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Firas Alshater ist ein ganz normaler Berliner mit Hipsterbart und Brille, ein Comedian und erfolgreicher YouTuber. Nur, dass er bis vor zwei Jahren in Syrien für seine politischen Videos sowohl vom Assad-Regime als auch von Islamisten verhaftet und gefoltert wurde. Erst die Arbeit an einem Film erbrachte ihm das ersehnte Visum für Deutschland, und Firas betrat den größten Kokon der Welt: den Westen. Seitdem versucht er, uns zu verstehen: das Pfandsystem, private Briefkästen, Fahrkartenautomaten und die deutsche Sprache ("Da reicht ein Leben nicht für"). Doch als sein Bruder mit Familie über das Mittelmeer nach Europa kommt, erkennt Firas: Ich bin schon total deutsch. Kann also noch was werden mit uns und diesem neuen Land. Von seinen Erlebnissen in Deutschland und Syrien erzählt Firas witzig, tragikomisch, offen und immer liebenswert frech.
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Das Buch
»Ich habe genug Hass gesehen. Mit Lachen und Humor erreicht man viel mehr.«
Mit seinem Video »Wer sind diese Deutschen?« erreichte Firas Alshater in wenigen Tagen mehr als eine Millionen Menschen bei YouTube und Facebook. Er ist vor Krieg, Terror und Gewalt in Syrien geflohen und kam nach Deutschland. Hier versucht er nun, sich ein neues Leben aufzubauen. Doch musste er sich zunächst an die deutschen Eigenarten und die Sprache gewöhnen.
Aber lieber Deutsch lernen als Folter in Syrien, sagt Alshater mit einem Augenzwinkern. Denn seinen Humor hat er sich bewahrt, obwohl er mit seinen fünfundzwanzig Jahren schon viel erlebt hat: Er wuchs behütet in Damaskus auf, studierte Schauspiel. Dann kam die syrische Revolution, Alshater wurde verhaftet und gefoltert. Er ist froh, heute in Deutschland zu leben.
In seinem Buch schildert Ashater mit viel Humor und ernstem Kern, was es heißt, als Flüchtling in unser Land zu kommen und sich an das Leben hier anzupassen. Er zeigt, was er an uns Deutschen schätzt und warum es sich lohnt, ihm zuzuhören.
Seine Botschaft lautet: Zusammen schaffen wir das.
Der Autor
Firas Alshater, geboren 1991 in Damaskus, studierte Schauspiel. In der Revolution gegen Baschar al-Assad entschied sich der Freiheits-Aktivist, mit der Kamera zu arbeiten. Er wurde in dieser Zeit mehrfach vom syrischen Regime verhaftet und brutal gefoltert. Für diverse internationale Nachrichtenagenturen produzierte Alshater Videobeiträge. Seit 2013 lebt er in Berlin. Gemeinsam mit Jan Heilig drehte er den Dokumentarfilm Syria Inside sowie diverse YouTube-Videos für die Webserie Zukar, durch die er weltweit in den Medien Beachtung fand. Firas Alshater beginnt im Herbst 2016 sein Filmstudium in Potsdam. Er glaubt unerschütterlich daran, dass Integration funktionieren kann.
www.firasalshater.de
Firas Alshater
ICHKOMM AUF DEUTSCHLAND ZU
Ein Syrer über seine neue Heimat
ullstein extra
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ISBN 978-3-8437-1453-2
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016Covergestaltung: © ZERO Werbeagentur, MünchenCoverfoto: © Harald GeilFotos im Innenteil: © Firas Alshater / Jan Heilig
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Über das Buch und den Autor
Titelseite
Impressum
VORWORT
IKAMEL
TAG EINS IN DEUTSCHLAND
ONKEL, TANTE, TERRORIST
SÜSSE DROGE FREIHEIT
DER UNBEKANNTE HEIMKEHRER
CONNECTIONS
PRIVATPATIENTEN HABEN’S LEICHTER
KEIN WEG MEHR ZURÜCK
IISTEIN
WARTEN FÜR PROFIS
NIEMANDSLAND
LIFE IS TOO SHORT TO LEARN GERMAN
WAS WILLST DU MAL WERDEN, FIRAS?
INTEGRATION PER STEMPEL
MEIN ERSTER HATER
FIVEHUNDRED MAILS
IIICHAMÄLEON
ERST DIE BRAUSE, DANN DIE SAUSE
WEITERLEBEN
WIR SITZEN NICHT IM SELBEN BOOT
DAS MEER, DAS UNS TRENNT
WER SIND DIESE DEUTSCHEN?
TRÄUME UND TRAUMA
IVTÄNZER
DER TANZ AUF DEM VULKAN
DIE WAHRHEIT ÜBER 9/11
DER BLUTIGE BAUER
SCHLIMMER ALS SCHLÄGE
HINGERICHTET
DER ERSTE ABSCHIED
KRANKENHAUS DES TODES
VDAS TIER MIT DEM DRITTEN AUGE
SANTA CLAUS
DIE SCHLANGE
ANGST REGIERT
REGULÄRE MÖRDER
SÜSSE AUSZEIT VOM SALZIGEN ALLTAG
DIE KAMERA EINES TOTEN
ICH KOMM AUF DEUTSCHLAND ZU
VIPLÖTZLICH YOUTUBE-STAR
»DU BIST DOCH DER TYP VON DEM VIDEO!«
DER MEDIEN-HURRIKAN
WAS ICH ZU SAGEN HABE
INTEGRATION IST ZUKAR-SÜSS
DEUTSCHES BROT
SCHWARZER HUMOR UND ROTES BLUT
VIISHUFI MAFI?
SHUFI MAFI DEUTSCHLAND?
SHUFI MAFI SYRIEN?
SHUFI MAFI FIRAS?
DANK
KARTE VON SYRIEN
Bildteil
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Liebe Leserinnen und Leser,
eigentlich wollte ich ein Buch über Bartpflege schreiben. Aber dann habe ich mir gesagt, dass nicht jeder einen Bart hat – oder überhaupt Bärte mag. Wir Menschen sind doch alle ganz verschieden. Das ist ja auch viel lustiger.
Wir brauchen ja niemanden deswegen auszugrenzen, nur weil ihm kein Bart wächst, oder? Kann er – oder sie – ja nix dafür. Es kann ja auch niemand etwas dafür, wo er – oder sie – geboren wurde. Manche werden in Deutschland geboren – da können die auch nichts dafür. Manche werden in einem Land geboren, in dem Krieg herrscht. Den sie nicht angefangen haben. Manche werden sogar von dort vertrieben, wo sie geboren sind. So ging das mir und vielen anderen auch.
Dann wollte ich ein Fotobuch machen – mit Bildern aus meiner Heimat Syrien. Dort habe ich über Jahre hin Fotos gemacht, von der Revolution und den Kämpfen, von der Zerstörung. Aber dann dachte ich wieder: Es gibt zigtausend solcher Bilder im Internet und in Zeitungen. Vielleicht können manche das nicht mehr sehen – es ist immer dasselbe. Vielleicht geht es auch anders?
Also habe ich ein humorvolles Buch gemacht. Denn als ich nach Deutschland kam, habe ich gelacht. Über die Freiheit, über die Rettung und auch über diese Deutschen. Und ich dachte mir: Vielleicht bringe ich euch dieses Lachen. Es gibt auch traurige Kapitel in meinem Buch und in meinem Leben, aber sie sind nicht das Wichtigste. Lachen finde ich wichtiger.
Meine Geschichte ist oft einfach nur komisch, ich habe das nicht geplant, es ist einfach so gekommen. Vielleicht ist sie noch nicht einmal die interessanteste Geschichte – es sind Millionen anderer mit ihren Geschichten nach Deutschland gekommen. Die nicht die Chance haben, ein Buch zu schreiben. Oder durch YouTube-Videos bekannt zu werden, so wie ich. Aber ihre Geschichte ist es genauso wert, von dir angehört zu werden. Und ich bin sicher, sie hören genauso gerne deine Geschichte. Wir Menschen sind eben ganz verschieden – wie unsere Geschichten. Manche haben einen Bart.
»Papiere!«
Ich muss grinsen. Es ist doch überall das Gleiche. Ich meine nicht, dass ich überall grinsen muss. Nein, es ist nur … Polizisten sind doch überall gleich.
»Papiere, bitte!«
In den Städten meiner Heimat Syrien hört man das inzwischen alle 500 Meter – im gleichen Tonfall, an jedem Checkpoint, aber natürlich ohne ein »Bitte«. Dort habe ich in den letzten Jahren gelernt: Papiere sind wichtiger als Menschen. Das ist in Deutschland auch nicht anders. Die Deutschen lieben Papier. Hast du kein Papier, dann bist du gar nicht hier! Aber zumindest werde ich weder beleidigt noch geschlagen. Der Mann in Uniform vor mir ist deutsch. Er grinst nicht zurück.
»Was wollen Sie in Deutschland?« – die erste Frage, die mir hier gestellt wird. Und ich werde sie von nun an noch oft zu hören bekommen.
Na gut, ich hole mein Visum heraus – ein echtes Schengenvisum, und niemand aus meiner Familie wollte mir erst glauben, dass es echt ist. Es beweist: Ich komme, um zu arbeiten, und ich darf das. Ein Filmproduzent aus Berlin wollte, dass ich in Syrien ein paar Szenen für ihn drehe. Jetzt soll ich beim Schneiden helfen und auch selber vor die Kamera. Hier in Berlin.
Das glauben mir die Polizisten natürlich nicht. Auch nicht, dass meine Papiere echt sind. Ich kann es ja selber kaum glauben. Ich werde zur Seite genommen und verhört. Sie schauen möglichst ernst und grimmig. Ich muss schon wieder grinsen. Die sind einfach putzig.
Im syrischen Foltergefängnis saß ich auch in solchen Räumen. Die Beamten dort haben sich jedoch kein bisschen Mühe gegeben, so böse und gefährlich zu gucken. Das hatten sie gar nicht nötig. Aus dem Nachbarzimmer drangen schon die ganze Zeit Schreie. Während ich vernommen wurde, starben nebenan Leute. Da grinst niemand mehr – außer manchmal die Typen in Uniform.
Hier hört man höchstens eine Kaffeemaschine aus dem Nebenzimmer. Die klingt auch, als ob sie gleich stirbt. Die Polizisten gucken weiter grimmig. Wahrscheinlich, weil sie nichts finden, um mich wieder in den Flieger zurück zu setzen.
»Haben Sie Geld dabei? Zeigen Sie mal Ihre Kreditkarte!«
Ich habe keine Ahnung, warum sie jetzt mein Geld sehen wollen. Wollen die Trinkgeld? Ich habe einen Job hier, und dafür werde ich bezahlt. Das glauben sie mir nicht – ebenso wenig wie vor einigen Tagen ihre Kollegen in der deutschen Botschaft in Ankara.
»Mein Produzent ist draußen, fragen Sie ihn doch!« Ich spreche Englisch mit ihnen, und ihr Akzent ist schlimmer als meiner. Später lerne ich den Klang besser kennen, die kamen wahrscheinlich aus Sachsen. Jetzt klingt es nur sehr deutsch. »Wir werden sehen!«
Eine ganze Weile sehe ich erst mal meine Koffer nicht wieder. Sie haben wohl Drogen gesucht, gefunden haben sie nur Parfüm. Mehr habe ich heute nicht zu bieten. Aber jetzt bin ich doch ein bisschen in Sorge. Ich kann nicht telefonieren, und wir sitzen hier schon seit über einer Stunde. Jan, der Produzent, wartet draußen auf mich. Vielleicht fährt er aber auch wieder heim … Ich will ihn nicht enttäuschen, nach allem, was er für mich getan hat. Er hat immerhin ermöglicht, dass ich nach Deutschland darf. Dieser Auftrag ist meine Rettung. Ich war am Ende, geflohen aus meinem Land, ohne Mittel und ohne Perspektive. Und jetzt bin ich plötzlich ein wichtiger Teil eines deutsch-syrischen Kinofilms. Ich soll meinen Landsmann und Filmkollegen Tamer Alawam ersetzen, den ursprünglichen Regisseur von »Syria Inside«. Tamer war 2012 in Aleppo durch einen Granatsplitter gestorben, als er in der Nähe der Frontlinie gefilmt hatte – kurz vor Ende der Dreharbeiten. Ein Angriff der Regierungstruppen, und er war zu nah an der Einschlagstelle. Also habe ich nun statt seiner die fehlenden Szenen gedreht: In der Gegend um Rakka habe ich mit Kindern die ersten Momente der Revolution nachgespielt. Schüler hatten 2011 ein Graffito an die Wand ihrer Schule gesprüht. Einen Spruch gegen das Regime. »Doktor, jetzt bist du an der Reihe.« Gemeint war der studierte Augenarzt und jetzige Diktator Baschar al-Assad. Direkt nach dem Sturz Gaddafis war der Assad-Clan jedoch extrem nervös und sensibel. Also wurden die Jungs vom Geheimdienst verhaftet und gefoltert. Damit fing alles an. Es gab die ersten Demonstrationen: »Freiheit für die Kinder!« Um politische Freiheit ging es noch gar nicht. Darauf folgten weitere Verhaftungen. Und immer wieder Folter, auch von Minderjährigen. Es kam zu Aufständen und Großdemos. Und ich mittendrin – in Homs, einer der Geburtsstätten der syrischen Revolution.
Jetzt habe ich die Aufnahmen auf der Festplatte meines Computers dabei. Von meinen ersten Demos, von den gespielten Szenen mit dem berühmten Graffito und noch mehr. Alles eben, was für den Kinofilm noch fehlt.
Inzwischen ist die Revolution in ein wirres Gemetzel mutiert. Syrien ist ein zerrissener Kadaver. Die Frontlinien verlaufen quer durch die Familien, quer durch ehemalige Freundschaften, quer durch eine ganze Gesellschaft. Syrien war für mich lebensgefährlich geworden. In Damaskus suchte mich der Geheimdienst, in Nordsyrien waren die Islamisten hinter mir her, und sogar meine Freunde aus der syrischen Revolution hielten mich für einen Geheimdienstagenten der Regierung. Mit meiner Kamera verdiente ich kein Geld mehr … Und plötzlich bin ich hier auf einem deutschen Flughafen als der Filmretter aus Syrien. Plötzlich habe ich eine Mission in Deutschland zu erfüllen. Auch diese Polizisten scheinen langsam zu ahnen, dass sie mich nicht daran hindern können. Sie gucken weiter böse, und ich grinse weiter. Und schließlich einigen wir uns darauf, dass es jetzt langweilig wird und ich durch die Schleuse darf. Sie haben mich nicht geschlagen. Und nicht beleidigt. Trotz der lupenreinen Papiere wurde ich zwar lange festgehalten, verhört und durchsucht. Diese Polizisten respektieren mich also auch nicht, aber sie respektieren wenigstens ihr eigenes Gesetz. Ein großer Unterschied. Vielleicht der entscheidende.
Meinen Pass und mein Visum haben sie allerdings einbehalten. Ja, die Deutschen lieben Papier wirklich. Ich soll mir die Unterlagen demnächst bei der Ausländerbehörde abholen. Von mir aus.
Ich grinse wieder, gehe durch die Tür – und betrete im nächsten Moment den größten Kokon der Erde: die westliche Welt.
Hallo, Leute, ich bin Firas Alshater, und jetzt komm ich auf Deutschland zu!
Es ist so kalt. Wieso ist es so kalt hier in Berlin? Im Kalender steht, hier ist jetzt Mai! Ich friere, seit ich aus dem Flughafen raus bin. Nach den frostigen Polizisten hält das Wetter auch nicht gerade einen warmen Empfang für mich bereit. He, Deutschland, bist du immer so kühl?
Mit fünf Jahren entschied ich, dass ich Deutschland nicht mag. Damals hatte mir dieses Land die erste Frau geraubt, die ich mehr liebte als jede andere auf der Welt – nach meiner Mutter natürlich: meine Tante. Eigentlich waren daran gar nicht die Deutschen schuld, sondern ein entfernter Verwandter, der aus Deutschland angereist kam, um sie zu heiraten.
Ich war bis dahin immer bei der Tante gewesen, und es hatte immer was Leckeres zum Naschen bei ihr gegeben. Als echter Zuckerbär liebe ich nun mal Süßes. Dass sie jetzt heiratete, war für mich deshalb auch kein Problem: Auf der Hochzeit gab es Süßigkeiten in Hülle und Fülle. Das ist bei uns so Sitte, wenn große Feste gefeiert werden. Die ganze Feier über habe ich kein bisschen darüber nachgedacht, dass diese Hochzeit mir meine Tante rauben würde. Denn mein neuer Onkel, der damals schon seit längerem in Deutschland lebte, nahm sie nach der Hochzeit einfach mit. Für mich ging die Welt unter. Mein lupenreiner Kinderverstand hatte jedoch schnell einen Schuldigen gefunden: Deutschland! Ich wusste natürlich nicht das Geringste über dieses Land, außer dass die Deutschen gut Fußball spielen. Und Mercedes-Autos haben. Aber so ist das eben. Hass und Wut haben gar nichts mit Logik zu tun. Wenn man sich anstrengt, kann man alles hassen.
Aus Rache hielt ich bei der Fußball-WM zum iranischen Team und legte mich mit jedem meiner Kumpel an, der die deutsche Mannschaft toll fand. Das waren nicht wenige. Ich aber hielt aus Trotz weiter zum Iran. Dass die iranische Regierung den Diktator in meinem Land unterstützt, war mir als Kind nicht bewusst. Erst später habe ich erfahren, dass ich in einer Diktatur lebte. Mit fünf sind Süßigkeiten angesagt, nicht Politik.
Bei diesem räuberischen Onkel und der verlorenen Tante werde ich nun wohnen können, denn wie es der Zufall will: Sie leben in Berlin, wo auch die Produktionsfirma ihren Sitz hat. Und natürlich haben sie mich eingeladen. Jan hat mich vom Flughafen direkt hierhergefahren, wo wir meine Koffer vier Stockwerke hochtragen. Jan schwitzt und stöhnt, als er einen meiner Koffer, der besonders schwer ist, Stufe für Stufe nach oben hievt: »Hast du da das Familiengold drin, oder was?« Ich grinse. Kein schlechtes Bild. »Das sind meine Bücher!« Theaterbücher, Sprachbücher, Romane – alles, was mir etwas bedeutet. Natürlich Dostojewski. Und Gabriel García Márquez. Mein geliebter Anton Tschechow. Ohne die gehe ich nirgendwo hin, denn für mich ist kaum etwas wertvoller als Geschichten. Kein Gold der Welt kann einem alle Ängste nehmen. Egal, wie viel man davon hat. Aber wer ein gutes Buch liest, der bekommt zumindest eine Pause. Eine Auszeit zum Träumen. Deshalb liebe ich auch das Theater so – weil es dort einen Hauch der Freiheit gibt, den man in Syrien nirgendwo sonst atmen kann. Und da es schon immer mein Traum war, Schauspieler zu werden, habe ich Schauspiel studiert. Vor meiner Laufbahn als Filmemacher hielt ich am liebsten ein Theaterskript in der Hand – erst später waren es Kamera und Fotoapparat. Natürlich weiß ich, dass ich meinen Schauspielerberuf jetzt an den Nagel hängen muss. In Deutschland werde ich als Schauspieler niemals eine Chance haben, ebenso wenig wie in der Türkei, wo ich zuletzt gelebt habe. Ich spreche weder Deutsch noch Türkisch. Darum sind die Bücher alles, was noch bleibt von meinem Traum. Ja, in dem Koffer ist mein Gold, aber eigentlich ist da mein Herz drin. Und das ist noch schwerer als jedes Kilo Buchstaben.
Als wir jedoch im vierten Stock ankommen, wird dieses Herz im Nu ganz leicht, es macht sogar einen Hüpfer. An der Tür wartet eine alte Frau auf mich und nimmt mich in den Arm. Ich freue mich wie ein kleines Kind: Meine geliebte Tante und ich sind endlich wieder zusammen. Wir haben Tränen in den Augen. Und sofort gibt es heißen Tee. Die Deutschen können ja gerne Papier lieben, so viel sie wollen – wir Syrer lieben Tee. Gehst du als Ausländer durch irgendein Dorf oder eine Straße in Syrien, dann kommst du keine hundert Meter weit. Irgendwer wird immer rufen und dir einen Tee anbieten. Mit viel Zucker. Eigentlich Zucker mit Tee. Das macht die Augenblicke süß – und jetzt beim Tee neben meiner Tante habe ich so einen Augenblick … Bis mein Blick auf die gegenüberliegende Wand fällt. Ich erstarre. Da hängt die Flagge des syrischen Regimes neben dem Konterfei des Präsidenten. Das ist etwa so, als wenn ein Deutscher irgendwo zu Gast wäre und die Hakenkreuzfahne im Wohnzimmer entdecken würde. Giraffenartig schaut Assad in Heldenpose auf mich herab. In jedem Foltergefängnis hing so ein Bild. Wie unter einem Peitschenhieb zucke ich zusammen. Wie kann das sein? Sofort stelle ich meinen Onkel zur Rede. Wie kann er diesen Diktator an der Wand haben?
Ja, Syrien ist eine klaffende Wunde, und die Schnitte verlaufen quer durch unser Volk, quer durch die gesamte syrische Gemeinschaft, wo immer wir auch leben. Auch quer durch Familien. Jahrelang hat mein Onkel hier in Deutschland nichts anderes aus der Heimat gesehen als die Propaganda im syrischen Staatsfernsehen. Er ist ein einfacher Mann. Deutsche Zeitungen sind nicht so sein Ding. Und darum ist der Präsident und Diktator Baschar al-Assad für ihn ein Held. Der Mann, der Syrien groß machen wird. Und Assads Feinde sind böse Terroristen und Kriminelle aus dem In- und Ausland. Auch ich bin jetzt in seinen Augen ein Terrorist. Das lässt er mich gleich wissen. Da kann ich sagen, was ich will, es spielt keine Rolle, er will mich nicht mal anhören. Das kenne ich nur zu gut. Wie viele Freunde habe ich schon verloren, weil sie lieber Gerüchten geglaubt haben als ihren eigenen Augen, denen es lieber war, wenn andere ihnen vorsagen, was richtig ist und was falsch, die Märchen anhängen – solange sie selber nur zu den Guten gehören. Mein Onkel hat im Fernsehen gesehen, dass Assad mit 99 Prozent der Wählerstimmen »demokratisch« gewählt wurde. Man braucht schon einen sehr speziellen geistigen Schließmuskel, um dabei keinen Lachkrampf zu bekommen. Bei meinem Onkel sitzt die Propaganda jedenfalls tief im Fleisch – so tief, dass ich, sein Verwandter, ein Verräter und Krimineller bin.
Das also ist mein erster Abend in Deutschland: weit entfernt von der Regierung, die mich verfolgt und gefoltert hat. Und selbst hier holt mich ihr giftiger Pesthauch ein. Meine Tante ist natürlich geknickt und völlig aufgelöst. Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Aber die beiden sind ein traditionelles arabisches Paar – was soll sie schon sagen? Sie ist die Frau.
Und ich? Soll ich nun schreien oder weinen? Schon wieder steckt ein Keil zwischen mir und meiner Tante, denn ich werde nicht bei ihnen wohnen können. Allerdings bin ich inzwischen ein bisschen älter geworden und weiß jetzt, dass auch diesmal nicht die Deutschen schuld sind. Es ist mein Onkel oder vielmehr das Böse in Damaskus, die Diktatur, die dort immer noch regiert, die Tentakel ihrer Lügen reichen bis in die syrischen Hirne in Deutschland. Vielen Dank, liebes Satellitenfernsehen. Propaganda ungefiltert und frei Haus.
Keines meiner Argumente wird meinen Onkel vom Gegenteil überzeugen. Er gibt mir ein paar Tage, dann soll ich verschwinden. Schließlich sind drei Dinge in Syrien sicher: der Tee, die Familie und das Gastrecht. Wenige Tage stehen sie mir also zu, bevor ich sie wieder verlieren werde. Vielleicht ist es auch besser so. Denn ich liebe die Freiheit und lasse sie mir nicht noch einmal nehmen. Tante, es tut mir leid … Um nicht weiter mit dem Onkel zu streiten, gehe ich kurz vors Haus, um ein bisschen frische Luft zu schnappen. Plötzlich höre ich ein Flugzeug. Es fliegt sehr tief, und reflexartig ducke ich mich. Aber es ist nur ein Passagierflieger im Landeanflug auf Berlin-Tegel. In Berlin herrscht Frieden.
Aber es ist noch kälter geworden.
Erschrocken wache ich auf: das Flap-Flap-Flap eines Hubschraubers. Ich springe aus dem Bett. So ein Mist, ist denn niemals Ruhe in Berlin? Wenn du heutzutage einen Hubschrauber in Syrien hörst, fallen kurz danach die ersten Bomben. Ich blicke aus dem Fenster: Alles friedlich, nur ein alter Mann wühlt in einem orangefarbenen Mülleimer. Das Flap-Flap-Flap wird leiser. Es ist noch arschkalt, obwohl die Sonne schon ziemlich hoch am Himmel steht. Berlin liegt einfach näher am Polarkreis als Damaskus. Gibt es hier vielleicht schon Nordlichter und Eisbären? Die Temperatur würde stimmen.
Etwas verpennt quäle ich mich die Treppen hinunter in die überfüllte Straßenbahn. Mein erster Arbeitstag. Als ich nach einer knappen Stunde – erstaunlicherweise ohne unfreiwillige Umwege – in Jans Studio ankomme, gibt es keinen Tee, stattdessen gleich eine Menge Arbeit. Ein bisschen schade, denn ich hätte gerne erst mal ausführlich mit Jan über die letzten Monate gesprochen, nun, da wir endlich etwas Zeit haben. Irgendwie ist Jan nach allem, was er für mich getan hat, so etwas wie Familie. Jedenfalls mehr als meine echten Berliner Verwandten. Aber die Deutschen sind zurückhaltend mit Gefühlen. Monatelang hat Jan mir geholfen, mich enorm unterstützt mit Geld und Rat und am Ende auch beim Kampf um das Visum. Dafür möchte ich mich richtig bei ihm bedanken. Aber das scheint ihm nicht so wichtig zu sein. Er hat ein deutsch-syrisches Kinoprojekt; und er hat dabei einen Syrer verloren. Jetzt hat er eben einen Syrer mehr oder weniger gerettet. Gut. Und weiter.
Ich lerne später viele Deutsche kennen, die genauso sind: Sie sehen ein Problem, packen es an. Und wenn es dann gelöst ist, feiern sie kein großes Fest, sondern bleiben nur einen Augenblick zufrieden stehen, nicken kurz, drehen sich um und schauen, wo es die nächste Aufgabe anzupacken gibt. Vielleicht kriege ich Jan aber doch noch dazu, auch mal zu feiern. Immerhin hat er ja wieder einen Syrer im Team. Ich mache erst mal Tee.
Und dann: Yallah*, let’s work! Zunächst sichten wir meine Filmaufnahmen. Ich bin echt stolz darauf und würde am liebsten detailliert darüber reden, aber es geht extrem effizient zu. Einspeichern, sortieren, Labels erstellen. Ich bekomme einen dicken Packen Arbeit, alles Dinge, die ich gut kann – immerhin bin ich selber Filmemacher. Und vor allem bin ich der Einzige hier, der Arabisch spricht und Syrien kennt. So wichtig war ich wohl zuletzt bei den Demos in Homs, als ich die Gesänge per Megaphon angeleitet habe. Zum ersten Mal seit einer langen, langen Zeit bin ich wieder ein Mensch.
Ich muss mal, nach so viel Tee. Meine Güte, diese Deutschen – die lieben wirklich Papier. Sogar auf der Toilette gibt es statt Wasser zum Saubermachen nur diese Rollen mit Endlos-Küchenkrepp. Sie nennen es sogar so: Toilettenpapier. Nun gut, ich werde es schon noch lernen. Aber nur mit Papier abputzen? Hygienisch kann das nicht sein … Ich vermisse unsere Wasserbrause, wir Araber spülen uns nämlich untenherum. Am Ende wasche ich mir die Hände lieber zweimal. Na, wenigstens dafür gibt es auch hier in Deutschland Wasser.
Dann versinke ich in der Arbeit, das beste Mittel, um einfach mal abzuschalten. Jan ist ebenfalls konzentriert bei der Sache, und die Stunden rauschen dahin.
Seltsam, obwohl ich all diese Bilder aus Syrien auf dem Schnittmonitor vor mir sehe, fühlt es sich plötzlich sehr unwirklich an. Wie hinter Glas. Ich sortiere Bomben, Explosionen, Eindrücke aus einem Feldlazarett. Nicht schön. Aber es berührt mich gar nicht so sehr, obwohl ich doch alles selbst erlebt habe und mich auch erinnere, wie es sich damals angefühlt hat. Aber jetzt ist es merkwürdig weit weg. Ein ganzes Leben scheint seitdem vergangen zu sein. Jan hat mich später einmal nach den glücklichen Tagen in meinem Leben gefragt. Heute ist so ein Tag. Und so war es auch bei jeder Demo in Syrien. Davor und danach gab es lange dunkle Strecken – auch in meiner Kindheit. Aber davon will ich noch nicht sprechen. Ich will lieber erzählen, was auf den Demos mit mir passiert ist …
Wie sah es damals in Syrien aus? Stellt euch einfach folgende Szene vor: Syrien ist ein Sandkasten, darin spielen die Kinder, drum herum sitzen die Mamas und beobachten ihre Kleinen ganz genau – auch wenn es auf den ersten Blick nicht so wirkt. Eine solche Szene in einem echten Sandkasten auf einem Kinderspielplatz habe ich übrigens zum ersten Mal in Deutschland gesehen: Wann immer ein Kind irgendetwas gemacht hat, was die Mama nicht toll fand, hat sie ihr Handy weggelegt und das Kind ermahnt oder ausgeschimpft. Und war es ganz schlimm, wurde das Kind aus dem Sandkasten geholt und auf eine Bank gesetzt, bis es sich wieder eingekriegt hatte. Manchmal schimpfte die Mama allerdings schon wegen Kleinigkeiten: »Mach dich nicht dreckig!« Hallo? Die Kinder sitzen im Sand! Na, egal.
Was das mit Syrien zu tun hat? Syrien ist der Sandkasten, in dem die Firas-Normalbürger sitzen und drum herum die Aufsicht. Big Brother is watching you. In Syrien bist du niemals ganz ohne Angst. Niemals ganz unbeschwert. Nie sprichst du einfach aus, was du auf dem Herzen hast. Immer ist da so ein diffuses Gefühl von »Gott sieht alles«. Bei uns darf man sein Kind nicht »Allah« nennen, denn der Name ist heilig. Also fragte ich meine Mama, ob dann auch der Name »Hafez« verboten sei; so hieß damals der Präsident, der Vater des heutigen Machthabers Baschar al-Assad. Meine Mutter lachte. Aber die Leute fürchteten die Regierung tatsächlich fast so, wie man sonst Allah fürchtet. Öffentlich fluchte niemand gegen Gott und schon gar nicht gegen die Regierung. Gott sieht alles, der Präsident sieht noch mehr. Seit vierzig Jahren haben wir in Syrien deshalb Angst vor Wänden, denn »die Wände haben Ohren« – diese Redensart kennen die Deutschen auch, habe ich inzwischen gelernt. Es ist bei uns wie im Sandkasten, nur dass man bei einem Fehler nicht auf die Bank, sondern in die Hölle kommt. Diese permanente Bedrohung ist sehr real, unsichtbar zwar, aber wie ein Geruch in der Luft. Nach einer Weile nimmst du ihn nicht mehr wahr. Bis zu dem Tag, an dem du zum ersten Mal frische Luft in die Lungen bekommst. Und genau das passierte mir auf den Demos. Zum ersten Mal im Leben für die eigenen Interessen öffentlich einstehen, in einer großen Gruppe von Menschen. Verbotene Worte durch ein Megaphon rufen. Ohne Angst. Ohne, dass sofort jemand kommt und dich für immer mitnimmt. Sprechchöre mit »Freiheit! Freiheit!« oder »Weg, weg, weg mit dem Dreck« oder »Eins, eins, eins – das syrische Volk ist eins!«. So etwas hatte ich noch nie gehört, nie erlebt, nie gesagt. Sonst passt immer jeder auf, jeder ist vorsichtig. Das lernen syrische Kinder bei uns auch ohne Sandkasten. Immerhin gibt es bei uns sage und schreibe 27 Geheimdienste. Kein Witz.
Als ich erstmals das Megaphon in die Hand nahm, um von Freiheit zu singen, war es, als wäre ich vorher stumm gewesen und könnte nun zum ersten Mal sprechen. Das war Energie pur – und ich sofort süchtig danach. Meine Droge war die Freiheit!
Und jetzt, hier am Schneidetisch, erlebe ich wieder einen solchen Glücksmoment. Ja, ich liebe die Arbeit mit Film, es ist herrlich, eine wirkliche Aufgabe zu haben. Das ist wahrlich nicht nur bei den Deutschen so: Du musst etwas Sinnvolles zu tun haben im Leben, wie kannst du sonst glücklich sein? Und was ich jetzt gerade tue, das könnte kaum sinnvoller sein. Ich arbeite an einem Kinofilm über meine Heimat, über unseren Kampf für Freiheit, unsere Tränen und Erfolge – auch wenn mir Syrien jetzt wie eine Heimat hinter Glas erscheint. Und wie eine Erinnerung, denn das Syrien, in dem ich groß geworden bin, existiert nicht mehr.
Und so, wie es hinter mir verblasst, liegt auch der Weg vor mir im Dunkeln. Denn in wenigen Monaten endet mein Visum. Und dann?
Es ist Wochenende, erstes Treffen mit Marie-Angela, einer Facebook-Freundin. Sie war es, die den Kontakt zwischen mir und Jan geknüpft hat, weil sie als Bekannte von Tamer Alawam unbedingt wollte, dass sein Filmprojekt vollendet wird. Ich bin ihr so dankbar. In Syrien aber habe ich ihr anfangs misstraut, denn ihr Profil war anonym. Doch dann schrieb sie von dem Kinoprojekt … und jetzt treffe ich sie endlich persönlich. Ich soll auf so ein Fest, offenbar eine große Party, kommen – und ich mag Partys.
Als ich aus dem U-Bahnhof ans Tageslicht komme, lande ich allerdings nicht auf irgendeiner Party, sondern mitten im Berliner Karneval der Kulturen, also einem Spektakel, das man so in der gesamten arabischen Öffentlichkeit nicht erleben kann. Schrill, Alkohol in Strömen und viele halbnackte Männer und Frauen, die herumtanzen. Ich glaube, wenn man als Araber einen Kulturschock haben will, dann ist das der perfekte Ort dafür. Ich selbst bin ein ziemlich offener Mensch, als Student und Schauspieler sowieso. Aber es ist auch für mich ungewohnt. Marie-Angela lacht nur und nutzt die Gelegenheit, mir unglaublich viel zu erklären über diese Stadt und wie manche Dinge hier funktionieren. Der Karneval ist offenbar auch für die Berliner eine Ausnahme – die laufen nicht immer so herum. Das ist irgendwie beruhigend. Aber von mir aus könnten sie auch nackt tanzen. Hauptsache, es wird getanzt.
»Aufstehen!« Es ist 9 Uhr morgens. Jan höchstpersönlich weckt mich, denn ich schlafe inzwischen auf einem Feldbett im Studio. Mein Onkel hielt seine Gastfreundschaft drei Tage aus, dann musste ich gehen. Aber wo sollte ich so schnell eine neue Bleibe auftun? Wie gut, dass ich ein paar Freunde in Berlin habe, denn sonst wäre ich jetzt aufgeschmissen: Versuch mal, in einer deutschen Großstadt eine Wohnung zu finden, wenn du A) kaum Geld hast, B) kein Deutsch sprichst und C) lediglich einen Pass aus Syrien vorzeigen kannst. Also bot mir Jan an, im Schneideraum zu schlafen. Er hat hier alles für eine Notübernachtung, falls es abends mal sehr spät wird.
Ich bin ja eigentlich kein Flüchtling oder Asylbewerber in Deutschland, aber heute fühle ich mich ein bisschen so. Ohne richtige Bleibe, ohne eine Ahnung, wie es weitergeht, und mit nur wenigen Freunden. Doch die Arbeit lenkt mich ab. Allerdings arbeite ich heute an einer besonders heftigen Szene. Es handelt sich um Originalaufnahmen aus dem Gefängnis eines syrischen Geheimdienstes. Hunderte Männer auf engstem Raum, völlig verdreckte Löcher, alle Gesichter leer, und man kann den Uringestank fast riechen. Das kenne ich nur zu gut …
Eigentlich habe ich sechs Onkel. Als ich zehn war, ging einer von ihnen nach Pakistan, um dort zu arbeiten. Bei seiner Rückkehr wurde er sofort vom syrischen Geheimdienst verhaftet. Man verdächtigte ihn, etwas mit den Taliban zu tun zu haben. Da das nicht der Fall war, ließ man ihn nach zwölf Tagen wieder gehen. Allerdings hatten sie ihn in den wenigen Tagen so schlimm gefoltert, dass er neun Monate lang ins Krankenhaus musste. Niemand aus der Familie durfte ihn besuchen, aus Angst, dass wir dann auch verdächtigt würden. Nicht besuchen, nicht darüber reden, nichts machen. Politik war zu Hause ein Tabu. Also fing ich an, mich für den Islam zu interessieren, in die Moschee zu gehen. Ich hatte den Eindruck, dass man dort etwas unbeschwerter reden konnte, was wenigstens einen Hauch von Freiheit versprach – und es ging mal nicht um die Selbstbeweihräucherung der Regierung. Mein Vater war dagegen. Wenn jemand zu religiös war, vermutete die Regierung sofort Kontakte zur Muslimbruderschaft, die bereits vor Jahren versucht hatte, gegen Präsident Hafez zu putschen. Damals ließ das syrische Regime 40000 Menschen umbringen. Als Warnung. Drum entschied mein Vater: »Bete zu Hause. Gott hört dich auch von hier!« Daraufhin schaltete ich auf stur und betete überhaupt nicht mehr. Weder in der Moschee noch zu Hause. Also keine Religion, keine Politik, keinen freien Raum. »Denk an deinen Onkel.« Das war alles.
Und dann tauchte plötzlich noch ein Onkel auf, Rafik, ein Anwalt. Bis ich 19 war, hatte ich keine Ahnung, dass es ihn überhaupt gab, bis zu seiner Freilassung aus dem Gefängnis. Nach 23 Jahren!
In den 1980ern war er als junger Mann beim Geheimdienst gewesen, allerdings in einem Zirkel von Offizieren, die nicht mit der Regierung einverstanden waren. Vielleicht planten auch sie einen Putsch, vielleicht hatten sie aber auch nur einmal ihren Unmut geäußert. So genau weiß es niemand von uns. Jedenfalls wurde er am ersten Geburtstag seines Sohnes festgenommen. Seine Frau erhielt nur einen Anruf: »Vergiss ihn. Er kommt nie wieder.«
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