächst kam die Pflichtübung nach der Landung: Einkaufen im Duty-free-Shop! Kurz darauf schlugen bei jedem Schritt zwei schwere Tüten gegen mein linkes Bein, gefüllt mit Bier, Schokolade und etwas Hochprozentigem. Die Preise waren hier ganz schön gesalzen. Salziger als im deutschen Duty-free-Shop jedenfalls. Hätte ich das früher gewusst, hätte ich noch in Deutschland billiger eingekauft, wahrscheinlich aber auch mehr. Die Sektreste von Silvester wurden einem ja geradezu für kleines Geld hinterhergeschmissen. Aber für Sekt hatte ich jetzt nicht gerade die passende Laune.

Ich reihte mich in den Menschenstrom gen Ausgang ein und ließ mich durch die automatische Schiebetür in die Ankunftshalle treiben. Ganz schön übersichtlich, dieser Flughafen der norwegischen Hauptstadt. Mit anderen Worten: niedlich klein. Trauten die Norweger den angeblich trinkenden Piloten nicht und reisten immer noch per Wikingerboot?

Ein verführerischer Duft nach etwas Warmem und Fettigem kitzelte meine Nase und zog mich automatisch einige Schritte weiter zum Kiosk zu meiner Rechten. Das roch doch nach … Bratwurst!

Tatsächlich ‒ drei verrunzelte Würstchen rollten vernachlässigt auf einem sich drehenden Gitter und schienen zu rufen: »Iss uns! Wir geben dir so viele Lebensmittelzusatzstoffe, wie du dir nur wünschen kannst.«

Mein Magen rebellierte. Ich hatte einen riesigen Hunger! Schnell war ein Würstchen mit gelben und roten Spritzern verschönert und innerhalb von wenigen Millisekunden in meinem Mund verschwunden. Na ja, es schmeckte wie ein aufgewärmtes Wienerchen: ziemlich trostlos. Bäh!

Das hätte ich mir auch sparen können. Vor allem diesen komischen Nachgeschmack … irgendwie faulig. Auf jeden Fall eklig.

Meine Augen scannten das übrige Verkaufssortiment: Obst, Getränke, Schokoladenriegel. Schokoladenriegel! Meine Hand schien ein Eigenleben zu entwickeln und grapschte sich einen. In einer weißen verschnörkelten Schrift prangte darauf: »Freia«.

War das nicht die norwegische Schokomarke? Dann war das Verspeisen ja sozusagen meine Pflicht, um der fremden Kultur gebührend Respekt zu zollen! Edelmütig war ich schon immer!

Mit einem frischen Energieinput von 255 Kalorien trabte ich los zum Ende der Halle. Von dort aus ging es zum Flytoget, dem Schnellzug, der mich direkt in die Stadt befördern sollte. Und nicht zu vergessen, die circa 200 anderen Fluggäste ebenso.

In der Halle wirbelten viele Menschen kunterbunt durcheinander. Die mit einem breiten Grinsen im blassen Gesicht strömten Richtung Check-in-Schalter und die mit einem genervten Gesichtsausdruck und einem Kaffee to go in der braun gebrannten Hand schlurften mit mir mit.

Ich nahm den Aufzug zum Bahngleis und stieg in den bereits wartenden Zug ein. Er war komfortabel, modern, mit genug Platz für das Gepäck, sämtliche Tüten sowie meine fülligen Schenkel. »Wohlgeformt« bevorzugte ich. Wohlgeformte obere Beinteile.

Was hatte ich da gerade bezahlt? 170 norwegische Kronen ‒ das waren doch … über 20 Euro! Unglaublich!

Ich schüttelte meine langen braunen Haare und biss in einen zweiten Freia-Schokoriegel. Eines war gewiss: Bei meinem Osloaufenthalt würde zumindest mein Geldbeutel abnehmen.

*

An der Haltestelle Nationaltheatret spuckte der Flytoget zusammen mit mir Massen von Reisenden aus – nebst Duty-free-Tüten, die ein Lied voll sehnsuchtsvoller Träume klirrten. Es dämmerte bereits, als ich aus dem Inneren der Bahnhalle trat. Ich sog die Luft tief in meine bebenden Nasenflügel. Es war so kalt, dass die Nasenhaare innerhalb von Sekunden gefroren. Fehlte nur noch, dass sie beim Zusammenstoßen klimperten. Igitt!

In Oslo war kalt noch wirklich kalt. Bereits auf der Zugfahrt hatte ich gestaunt, was für extrem hohe Schneeberge es hier gab, aber dass es so kalt sein würde … Kein Wunder, dass die norwegischen Mitreisenden beim zollfreien Einkaufen vor allem zu den Schnapsflaschen gegriffen hatten.

Ich beäugte das ockerfarbene Gebäude auf der anderen Seite der Haltestelle Nationaltheatret. Es sah nett aus mit seinem kleinen Türmchen auf dem Kuppeldach und den verwinkelten Anbauten. Was stand da auf den durchsichtigen Plexiglasschildern? Anna Karenina und Fanny og Alexander. Aha! Dann war das also das zur Haltestelle dazugehörige Theater. Sherlock wäre stolz auf mich gewesen.

Plötzlich hörte ich Möwengeschrei über meinem Kopf. Ich zuckte zusammen. Möwen? Ja – verteilt auf dem zugefrorenen Brunnen und den Statuen ringsum. Stimmt, der Hafen soll vom Nationaltheater nur wenige Meter entfernt liegen, fiel mir ein. Genauso weit weg wie das Hotel, in dem Ronja arbeitete.

Ich sog erneut die kalte Luft in meine Nase – meine gerötete Nase. Das war immer das erste äußere Indiz dafür, dass ich fror. Eins, das ich echt hasste, weil meine Nase nicht gerade zu den zarten kleinen Damenriechern zählte. Da verzichtete man eigentlich gern auf eine farbliche Akzentuierung.

Ich zückte meinen perlmuttfarbenen Lipgloss und schmierte ihn auf meine Lippen – zur Ablenkung! Und nun auf zum Hotel, bevor meine Nase noch röter werden würde.

Ich trat auf die Karl Johans gate, die Haupteinkaufsstraße von Oslo, schenkte dem Schloss zu meiner Linken einen neugierigen Blick und marschierte fröstelnd in die andere Richtung. Die Einkaufszone entlang und an einer Schlittschuhbahn vorbei ging es zu Ronjas Hotel. Hoffentlich dauerte ihre Schicht nicht mehr so lange. Nach so einer nervigen Reise hatte ich überhaupt keine Lust, in irgendeinem stickigen Hotelkämmerchen zu warten und die bräunlichen Flecken an der Tapete zu zählen, die von ausgedrückten Zigaretten stammten. Ich wollte etwas Warmes und jemanden, der sich meinen Liebeskummer anhörte – und Sven genauso herzhaft verfluchte wie ich!

*

Eine Stunde lang musste Ronja noch arbeiten. Allerdings durfte ich auf der hoteleigenen Dachterrasse warten. Dort brannten Heizstrahler schneefreie Zonen in das jungfräuliche Weiß und schufen so ökologische Nischen für Bänke und Sessel, die mit Fellen und Decken zum Einmummeln einluden.

Gerade angekommen und schon schwebe ich über den Dächern, dachte ich und grinste, als ich an meinem heißen Kaffee nippte. So ließ ich mir das Warten gefallen. Es war sozusagen ein Schwebewarten. Da konnte man sogar mal für einen kurzen Augenblick seinen Ex vergessen!

Mein Blick streifte die knalligen Reklameschilder der Umgebung, blieb kurz an einer riesigen rot-gelben Freia-Werbung hängen und landete am Hafen. Zumindest an dem Fleckchen, das in der Abenddämmerung zwischen den Hausdächern noch sichtbar war. Sogar ein paar Schiffsmasten ließen sich erahnen. Schiffe und Möwen – so nah!

Am Himmel schoben sich dicke Wolkenberge vorbei. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Das Himmelsblau floss und floss, bis es in den Fjord eintauchte. Eine Weite eröffnete sich, die das Herz leicht machte.

Ich atmete.

Befreit.

Von all dem Mist der letzten zwei Monate.

Einatmen.

Ausatmen.

Frei.

Auch wenn sich meine Nasenhaare immer noch komisch anfühlten.

Ein Mann schob sich in mein Blickfeld. Er war groß, sportlich mit Jeans und einem weißen Hemd bekleidet und hatte ein freundliches Grinsen im sonnengebräunten Gesicht, das gerade etwas gefror. Er hatte, der Sprachmelodie nach, wohl gerade eine Frage gestellt und erwartete mehr als nur einen interessierten Blick.

»S-sorry«, stammelte ich. »I’m from Germany.« Innerlich schlug ich beide Hände über dem Kopf zusammen: Wie dämlich war das denn? Es tat mir leid, dass ich Deutsche war, oder was?

»Ah, Deutschland. Da arbeitete ich einige Jahre«, entgegnete mein Gegenüber mit einem leichten Akzent, der ihn gleich noch sympathischer machte. »Tut mir leid, wenn ich störe dich. Ich will wissen, ob die Koffer da dir gehören.«

Ich nickte, woraufhin sich der Mann höflich bedankte. Dabei wippten seine kurzen braunen Locken. Er wies mich darauf hin, dass ich mein Gepäck im Blick und in Reichweite behalten sollte. Dann entfernte er sich so schnell, wie er aufgetaucht war – wie ein edler Hirsch, der zwischen den Bäumen verschwindet.

Ich mochte Hirsche. Vor allem die muskulösen! Auch wenn ich nicht verstand, was er eigentlich gewollt hatte. War das eine gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber herrenlosem Gepäck seit dem Bombenattentat im Juli 2011? Ronja hatte mir erzählt, dass damals ganz Norwegen für eine lange Zeit den Atem angehalten hatte. Unglaublich, wozu einzelne Menschen fähig waren. Was war da nur schiefgelaufen?

Und was war das für ein niedlicher Akzent gewesen? Norwegisch war es jedenfalls nicht. Vielleicht amerikanisch oder britisch? Das hätte ich mir durchaus noch etwas länger anhören können.

In diesem Moment betrat Ronja die Dachterrasse und ließ sich mit zwei gefüllten Sektgläsern neben mir nieder. Sie hatte die typische Hoteltracht an, was sich hier auf Stoffhosen und ein Blüschen sowie blitzblanke Lackschühchen beschränkte. »Auf eine prickelnde Norwegenwoche! Mögen die Götter dir wohlgesonnen sein. Vor allem Freya!«, sagte sie.

Mein Blick wanderte zum Reklameschild der Schokomarke Freia und Ronja lachte laut auf. »Nein, die mein’ ich nicht. Schokolade hat zwar auch was mit Lust zu tun, aber eigentlich mein’ ich Freya, die Liebesgöttin«, rief sie amüsiert.

Da war es wieder, dieses kräftige, melodiöse Lachen, in das man einfach einstimmen musste. Jetzt war ich mir ganz sicher: Alles wird gut!

*

Eine Stunde später stießen wir wieder mit einem Getränk an. Diesmal war es Rotwein und wir saßen zu dritt an einem Tisch.

Wir waren mit der Bahn ein paar Haltestellen bis zu Ronjas Mietwohnung gefahren. Ihr 114 Quadratmeter großes Zuhause mit den hohen, mit Stuck verzierten Decken, den nostalgischen Kronleuchtern und den Parkettböden hatte etwas Elegantes.

Der Dritte in unserer Runde war Ronjas Langzeitfreund Dirk, ein alter gemeinsamer Kumpel aus noch älteren Hotelfachzeiten, der jetzt im selben Hotel wie sie arbeitete. Allerdings war er der stellvertretende Direktor.

Was lag da näher, als ein paar Geschichten aus der Vergangenheit ans flackernde Kerzenlicht zu zerren und sich an den Erinnerungen zu wärmen – bestandene Abenteuer, die sich meist um das Übertreten von Hotelrichtlinien, rauschende Feste und Ärger mit der Hotelobrigkeit drehten. Das war zumindest für zwei Stündchen ganz nett, doch so langsam wollte ich Ronja für mich allein haben. Denn Dirk war immer noch gut mit meinem Ex befreundet. Dem Anstoß all meines Übels. Ich glaubte nicht, dass Dirk Lust hatte, zusammen mit mir über Sven zu schimpfen.

Doch nach der zweiten Flasche Wein und einigen Schnäpsen übernahm schließlich mein emotionales Ich die Steuerung. Eine tiefe Traurigkeit überrollte mich wie eine Dampfwalze. Ich schluchzte und die ersten Tränen kullerten über meine geröteten Wangen. Mein Körper sank in sich zusammen und ich kam mir vor wie das größte Häuflein Elend auf der ganzen Welt.

So eine Trauer hatte ich zum letzten Mal verspürt, als mein heiß geliebter Wellensittich gestorben war. Da war ich zehn gewesen. Trotz der Tränen musste ich lachen. Gestorben ist gut. Meine Mutter hatte ihn einfangen wollen, ihn mit der Zeitung aber nicht in Richtung Käfig getrieben, sondern ihn damit totgeschlagen. »Aus Versehen«, hatte sie gesagt. Ich hatte niemals eine Zeitung gebraucht, bei mir war er immer zahm gewesen.

Ich schluchzte erneut. Toll, jetzt weinte ich auch noch über den Verlust meines Wellensittichs. Rotze lief mir aus der Nase und tropfte auf den Tisch.

Dirk sah hastig auf die Uhr, murmelte was von einem Termin und verließ fluchtartig die Wohnung. Ronja schnippte sich die kinnlangen schwarzen Zipfelhaare aus dem Gesicht, riss ein Stück von der Küchenrolle ab und reichte es mir. »Na? Wie du siehst, haben Tränen bei Dirk immer noch die gleiche Wirkung wie bei anderen Leuten Pfefferspray. Das wird schon wieder … Erzähl mal!«, forderte sie mich auf.

Unterbrochen von lautstarkem Schnäuzen, berichtete ich zunächst stammelnd und dann immer fließender von der Trennung. Acht Jahre lang war ich mit Sven zusammen gewesen. Das angeblich verflixte siebte Jahr hatten wir sogar recht harmonisch verbracht. Das »Verflixte« hatte erst ein Jahr später zugeschlagen. Und das, obwohl wir beide so viel gemeinsam erlebt hatten: In drei verschiedenen Ländern hatten wir in vier Hotels gearbeitet. Und dann das: Von heute auf morgen war er ausgezogen mit der fadenscheinigen Begründung, dass wir uns auseinandergelebt und unterschiedliche Ziele vor Augen hätten. Sven wollte Kinder und ich keine – oder was auch immer.

So richtig verstanden hatte ich das immer noch nicht. Klar war nur, dass seine Entscheidung gut überlegt und felsenfest war. Das behauptete Sven zumindest. Auf mein Jammern und Zetern hin hatte er mir zumindest versichert, dass keine andere Frau im Spiel war. Wenigstens war er nicht fremdgegangen. Doch viel half das auch nicht.

Ich fühlte mich komplett ausgehebelt, so als würde das alles einer anderen Person passieren. Schön wär’s!

Eine weitere Heulattacke attackierte mich. »Ei… eigentlich hatte ich sogar auf einen Antrag von Sven gewartet. Ei… einen Heiratsantrag. Nach acht Jahren!«, schluchzte ich.

Ronja tätschelte meine Hand und schob mir ein weiteres Stück Küchenrolle über den Tisch.

»Und die Flitterwochen wollten wir in der Karibik verbringen!«, sagte ich und schüttelte den Kopf.

Rose is a rose is a rose is a rose – von wegen. Ich fühlte mich so verarscht, vom Leben, der Welt und dem ganzen Rest.

Ich schluckte und meinte: »Am liebsten hätte ich einen Neuanfang. Einfach einen Strich unter den ganzen Scheiß. Wegen Renovierung geschlossen. Und dann eine Neueröffnung!«

Nachdem wir eine weitere Trost-Weinflasche auf Weinstein untersucht hatten, wobei Ronja eine ganze Liste von Möglichkeiten aufgezählt hatte, die mir das Leben nun quasi eröffnete, glich unsere Unterhaltung einer anstrengenden Zungenakrobatik. Allerdings hätte keine von uns beiden das Wort »Zungenakrobatik« mehr herausgebracht, ohne zu lallen.

Erschöpft hangelten wir uns ins Bett. Immerhin hatten wir bis zu meiner Abreise noch über eine Woche Zeit, um Kriegsrat zu halten und unsere Köpfe zusammenzustecken, wie wir es schon zu unserer Ausbildungszeit getan hatten. Und um die restlichen Mitbringsel zu vernichten, die sehnsuchtsvoll klirrenden.

»Tssung… Tssung… Tssuuungenaobaik«, versuchte ich es noch einmal.

Dann ließ ich mich in die Trost spendenden Arme des Schlafs fallen. Der machte keinen Unterschied zwischen Weinsteinlallenden und Rosentötern.

Scheißsven!

Scheißschlaf!

Kapitel 2

Sicher ist nur, dass nichts sicher ist

»I wanna try to be the person you want, the person you need.« NeverShoutNever!

Neuanfang schön und gut, aber musste der so schnell kommen? Ich hatte Ronja zwar vorgejammert, dass meine Vergangenheit ruhig in einer luftdichten Tüte bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag irgendwo vergraben vor sich hin schimmeln könnte, aber musste sie immer gleich so tatkräftig die Initiative ergreifen? Sie zwinkerte einfach mit ihren grünen Augen, lachte dabei alle Probleme in Grund und Boden und plante dann das Leben der anderen, als wäre es eine einfache mathematische Gleichung. Man nehme eine Ina und eine neue Stadt und heraus kommt ein glückliches Leben. Dann aber verdammt noch mal mit sofortiger Wirkung!

Mhm, jetzt hatte ich den Salat: Umzugskartons türmten sich ringsum in meiner alten Wohnung in Bielefeld und mein neuer Job lag 890 Kilometer Luftlinie entfernt. In Oslo, in dem Hotel, in dem auch Ronja arbeitete. Und schon in eineinhalb Monaten würde ich anfangen. Bis dahin sollte ich alles geregelt haben, inklusive eine Wohnung finden und den ganzen Umzug nach Oslo organisieren.

Etwas kitzelte in meiner Nase, mein Gesicht verzog sich zu einer schiefen Grimasse, bis ein explosionsartiges Niesen mich erlöste und meine Gesichtszüge wieder entspannt auf ihren Platz rutschten. Unter Reiseandenken verstand ich eigentlich etwas anderes als eine Erkältung.

Warum hatte ich das Stellenangebot auch angenommen? Klar, es klang verlockend: Assistentin der Veranstaltungschefin. Weit weg von meinem Ex und dem Abdruck, den mein Leben in Deutschland hinterlassen hatte. Dieser Trott aus aufstehen, arbeiten, schlafen, nur unterbrochen von essen, fernsehen, um den Ex trauern und Trost-Weinchen trinken. Der neue Job würde mein Leben komplett verändern. Ich würde mit allen Gewohnheiten brechen. Aber war nicht die Gewohnheit das, was einen ausmachte?

Egal!

Ich streckte die Zunge weit raus: »Bäh!«

Ich hatte keine Lust auf schwere Gedanken und überhaupt keine Lust aufs Packen. So fühlte sich Glücklichsein definitiv nicht an.

Mit einem Fuß schob ich einen Klamottenberg zur Seite, der »Wasch mich, bügel mich und räum gefälligst auf, du dumme Pute!« schrie, und stieß auf ein kleines silbernes Fotoalbum. Ohne es aufzuschlagen, warf ich es in die andere Ecke des Zimmers. Vor allem hatte ich keine Lust auf Bilder von Sven und mir aus glücklichen Zeiten. Damals hatte die Gewohnheit darin bestanden, verliebt zu sein. Grummel.

Was war eigentlich so schlimm an der Gewohnheit? Warum strebten immer alle nach neuen Erfahrungen, egal ob Hobbys, Urlaubsziele oder Sexpartner? Es war doch alles eh nur ein Konstrukt. Jeder Mensch erschuf sich selbst ‒ bestimmte, was ihn zufrieden machte, und versuchte, dies zu wiederholen, zur Gewohnheit zu machen. Zum Trott, wenn man so wollte.

Alles war konstruiert. Mal abgesehen vom Leben irgendwelcher Eingeborenen, die sich noch authentisch am Busen der Natur aalten.

Wenn mein blöder Ex nicht auf Midlife-Crisis machen würde, könnte ich vielleicht sogar immer noch harmonisch den Alltagstrott zelebrieren. Trottelfreies Trottieren bis zu meinem Lebensende. Ein Trott nach dem anderen, bis man wieder von vorn lostrottete.

Ich musste wider Willen lachen. Manchmal entwickelten meine Gedanken ein Eigenleben und ich kam mir selbst nur noch als Zuhörerin vor. Mit einer imaginären Popcorntüte in den Händen.

Das war eine gute Idee. Essenspause! Ich packte eine Pizza in den Ofen, ein Stück selbst gebackenen Schokoladenkuchen auf einen Teller und goss mir ein Glas Wasser ein.

Das mit dem Trott hatte sich jetzt erledigt. In Oslo kannte ich gerade mal den noblen Eingangsbereich und die Dachterrasse meines baldigen neuen Arbeitsortes. Ronja hatte alles geschickt eingefädelt und mich noch zufälligerweise meiner neuen Chefin vorgestellt. Dass dies bereits ein Teil der Jobvermittlung gewesen war, hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewusst. Erst als ich zurück in Deutschland war, bekam ich die Anweisung, meine Zeugnisse zum Hotel zu faxen.

»Anweisung« war wirklich das richtige Wort dafür. Ronja hatte nicht gefragt, sondern gefordert. Und einen Tag später hatte ich den zugefaxten Vertrag in den Händen gehalten.

Tja, hoffentlich hatte Ronja nicht zu dick aufgetragen und zu meinen Zeugnissen noch mehr dazugedichtet. Im Ausschmücken und Schmackhaftmachen war sie ein Naturtalent – genauso wie im Initiativeergreifen.

Ich seufzte und sah mich in der von Sven geplünderten Wohnung um. Kein Sofa mehr, kein Fernseher und ein bücherlöchriges Wandregal. Selbst die Lampen hatte er gewissenhaft abmontiert, bis auf die Glühbirnen. Die pendelten nackt von der Decke. Glühbirnenromantik der Einsamkeit.

Eigentlich hatte ich überhaupt keine Lust, etwas von den alten Sachen mitzunehmen. Zu viele Erinnerungen hingen an all den Teilen. Genau solche Erinnerungen, wie ich sie schnell loswerden wollte.

Ich fummelte das silberne Fotoalbum aus einem Berg von Kram und schmiss es in den Mülleimer. Dann setzte ich mich mit dem Kuchen in der Hand an die kalte nackte Wand und zog unter meinem Po ein paar unbequeme CDs hervor. Bilder musste ich immerhin keine abhängen. Die waren alle vom Ex gewesen. Knallbunte Kunstdrucke von Klee und Marc.

»Die passen gut zu unserer Lebensfreude«, hatte Sven gesagt. Damals.

Auch das hatte er mir genommen. Nie wieder würde ich mir diese Bilder irgendwo anschauen können, ohne an ihn denken zu müssen.

Mein Magen krampfte sich zusammen und ich nahm die CDs in die Hand. Die konnte ich eigentlich auch gleich in die Tonne treten.

Ich rupfte einen gelben selbstklebenden Merkzettel von der affenverzierten CD-Hülle der Band NeverShoutNever! und las: I wanna try to be the person you want, the person you need.

Happy hieß der Song und so hatte ich mich vor einem Jahr auch gefühlt, als Sven mir diese harmlos wirkende silberne Polycarbonatscheibe geschenkt hatte und wir zu der Musik heißen Sex gehabt hatten. Ob ich das wohl auch vergessen würde? Den Sex?

Dicke Tränen kullerten über meine Wangen. Mit einer zornigen Bewegung schmiss ich die CD ebenfalls in den Müll und krempelte die Ärmel hoch. Bockmist, jetzt hatte ich auch noch einen Ohrwurm im Ohr! Happy. Von wegen!

Ich brauchte Mülltüten, einen Berg von Mülltüten, und dann musste ich meinen Laptop suchen. Hatte Ronja mir nicht einen Link zuschicken wollen mit WG-Zimmern in Oslo? Bestimmt gab es auch möblierte mit Bett und Schrank! Am besten auch mit Bildern, Musik und Liebhaber …

*

»Wann meine Abschiedsparty steigt?«, fragte ich mit ungewöhnlich hoher Stimme. »Äh, eigentlich wollte ich gar …«

Doch meine übereifrige Freundin unterbrach mich: »Ich hab eine super Idee, wo wir Party machen können: oben auf der Sparrenburg. Das wird lustig!«

»Ist das nicht etwas kalt und …«

»Mmh, stimmt. Wir brauchen ein großes Lagerfeuer, vielleicht können wir auch dort ins Restaurant. Oder was ist mit Olderdissen oder dem Hermannsdenkmal?«

»Also, eigentlich wollte ich nicht …«

»… so weit fahren. Da haste recht. Lass uns das lieber in der Nähe machen. Am letzten Wochenende, bevor du weg bist? Das passt mir ganz gut. Ich sag dann den anderen Bescheid, da brauchst du dich nicht drum zu kümmern. Teil mir nur rechtzeitig mit, wo genau und was du auffahren willst. Dann können wir ja vielleicht noch einen Salat oder so mitbringen. Alles klar, dann bis nachher!«

Damit knackte es in der Leitung und das Gespräch war beendet.

Ich schüttelte den Kopf. Eine Party? Na toll ‒ keine einzige meiner Freundinnen war nur mit mir, sondern immer auch mit Sven befreundet. Trotzdem konnte nicht eines der doofen Weiber mir sagen, warum er mit mir Schluss gemacht hatte. »Unglaublich«, »fassungslos« und »erschütternd« waren die am meisten benutzten Wörter in diesem Zusammenhang. Na danke! Dafür fanden es alle wahnsinnig toll, dass ich so selbstbewusst nach vorn schaute und ein neues Leben in Oslo begann.

»Ernüchternd« fiel mir dazu nur ein. Und »Tolle Wurst!« zum Stichwort Party.

Wie war das mit den Dingen, auf die ich überhaupt keinen Bock hatte? Zurzeit häuften sich die Momente, in denen ich das Gefühl hatte, dass das alles nicht mir passierte, sondern einer ganz anderen Person. Einer Person, mit der ich nicht einmal befreundet sein wollte, so nervig erschien mir dieses Leben.

Es klingelte erneut und nach einem Blick auf die Nummer starrte ich seufzend an die Decke. Stimmt, das zählte auch zu den nervigen Dingen: ein Anruf von meiner lieben Mutter.

Nachdem ich 20 Minuten lang den neuesten familiären Niedertrachten gelauscht hatte, kam sie dann auch endlich zur Sache: »Zur Taufe deines Neffen kommst du aber noch, bevor du abreist?! Immerhin sollst du ja Patentante werden.«

»Das wird zeitlich alles etwas knapp«, nuschelte ich.

»Ich bitte dich! Du bist die einzige Schwester. Und es muss dir auch nicht peinlich sein, dass du allein kommst und dass du eigentlich die Ältere bist.«

Was sollte das denn nun wieder heißen? Ich entschied mich, lieber nicht nachzufragen, und suchte in der Küche nach der angebrochenen Weinflasche.

»Wie geht es Paps? Was macht der Garten?«, fragte ich nebenbei.

Mein Vater war der ruhige Pol der Familie. Vielleicht lag es daran, dass er die meiste Zeit in seinem Gemüsegarten verbrachte.

»Der Garten? Wir haben auch hier noch Winter, junge Dame, oder glaubst du, er hackt die Beete vor den Eisheiligen um?«

»Mama, ich muss noch meinen Umzug organisieren. Ich melde mich.«

Nachdem sie mir das Versprechen abgenommen hatte, selbstverständlich zur Taufe zu Hause aufzulaufen, entließ meine Mutter mich aus dem Gespräch und vergaß auch dieses Mal wieder, mich zu fragen, wie es mir überhaupt ging.

Ich suchte weiter nach meinem Laptop und fand ihn schließlich unter einem Stapel Zeitungen. Während ich mein zweites Glas Wein austrank, kam ich jedoch zu der Erkenntnis, dass das Surfen im Internet meist ergebnislos ausfiel. Mit einem schiefen Grinsen zog ich das Fotoalbum wieder aus dem Müll und legte es in einen der Kartons. Dann stiefelte ich ins Bad.

So langsam sollte ich mich ins Ausgeh-Outfit schmeißen. Ein Konzert im Ringlokschuppen stand an. Der Blick in den Spiegel zeigte mir, dass ich wohl etwas mehr Schminke vertragen konnte. Zu bequemen Jeans wählte ich ein weites schwarzes Shirt. Ich war einfach nicht in der Stimmung, mich besonders sexy zu stylen. Am liebsten hätte ich den Abend allein vor dem Fernseher verbracht. Doch zum einem bestanden meine Freundinnen darauf, zu wissen, was am besten für mich sei, und zum anderen gab es hier keine Flimmerkiste mehr.

Mit schwarzem Kajal um die Augen und schwarzen Hängeohrringen trat ich später auf die Straße hinaus. Black is beautiful. Und sollte das Äußere nicht das Innere widerspiegeln?

*

Drei Wochen später blickte ich wieder auf den Bildschirm meines Laptops. Meine treu sorgende Ronja hatte mir die Annonce einer WG zugeschickt, die sich ganz nett anhörte: nur zweieinhalb andere Mitbewohner, zentrale Lage, relativ günstiger Mietpreis und mit möbliertem, 20 Quadratmeter großem Zimmer.

Wie ich Ronja kannte, hatte sie sowieso schon das Zimmer für mich klargemacht und fragte nun nur noch aus Höflichkeit. Ronja, meine Ersatzmami! Wahrscheinlich musste ich sogar froh sein, so auf den letzten Drücker etwas zu finden. In zwei Wochen war die Fährfahrt gebucht.

Eigentlich hatte ich mich schon darauf eingestellt, bei Ronja unterzuschlüpfen. War aber auch nicht leicht, sich aus der Ferne für ein WG-Zimmer zu entscheiden. Vor allem wenn man sich gerade vorkam wie ein rostiger Hotelbus ohne Benzin und Antriebswellen.

Die zweieinhalb Personen bestanden aus einer Frau mit Kind und einem Mann, der anscheinend die meiste Zeit auf Reisen war. Hoffentlich war das Kind schon im Ich-zieh-bald-aus-Alter und die Mitbewohner verlangten nicht auch eine Party zum Einzug.

Worum musste ich mich jetzt überhaupt noch kümmern? Ein Umzugsunternehmen fiel flach, da ich den Großteil meines überschaubaren Besitzes bei Freunden untergestellt, verschenkt oder weggeschmissen hatte und den Rest, bestehend aus einem riesigen Wanderrucksack mit meinen Tagebüchern und zwei Koffern, mit auf die Fähre nehmen wollte. Auto ummelden fiel auch flach, da ich gar keins hatte.

Zwischen zwei Tassen Kaffee scrollte ich auf der Homepage von Trolljenta die Umzugs-Tipp-Liste durch: von Krankenkasse bis Behördengänge. Toll: In Norwegen konnte man sich sogar im Vorfeld via Internet registrieren und musste dann nur noch persönlich auf dem Amt erscheinen, um die Unterlagen zu präsentieren. Andererseits wurde man aber ermahnt, am besten schon Norwegisch zu sprechen, bevor man in dieses Land zum Arbeiten kam.

Ich schluckte. Sprachen lernen fiel mir nicht wirklich leicht. Wie praktisch, dass man im Hotelfach auch mit Englisch gut durchkam. Aber wie war das eigentlich im Veranstaltungsbereich? Bis zu meinem Umzug würde ich mir wohl gerade mal formelle Wendungen wie »Willkommen« oder »Tschüss« einprägen können.

Schnell schrieb ich Ronja eine Mail zurück: dass ich das WG-Zimmer sehr gern nehmen würde, mich freute, sie bald wieder drücken zu können – und ob die Chefin im Veranstaltungsbereich denn wisse, dass ich kein Norwegisch sprach …

*

Als hätte ein großes schwarzes Loch die letzten Tage verschlungen, stand der Umzug plötzlich vor der Tür. Einmal Auswandern für Fortgeschrittene, dachte ich und rieb mir den schmerzenden Schädel. Zwar hatte ich in den letzten Jahren schon in anderen Ländern gelebt, aber dieser Umzug hatte mir schlaflose Nächte bereitet. Es fühlte sich so erzwungen an, so unentspannt. Und hätte Sven mich nicht abgesägt, wäre ich noch gern weiterhin in Bielefeld wohnen geblieben. Sven war schuld. Vor allem war es das erste Mal nach langer, langer Zeit, dass ich ohne ihn umzog.

Ein befreundetes Pärchen stopfte meinen Rucksack und die Koffer auf den Dachgepäckträger ihres Autos, mich auf den Rücksitz und los ging die Fahrt nach Kiel.

Es war bequem, so im Auto zu sitzen. Eigentlich. Denn kaum lag der Teutoburger Wald hinter uns, stand schon die zweite Raststättenpause an. Es war in diesem Fall weniger bequem, ein Kind dabeizuhaben, das ständig aufs Klo musste. Und da ich hinten saß, durfte ich während der Fünfstundenfahrt sozusagen auch gleich noch den Bespaßungspart übernehmen: vorlesen, Nummernschilder raten, mich vergeblich schlafend stellen, Grimassen schneiden und gegen Ende der Fahrt Spielzeug auf die vorderen Sitze schmeißen.

Gerädert und verdammt froh, selbst keine Kinder zu haben, verabschiedete ich mich in Kiel von der Dreierfamilie und wünschte ihnen einen schönen Kurzurlaub an der Küste. Ich vergaß, sie nach Oslo einzuladen, und stellte mich in die Warteschlange vor der Pass- und Ticketkontrolle.

Gut, dass es kein Gepäcklimit gab. Mit meinen zwei riesigen Koffern und dem 120-Liter-Wanderrucksack zog ich schon den einen oder anderen befremdeten Blick auf mich. Tja, was ich alles tragen und hinter mir her zerren konnte! Spätestens am nächsten Tag würde der Muskelkater seine Krallen in meine Arme schlagen. Miauuuu!

Aus Kostengründen hatte ich auf der Color Line eine Kabine der untersten Kategorie ohne Meerblick gebucht. Sie war etwas eng. Zumindest wenn man so großes Gepäck hatte wie ich. Nachdem ich vergeblich versucht hatte, die Koffer und den Rucksack unter das ausgeklappte Bett zu schieben, lag ich nun halb auf ihnen. Ansonsten war die Kabine aber recht neu, noch ohne Schimmel in der dazugehörigen Nasszelle und der Teppichboden sah auch relativ frisch aus.

Ich baute aus den Koffern meinen persönlichen Kletterturm, frischte meine Schminke auf und fuhr mit dem gläsernen Aufzug nach oben an Deck. Und dann noch mal runter. Und wieder hoch. Und noch mal das Ganze. Lustig, so ein gläserner Aufzug!

Als ich mich davon trennen konnte, stiefelte ich aufs Schiffsdeck. Herrlich. Sonne!

Mein Blick schweifte von der blauen Weite über mir zum Kieler Hafen. Was für ein Gewusel: Unzählige Autos reihten sich auf dem Weg in den Bauch des Schiffes aneinander. Dazwischen turnten Männer in grellgelben Warnwesten herum und winkten mal in die eine Richtung und mal in die andere. Zuckende Leuchtkäfer im Bodenservice, dachte ich. Winktanz der Neongelben.