Ich hatte gehofft, wir können fliegen - Caroline Labusch - E-Book
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Ich hatte gehofft, wir können fliegen E-Book

Caroline Labusch

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Beschreibung

Eine unglaubliche Flucht- und Liebesgeschichte aus der DDR

Ostberlin im Frühjahr 1989: Ein junges Paar will fliehen. Der Ingenieur Winfried Freudenberg und seine Frau, eine Chemikerin, fassen einen abenteuerlichen Plan – in einem selbst gebauten Ballon wollen sie über die Mauer in den Westen fliegen. In einer kalten Neumondnacht brechen sie auf. Am nächsten Morgen findet die Westberliner Polizei in einem Villengarten die Leiche des Mannes. Todesursache: Sturz aus großer Höhe. Von der Frau fehlt jede Spur. Die Ermittlungsbehörden auf beiden Seiten der Mauer stehen vor einem Rätsel. Was ist in jener Nacht geschehen?

25 Jahre später wird die Autorin Caroline Labusch von einem Freund auf diesen wahren Fall aufmerksam gemacht. Gemeinsam begeben sie sich auf die Spuren des letzten Berliner Mauertoten. Dabei stoßen sie auf die bewegende Liebesgeschichte eines ungleichen Paars.

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Seitenzahl: 363

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Nach ihrem Studium der Soziologie, Bildenden Kunst und Fotografie arbeitete Caroline Labusch viele Jahre als Drehbuchautorin, Konzepterin und Evaluatorin für TV-Produktionen. Heute lebt sie als freie Autorin und Künstlerin in Berlin. Die aufwendigen Recherchen zum Fall des letzten Mauertoten Winfried Freudenberg begannen im Rahmen einer Theaterproduktion des !KF Berlin, die 2016 mit dem »RBB Kulturradio« für ein preisgekröntes Hörspiel adaptiert wurde.

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Caroline Labusch

Ich hattegehofft, wir könnenfliegen

Die Geschichte einer tragischen Flucht im Frühling 1989

Nach einer Idee von: Ernst Schmid

Ein Teil der in diesem Buch geschilderten Recherchen wurde im Rahmen der Theaterproduktion Der Ballon – ein Deutscher Fall des Instituts für künstlerische Forschung Berlin (!KF) durchgeführt. www.artistic-research.de

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von Penguin Books Limited und werden

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Copyright © 2019 Penguin Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Favoritbüro

Covermotiv: © Ullstein Bild – Zentralbild / Reinhard Kaufhold; Shutterstock/AR Pictures; privat: Sabine Freudenberg

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-24039-4V001

www.penguin-verlag.de

Inhalt

1 Im November

2 Ein Mann fällt vom Himmel

3 Die Kommissarin

4 Verhaftet

5 Das Grenzsperrgebiet

6 Liebe

7 Freudenbergs Hof

8 Isoliert

9 Der Revoluzzer

10 Unterwerfung

11 Es knallt

12 Aber da war Sascha

13 Trennung

14 Freiheit

15 Schuld

16 Rekonvaleszenz

17 Unschuld

18 Zukunft

19 Märchenstadt Bad Pyrmont

20 Von der Gegenwart eingeholt

21 Die echte Sabine

22 Nahaufnahme

23 Der Unbekannte

24 Point of no return

25 Fluchtgedanken

26 Vergessen

27 Inside BStU: Winfried

28 Inside BStU: Spurensuche

29 Oberleutnant Schwartz

30 Goldgräber

31 Der Ballonexperte

32 Die Physik

33 Endlos

Anmerkungen

Bildnachweis

Dank

1

Im November

Ungefähr so:

Es war sechs Uhr abends und längst dunkel. Sabine stieg zwischen graugesichtigen Fremden die schummrig beleuchtete Treppe der U-Bahn-Station Schönhauser Allee hinab. Sie hatte einen anstrengenden und trotzdem angenehmen Arbeitstag hinter sich gebracht. Sie mochte, dass man in ihrer Gruppe einen freundlichen Umgang pflegte und dabei nicht vertraulich werden musste. Über Vergangenes wurde selten gesprochen.

Sabine hatte sich in den paar Monaten einen Ruf als hilfsbereite, sachkundige Mitarbeiterin verdient. Sie durfte zwar keine eigenen Forschungsideen umsetzen, aber der Gruppenleiter hatte ihr die Verantwortung für die Durchführung der Halbleiter-Experimente mit Silizium übertragen. Grundlagenforschung zur Weiterentwicklung der Solartechnik – eine Tätigkeit, die sie ausreichend forderte, ohne sie zu überfordern. Ermüdend waren nur die verlängerten Arbeitszeiten, mit 47 statt 43¾ Wochenstunden, denn das Institut für Physikalische Chemie setzte den Betrieb zwischen Weihnachten und Neujahr aus. Die verlorenen Tage mussten vorgearbeitet werden. Dabei herrschte gar kein Zeitdruck. Nicht nur Sabine wusste, dass der Vorsprung des Westens nicht aufzuholen war. Ob die behäbige Innovation der DDR, für die Solartechnik ohnehin keine Rolle spielte, ein paar Tage früher oder später eingeläutet wurde, war bedeutungslos.

Sabine war froh, dass sie unbehelligt in die Greifenhagener Straße einbiegen konnte. Vor nur wenigen Wochen war der Gehweg voller Menschen gewesen. Demonstranten, die sich mit Kerzen vor der Gethsemanekirche versammelt hatten, um gegen polizeiliche Willkür, Wahlbetrug, staatliche Einmischung in die Justiz und für mehr Freiheit zu demonstrieren. Das hatte Sabine verängstigt. Wie leicht hätte die Polizei sie für eine Oppositionelle halten können – und daraufhin verhaften. Nur weil sie vielleicht zufällig hinter einer Gruppe schreiender Menschen lief, die ungefähr im selben Alter waren wie sie.

Jetzt war es still auf dem Kirchplatz, und Sabine konnte ihren Gedanken nachhängen. Immer wieder tauchte Stefan darin auf. Er lachte viel, kam ihr intelligent vor und unkompliziert. Zufällig hatte sie auf der Geburtstagsfeier der Kollegin Seidel neben ihm gesessen. Sabine hatte gegen ihre Gewohnheit beschwipst herumgealbert, was ihn nicht verschreckt hatte, sondern im Gegenteil amüsiert. Er hatte sie nach ihrer Arbeit ausgefragt und sie damit überrascht, dass er verstand, was sie ihm erklärte. Selbstironisch hatte er von seinen eigenen »wichtigen Aufgaben« bei der Messe der Meister von Morgen erzählt und ernsthaft bedauert, dass sie nicht zufällig auch vorhatte, dort zu sein. Er wollte sich gleich nach seiner Rückkehr aus Leipzig bei ihr melden.

Wenn Sabine an ihn dachte, fühlte es sich an wie Verliebtsein. Es wäre ungehörig, sich auf einen neuen Mann einzulassen, das war ihr bewusst, aber die Gefühle konnte ihr niemand verbieten. So sehr sehnte sie sich danach, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen.

In der Wohnung war es so kalt wie draußen. Sabine beeilte sich, den Kachelofen im Wohnzimmer anzufeuern. Bevor sie die Jacke auszog, setzte sie in der Küche Wasser auf. Das immergrüne Elefantenohr auf der Fensterbank hatte seine letzte Blüte verloren. Sabine hob sie auf, drückte sie behutsam in die Erde, wusch sich die Hände und bestrich eine Scheibe Mischbrot mit dem süßlichen Schmelzkäse. Die Eltern hatten ihr beim letzten Besuch gleich zwei Päckchen davon mitgebracht, obwohl es ihn überall zu kaufen gab. »Den hast du doch so gern!« Sie meinten es gut mit ihr, nur half es nicht.

Die Zeit, bis der Ofen warm wurde, überbrückte Sabine mit heißem Tee und ihrer Wolldecke auf dem Sofa im Wohnzimmer. Zuverlässig spielte der Fernseher um neunzehn Uhr dreißig die Fanfare der Aktuellen Kamera. Angelika Unterlauf präsentierte die Ereignisse des Tages. Die politisch gefärbten Berichte würden nicht viel Aufschluss über das tatsächliche Geschehen geben, das wusste Sabine, so ließ sie den Bericht über die neuesten Entscheidungen des Zentralkomitees an sich vorbeirieseln: »Über den heutigen Beratungstag informierte Günter Schabowski am Abend die internationale Presse. Dabei gab er auch einen Beschluss des Ministerrates zu neuen Reiseregelungen bekannt. Demzufolge können Privatreisen nach dem Ausland ab sofort ohne besondere Anlässe beantragt werden.«

Sabine horchte auf. Nach dem Ausland?

»Die zuständigen Abteilungen der Volkspolizei sind angewiesen, auch Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen. Ständige Ausreise könne über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin-West erfolgen.«

Was war damit gemeint? Ständige Ausreise? Man soll die DDR verlassen dürfen? In die BRD reisen können? Sabine hörte das Blut in ihrem Kopf rauschen. Es folgten Meldungen aus aller Welt: die Ablösung Deng Xiaopings durch Jiang Zemin – Johannes Raus Besuch bei Egon Krenz, der seine hässlichen Zähne zeigt – BRD-Kanzler Kohl reist nach Polen. Ein leises Pfeifen betäubte ihr linkes Ohr. Sabine stand auf und trat ans Fenster: Ein älterer Herr ließ sich von seinem Dackel über die Straße ziehen. Er sah zufrieden zu, wie das Hündchen sich an einem kahlen Baum erleichterte. Auf dem Balkon der Mietskaserne gegenüber schnipste ein Mann im Bademantel gelassen seine Zigarette weg, sah sich um und zündete sich noch eine an. War die Meldung eine Halluzination gewesen?

Beinahe eine Minute zu spät wechselte sie das Programm, um sich mit den Acht-Uhr-Nachrichten der ARD Tagesschau Gewissheit zu verschaffen.

»Die abendliche Pressekonferenz von Politbüro-Mitglied Günter Schabowski plätscherte über eine Stunde so dahin …«, kommentierte der West-Reporter die Aufnahmen gelangweilt plaudernder Journalisten, »… dann, ganz am Ende, plötzlich das Thema Flüchtlingswelle und diese Mitteilung …« – Schnitt auf Schabowski – »Äh, haben wir uns dazu entschlossen, heute, äh …« – er sah unsicher zu seinem Sitznachbarn – »… eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.«

Der Kommentator wiederholte: »Auch die Berliner Mauer soll über Nacht durchlässig werden.«

Die Mauer ging auf? Sabine wagte kaum, es zu denken. Für alle? Heute? Längst verbannte Bilder aus der Zeit mit Winfried tauchten auf. Sie auszublenden, kostete Kraft.

»Ich muss morgen wieder früh raus«, sagte sie zu sich selbst. Mechanisch trug sie ihre Tasse zum Waschbecken, schloss die Ofenklappen und ging ins Bad, wo sie ihr Nachthemd anzog und sich eilig die Zähne putzte. Sie kroch in ihr Bett, löschte das Licht ihrer gelben Plaste-Lampe und vergrub das Gesicht unter der kalten Decke. »Das kann nicht sein. Das darf nicht sein.«

2

Ein Mann fällt vom Himmel

Mai. Es ist einer dieser ersten warmen Tage, die man im April so sehnsüchtig vermisst. Ich fädele mein wendiges neues Klapprad durch den Feierabendverkehr in der Friedrichstraße, radle mit geradezu ignoranter Selbstverständlichkeit von Ost-Berlin nach West-Berlin, am Kanzleramt vorbei zur Straße des 17. Juni, durchkreuze den zart blühenden Tiergarten zwischen Joggern, Strichern, Obdachlosen, Studenten und fröhlichen Großfamilien zum Zoo rüber, wo mir träge Linienbusse den Weg nach Wilmersdorf versperren.

Ernst will etwas mit mir besprechen. Bei sich zu Hause. Es gehe weder um ihn noch um mich.

Wir treffen uns selten. Unsere Freundschaft ist eine Reliquie aus den Wendejahren. Damals waren wir beide unlängst nach Berlin-Mitte gezogen – ich aus Niedersachsen, er aus West-Berlin. Neue Wessis im wilden Osten: selbst ernannte Lifestyle-Pioniere, die DDR-Möbel von den Sperrmüllbergen zerrten, um ihre WG-Küchen damit einzurichten. Morgens im Bademantel zum Bäcker; DDR-Münztelefone knacken und Ferngespräche nach Amerika führen; Cocktails trinken in Kellerbars unter Ruinen – ich im Secondhand-Lackmantel, Schlaghosen zu goldenen Sandalen; Ernst, als Wirtschaftsstudent, damals schon im Anzug. Für billige Mieten und das Aufbruch-Ost-Gefühl nahmen wir lange Wege zur Uni, zum Arzt oder Supermarkt in Kauf. Mehr Freiheitsgefühl ging nicht.

Die Stadt veränderte sich rasant: Lenin wurde in Friedrichshain geköpft, aus Filterkaffee wurde Cappuccino, aus dem staubigen Kohleofen eine knackende Zentralheizung.

Ernst wohnt längst wieder im Westteil der Stadt, wo er als Partner einer großen Beraterfirma arbeitet. Ich blieb dem Künstlerleben im metamorphischen Ost-Berliner Zentrum treu, blicke heute aus dem Küchenfenster meiner sanierten Altbauwohnung auf unbewohnte Luxus-Penthäuser und kann auf der anderen Seite zuschauen, wie sich uniformierte Privatschulkinder auf dem Spielplatz die Knie aufschlagen. Keine Spur mehr vom »Berlin, Hauptstadt der DDR«.

»Du bist zu spät …«

Angedeutete Küsse links, rechts. Ernst, in dunkler Anzughose zum gebügelten weißen Hemd, macht sich hervorragend vor der groß gemusterten Edeltapete im Wohnzimmer. Stünde da nicht wandfüllend das vollgestopfte Bücherregal und wüsste ich nicht, dass hinter dem Wohnzimmer eine selbst gebaute Küche liegt, in der ich schon Krümel gesehen habe, wäre mir Ernst suspekt. Die Krawatte hat er für mich abgelegt.

»’tschuldigung«, sage ich. »Die Busse in der Kantstraße …«

Faule Ausrede. Er überspringt sowieso den Small Talk, holt alkoholfreies Bier aus der Küche und will, dass ich mich gleich an den großen Tisch im Wohnzimmer setze, wo eine verblichene Schnappgummi-Mappe bereitliegt.

»Ich hab eine Geschichte gefunden«, sagt er. »In meiner Schublade.«

Er öffnet die Mappe mit Samtfingern und schiebt sie zu mir rüber.

»Vorsicht …«

Frechheit.

»… die bröseln schon.«

In der Mappe liegt ein Stapel vergilbter Zeitungsseiten, obenauf eine B. Z. vom 9. März 1989. Ich falte sie vorsichtig auseinander:

Der Ballontote!

»Da geht’s um eine Flucht. März 89. Ahnte man damals nicht, aber das war der letzte Berliner Mauertote. Du wirst den nicht erinnern.«

»Nie gehört.«

Es gab eine Familie in den Siebzigern, auch im Ballon geflohen. Mit Kindern in meinem Alter. Das weiß ich noch. Ich mochte den bunten Stoff, aus dem er genäht war. Und das Happy End. Ernst breitet die Artikel auf dem Tisch aus:

»Dieser Mann hatte es in der Nacht vom 7. auf den 8. März 1989 in seinem selbst gebauten Ballon über die Mauer geschafft. Erst mal unbemerkt. Der muss über die ganze Stadt gefahren sein. Und dann ist er abgestürzt. Das war’s. Acht Monate vor Mauerfall.«

»Tragisch«, sage ich, obwohl ich das nicht empfinde. Zu weit weg.

»Nachdem ich den Bericht in der SFBAbendschau gesehen hatte«, erzählt Ernst, »habe ich in alle Zeitungen reingelesen. Jeden Tag. Und wenn was drin war, gekauft.«

»Wieso?«

»Weiß ich nicht. Irgendwas hat mich irritiert. Und berührt. Willst du’s lesen?«

Die Berliner Morgenpost schrieb:

Als der Morgen dämmerte, beobachteten Augenzeugen den vermeintlichen Wetterballon, beschrieben ihn als etwa so groß wie die Sonne.1

Die taz:

Anwohner hatten beobachtet, dass der Ballon aus südöstlicher Richtung gekommen war, bevor er sich kurz vor acht Uhr morgens in dem dörren Geäst der Eichenbaumreihe auf der Mittelinsel der Potsdamer Chaussee nahe der Spanischen Allee verfing.2

Der Ballon war nachts über West-Berlin geschwebt. Die Stadt hatte geschlafen, Ernst hatte geschlafen, die amerikanischen Soldaten auf dem Teufelsberg hatten geschlafen. Der Berliner Luftraum war ja gut überwacht, nur befand sich wohl zu wenig Metallisches am Ballon, als dass der Radar ihn hätte erfassen können.3 Eine Passantin hatte die Überreste am frühen Morgen im Baum hängen sehen und der taz das Objekt beschrieben:

… eine aus vielen Einzelstücken zusammengeklebte Plastikplane, wie man sie hier zum Renovieren benutzt.4

Kriminaldirektor Dieter Piethe, Leiter des Staatsschutzes, verurteilte das Gebastel, obwohl er kaum etwas über die Herkunft oder die Verwendung des Objekts wusste:

Er war dilettantisch angefertigt.5

Auf einem Tatortfoto in der B. Z. sieht man zwei uniformierte Polizisten, die mit zwei weiteren Herren im Trenchcoat ins Gespräch vertieft sind.6 Lagebesprechung. Im »dörren« Geäst eines eigentlich ganz normalen Baums hängt die schlaffe Ballonhülle, verbunden mit einem langen Seil, an welches Bündel, Taschen, Tüten und eine Lederjacke geknotet wurden.

»Fällt dir was auf?«, fragt Ernst.

Eine Tüte trägt den Schriftzug des Bekleidungsgeschäfts Exquisit. Dort konnten DDR-Bürger zu überteuerten Preisen die etwas besseren Klamotten kaufen. Eine andere Tüte ist mit dem Logo von Dual-Plattenspielern bedruckt und kam offensichtlich nicht aus der DDR, wahrscheinlich eine Trophäe. Wo hatte er die ergattert? Meine Schwestern und ich haben damals auch Marken-Tüten gesammelt; ein herabgesetztes T-Shirt bei Marc O’Polo gekauft und die bedruckte Plastiktüte monatelang spazieren getragen. Trotzdem deprimiert mich irgendwie, dass ein toller West-Plattenspieler zum Symbol für ein besseres Leben wird.

Die Polizei vermutete, dass es sich bei den Fundgegenständen um Spuren einer DDR-Flucht handelte, nur fehlte der Flüchtling. Ballon, Tüten und Taschen wurden zur Analyse in die polizeitechnische Untersuchungsstelle gebracht. Weitere hilfreiche Puzzlesteine trudelten auf den Dienststellen ein:

Gegen Mittag las eine Bürgerin vor ihrem Haus unweit der Spanischen Allee den Personalausweis eines DDR-Bürgers auf und gab ihn pflichtbewusst bei der Polizei ab. Laut Tagesspiegel hatte ein Anwohner der Zehlendorfer Limastraße am Morgen des 8. März, gegen sieben Uhr dreißig, ein »plumpsendes Geräusch« gehört, dem aber weiter keine Bedeutung beigemessen.7 Dazu passend machte ein Zehlendorfer Professor gegen fünfzehn Uhr dreißig hinter seinem Haus einen entsetzlichen Fund: Er entdeckte in seinem Garten die Leiche eines unbekannten Mannes.

Zerschmettert in einem Gebüsch auf dem Hammergrundstück Limastraße, in unmittelbarer Nähe des Waldsees.8

Die Aufprallwucht war so groß, dass der Körper des schlanken mittelgroßen Mannes eine tiefe Delle im Erdreich zurückließ.9

Der Professor rief die Polizei. Alles passte zusammen: Das Passbild im Personalausweis zeigte den Toten, und unter den Fundgegenständen am Ballon befanden sich Dokumente, die ebenfalls dieser Person zugeordnet werden konnten: Winfried Freudenberg, geboren am 29. 8. 1956 in Osterwieck, 1,61 Meter groß, gemeldet in Lüttgenrode-Halberstadt, DDR. In mehreren Zeitungen wurde sein Passbild abgedruckt: ein sympathischer Mann mit dunklen Augen, dunklen Haaren, einem sinnlichen Mund und Vollbart.

Am Abend des 8. März 1989 wurde die Öffentlichkeit darüber informiert, dass der DDR-Bürger Winfried Freudenberg in einem selbst gebauten Ballon von Ost- nach West-Berlin geflohen und dabei abgestürzt war.

»So einsam«, sagt Ernst. »Und so real. Die Situation hinter der Grenze plötzlich ins Bewusstsein gerückt.«

Ernst ist in West-Berlin geboren und aufgewachsen. Er sagt, er habe die Teilung der Stadt im Alltag oft vergessen. Man konnte sich ja nicht tagtäglich daran stoßen. Man richtete sich ein. Und im Gegensatz zu den Ost-Berlinern waren die West-Berliner zwar eingemauert, aber frei. Mit etwas Zeitaufwand konnten sie die Stadt verlassen und reisen, wohin sie wollten; mit dem Mehrfachberechtigungsschein sogar vergleichsweise unkompliziert in die DDR. Das hat er als junger Erwachsener wahrgenommen:

Dostojewski-Romane in der Karl-Marx-Buchhandlung geshoppt, eine megalomane Friedrichstadt-Palast-Revue besucht oder sich bis Mitternacht durch bohemes Partyvolk im Prenzlauer Berg gedrängelt und die verbliebenen Münzen seiner zwangsumgetauschten 25 Ostmark in Berliner Bürgerbräu investiert. Ernst schildert »seine« DDR gerne wie einen skurrilen Freizeitpark, der 24/7 geöffnet hatte.

Ich selbst wohnte in den Achtzigerjahren im West-Harz, das war auch nicht weit von der Grenze entfernt. Ich kann mich an einen Ausflug mit Freunden zum Grenzstreifen hinter Bad Harzburg erinnern, das dürfte etwa zehn oder zwanzig Kilometer von Winfried Freudenbergs Heimatort Lüttgenrode entfernt gewesen sein. Wir stießen im Wald auf eine Lichtung mit ungemähter Wiese, voller rosa Lupinen, dahinter ein Schotterweg nach Osten, symbolisch versperrt mit einer rot-weißen Schranke und dem Schild: »Halt. Hier Zonengrenze«. Hinter den Bäumen sah man auf einem Wachturm zwei bewaffnete Soldaten. Bei aller politischen Ignoranz war uns bekannt, dass die BRD-Regierung eine Sicherung der »unrechtmäßigen« Grenze auf »unserer Seite« ablehnte. Es war eine unsichtbare Linie, die wir nicht zu überqueren wagten. Was wir uns trauten, war – drei Schritte zurück –, die Grenzer anzupöbeln. Sie reagierten nicht. Vielleicht waren es Roboter. Was sich hinter dieser Grenze befand, lag jenseits unserer Vorstellungskraft und war uns genau darum so merkwürdig egal.

Auf dem Rückweg holten wir uns eine Packung Erdnussflips und zwei Tafeln Yogurette an der Tankstelle, fläzten uns zum Wetten, dass …?-Gucken vor die Glotze auf das neue Ikea-Sofa und vergaßen nicht nur die Zonengrenze, sondern gleich die ganze DDR, auf die wir in pubertärer Überheblichkeit herabschauten, weil die da hässliche Jeans hatten.

Hinter jener unheimlichen Grenze hatte Winfried Freudenberg sein Leben verbracht und es als so defizitär empfunden, dass er sich unter Einsatz seines Lebens zu der gefährlichen Ballonflucht entschied.

Um zu erfahren, warum, nahm die Berliner Morgenpost zu Winfrieds Bruder Reinhold Freudenberg Kontakt auf. Er war der einzige Verwandte oder Vertraute, den Journalisten sowohl ermitteln als auch erreichen konnten, unter anderem weil er – das war in der DDR keine Selbstverständlichkeit – ein Telefon besaß. Die Zeitung berichtete stolz, dass nicht die Behörden der Familie die Hiobsbotschaft überbrachten, sondern die Berliner Morgenpost. Die Zusammenfassung des Telefonats bestand in nur vier Sätzen:

Der Bruder des ums Leben gekommenen Flüchtlings erfuhr gestern Abend von der Berliner Morgenpost, welche Tragödie über die Familie hereingebrochen ist. Wie der Angehörige sagte, hatte Winfried Freudenberg im Oktober vergangenen Jahres die Chemikerin Sabine, die Mitte zwanzig ist, geheiratet. Das Ehepaar wohnte aber nicht in Lüttgenrode, sondern in der Christburger Straße im Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg. Freudenberg war als Diplomingenieur beim Energie-Kombinat beschäftigt. Er war Besitzer eines Trabant.10

»Komisches Telefonat«, sage ich.

»Der Bruder wusste bestimmt, dass er abgehört wird«, sagt Ernst.

Ich überlege: »Trabant heißt, Winfried hatte Geld. Oder war sonst irgendwie begünstigt. Berliner heißt, er war vielleicht ein bisschen weltoffener?«

»Weltoffen, weil aus Ost-Berlin …!?«

Okay, nein, weiß man nicht. »Aber er kann kein Vollidiot gewesen sein. Sonst hätte ihn niemand geheiratet.«

Ernst lacht. »Ich war auch schon mal verheiratet.«

»Und du bist kein Idiot«, sage ich, »nur ein Spinner.«

Das findet er nicht lustig.

»Ein perfektes Team«, sagt er. »Ingenieur und Chemikerin.«

»Aber er ist ohne sie geflogen.«

»Vielleicht«, sagt Ernst, als wüsste er’s nicht längst. Er will, dass ich selbst weiterlese.

In einem weiteren Artikel der Berliner Morgenpost wurden Gegenstände aufgezählt, die man in Freudenbergs Gepäck gefunden hatte: ein Sparbuch, hohe Bargeldbeträge in Ost- und Westmark, eine Musikkassettensammlung mit Rock- und Pop-Mainstream der Achtzigerjahre: Dire Straits, Pink Floyd, Phil Collins, Sade; allerhand merkwürdiger Kleinkram wie ein Fahrschein, 20 Pfennige, eine Schachtel Pfefferminzbonbons aus dem Westen.

Allerdings wurden die Beamten des inzwischen eingeschalteten polizeilichen Staatsschutzes misstrauisch, als sie unter den Kleidungsstücken auch Strumpfhosen und Damenpullover fanden.11

Nicht nur das. Man hatte auch persönliche Dokumente von Winfrieds Ehefrau Sabine zwischen den Sachen entdeckt. Die Vermutung lag nahe, dass sie ihren Mann auf dem Flug begleitet hatte.

Die Bild-Zeitung titelte:

Ballonflucht! Einer tot. Wo ist Sabine?12

Man fürchtete, dass sie mit ihm abgestürzt und dabei ebenfalls gestorben war. Sollte sie überlebt haben, musste sie dringend gefunden werden. Die Gegend um den Waldsee hinter der Limastraße wurde durchkämmt, die Bevölkerung zur Mithilfe aufgerufen. Bei der Bild-Zeitung war ein Hinweis eingegangen:

Zeugen wollen beobachtet haben, dass Grenzposten mittwochfrüh mit Leuchtkugeln und Schnellfeuergewehren auf den Ballon schossen. Dabei soll Sabine Freudenberg abgestürzt und auf einer Trage weggebracht worden sein.13

Die Morgenpost dementierte das:

Derartige Erkenntnisse liegen der Polizei nicht vor.14

Sabine war spurlos verschwunden, Reinhold Freudenberg verstummt. Man wusste nichts über das Ehepaar. Und doch herrschte unter Politikern und Pressevertretern Einhelligkeit über Fluchtmotiv und Bedeutung der Tat. Die Welt schrieb:

Ein Mensch ist von Ost nach West in den Tod geflogen. Ein Drama am Himmel über Berlin. Wie viel Verzweiflung muss in ihm geherrscht haben, wenn er sich einem so primitiven Fluggerät wie diesem selbstgebastelten Ballon anvertraut, um die Mauer zu überwinden.15

Die Deutsche Presse-Agentur meldete, dass das Ministerium für innerdeutsche Beziehungen bestürzt sei:

Die Regierung der DDR trage auch für diesen Fall die volle Verantwortung. In ihrer Hand liege es, die Situation der DDR so zu gestalten, dass Menschen sich nicht gezwungen sähen, ihre Heimat zu verlassen.16

Walter Momper, damals Berliner Bürgermeisterkandidat kurz vor den Wahlen, erzählte der Morgenpost, dass er Konsequenzen fordere:

Die DDR-Führung müsse sich fragen lassen, was für soziale und politische Verhältnisse in ihrem Land herrschen, wenn Menschen sich zu einem solch gefährlichen Schritt entschließen.17

Die Welt schloss sich dem Vorwurf an:

Der Tote von Zehlendorf ist nur die sprichwörtliche Spitze des Eisberges von Ausreisewünschen.18

Die Morgenpost sang ein Klagelied:

Das Ziel schon dicht vor Augen, noch den Tod zu finden, erfüllt dieses Schicksal zwischen Himmel und Erde, zwischen Ost und West, zwischen Diktat und Freiheit mit besonderer Tragik.19

Ich denke an die vielen Menschen, die heute unter Einsatz ihres Lebens nach Europa fliehen. Dort, wo sie herkommen, sind viele Menschen so existenziell bedroht, dass es beim Verlassen der Heimat oft ums nackte Überleben geht. Überall ist es besser als dort, wo man umgebracht wird oder verhungert.

Existenzielle Bedrohung gab es auch in der DDR, das ist bekannt, aber nicht in dem Ausmaß, dass sich die gesamte Bevölkerung im Alltag bedroht fühlte. Einzelpersonen erlebten aus verschiedensten Gründen stärkere Einschränkungen und Demütigungen als die breite Masse. Was genau hatte Winfried Freudenberg wohl erlebt, dass die Notwendigkeit, seine Heimat zu verlassen, so groß wurde, dass er sein Leben dafür aufs Spiel setzte?

Diese Frage hätte die westdeutsche Presse gerne beantwortet. Nur war der Flüchtling tot, seine Frau vom Erdboden verschluckt, und aus dem Osten kam erwartungsgemäß keine Stellungnahme. Die Polizei konnte nur versuchen, sich anhand der gefundenen Gegenstände ein Bild zu machen, zum Beispiel über die Analyse des Ballons:

Dessen 38,2 Kilogramm schwere Hülle bildete eine Kugel, eigentlich ein Ellipsoid, von ungefähr elf mal elf mal dreizehn Metern, montiert aus durchsichtiger Plastikplane und Klebefilm.20 Eine Füllung mit Heißluft wurde nicht nur wegen des fehlenden Brenners ausgeschlossen, sondern auch, weil die Plastikfolie einer Erhitzung nicht standgehalten hätte. Der Ballon musste mit Gas gefüllt worden sein, nur mit welchem?

»Hast du einen Taschenrechner?«, frage ich Ernst, weil ich das Volumen ausrechnen will und mein Handyrechner kein Pi kennt. Ernst geht zu seinem kleinen Schreibtisch am Hoffenster und zieht aus dessen Wunderschublade, in der er schon die alten Zeitungen gefunden hatte, einen Texas Instruments T6974S. Er geht sogar. Produkt aus den drei Halbachsen mal 4/3 Pi …

»824!«

»824 was?«, fragt Ernst.

»Da passten 824 Kubikmeter Gas rein.«

»Ja und?«

»Das ist viel. Oder nicht?«

Genau aus diesem Grund hatten Polizei und Presse eine Füllung mit Helium verworfen, denn Helium ist so leicht, dass es einem Ballon dieser Größe unnötig viel statischen Auftrieb verliehen hätte. Außerdem ist Helium irre teuer und war in der DDR schwer zu beschaffen. Die Morgenpost brachte Wasserstoff und Acetylengas ins Spiel, weil Freudenberg das selbst hätte herstellen können.21 Allerdings ist Wasserstoff noch leichter als Helium und hochexplosiv – ein Schuss, und Freudenberg wäre sein komplettes Gefährt um die Ohren geflogen. Acetylengas, das man zum Schweißen verwendet, ist hochgiftig und viel zu schwer. Das hätte allenfalls gereicht, den Ballon und die Strippen zu tragen, ohne Last.

Es blieb auch unklar, wie Freudenberg hatte landen wollen. Sogar ein Kind weiß, dass man die Füllung ablassen muss, um einen Gasballon zu landen. Man konnte nicht erkennen, wie das hätte erfolgen sollen. Sollte Freudenberg, der Ingenieur, daran nicht gedacht haben?

Das Ballon-Ellipsoid war zur Stabilisierung von einem handgeknüpften Netz aus Plastikschnüren umspannt. Dieses Netz mündete in ein festes Seil, an welches Freudenbergs Gepäck, also die Bündel, Tüten und die Lederjacke, geknotet waren.

In der polizeitechnischen Untersuchung wurde am Ende des Seils auch ein Sitz entdeckt. Er bestand aus einem vierzig Zentimeter langen, abgesägten Besenstiel. Darauf hatte Freudenberg sitzen können, das Seil zwischen den Beinen. Die Füße baumelten frei, fast wie bei einem Zirkusartisten. Unter ihm war also kein Korb, sondern nichts als die Tiefe. Als Sicherung hatte man die Lederjacke identifiziert, weil diese fest mit der Schnurkonstruktion verknotet war. Da musste Freudenberg irgendwie herausgerutscht sein.

Ernst rekapituliert, wie ein Ballon angetrieben wird:

»Das Gas lässt ihn nach oben fliegen. Und in der Horizontalen bewegt er sich mit dem Wind. Der Fahrer kann die Richtung nur indirekt beeinflussen, indem er durch Auf- oder Absteigen versucht, die richtige Luftströmung zu erwischen.«

»Man kann den nicht lenken?«, frage ich.

»Die Physikertochter«, spottet Ernst. Das Arztsöhnchen.

Zufällig war auf dem Gelände des West-Berliner Flughafens Tegel eine Tasche mit Geldscheinen und Münzen gefunden worden, die man Freudenberg zuordnete. Nach dem Auffinden dieser Tasche wusste man, dass der Ballon irgendwann vom nördlich gelegenen Stadtteil Tegel ins südlich gelegene Zehlendorf getrieben war. In Bodennähe gab es aber in der Nacht vom 7. auf den 8. März keinen Wind, der nach Süden wehte, sondern nur ganz weit oben.22 Ein hinzugezogener Meteorologe hielt es für erwiesen, dass Freudenberg mindestens diese letzte Teilstrecke in 3000 Meter Höhe zurückgelegt hatte, und zwar bei minus sechs Grad Celsius. Die B. Z. schlussfolgerte:

Ballonflüchtling in 3000 Meter Höhe vom Frost gelähmt.23

Dabei wurden laut Tagesspiegel in der Obduktion keine Erfrierungen festgestellt.24

Ich stelle mir Winfried Freudenberg vor, den netten bärtigen Mann, wie er mutterseelenallein über die nächtliche Stadt Berlin fliegt. Der Traum von Schwerelosigkeit ist in Erfüllung gegangen, doch die Euphorie darüber schnell verflogen. Winfried sitzt steif vor Kälte auf seiner Schaukel, wagt den Blick nach unten, sieht die Lichter von West-Berlin kleiner und kleiner werden.

Mir fällt dieser Hollywood-Film Gravity ein, mit Sandra Bullock als Astronautin Dr. Ryan Stone und George Clooney in der Rolle ihres Kollegen Matt Kowalski. Bei einer Mission im Weltall geht ihr Raumschiff kaputt. Die beiden fliegen aneinander gegurtet in Raumanzügen durchs All und versuchen, sich in eine andere Raumstation zu retten. Von dort aus könnten sie vielleicht zurück auf die Erde geholt werden. Die Chancen schwinden, als Kowalskis Raumanzug keinen Treibstoff mehr hat. Er löst die Gurtverbindung zu Stone und lässt sich frei im Weltraum treiben, genießt die letzten Momente größtmöglicher Freiheit, bevor er unweigerlich sterben wird. Stone hingegen kämpft mit letzten Kräften um ihr Leben. Schließlich gelingt es ihr, in eine Raumkapsel zu klettern, die nach dem Durchbrechen der Atmosphäre mit ungeheurer Geschwindigkeit Richtung Erde saust. Die Kapsel schlägt auf. Stone überlebt.

Was für ein Typ war Winfried Freudenberg? Ein Kowalski oder eine Dr. Stone? Aufgeben und fallen lassen? Oder ums Überleben kämpfen? Darüber wurde auch in den Zeitungen spekuliert:

Etwa 40 Minuten nach dem Passieren des Flughafens Tegel muss […] die Hoffnung in Verzweiflung umgeschlagen sein. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Freudenberg östlich der Krummen Lanke. Dort konnte er in der weit fortgeschrittenen Morgendämmerung die Grenze zum Kreis Potsdam sehen. Auf sie trieb er unaufhaltsam zu.25

Handelte er in Panik angesichts der vor ihm auftauchenden DDR-Grenze […]? Glaubte er schon tief genug zu sein, um abspringen zu können?26

»Was würdest du tun, wenn du merkst, du kommst nicht mehr runter?«, fragt Ernst.

»Ich würde mich gar nicht erst an so einen Ballon hängen!«

Und wenn ich dranhinge, in 3000 Metern Höhe, bei minus sechs Grad, dann würde es für mich keine Rolle mehr spielen, ob ich dort lande, wo es geplant war. Hauptsache, lebend. Allerdings bin ich nicht Freudenberg.

B. Z.:Es kann sein, dass der Flüchtling in den Waldsee springen wollte, ihn aber verfehlte.27

Bild:In seiner Angst versagten die Kräfte. Er ließ die Halteseile los, rutschte von der kleinen roten Plastikstange, auf der er gesessen hatte.28

Berliner Morgenpost: Seine einzige Chance auf eine Landung im Westen bestand darin, ein Loch in die Ballonhülle über ihm zu stoßen, damit Gas entweichen konnte. Dabei muss er den Halt verloren haben, aus seiner mit dem Trag-Geschirr verbundenen Lederjacke gerutscht und in die Tiefe gestürzt sein.29

Am 11. März glaubte die B. Z., dass die Konstruktion in letzter Sekunde versagte:

Der Ballon platzte und riss den Mann zur Erde.30

Während Ernst auf Google Maps den Waldsee sucht und feststellt, dass er direkt an das Grundstück in der Limastraße grenzt, zappe ich auf meinem Telefon durch verrauschte Amateuraufnahmen der weltbesten Klippenspringer: Blick in die Tiefe – oben der Springer, unten, winzig klein, das Wasserbecken eines gestauten Wildbachs. Dann der Sprung: sprudelndes Eintauchen, Anspannung unter den Schaulustigen. Endlich taucht er auf und taumelt ans Ufer. Er hat den Rekord geknackt: fünfzig Meter. Nicht 3000.

Die Physikertochter in mir googelt nach Geschwindigkeit im freien Fall: Wurzel aus dem Produkt von 2 mal Strecke mal Erdbeschleunigung wäre bei 3000 Metern: Wurzel aus 6000 mal 9,81 … – der schwächelnde Taschenrechner kriegt das mit seinen halb blinden Solarzellen gerade noch hin.

»242,61 Meter pro Sekunde, oder in Stundenkilometern: 873,396!«

»Im Vakuum«, sagt Ernst. »Du musst die Reibung einpreisen.«

»Ja, ja, klar«, sage ich chefig, dabei hatte ich’s vergessen. Ich werde eine E-Mail an meinen Freund Larry Boyle* schicken, ein Kollege meines Vaters, der dessen Platz als mein persönliches Mathe-Physik-Kompendium eingenommen hat. Mir ist nämlich so, als basierten die Spekulationen in den Zeitungen auf ziemlich oberflächlich zusammengestoppeltem Fachwissen.

Der Tagesspiegel brachte die Möglichkeit ins Spiel, dass Freudenberg auf den letzten Kilometern seiner Ballonfahrt Symptome von Höhenkrankheit entwickelt hatte: euphorische Zustände und Nachlassen des Reaktionsvermögens. Die Morgenpost glaubte, ein Indiz dafür gefunden zu haben, dass Winfried der Panik bewusst vorgebeugt hatte:

Im Sand steckten zwei angebrochene Folien mit dem Beruhigungsmittel Bromhexin – Winfried Freudenberg hatte vor dem Start vermutlich mehrere der blauen Pillen eingenommen.31

»Er hat Ostblock-Drogen geschmissen«, sage ich.

»Alles Spekulation«, murmelt Ernst vor sich hin.

Endlich kam der Hinweis auf Sabine. Die staatliche DDR-Nachrichtenagentur ADN veröffentlichte zwei Tage nach Winfrieds Absturz eine Meldung, die auch in den westdeutschen Tageszeitungen abgedruckt wurde:

wie westliche medien melden, wurde in berlin (west) ein buerger tot aufgefunden. Die ehefrau des betroffenen hat gegenueber den behoerden der ddr bestaetigt, dass ihr mann mit einem selbstgefertigten ballon aufgestiegen und offensichtlich abgestuerzt sei.32

»Mehr wurde über die Frau damals nicht berichtet«, sagt Ernst.

»Die wurde abgeschottet«, vermute ich. »Lebt sie noch?«

»Wenn sie Mitte zwanzig war, ist sie jetzt fünfzig plus. Ich weiß es nicht. Willst du noch ein Bier?«

»Och, nö. Danke.«

Seine Maßnahme, Alkohol trinken nicht zur Routine werden zu lassen, ist ja nicht schlecht. Nur muss man sich an den Geschmack von Jever Fun erst gewöhnen. Ich wüsste auch gar nicht, wo ich’s abstellen soll. Über den ganzen Tisch sind die Zeitungsseiten verteilt. Ernst schwenkt mit der Hand über die Titelseiten vom 9. und 10. März:

»Hier ist Freudenberg noch Titelstory. Dann rutscht die Geschichte langsam nach unten, verschwindet von der ersten Seite – und nach einer Woche kam gar nichts mehr.«

»Ähm … ist das nicht immer so? Bei allen Meldungen?«

Der Fall Freudenberg konnte ja nicht monatelang Titelstory bleiben.

Er überlegt. »Ja, vielleicht.« Und überlegt weiter.

»Aber ich habe das Gefühl, die Geschichte ist schneller verschwunden als andere. Und man hat nie wieder über den gesprochen.«

»Antiheld«, tippe ich. »Die Leute stehen mehr auf gelungene Fluchten.«

»Chris Gueffroy hat’s auch nicht geschafft. Den kennt man. Den halten ja viele für den letzten Mauertoten. Obwohl Freudenberg danach kam.«

Na ja, letzter Mauertoter zu sein, ist kein Statussymbol.

»Identifizierst du dich mit ihm?«, frage ich.

»Überhaupt nicht«, sagt Ernst. Was ich lustig finde. Es steht außer Frage, dass er wie der Held seiner Zeitungsmeldungen ungewöhnliche Herausforderungen liebt. Vor vier Jahren hat er zu einer Milchtüten-Sammelaktion aufgerufen. Daraus wollte er ein Floß bauen und im Herbst über den Teufelssee rudern. Nur so. Ausgestattet mit einem Neoprenanzug und vor einem Publikum aus ungefähr dreißig Freunden versank er an einem kalten Herbsttag mit seinem kunstvoll zusammengeknoteten Milchtütenfloß erst einmal knietief im See. Dann schaffte er es, in einer halb liegenden Position gute hundert Meter zu rudern, um sich am Zielort trocken reiben und ausgiebig feiern zu lassen. Es schien nicht mal die Sonne, gleichwohl war es ein wunderbarer Nachmittag.

»Ich habe bei der Pressestelle der Polizei angerufen«, sagt Ernst. »Die waren ausgesprochen freundlich. Ich natürlich auch. Und jetzt kommt’s: Die Kommissarin, die den Fall damals betreut hat, ist noch im Dienst: Marianne Teichmann*. Die versuchen, ein Treffen zu organisieren.«

»Ein Treffen mit dir.«

»Ja. Mit mir.«

»Du hilfst ihr, den Fall noch einmal aufzurollen und die Lücken zu schließen«, spotte ich und grinse blöde.

Ernst bleibt völlig gelassen: »Kommst du mit?«

* zu allen * siehe Anmerkung *

3

Die Kommissarin

Die DDR ging mir damals am Arsch vorbei. Denke ich nur. Sage ich nicht. Ist beschämend, ja, aber es war so. Während Ernst, der nur ein paar Jahre älter ist, sich in regelmäßigen Abständen unter die Ost-Berliner Bevölkerung mischte und gebannt das Schicksal von Menschen wie Winfried Freudenberg verfolgte, war ich länger als vorgesehen in der Spätpubertät verkeilt. Ich schmiegte mich verliebt an meinen ersten Freund, wenn er auf seiner XT500 Crossroad durch den Tannenwald raste; erfand Haschkeksrezepte; schaute Denver-Clan und las Hermann Hesse. Kalter Krieg war Stoff für Rocky IV. Meine Eltern waren friedensbewegt, das reichte für die ganze Familie.

Heilfroh, das Abi hinter mich gebracht zu haben, verließ ich rein zufällig am 9. November 1989 mein verregnetes Heimatdörfchen und trampte mit meinem besten Freund, einem halb iranischen Buddhisten, Richtung Fernost. Unser erster Stopp war eine Studenten-WG in München. Gegen neunzehn Uhr dreißig klingelte das Telefon, und die Schwester unserer Gastgeberin meldete aus Berlin: »Die Mauer ist auf.« Im Fernsehen sah man Bilder der Menschenmassen. Wie sie sich gegenseitig über die Mauer hievten und sich tränenüberströmt in die Arme fielen. Spektakulär. Und hatte gar nichts mit mir zu tun. Weitertrampen bis Istanbul, Bus nach Ägypten, Flug nach Indien, wo die Menschen freudestrahlend gratulierten: »Germany, now happy?« – »Yes, yes«, sagte ich, weil ich wusste, dass das die richtige Antwort ist.

Als ich zurückkam, war die Mauer längst in kleine Stücke gehackt worden und auf die Bauchläden der Souvenirverkäufer verteilt. Ernst hatte unterdessen eine sensationelle Veränderung seiner Lebensbedingungen in West-Berlin erfahren, wobei die Sensation natürlich nicht im Geringsten an die Veränderungen für die Menschen in der DDR heranreichte.

Vielleicht habe ich Ernst versprochen, mich dem Treffen mit Frau Teichmann anzuschließen, weil ich was nachzuholen habe. Vielleicht, weil ich merkwürdige Geschichten mag. Fest steht, dass ich auf keinen Fall die Gelegenheit verpassen will, mich mit einer echten Mordkommissarin zu unterhalten. Egal, worum es geht. Sie hat den Loretta-Biergarten am Wannsee vorgeschlagen, weil der auf ihrem Heimweg liegt.

Biertische im Halbschatten riesiger Kastanienbäume; Kellnerinnen rascheln über den Kies und verteilen Brezen, Bier und Weißwurst an fröhliche Gäste, die »Bayern in Berlin« spielen. Ernst, direkt vom Büro in die S-Bahn, trägt wie immer Anzug und Krawatte; ich ein kurzärmliges Sommerkleid, weil ich auf meiner winterbleichen Haut so viel Sonne wie möglich einfangen will. Auf Ernsts dringenden Wunsch hin sind wir viel zu früh da – ich bestelle Eiskaffee, er Fanta – und überbrücken das Warten mit belanglosem Small Talk über die Öffentlichkeitsarbeit der Verkehrsbetriebe und den Ausbau des Berliner Telefonnetzes, was Ernst weniger zu quälen scheint als mich.

»So unwahrscheinlich das auch scheint«, sagt er plötzlich, »ich glaube, es ist die Brünette da.«

Eine hell gekleidete Dame Mitte fünfzig sieht sich suchend um. Er hebt die Hand, sie nickt und steuert auf uns zu.

Marianne Teichmann ist silberdurchwirkt: Strasssteinchen funkeln auf der geschwungenen Brille; schillernde Bluse; die braunen Haare silbergrau durchsetzt; überall Schmuck; der glitzernde Lack ihrer Fingernägel reflektiert das Grün des Kastanienbaums, unter dem wir sitzen. Sie begrüßt uns förmlich, bestellt einen großen Milchkaffee und demonstriert bei aller Gesprächsbereitschaft eine gewisse Reserviertheit. Eine Mordkommissarin ist keine Plaudertasche.

»Erinnerung darf man nicht mit der Realität verwechseln«, sagt sie in durchsetzungsstarkem Tonfall. »Ich will hier keine falschen Angaben machen.«

Darum hat sie auch die Kopie einer Akte aus der Polizeihistorischen Sammlung dabei.

»Sie gucken da bitte nicht rein!«

Ich klebe an ihren leuchtend rot geschminkten Lippen.

»Ist ja nicht der einzige Tote, den ich in meinem Leben gesehen habe. Trotzdem! Der war ungewöhnlich. So was vergisst man nicht. Der war ja runtergefallen. Sah aber nicht aus wie einer, der vom Hochhaus gesprungen ist.«

»Der wie aussieht?«, fragt Ernst, während ich so gucke, als wüsste ich’s.

»Na, da sind die Glieder so verdreht. Weil die Gelenke überdehnt sind. Und alle Knochen gebrochen. Das war bei dem nicht. Also, man sah es von außen nicht.«

Teichmann erinnert einen kalten, hellen Tag. Das Grundstück in der Limastraße grenzte auf der einen Seite direkt an den Waldsee, auf der anderen an ein Gebüsch. Davor lag der Tote, in die Erde gedrückt, das Gesicht zum Boden.

»Die Arme nach unten«, sagt sie, »am Körper. Ganz kompakt. Und mit der ganzen Fläche in den Boden gerammt, mindestens fünfzehn Zentimeter. Der muss gefallen sein wie ’n Stein.«

»Ein Anwohner hat das Plumpsen gehört«, sage ich.

»Aha.«

»Stand in der Zeitung. Damals.«

»Dann frage ich mal die Bundesanstalt für Materialprüfung, was passiert, wenn die ’n Siebzig-Kilo-Sack vom Turm schmeißen. Das hört der Nachbar nicht.«

»Aus 3000 Meter Höhe?«

»Na, wenn Sie schon alles wissen.«

Ich bin jetzt schon eingeschüchtert. Umso mehr blüht Ernst auf:

»Gibt’s mehr Erinnerungen? An den Tatort?«

»Wir haben die Leiche vorsichtig umgedreht. War nicht so demoliert, wie man jetzt denken würde. ’n ganzer Mensch. Wenig Blut. Pättie* hat den identifiziert. Mein Kollege.«

Sie sucht hinter der glitzernden Brille nach Bildern.

»’ne Cordhose hat er angehabt. Und ’n rosa Hemd. An die abgerissene Armbanduhr erinnere ich mich.«

»Keine Jacke?«, frage ich.

»Wieso?«

»Die Lederjacke, mit der er gesichert war.«

»Der hatte keine Jacke an!« Sie blättert in der Akte nach Tatortfotos. Ich versuche unauffällig, einen Blick zu erhaschen, woraufhin sie den Ordner leicht nach oben kippt.

»Die hing ja am Ballon«, sagt Ernst.

»Ganz genau.« Sie hat ein Foto gefunden.

»Ging mit dem restlichen Krempel in die PTU. Und er in die Blechwanne zu Professor Weber*.«

»Professor Weber?«, fragt Ernst.

»Na, Professor Dr. Dr. Weber. Sagt Ihnen nichts?«

Ihre Verachtung ist nicht zu überhören.

»Solche Fälle hat der höchstpersönlich untersucht.«

Sie rührt mit funkelnden Nägeln ihren Kaffee um.

»Und wir wollten die Frau finden. Die Amerikaner sind mit dem Hubschrauber los, wir durften ja selber nicht fliegen. Ich weiß nicht mehr, ob wir Taucher geschickt haben. Durchsagen haben wir gemacht.«

»Mit welchem Text?«, frage ich.

»Wollen Sie den jetzt aufgesagt haben?«

Ich lache. Sie lässt sich nicht lumpen:

»›Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei!‹ Dann warten. Bis die Küchenfenster auf sind. ›Gesucht wird eine Frau, Mitte zwanzig, die möglicherweise bei einem Fluchtversuch abgestürzt ist. Die Polizei bittet um Hinweise.‹ Das spricht sich dann schon rum. Die Leute melden sich … – vor allem, wenn sie nichts gesehen haben.«

Sie blättert in der Akte und bleibt an einem der Dokumente hängen.

»Schmauchspuren. Genau. An den Plastiktüten. Kam natürlich der Verdacht auf, dass Schüsse gefallen sind. Dann hier, so ’n Zeuge: ›Ein Herr Koschel gibt an, dass er von seinem Balkon aus einen bewaffneten sowjetischen Hubschrauber beobachtete. Zirka fünf Minuten später, nachdem der sowjetische Hubschrauber wieder abgedreht hatte, beobachtete er an gleicher Stelle einen britischen Hubschrauber. Über diesem erkannte er einen Ballon. Er sah die Hülle des Ballons in der Sonne silbrig aufleuchten.‹«33

Ernst sieht sie fassungslos an. »In West-Berlin?«

»Na klar«, sagt Frau Teichmann. »Ihr Nachbar da will um sieben Uhr dreißig einen Aufprall gehört haben. Und dieser Herr Koschel sieht den Ballon noch silbrig aufleuchten, wenn er schon längst in der PTU