Ich, mein Vater und die Frau seines Lebens - Leo Königstein - E-Book

Ich, mein Vater und die Frau seines Lebens E-Book

Leo Königstein

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Beschreibung

Manche Menschen sind mutig, andere sind ängstlich. Und dann gibt es noch Tom. Der alleinerziehende Vater traut sich nicht einmal, eine Deckenlampe anzubringen oder einen Videorecorder zu programmieren. Geschweige denn, eine Frau nach ihrer Handynummer zu fragen. Seine Nachbarin Majorina dagegen ist alleine durch die Sahara getrampt und hält sich Leguane als Haustiere. Und sie hat sich eine TV-Show ausgedacht, in der der Mutigste eine Million Euro gewinnt. Tom verliebt sich in Majorina. Und Toms Sohn Paul hat die Idee: Sein Vater wird die Show gewinnen. Und Majorina gleich mit.

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Leo Königstein

ICH,

MEIN VATER

UND DIE FRAU SEINES LEBENS

Roman

List

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List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH

ISBN: 978-3-8437-0604-9

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013

Für Angela

ERSTER TEIL

A ship is safe in harbor. But that’s not what ships are for.

1

Also ja, ähm, das is so …«

Der Mann zog den Schnodder in seiner Nase hoch und wischte sich gleichzeitig mit dem Ärmel über das verschwitzte Gesicht. Für ihn ging es um alles, und in diesem Moment schien ihm langsam zu dämmern, wie schlecht er vorbereitet war. Sein Gesicht sah aus wie ein Ballon, auf den man kleine Augen und eine Knollnase gemalt hatte, alles drängte sich zur Mitte, die wässrig blauen Augen quollen hervor, und die Hautfarbe bestand aus fünfzig Schattierungen von Grau.

»Sie haben den Antrag ja abgelehnt und ich wollte … ich bin hier, weil …«

Er hatte sich für den Termin in ein hellblaues Hemd gezwängt, das er vermutlich zur Konfirmation gekauft und heute Morgen in seinem Kleiderschrank gefunden hatte. Sonst trug er nur T-Shirts mit Sprüchen wie Wer nüchtern ist, hat nur kein Geld zum Saufen oder Sag deinen Brüsten, sie sollen aufhören mich anzustarren, oder das Fan-Shirt von Lotto King Karl: Wer ist eigentlich dieser Köln? Die Sachen, über die sie sich schlapplachten auf den A7-Raststätten, bis die Sache passiert war, deretwegen er hier saß.

»… weil, ich wollte Ihnen das noch mal erklären, wieso … ich das mit dem Job nich mehr pack …«

Tom saß hinter seinem Schreibtisch und sah auf den Mann herunter, weil die Versicherung den Tisch auf ein kleines Podest gestellt hatte. Ein Trick, den schon Johannes B. Kerner in seiner Sendung immer verwendet hatte. Tom war es einfach nur peinlich. Das Ballongesicht war dreimal so kräftig wie er, in einer Schlägerei hätte er ihn umstandslos niedergewalzt, aber jetzt musste er auf einem niedrigen Stuhl ohne Armlehnen sitzen, und die Angst, nach dreißig Jahren Nachtfahrten in einem Hartz-IV-Dasein zu enden, trieb ihm Schweißperlen auf die Stirn, die langsam über die Nase nach unten liefen.

»… weil, da war eben dieser Unfall. Und ich mein, für so was ist die Versicherung doch da. Und wie lange zahl ich da jetzt ein – dreißig Jahre?«

Das war das Geschäftsmodell von Berufsunfähigkeitsversicherungen. Die Leute wurden mit vierundzwanzig von einem Vertreter zu einem Abschluss überredet, zahlten ihr Leben lang ein und kriegten, wenn sie Mitte fünfzig berufsunfähig wurden, nichts. Außer sie gerieten an Tom, dann hatten sie eine kleine Chance. Tom hatte hier angefangen, als Instant Insurances noch Eutiner Versicherungen hießen und er Ethnologie studierte. Warum er nach siebzehn Jahren immer noch hier saß, hatte er selbst nie richtig begriffen. Es hatte etwas damit zu tun, dass er seine Doktorarbeit nie zu Ende gebracht hatte. Aber warum hatte er seine Doktorarbeit nicht zu Ende gebracht?

»Und das war einfach so ein Schock mit diesem Türkenmädchen, wie sie geschrien hat, und ihre Mutter und die beiden kleinen Geschwister …«

Das Ballongesicht redete noch wirrer als die meisten Kunden, was aber auch mit dem Typen zu tun haben konnte, der heute neben Tom saß. Ein Mittzwanziger mit weitem türkisblauen Hemd, italienischen Schuhen und der blonden Gelfrisur, die Jörg Pilawa und später Guido Cantz in der gesamten Republik durchgesetzt hatten. Zwei Minuten vor Beginn des Termins hatte Kahlschläger, Toms Chef, ihn in seinem Büro abgeliefert. Vermutlich ein verspäteter Versicherungskaufmann-Azubi aus Blankenese, der in seinem BWL-Studium schon am Bachelor gescheitert war. Der Mittzwanziger hatte ihm sehr fest die Hand gedrückt und sehr smart gelächelt und sich leicht nuschelnd als Henner oder Renner vorgestellt. Und dann hatte auch schon das Ballongesicht an die Tür geklopft, der Mittzwanziger hatte ein MacBook Air aus seinem schwarzen Aktenkoffer geholt und angefangen zu tippen.

»Erzählen Sie doch ruhig noch mal von Anfang an«, ermutigte ihn Tom. Oft lagen Welten zwischen dem Antrag und der Wirklichkeit. Da stand was von Bandscheibenvorfällen und Migräne, und in Wirklichkeit ging es um Whisky und rückabgewickelte Ehen. Der Mann, der zu seinem Unglück auch noch Peter Meier hieß, sah Tom kurz an und gleich wieder zu Boden. Nicht nur sein Gesicht, nein, sein ganzer Körper schien aus aufgepusteten Ballons zu bestehen: Bauch, Arme, Hände, Beine und Füße. Wie eine Figur aus einem Pixar-Film. Tom hatte sie alle gesehen, mit Paul im Cinemaxx hinterm Dammtorbahnhof: Oben, Cars, Toy Story, Monster AG, Ratatouille. Paul liebte die 3D-Spektakel, die drolligen Figuren, den Popcorngeruch, die großen leeren, dunklen Säle und die Happy Ends.

»Na ja, ich bin jetzt dreißig Jahre unterwegs. Immer von zu Hause wech, das is ja schon der Wahnsinn …«

Die Gelfrisur tippte in ihr MacBook Air, zweihundert Zeichen pro Minute, während Peter Meier in dieser Zeitspanne gerade mal zehn Worte zustande brachte. Das war überhaupt kein Azubi, dafür waren seine Schuhe viel zu teuer. Das war ein Controller. Gab es so junge Controller?

»Und dann die Touren: Spanien, Lettland, Sizilien, an ein Wochenende. Ich mein, wer plant so was?«

Es gab nur zwei Kategorien von Antragstellern: schlaue Füchse und arme Schweine. Die schlauen Füchse spulten genau die Sätze ab, die ihr Anwalt ihnen aufgeschrieben hatte. Die armen Schweine hatten sich nie beraten lassen und laberten nur Unsinn. Ihnen zu helfen war die Kunst, die Tom im Laufe der Jahre verfeinert hatte. Und das größte Problem dabei waren in der Regel die Antragsteller selbst.

»Sie haben in Ihrem Antrag ein Trauma erwähnt?«, unterbrach er ihn. Psychogründe gehörten zu den wasserdichtesten Begründungen überhaupt. Am besten Suizidphantasien.

»Na ja, ich war eben … wie ich geschrieben hab … war ich mit mein Rennrad unterwegs die Osterstraße runter. Und vor dieser Eisdiele, plötzlich rennt da ein Türkenkind auf die Fahrbahn und ich geh voll in die Eisen und bin so … so übern Lenker und mir alles so aufgeschlagen … alles blutig … ich mein, das Kind war okay …«

»Das Kind blieb unverletzt?«, fragte die Gelfrisur. Tatsächlich war es kaum vorstellbar, dass ein Kind unversehrt geblieben war, auf das dieser Koloss auf einem Rennrad die abschüssige Osterstraße hinab zugerast war.

»Das Kind brüllte wie wild, aber ihm ist nix passiert, Scheibenbremse eben, mein Rad stand sofort … Ich bin natürlich übern Lenker wie ’n Hammer beim Hammerwurf. Und mein Arm, alles kaputt, die Schulter, die Uhr … hatte ich grad erst gekauft …«

Tom lehnte sich zurück in seinem hohen schwarzen Lederdrehstuhl. Das Ballongesicht roch nach altem Schweiß und sein Hamburger Akzent verunstaltete alle Vokale zu Quäklauten. Aber er hatte ein Kind gerettet. Er war kein armes Schwein, er war ein Held. Er musste die Rente kriegen.

»Und seitdem geht es Ihnen schlecht?«

»Joo.«

»Sie können schlecht schlafen?«

»Manchmal. Na ja, nich immer natürlich. Im Grunde schlaf ich ja gut. Wie ’n Stein, sacht Marga immer.«

Nun halt doch die Klappe, dachte Tom.

»Aber seitdem denken Sie manchmal daran – sich umzubringen?«

Das Ballongesicht erstarrte. Und löste sich dann in ein ungläubiges Grinsen auf.

»Äh … wer sacht das denn? Ich bin doch kein Psycho! Nee …«

Tom presste seine sehr schmalen Lippen zusammen. Und das Ballongesicht hielt inne. Hatte er den Hinweis verstanden?

»… aber wissen Sie, das is so: Immer wenn ich hinterm Steuer sitze, seh ich plötzlich dieses Türkenkind vor mir. Die Hölle. Weil, mein Fahrrad hat ’n Bremsweg von ’nem Meter. Aber mein Truck?«

»Nur zum Verständnis«, sagte die Gelfrisur mit schnarrender Stimme, »Sie hatten einen Fahrradunfall. Es ist nichts passiert. Und jetzt können Sie den Rest Ihres Lebens nicht mehr Lkw fahren?«

Nein, das war kein normaler Controller, das war ein hochbezahlter Consultant. Einer, der mit zweiundzwanzig die London School of Economics abgeschlossen hatte und Kahlschläger nachher vorschreiben würde, Peter-Meier-Gespräche kostensparend per Chat im Netz zu lösen.

»Ich hab mir ja selber immer gesacht: Jetzt spinn nich rum, Peder. Aber das sitzt irgendwie in mein Kopf. Das war so knapp … Erst hab ich mich krankschreiben lassen, ’n paar Wochen, aber dann meinte meine Frau: du hast doch da diese Versicherung, wo du schon dreißig Jahre einzahlst …«

Ja, das hätte eine gute Idee sein können. Wenn er nicht in Gegenwart eines McKinsey-Zeugen, der jedes Wort mitschrieb, von ›krankschreiben lassen‹ gesprochen hätte.

»Deshalb meinte Marga, ich soll’s einfach mal versuchen. Wo ich doch sowieso bald operiert werde …«

Das Ballongesicht hustete sehr laut und lange und ohne die Hand vor den Mund zu nehmen, als ob er gleich Asthma als weiteren Grund angeben würde.

»Operiert?«, fragte Tom. Davon hatte nichts in den Akten gestanden.

»Ja, wegen meinem Diabetes. Sieht man mir ja nich an, weil ich hab Typ 2. Aber das is auch nich ohne … und deswegen soll mir da so ’n Bypass gelegt werden …«

Diabetes. Ein Himmelsgeschenk. Da konnte der Jung-Consultant noch so viel tippen. Bei Diabetes konnte der Blutzuckerwert locker unter 50 fallen. Bei 25 war man tot. Und der Lkw unkontrolliert auf der Autobahn unterwegs. Mit Diabetes waren Fernfahrer automatisch berufsunfähig. In neueren Verträgen schob man solche Leute auf Pförtnerposten ab, aber in Meiers Altvertrag von 1982 gab es solche Tricks noch nicht. Meier würde nicht als Pförtner arbeiten müssen. Es sei denn, er böte es ausdrücklich an. Freiwillig. Und so blöd würde selbst er nicht sein.

»Herr Meier«, Tom modulierte seine Stimme auf Beerdigungstemperatur hinunter, »entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Aber mit Diabetes mellitus dürfen Sie nie wieder in Ihrem Leben einen Lkw besteigen. Sie sind berufsunfähig.«

Die Jörg-Pilawa-Frisur sah hoch. Das Ballongesicht sah hoch. Selbst das Tippen hatte aufgehört. Draußen blühten die Ringelblumen. Es war ein wunderschöner Tag. Und er würde nachher vor dem Gutenachtlied Paul davon erzählen.

»Ja, also äh … meinen Sie? Bloß wegen dem Diabetes?«

Tom nickte. Für diese Momente war er bei Instant Insurances geblieben.

»Aber mal ehrlich«, das Ballongesicht kratzte sich am Kopf. »Sooo schlimm ist das doch gar nicht.« Eine Furche grub sich zwischen seine Augenbrauen, man konnte fast sehen, wie angestrengt er nachdachte. Sag jetzt nichts, dachte Tom. Aber die Telepathie funktionierte nicht.

»Damit kann ich doch noch als Pförtner arbeiten, oder?«

2

Die Gelfrisur machte ihn wahnsinnig. Paul, sein Sohn, sein einziger Sohn, hatte um sechzehn Uhr dreißig den wichtigsten Termin des Jahres. Der letzte Kunde war längst weg, aber der Jörg-Pilawa-Verschnitt saß mit dem MacBook Air auf den Knien neben ihm und stellte ungerührt eine Frage nach der anderen. Er wollte alles ganz genau wissen. Aber es war bereits zwanzig nach vier. Tom brauchte mit dem Rad mindestens eine halbe Stunde.

»Mir scheint«, schnarrte er, »Sie treffen schon ganz früh im Consulting Process eine Decision. Können Sie mir sagen, wovon Sie die abhängig machen?«

Der Mann schnallte nichts. Er hatte weder Kinder noch ein Gefühl für Richtig und Falsch. Für Worte wie Held oder arme Sau gab es keine Entsprechung in seinem Wörterbuch.

»Natürlich«, antwortete Tom. »Von der gesetzlichen und vertraglichen Grundlage.«

»Der war gut!« Henner oder Renner lachte laut los. Allein, dass solche Menschen existierten, konnte einem den Tag versauen. Aber jetzt hielt er ihn auch noch davon ab, die Kampfprüfung seines Sohnes mitzuerleben.

»Also, Herr Henner …«

»Tenner«, nuschelte er. Oder hatte er Renner gesagt?

»Ich habe einen sehr wichtigen Termin, mein Sohn … Bis morgen!«

Er ließ ihn einfach stehen. Hätte er längst tun sollen. Er war schon viel zu spät. Selbst wenn er raste. Heute würde sich entscheiden, ob Paul Mitglied des norddeutschen Krav-Maga-Kaders wurde. Das war Tom zwar unheimlich, und er hoffte, dass in den Grindelhochhäusern keine Palästinenser, Ägypter, Syrer oder Jordanier wohnten, die das nicht so witzig finden würden. Aber für Paul war es der größte Tag des Jahres. Der Beginn seiner Karriere in irgendeiner militärischen Spezialeinheit. Denn Krav Maga war nicht irgendeine Kampfkunst, sondern die Nahkampftechnik der israelischen Armee. Erfunden von einem ungarischen Juden, ausgereift in den Untergrundkämpfen der Hagana und Palmach, perfektioniert von den Spezialeinheiten der israelischen Terror-Abwehr. Paul liebte Krav Maga. Und er liebte Cheryl, seine koreanische Trainerin. Geboren in Seoul, aufgewachsen in San Francisco, unterrichtete sie jetzt die israelische Kampftechnik in Deutschland. Und da sollte noch mal jemand behaupten, Multikulti würde nicht funktionieren.

Die City-Nord, in der Instant Insurances residierte, sah ein bisschen aus wie Nordkorea: lauter gigantomanische Bauklötze in Weißgrau, Hellgrau, Schmutziggrau, Dunkelgrau und Anthrazit. Als hätten die Architekten die Farbgestaltung auf den Straßenbelag abgestimmt. Die achtspurigen Straßen trugen so farbenfrohe Namen wie Mexikoring, Kapstadtring oder New-York-Ring. Man hatte schon versucht, das Ganze durch Bäume und kleine Spazierwege aufzulockern, manchmal tauchten plötzlich Farben auf, Edeka in Spielzeugblau, RWE in Signalorange, aber wenn man länger als zehn Minuten hier unterwegs war, wurde man so depressiv wie Peter Meier. Zum Glück war man von hier schnell im Stadtpark, der sich nach Süden hin anschloss. Tom strampelte im Stehen, um Zeit aufzuholen. Paul hatte keine Mama. Genaugenommen auch keinen Papa. Umso wichtiger, dass er da sein würde, wenn Paul kämpfte. Um sechzehn Uhr dreißig. Es war sechzehn Uhr vierzig.

Paul war in allem das Gegenteil von Tom. Er hatte vor nichts Angst. Er kletterte auf Bäume, prügelte sich mit Kindern, die doppelt so groß waren wie er, paddelte im Winter mit dem Kajak durch den Isebekkanal, tauchte im Schwimmbad fünf Minuten lang und rannte über Hürden, die fast so groß waren wie er selbst. Dafür konnte er keinerlei Ordnung halten. Sein Zimmer bewies die Chaostheorie, jede denkbare Ordnung war dort außer Kraft gesetzt, und das Paul’sche Gesetz besagte: Je wichtiger ein Gegenstand, umso schneller verschwand er. Und musste von Tom ersetzt werden. Schlüssel, Portemonnaie, Mützen, Geld, Panini-Alben. Aber Paul brauchte dafür nicht sein Zimmer. Es gelang ihm mühelos, diese Dinge an jedem Ort der Welt zu verlieren.

Der Stadtpark. Fichtenwaldgeruch, Junisonne, Meisenliebesgetriller, in Tom gewannen kurzfristig die Glückshormone. Er hatte Peter Meier und drei weiteren mit ein paar Tricks zu einer Rente verholfen, er hatte den Consultant mit dem MacBook Air einfach stehen lassen, er hatte alles richtig gemacht. Er war sowieso praktisch unkündbar. Rechts schimmerte durch die Bäume das Planetarium. Er ließ den Stadtpark hinter sich und sprintete weiter Richtung Eppendorf, vorbei an gedeckt weißen Jugendstilvillen und Ahornbäumen, am Rondeelteich und den kleinen Kanälen, deren Netz nirgends so dicht und verwirrend war wie hier. Ein japanischer Tourist hatte im letzten Sommer in seinem Kanu elf Stunden lang vergeblich den Weg zurück zum Bootsverleih gesucht. Die Polizei hatte ihn um zweiundzwanzig Uhr dehydriert aufgefunden.

So etwas wäre Paul nie passiert. Paul hatte nie Angst, eine dumme Frage zu stellen. Kluge Leute erkennt man daran, dass sie dumme Fragen stellen, das hatte Tom von seiner Omi Kristin gelernt, einer Fallschirmspringerin und UNO-Mitarbeiterin, die seit vier Jahren ein Hotel am Tahrirplatz in Kairo leitete. Seitdem hatte er sie nicht mehr gesehen, denn sie hatte keine Lust, nach Deutschland zu fliegen, und Tom brachte es nicht fertig, ein Flugzeug zu besteigen.

Abteistraße. Hier irgendwo musste die Herbert-Wehner-Turnhalle sein. Irgendwo zwischen diesen palastartigen Bürgerhäusern mit den protzigen Freitreppen, den Wintergärten und Kassettenfenstern. Glücklicherweise fand er sie, er war nur fünfundzwanzig Minuten zu spät. Erst als er das dunkle, völlig ausgestorbene Gebäude vor sich sah, fiel ihm siedend heiß ein, dass er sich vertan hatte. Der Kampf war verlegt worden. Bereits völlig verschwitzt radelte Tom die Rothenbaumchaussee hinunter, vorbei an den gelblich schmutzigen Frontgebäuden des NDR-Funkhauses. Noch einmal links, geradeaus, rechts, wieder links, ziemlich lange geradeaus und wieder links. In solchen Momenten wäre ein Auto doch nicht schlecht gewesen. Endlich war er da, schloss das Rad an und rannte ins Gebäude. Und natürlich war längst alles vorbei, nicht mal Cheryl war mehr da. Was für ein miserabler Vater. Um Viertel vor vier hätte er Tenners Kopf in einen riesigen Topf mit Gel tauchen müssen, um so das Consultant-Verhör abzubrechen.

Jetzt blieb ihm nur, so schnell wie möglich nach Hause zu fahren. Von hier aus konnte man ihre Wohnung schon sehen, die billigste Luxuswohnung Hamburgs, im 13. Stock des höchsten Grindelhochhauses, direkt unterm Dach, mit Panoramablick auf die Außenalster. Für 298 Euro. Die SAGA, die städtische Wohnungsbaugesellschaft, hatte die Miete nie erhöht. Die Briten hatten die acht Grindelhochhäuser nach dem Krieg für ihre Soldaten und Offiziere gebaut, und einer davon war der Geliebte seiner Omi gewesen, Brian, sein Großvater, ein Fallschirmspringer. Tom kannte nur ein Schwarzweißfoto von 1947, auf dem Brian teenagerhaft in die Kamera grinste, und deshalb hatte er ihn sich immer nur ganz jung vorstellen können, laut lachend, Guinness trinkend, jazztanzend, vom Himmel springend, Omi Kristin umarmend. 1948 war er einfach verschwunden. Aber Kristin hatte es ihm nicht übelgenommen. Er sei mit der deutschen Grammatik nicht zurechtgekommen, und noch weniger mit dem deutschen Humor. Und sie hätte ihn ohnehin nicht geheiratet, weil sie das ja ihren geliebten Nachnamen gekostet hätte: Sternberger. Und alle ihre späteren Liebhaber, Araber, Franzosen, Griechen und Spanier, seien besser im Bett gewesen.

Kristin hatte ihm auch die Wohnung besorgt, als er an seinem achtzehnten Geburtstag hergezogen war, aus Neumünster, wo er aufgewachsen war, einer Art City-Nord in Groß. Er hatte eine Klasse übersprungen, um möglichst früh dort wegzukommen, nach Hamburg, der Verheißung seiner Kindheit. Die Stunden bei Omi Kristin in ihrer Wohnung am Hafen, die ihm so viele Geschichten erzählt hatte. Von seinem Vater, der sich auf der Anti-Springer-Demo 1968 vier berittenen Polizisten entgegengestellt hatte, um die schwangere Mama zu schützen. Von Brian, der mit ihr im Frühjahr 1946 aus dem Flugzeug gesprungen war und sie im freien Fall geküsst hatte. Von den Schubkarren voller Geldscheinen, für die man im Jahr ihrer Geburt ein einziges Kilo Butter bekommen hatte. Von ihrem Urgroßvater, der 1848 mit einem morschen Holzsegelschiff nach Amerika geflüchtet war, wo er die Socialist Party of America gründete. Von dessen Urgroßvater, der mit Napoleons Armee nach Moskau gekommen war, wo er Nikolai Gogols Nichte geheiratet hatte. Von dessen Urgroßvater, der vom spanischen König wegen Majestätsbeleidigung zum Tode verurteilt wurde. Und vor allem von dessen Urgroßvater, Carl Christoph Sternberger, der als erster Deutscher einmal um die Welt gesegelt war und zwei Schiffbrüche, eine Meuterei und einen Piratenüberfall überlebt hatte, um am Ende mit der Königin von Tonga zu schlafen.

Vor ihrem Hochhaus schloss er sein Rennrad an und sah jemanden den Weg entlangschlendern, reggaeartig wippend, hellbrauner Ziegenflaum an Oberlippe und Kinn, Armani-Sonnenbrille, rosa Anzug, alberner schwarzer Hut. Warum eigentlich sahen alle pseudocoolen Hamburger immer genauso aus wie Jan DeeJay? Moment mal: Das war Jan DeeJay. Und neben ihm tänzelte eine weitere Legende mit Hut. Tom hatte hier auch schon Ray Charles gesehen, Christina Aguilera und Tom Waits. Nicht weil er zu viel gekifft hatte (er hatte nie gekifft). Sondern weil im Erdgeschoss seines Hochhauses die renommierteste deutsche Konzertagentur residierte, TT, und Thomas Timpe, der Chef, weißhaariger Kettenraucher und Jazzfan, empfing hier immer noch jeden Tag seine Künstler. Die beiden Heroen der Hamburger Schule schlenderten auf Tom zu, und das war die Chance, sein Zuspätkommen wiedergutzumachen. Denn Paul kannte jedes Album und jedes Video von Jan DeeJay, Tom durfte nicht zögern, er musste jetzt um ein Autogramm bitten. Und das war genau das, was er nicht konnte. Der Erfinder des deutschen Reggae und Soul war nur wenige Schritte von hier im dauerbesetzten Eckhaus an der Hegestraße aufgewachsen, und er würde es hassen, zum millionsten Mal angesprochen zu werden, es verstieß ganz klar gegen die hanseatische Etikette, Promis anzulabern. Aber es ging ja gar nicht um ihn, sondern um Paul, der elf war, Jan DeeJay war auch mal elf gewesen, vielleicht konnte er sich trotz des vielen Kiffens noch daran erinnern, aber jetzt war DeeJay bereits an ihm vorbei und nach links eingebogen, in einer Sekunde würden sie bei TT klingeln, und die einmalige Gelegenheit, nun, vielleicht wäre sie doch nicht ganz so einmalig, vielleicht …

»Keine Bewegung!«, schrie jemand.

Paul.

Er war aus dem Gebüsch gesprungen und versperrte den beiden Megastars den Weg.

»Was geht?«, näselte DeeJay.

»Da«, sagte Paul und zeigte mit dem Finger auf ihn.

»Was?«, rätselte DeeJay.

»Die Sonnenbrille.«

»Was ist damit, Kleiner?«

»Die gehört mir.«

Anscheinend hatte er es in den norddeutschen Kader geschafft. Keine gute Nachricht.

»Pass auf«, rief Paul und baute sich in Kampfhaltung vor seinem persönlichen Idol auf, die langen schwarzen Haare mit seinem indianischen Stirnband nach hinten gebunden.

»Was soll das werden, Mann?«, fragte DeeJay.

»Wir kämpfen. Auf drei.«

DeeJay starrte ihn entgeistert an.

»Hast du Angst?«, fragte Paul.

»Scheiße, Mann, ich hab ’nen Termin!«

Die Legende neben ihm grinste. »Wasbisdudnfürnspießer?«, nuschelte er.

»Entschuldigung«, mischte Tom sich ein, »ich …«

»Und du hältst auch fein die Klappe!«, näselte die Legende. »Keine Panik. Das machen die beiden Zwergpudel hier schön unter sich aus.«

»Also«, kommandierte Paul. »Gewinne ich, krieg ich die Sonnenbrille.«

»Und wenn ich gewinne?«, fragte DeeJay etwas unsicher.

»Darfst du sie behalten.«

»Das is nich fair«, quäkte DeeJay.

»Feige Sau«, stöhnte die Legende. »Nun kämpf schon!«

DeeJay nahm die Brille ab und steckte sie in die Innentasche seines rosa Jacketts. Paul umkreiste ihn eine lange Minute auf dem Bürgersteig. DeeJay hatte offensichtlich in seinem gesamten Leben noch keinen Straßenkampf hinter sich gebracht. Paul war plötzlich hinter ihm, brachte ihn mit einer Fußangel zu Fall und nahm ihn in einen Judo-Haltegriff. Das hatte insgesamt vielleicht zwei Sekunden gedauert.

»Wow!« Die Legende applaudierte.

»Ergibst du dich?«, keuchte Paul.

»Also jetzt reicht’s aber«, ging Tom dazwischen und zerrte seinen Sohn weg.

»Oh, Papa!«, protestierte Paul.

»Hey, Karate Kid!« Der vampirartig bleiche Nöler aus Gronau schob seine Unterlippe vor und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Du wirst mal ’n Großer.«

»Mann, was für ’ne coole Action«, röchelte DeeJay, noch am Boden liegend. »Du musst Gangster werden.«

»Ich will bloß ’n Autogramm«, sagte Paul, kniete sich zu seinem Star, rollte den Arm seines Hemdes hoch und zeigte auf seinen Unterarm.

DeeJay blieb liegen und zog einen wasserdichten CD-Schreiber aus seinem Jackett. Dann besann er sich.

»Quatsch«, näselte er. »Du kriegst die Brille, Mann.«

Er hielt sie ihm hin. Paul sah ihn an und nahm in Zeitlupe die Brille.

»Krieg ich trotzdem ’n Autogramm?«

Die Legende scharrte ungeduldig mit den Füßen.

»Eh, Karate Kid, was is mit mir? Willst du von mir kein Autogramm?«

Paul sah hoch. Er sah seinen Vater an. Und wieder auf den hageren Rentner mit Hut.

»Entschuldigung«, sagte er mit seiner feinen hohen Stimme, »muss ich Sie kennen?«

3

Papa, warum musste ich die Sonnenbrille zurückgeben?«

Wie riesig der Himmel war, wie unermesslich weit über der Stadtlandschaft, die sich unter ihnen erstreckte, die locker hingestreuten Villen bis zum See mitten in der Stadt, der Außenalster hieß, dahinter die Silhouette des Hamburger Ostens, die Twin Towers der Mundsburg-Hochhäuser und die Imam-Ali-Moschee in leuchtendem Türkis. Um halb zehn war die Sonne untergegangen, ein glutroter Streifen lief noch quer über den Horizont und färbte die Wolkendecke darüber violett. Seit vierundzwanzig Jahren sah Tom durch seine Fensterfassade im dreizehnten Stock in diesen Himmel, studierte die Wolkenbilder und Vogelschwärme, und in diesen Momenten war das Leben perfekt, vor allem, wenn Paul auf dem rostroten Sofa in seinem Arm lag, um die Geschichten über Carl Christoph und Philipp Emanuel und Max und Josef und Kristin Sternberger zu hören. Paul sah in den Himmel, der viel größer war als die Erde, und in seinen Augen war zu lesen, dass er der nächste, der sechste in dieser unglaublichen Reihe von Abenteurern sein wollte. Jetzt aber bohrte sich stattdessen Beklemmung in Toms Magen, eine Mischung aus Giftgrün und Kloakenbraun. Seit zwei Stunden wurde in der Wohnung unter ihnen gefeiert, seit zwei Stunden beschallte sie der neue Nachbar, den er bisher noch nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte, mit arabischer Musik, seine Gäste sangen alkoholisiert mit, juchzten ihre gute Laune heraus, mitten in der Woche. Es war schon nach zehn, um halb sieben mussten sie aufstehen, und diese zwei Stunden waren erst der Anfang gewesen, dieser Lärm würde garantiert noch lange weiterwummern, wenn Tom nichts unternahm, bis drei, bis vier, bis fünf Uhr nachts.

»Papaa! Warum musste ich sie zurückgeben?«

Paul konnte sich nicht damit abfinden. Er konnte sich nie mit etwas abfinden. Auf Dauer konnte er mit dieser Einstellung nur CEO eines Weltkonzerns werden. Oder Obdachloser am Hoheluftbahnhof.

»Paul, was glaubst du, was ’ne Armani-Brille kostet?«

Paul fing an, sich mit dem linken Zeigefinger in der Nase zu bohren. »Er hat sie mir gegeben.«

»Achthundert Euro. Wir sind keine Diebe, Paul.«

»Papaa.« Paul seufzte. »Ist man ein Dieb, wenn man jemanden besiegt, der doppelt so schwer und dreimal so alt ist wie man selbst?«

Der Finger war jetzt praktisch in der Nase verschwunden.

»Ich dachte immer, Krav Maga wäre keine Überfalltechnik, sondern ein Mittel zur Selbstverteidigung.«

Jetzt wurde der Lärm unten von einem neuen Geräusch ergänzt. Es erinnerte Tom an seine ethnologischen Forschungen. Anscheinend führten die Einweihungsgäste einen kenianischen Stampftanz auf, Teil des Initiationsrituals, mit dem die Kikuyu ihre Jungen in die Gemeinschaft der Großen aufnahmen. Drei Tage und Nächte stampften sie dort in einer Höhle im Kreis, eingehüllt in Zebrafelle, unter dem Einfluss psychedelischer Pilze, zum Rhythmus von zehn mannshohen Djembén. Am Ende goss ein Schamane mit einem Tierkopf den Jungen Honig über die Stirn und sie mussten mit verbundenen Augen in einen eiskalten Bach springen. Hatten sie den Honig abgewaschen, waren sie neu geboren. Etwas Ähnliches fand dort unten anscheinend auch gerade statt.

»Probier das bloß nie bei einem echten Gangster, Paul.«

Paul schwieg, zog den Finger aus der Nase und betrachtete ihn. Nicht ablecken, dachte Tom. Kinder taten solche Dinge. Und seine Nerven waren ohnehin am Ende.

»Da bockt das doch richtig, Papa.«

Er wischte sich den Zeigefinger an seinem Pyjama ab.

»Paul, ich verbiete es dir.«

Paul lachte ihn nur aus.

»Papa, Cheryl hat mal drei Hells Angels besiegt. Ohne Waffe!«

Cheryl. Seit zwei Jahren musste Tom sich ihre Weisheiten und Heldentaten anhören. Sätze wie: Wenn du den Tiger töten willst, musst du zum Tiger hingehen. Gar kein schlechter Satz eigentlich. Tom musste da runtergehen. Cheryl wäre runtergegangen. Im Unterschied zu Cheryl würde er dort aber nichts ausrichten.

»Ich sag dir jetzt mal was, Paul: Ich hab mich in meinem Leben noch mit niemandem geprügelt. Und das war auch nicht nötig. Wohingegen Kampfsportler Ärger so auf sich ziehen wie eine Feuerwehr, die mit Benzin löscht.«

»Papa, das hab ich dir doch schon tausendmal erklärt. Krav Maga ist kein Kampfsport. Krav Maga … äh, Papa, was machst du?«

Tom war aufgestanden und ging in den Flur.

»Ich geh da jetzt runter.«

»Wozu?«

»Die sollen das leiser machen.«

»Papa, das is ’ne Einweihungsparty! Und es ist grade mal zehn!«

»Du musst schlafen.«

Paul stöhnte. »Glaubst du, das bringt was?«

Wumm Wumm Wumm. Tom zog seine Schuhe an. Nein, es würde nichts bringen. Aber dieser Kenianer musste einfach mal mit den Gepflogenheiten der deutschen Kultur bekanntgemacht werden. Sonst hatte er ja gar keine Chance, sich zu integrieren. Tom tat ihm einen Gefallen.

»Du machst dich nur zum Ho-orst!«, rief Paul hinterher.

Eine Minute später stand Tom unten vor der Tür und klopfte. Es schien ihm freundlicher, als zu klingeln, und er wollte es sich ja nicht gleich mit dem Mann verderben.

Niemand reagierte.

Tom klopfte wieder. Natürlich, bei dem Lärm war Klopfen nicht zu hören. Er klingelte einmal, zweimal, dreimal. Der Mann, der ihm öffnete, sah aus wie Gerald Asamoah und trug ein farbenfrohes, fußlanges Gewand. Wie Gerald Asamoah auf der Konfirmation seiner kenianischen Nichte.

»Hi«, begrüßte er ihn mit einem Grinsen, das seine großen weißen Zähne vorteilhaft zur Geltung brachte. »Come in. We have a parrrty!«

Genüsslich rollte er das R. Und Tom stellte bei geöffneter Tür fest, dass die Musik gar nicht so laut war. Anscheinend drang der Lärm direkt nach oben in seine Wohnung.

»No, no«, wehrte Tom ab.

»Yes, yes!«, grinste der Kenianer und machte eine Tanzbewegung mit der Hüfte. Drinnen sah es aus wie bei einem Ethnomaskenball: Sari-Inder, Kimono-Japaner, Kaftan-Afrikaner.

»I am the neighbour«, sagte Tom. »From upstairs.«

»No problem«, erklärte der neue Nachbar. »You are invited!«

Seine Freundlichkeit war unerträglich.

»I have a little son«, erklärte Tom.

»Me too.« Der Kenianer zwinkerte ihm vertraulich zu. »And seven daughters!«

Und die wohnten alle hier? Auf drei Zimmern?

»Down in New Orleans …«

Er machte eine unbestimmte Geste, als läge New Orleans südlich von hier, ungefähr bei Uelzen. Wahrscheinlich der neue Trompeter der NDR-Bigband, dem einzigen deutschen Rundfunkorchester ohne eine einzige Frau.

»No, he must sleep!«, erklärte Tom und legte zur Erklärung den Kopf quer auf seine Hand und schloss die Augen, als ob der Mann aus New Orleans das Wort sleep nicht verstehen würde. Im selben Moment wurde ihm die Idiotie der Geste bewusst.

»Yeah, man«, sagte der Trompeter. »We’ll turn it down!«

Damit schloss er die Tür. Wahrscheinlich hielt er ihn für komplett verrückt.

Um halb zwölf wurde Paul wirklich müde.

»Hatten die nicht gesagt, die machen es leiser?«

»Eigentlich schon.«

Was bedeutete eigentlich das Wort eigentlich? Sie hatten es keinen Dezibel leiser gemacht. Heute Morgen, als das Ballongesicht ihm gegenübersaß, war Tom noch mächtig gewesen. Jetzt war er so machtlos, dass es wehtat. Die Musik wechselte von Arabisch auf Südafrikanisch: Dur-Akkorde, unverzerrte elektrische Gitarren und die endlose Wiederholung derselben viertaktigen Folgen. Fröhlichkeit pur. Um die Zeit zu überbrücken, hatte Tom eine Tüte Paprikachips Oriental geöffnet und Paul alle seine Lieblingsgeschichten erzählt. Wie Carl Christoph Sternberger in Bali mit zwei Krokodilen gekämpft hatte, die sich am Ende gegenseitig erledigten. Wie er sich in Borneo drei junge Tiger als Haustiere hielt. Und von den beiden japanischen Dieben, die er erwischt hatte und die unbedingt zusammen hingerichtet werden wollten.

»Was meinst du, Papa, gab’s damals schon Krav Maga?«

»Ich geh jetzt noch mal da runter.«

»Ich schlaf schon mal.«

Paul schloss die Augen. Für Tom war das keine Option. Er spielte vierstimmige Fugen von Bach auf der Gitarre, er war es gewohnt, auf feinste Frequenzüberlappungen zu hören. Er konnte nicht bei südafrikanischer Parrrtymusik einschlafen.

»Salam aleikum!«

Diesmal hatte ein Beduine die Tür geöffnet, bronzefarbenes Gesicht mit kräftigen tiefschwarzen Haaren und Augenbrauen, in einem olivbraunen Beduinenkostüm mit hochgestelltem Kragen, das bewies, wie männlich ein Mann im Kleid wirken konnte.

»Aleikum as salam«, antwortete Tom. So weit reichte sein Arabisch noch. »Law samaht …«

Das hieß so viel wie Wenn Sie gestatten, aber der Beduine entnahm daraus die Information, dass Tom fließend Arabisch sprach und überschüttete ihn nun mit einem Redeschwall, laut, speichelversprühend, mit ausladenden Gesten. Als sich aber immer nur wieder Unverständnis in Toms Gesicht zeigte, drehte er sich um und rief einen Namen.

Und dann kam sie. Ohne Pumps vermutlich kaum eins sechzig, das Gesicht begraben unter einem Wasserfall schwarzgelockter Haare, unter dem riesige, kreisrunde Silberohrringe hervorblitzten. Auf ihrem kurzärmeligen schwarzen Kleid leuchteten orangerote, holzschnittartige Gazellen, und mitten in ihrem Gesicht saß eine wunderschöne große Nase mit einem markanten Höcker. Und dann waren da noch diese unfassbar grünen Augen hinter der silbernen Schmetterlingsbrille, die mal einer italienischen Filmdiva von 1954 gehört haben musste. Sie sah Tom an und rief begeistert:

»Georges?«

Bevor Tom reagieren konnte, stürzte sie sich auf ihn, drückte sich an ihn und küsste ihn unvermittelt auf den Mund, ihre warmen, großen Julia-Roberts-Lippen auf seinen. Anscheinend hatte sie schon lange auf Georges gewartet. Nur dass er nicht Georges war. Er löste sich eine Sekunde zu spät von ihr und setzte zu einer Erklärung an.

»Tu n’est pas George?«

»Äh, non …«

Sie trat einen Schritt zurück, ihre Pupillen zogen sich zusammen, dann knallte sie ihm eine Ohrfeige auf die rechte Wange und verschwand in der Wohnung.

Tom stand einen Augenblick wie benommen, bis das Gesicht des Mannes aus New Orleans in der Tür erschien.

»Sorry, man!«, grinste er. »Can I help you?«

Um halb zwei wachte Paul wieder auf. Tom hatte ihn die letzten Stunden im Arm gehalten und über sein Leben nachgedacht.

»Papa, machen sie jetzt leiser?«

Seine Stimme hatte alle frühpubertäre Genervtheit abgelegt. Sie klang wieder wie die eines Kindes, schläfrig und unschuldig. Es gab nichts, was das Herz mehr berührte als der Klang der Stimme des eigenen Kindes.

»Nein.«

Paul wandte sich ihm zu.

»Was ist, Papa?«

Paul merkte immer alles sofort. Es hatte keinen Sinn zu lügen.

»Da war eine Frau.«

»Eine Frau?« Paul war wieder hellwach. »Ist sie was für dich?«

Gleich würde er mit seinem Lieblingsthema anfangen. Geschwister.

»Sie hat mich geküsst.«

»Papa. Wahnsinn!«

Paul wünschte sich nichts mehr, als dass sein Vater sich endlich wieder verliebte. Und etwas mehr Erfolg bei den Frauen hatte. So wie Philipp Emanuel Sternberger 1711 bei der spanischen Königin. Aber 1711 war man mit eins einundsiebzig noch ein Riese gewesen. Heute war man damit ein Zwerg, den Frauen nicht zur Kenntnis nahmen.

»Es war ein Missverständnis.«

»Echt?«

Sein ganzes Leben war ein Missverständnis. Und die eins einundsiebzig waren bloß eine Ausrede. Mit Judith und Annalena hatte es ja funktioniert. Judith und Annalena. Zwei Frauen. In zweiundvierzig Jahren. Was war es bloß, fluchte Tom in sich hinein, was ihm diese hobbithafte Unmännlichkeit verlieh? Die Sternberger’sche Knubbelnase?

Unten waren sie jetzt bei New-Orleans-Jazz angelangt. Tom mochte diese Musik. Nur nicht Dienstagnacht um ein Uhr vierunddreißig. Warum eigentlich beschwerte sich kein anderer Nachbar? Hatten die keine Ohren? Oder standen sie unter Vollnarkose?

Paul nahm die Hand seines Vaters.

»Papa?«

»Ja?«

»Holst du dir bald mal ’ne neue Frau?«

Tom lächelte schwach in der Dunkelheit.

»Wir holen uns keine Frauen, Paul. Die Frauen holen uns.«

»Weil, ich bin jetzt elf, Papa. Wenn ich nicht bald einen Bruder kriege, dann bin ich schon in der Pubertät. Und das ist zu spät.«