Ich schreib dir jeden Tag - Suzanne Hayes - E-Book

Ich schreib dir jeden Tag E-Book

Suzanne Hayes

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Beschreibung

So nah und doch so fern - eine Freundschaft in Briefen "Liebe Rita, ich hoffe, dieser Brief erreicht dich bald. Ich habe das Gefühl, unser Leben besteht nur noch aus Warten - auf Nachricht von unseren Lieben, auf das Ende des Winters, auf den Frieden. Vielleicht ist das größte Geschenk dieses Krieges die Geduld ..." Es ist Winter 1943, als Rita Vincenzo den ersten Brief von Gloria Whitehall erhält. Rita ist Gloria noch nie begegnet. Trotzdem schreibt sie zurück, denn sie teilt Glorias Schicksal: Ihr Mann kämpft an der Front. In ihren Briefen geben Gloria und Rita einander Halt und überstehen so Verluste, Herzensverirrungen und die langen Nächte des Wartens. Ein berührender Roman, geschrieben von zwei Freundinnen, die sich trotz der Arbeit an diesem Buch noch nie begegnet sind

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Das Buch

Im Winter 1943 erhält Rita Vincenzo den ersten Brief von Gloria Whitehall. Gloria ist Mitte zwanzig und gerade mit ihrem zweiten Kind schwanger. Sie lebt an der Ostküste und verkehrt in den gehobenen Kreisen Neuenglands. Ihre Brieffreundin Rita ist Anfang vierzig, lebt in Iowa und muss zusehen, wie sie über die Runden kommt. Obwohl Rita nur wenig mit Gloria gemeinsam hat, schreibt sie zurück, denn sie teilt Glorias Schicksal: Ihr Mann kämpft an der Front. Schnell stellt sich heraus, dass ihre gegenseitigen Briefe weit mehr sind als ein bloßer Austausch von Höflichkeiten. Zwischen Rita und Gloria entsteht – trotz der räumlichen Distanz – eine tiefe Freundschaft. Gloria sucht Ritas Rat, als sie sich in einen anderen Mann verliebt. Und Gloria steht Rita bei, während sie verzweifelt auf ein Lebenszeichen von ihrem Mann hofft. Durch Briefe miteinander verbunden, überstehen die beiden Frauen die Wirren des Krieges und finden Halt in ihrer Freundschaft.

Die Autorinnen

Loretta Nyhan lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in der Nähe von Chicago. Über E-Mails und Blogeinträge hat sie Suzanne Hayes kennengelernt, die mit ihrer Familie in Connecticut lebt. Obwohl sie sich vorher noch nie persönlich begegnet sind, ist zwischen den beiden Autorinnen eine Freundschaft entstanden, die die Grundlage für diesen Roman bildet.

SUZANNE HAYESLORETTA NYHAN

IchSCHREIBDIR JEDENTag

ROMAN

Aus dem Amerikanischen

von Nina Bader

LIST TASCHENBUCH

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

ISBN 978-3-8437-0936-1

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014© 2013 by Suzanne Palmieri and Loretta NyhanTitel der Originalausgabe: I’ll be seeing you(Harlequin Books, S.A. Switzerland)Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © bürosüd° GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Für all die Frauen, die gewartet haben,und für die, die immer noch warten.

10. Januar 1943

ROCKPORT, MASSACHUSETTS

Liebe »Gartenhexe«,

ich habe mir bei dem Versuch, das hier richtig hinzubekommen, fast die Finger wundgeschrieben.

Heute Abend fühle ich mich ziemlich einsam und bedrückt, daher schlage ich jegliche Vorsicht in den Wind und schreibe Dir, einer Frau, die ich gar nicht kenne, und zwar wohl wissend, dass Du vielleicht nicht die Zeit (oder den Wunsch) hast, mir zu antworten.

Ich denke, am besten fange ich am Anfang an, nicht?

Hier gibt es eine 4-H-Frauengruppe, die sich immer mittwochnachmittags im Saal der Kirchengemeinde trifft. Ich passe eigentlich gar nicht dazu, versuche aber, mir so die Zeit zu vertreiben. Wie dem auch sei, sie geben dort leider nicht die richtigen Namen der Mitglieder heraus, sondern nur die Adressen. Und sie sagten, wenn wir uns einsam fühlen (was ich tue) oder verzweifelt sind (was bei mir noch nicht der Fall ist, aber ich spüre, wie dieses Gefühl von Tag zu Tag stärker von mir Besitz ergreift) oder sonst etwas, dann könnten wir uns hinsetzen und einem Mädchen, das vielleicht in derselben Situation ist, einen Brief schreiben. In derselben Situation. Ich fand es einfach herrlich, wie Old Lady Moldyflower (Mrs Moldenhauer) das sagte. Was weiß sie schon von unserer »Situation«?

Sie ließen einen Hut voller Zettel mit falschen Namen und echten Adressen herumgehen. Sinn und Zweck ist vermutlich Anonymität, aber ich dachte, wenn wir uns schon regelmäßig schreiben, dann können wir uns auch ruhig kennen. Die Zettel waren nicht zusammengefaltet, und die Mädchen wühlten in dem Hut herum und suchten sich die heraus, die ihnen gerade gefielen. Mir kam das Ganze offen gestanden ziemlich kindisch und unpraktisch vor. Ich wollte erst gar keinen Namen ziehen, aber Mrs Moldenhauer stieß mich so fest an, dass ich jetzt vermutlich einen blauen Fleck am Oberarm habe. Um sie zu ärgern, nahm ich mir als Letzte einen Zettel. Ich schätze, die anderen Mädchen haben Dich nicht ausgesucht, weil das Wort »Hexe« in Deinem Pseudonym vorkommt. Aber ich halte es für einen Glücksfall, Dich bekommen zu haben, denn im Moment kann ich ein bisschen Magie ganz gut brauchen. Ich bin jetzt im siebten Monat, und Robbie junior ist erst zwei. Er ist ein richtiger kleiner Rabauke.

Tja, ich hoffe, Du erhältst meinen Brief und hast Lust, zurückzuschreiben. Es wäre schön, zum Briefkasten zu gehen und nicht nur voller Spannung nachzusehen, ob ein Brief mit einem Armeesiegel drauf gekommen ist.

Mein Name ist Gloria Whitehall. Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, und mein Mann ist Hauptfeldwebel Robert Whitehall in der Zweiten Infanterie.

Ich freue mich, Deine Bekanntschaft zu machen.

Herzliche Grüße

Glory

1. Februar 1943

IOWA CITY, IOWA

Liebe Glory,

ich hoffe, Du bist gesund und munter, wenn Du diesen Brief erhältst.

Es tut mir leid, dass ich so spät antworte, aber ich will ehrlich sein, ich habe eine Woche hin und her überlegt, ob ich den Brief Mrs Kleinschmidt zeige, meiner Nachbarin. Sie war es nämlich, die mich zu der 4-H-Weihnachtsfeier geschleppt hat, bei der wir Soldatenfrauen unsere Pseudonyme auf diese rosa Zettel gekritzelt haben. Ich hatte an diesem Tag ziemlich schlechte Laune, daher fiel die Wahl auf »Gartenhexe«. Allerdings habe ich tatsächlich vom späten Frühjahr bis zum frühen Herbst einen wirklich schönen Garten. Magisch kann ich ihn nicht nennen, aber er besitzt eindeutig Persönlichkeit. Letztes Jahr habe ich Sonnenblumen gesät, die riesengroß geworden sind und fast bis an unsere Dachrinne reichten. Mrs Kleinschmidt hat sie als »vulgär« bezeichnet und behauptet, sie bekäme Kopfschmerzen, wenn sie in ihre runden, pockennarbigen Gesichter blicken müsste. Was für mich natürlich ein Ansporn ist, dieses Jahr noch mehr davon zu ziehen.

Für den Fall, dass Du mich wirklich für eine Hexe hältst, sollte ich Dir lieber meine »Situation« beschreiben, wie Deine Version von Mrs K. in Rockport es so verniedlichend ausdrückt.

Mein Sal ist eigentlich zu alt, um im Krieg zu kämpfen, hat sich aber trotzdem gleich nach Pearl Harbor gemeldet. Bis dahin hat er hier an der Universität Biologie gelehrt. Als wir noch in Chicago wohnten, hat er ein paar Jahre in einem Krankenhaus gearbeitet, also haben sie ihn der 34. Infanterie als Sanitäter zugeteilt. Zuletzt las ich, dass seine Division in Tunesien stationiert ist. Ich musste im Atlas nachschlagen, wo das liegt.

Mein Sohn Toby ist an Halloween achtzehn geworden. Nach Weihnachten hat er in Maryland mit der Grundausbildung für die Navy begonnen. Bis zum Tag seiner Abreise habe ich ihm immer noch das Bett gemacht und seine Sachen gebügelt, deswegen mache ich mir große Sorgen, wie er wohl zurechtkommt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Ausbilder sonderlich geduldig sind.

Außerdem sieht Toby für sein Alter jung aus. Er hat noch ganz rosige Wangen, und sein blondes Haar ist gelb wie der Mais, der auf jedem Quadratmeter dieses Staates wächst. Meine Eltern stammten aus München, daher habe ich ihn, seit er so alt war wie dein Robbie, mit Schnitzeln und Kartoffelknödeln vollgestopft. Ich hoffe, dass die Deutschen ihn automatisch für einen der ihren halten, wenn sie ihn sehen. Er sieht aus wie der personifizierte Traum des Führers!

Dein Junge scheint ein richtiger Lausbub zu sein. Toby war immer still, aber als er noch klein war, musste ich ihm auch ständig hinterherrennen – die Treppe hoch oder die Straße hinunter. Ich habe diese Zeit damals nicht zu schätzen gewusst, weil ich es kaum erwarten konnte, dass er alt genug wurde, um sich beim Lunch mit mir zu unterhalten. Doch als es so weit war, hat er viel lieber die Nase in ein Buch gesteckt.

Auch ich kenne die Einsamkeit und das Gefühl, nicht dazuzugehören. Ich lebe seit zehn Jahren in dieser Stadt und kann nur eine Frau als echte Freundin bezeichnen. Sie heißt Irene und arbeitet in der Universitätsbibliothek. Wir haben uns 1935 im Englert-Kino hier in Iowa City bei einer Nachmittagsvorstellung von Der dünne Mann kennengelernt. Ich hatte es gründlich satt, immer allein im Kino zu sitzen, also ging ich zu Irene hinüber und sagte ihr, mit ihrem schönen dunklen Haar sähe sie aus wie Myrna Loy. (Was nicht stimmt, noch nicht einmal, wenn man die Augen zusammenkneift.) Sie lachte über das hohle Kompliment, und seitdem sind wir befreundet.

Irene ist ein paar Jahre jünger als ich, schüchtern und nicht verheiratet, aber mir ist mittlerweile klar, dass solche Unterschiede im Laufe der Zeit kaum mehr ins Gewicht fallen. Wir treffen uns fast jeden Mittag zum Lunch und frieren uns auf einer Metallbank den Hintern ab, weil die Navy die Cafeterias der Ausbildungsstätten für Piloten geschlossen hat. Man sollte meinen, deren Unterricht fände hauptsächlich in der Luft statt, aber was verstehe ich schon davon? Wir beide stöhnen und jammern zwar, weil wir draußen sitzen müssen, aber eigentlich macht mir die Kälte nichts aus. Diese Lunchstunde ist nämlich tatsächlich der Höhepunkt meines Tages.

So viel also zu mir, zu Marguerite Vincenzo. Fast einundvierzig Jahre alt. Gartenhexe.

Es ist schön, Dich über so viele Meilen hinweg kennenzulernen, Glory. Du sagtest, Du könntest ein bisschen Magie gebrauchen? Nun, ich hingegen brauche eher etwas Glanz und Gloria. In dieser Stadt findet man davon nicht viel.

Viele Grüße

Rita

PS: Die Leute hier nennen mich Margie. Das kann ich nicht ausstehen. Sal nennt mich manchmal Rita, und diesen Namen möchte ich gerne beibehalten. Ich hoffe, Du hast nichts dagegen.

14. Februar 1943

ROCKPORT, MASSACHUSETTS

Liebe Rita,

Rita? Wie Rita Hayworth? O Mann, der Name gefällt mir. Hast Du auch rote Haare? Ach, Rita, ich bin so froh, dass Du geantwortet hast. Ich hatte schon Angst, ich könnte Dich vergrault haben.

Und dann habe ich Deinen Brief jede Nacht gelesen. Und über Deinen Jungen und Deinen Mann, Sal, nachgedacht. Er ist Italiener? Ich wäre auch gerne Italienerin; ich stelle mir das so romantisch vor. In meiner Jugend habe ich einige Zeit in Italien verbracht. Wenn ich jetzt manchmal an diesen Krieg denke, fallen mir zugleich auch all die schönen Orte ein, an denen ich gewesen bin, die Leute, die ich getroffen habe, und dann mache ich mir große Sorgen. Wie wird die Welt nach all dieser Gewalt aussehen?

Deine Zeilen haben mir eine dringend benötigte Verschnaufpause von Angst und Sorgen verschafft. Danke dafür. Über Deine Geschichte mit den Sonnenblumen habe ich mich halb totgelacht. Ich möchte lernen, etwas aus diesem felsigen Stück Land hinter unserem Haus zu machen. Es verwahrlost, weil sich niemand darum kümmert, ist aber trotzdem wirklich hübsch. Robert möchte, dass ich zu seiner Mutter nach Beverly ziehe, aber ich bringe es nicht über mich, von hier wegzugehen. Es war einst das Sommerhaus meiner Familie (obwohl wir es als unser Zuhause bezeichnen, seit Robert und ich geheiratet haben). Mit dem Meer auf der einen und dem Wald auf der anderen Seite wirkt seine Lage hier so beruhigend. Ich bin in zehn Minuten in der Stadt, und der Bus hält direkt am Ende unserer Straße. Ich wünschte, Robert würde sich nicht so viele Sorgen machen. Schließlich bin ich mein Leben lang unabhängig gewesen.

Dein Sal ist also in Tunesien? Wie aufregend! Mein Robert ist zur Ausbildung in Sparta, Wisconsin. Ich vermute, drüben in Europa wird es kalt sein. Komisch, ich erinnere mich immer daran, dass es dort warm war. Und ich ertappe mich dabei, immer intensiver über die Vergangenheit nachzugrübeln, je stärker mein Babybauch anschwillt. Ist das nicht merkwürdig? Aber vermutlich macht es einem dieser Krieg fast unmöglich, über die Zukunft nachzudenken.

Erzähl mir mehr von Dir, Rita. Erzähl mir, was Du sonst noch in deinem Garten ziehst und wie Du das anstellst. Soll ich jetzt irgendetwas in meinem Hintergarten tun? Schreib mir, wie es ist, einen erwachsenen Sohn zu haben. Robbie bringt mich noch um den Verstand. Er hasst das Baby jetzt schon. Ich gebe mir Mühe, ihm zu versichern, dass alles gut wird, aber wie kann ich das mit gutem Gewissen tun? Mein Sohn ist kein Dummkopf. Er weiß, wann ich lüge.

Die Medizin schmeckt bestimmt nicht scheußlich.

Das Bad ist nicht heiß.

Daddy wird nichts passieren.

Alles Lügen.

Ich bin jetzt so dick, dass ich nicht mehr viel tun kann. Und der Schnee – es schneit und schneit pausenlos. Ich gehe einmal in der Woche auf den Markt und dann wieder nach Hause.

Also danke, Rita. Danke, dass Du zurückgeschrieben hast. Hier ist das Leben so beengt, und jetzt fühlt es sich offener an, wie ein weites, weites Feld in Iowa.

Ich lege eine Zeichnung von dem quadratischen, felsigen Stückchen Land bei, das ich als meinen Hintergarten bezeichne. Er bekommt viel Sonne. Sag mir, was ich in diesem Selbstversorger-Garten für die Kriegszeiten, der allseits so eindringlich propagiert wird, anpflanzen soll, Gartenhexe.

Und erfinde eine bessere Lüge, die ich meinem Sohn auftischen kann, damit er einmal so offen, anständig und aufrichtig wird, wie Deiner es zu sein scheint.

In großer, neu entdeckter Zuneigung

Glory

19. Februar 1943

IOWA CITY, IOWA

Liebe Glory,

ich wünschte, ich hätte rote Haare. Früher war mein Haar so leuchtend blond wie Tobys, doch jetzt ist es ausgebleicht und glanzlos. Ich benutze immer einen korallenroten Lippenstift, um die Aufmerksamkeit davon abzulenken. Dem Himmel sei Dank für Mr Max Factor.

Dein Brief kam übrigens gestern kurz vor der Lunchzeit. Ich habe ihn gelesen, während ich im Capitol Café lustlos auf meinem Hamburger herumkaute. Irene besucht in Omaha Familienangehörige, daher hatte ich geplant, mit Eiersalat und einer Tasse Tee zu Hause zu bleiben. Doch dann kam der Briefträger, und ich wurde kribbelig und marschierte mit der Post, die er gebracht hatte, in die Stadt.

Ich kann mich nur schwer an die derzeitige Leere hier gewöhnen: Es ist mitten im Semester, und trotzdem könnte ich eine Bowlingkugel über die Washington Street rollen, ohne Gefahr zu laufen, jemanden damit zu treffen. Ich bin sicher, dass auch das Wetter eine Rolle spielt (wir haben mittags ganze acht Grad), aber vor allem liegt es wohl an diesem Krieg. Mittlerweile sind so viele Jungs in Übersee, dass man die Universität genauso gut in »Schwester Josephines Schule für junge Damen« umbenennen könnte. Und diese jungen Damen haben keine Zeit, durch die Stadt zu schlendern – sie sind alle irgendwo beschäftigt und bienenfleißig.

Du klingst, als hättest Du auch einiges um die Ohren. Dein Robbie wird mit der Zeit schon ruhiger werden, er ist gerade in einer schwierigen Phase. Wenn ich so darüber nachdenke, bringt jedes Alter Probleme mit sich, selbst dann, wenn die Kinder das Haus verlassen haben. Nimm zum Beispiel meinen Toby. Du hast offenbar eine falsche Vorstellung von ihm – er ist weit davon entfernt, ein Heiliger zu sein.

Als ich gestern aus dem Café zurück war, klopfte jemand an die Eingangstür. Vor Schreck blieb mir fast das Herz stehen – dieser Tage ist ein unangekündigter Besucher ja so willkommen wie der Teufel persönlich –, und ich rannte zum Fenster, um zu schauen, ob ein Behördenfahrzeug in unserer Auffahrt parkte. Als ich sah, dass ein Mädchen auf der Veranda stand, hätte ich am liebsten einen Freudentanz aufgeführt. Sie war ein mageres, farbloses Ding, das wimmerte wie ein Kätzchen, und als ich sie hereinbat, fing sie an, so große, dicke Tränen zu weinen, dass ich fürchtete, sie könnte ertrinken.

Sie heißt Roylene.

»Meinem Daddy gehört Roys Kneipe? In der Clinton Street? Bei dem Coop-Lebensmittelladen?«

Bei diesem Mädchen klingt alles wie eine Frage, als würde ihr das Selbstvertrauen fehlen, eine Feststellung zu treffen. Ich nahm ihr den Mantel ab, warf einen verstohlenen Blick auf ihren Bauch (flach wie ein Pfannkuchen, Gott sei Dank) und schenkte ihr eine Tasse Tee ein. Sie schlürfte beim Trinken wie ein Chinese.

Anscheinend ist mein Toby, als er achtzehn wurde, geradewegs zum Rekrutierungsbüro marschiert und hat auf dem Heimweg einen Abstecher in Roys Kneipe gemacht. Anstatt im November letztes Jahr zur Schule zu gehen, hat er dort auf einem Barhocker rumgesessen, Gedichte in seine Notizbücher geschrieben und sie dann Roylene vorgetragen. »Mein Daddy sagt, ich bin hinter der Theke zu nichts zu gebrauchen? Also arbeite ich in der Küche? Toby sitzt zwischen den Säcken mit Weizen und Kartoffeln und leistet mir Gesellschaft?«

Bei der letzten Frage fing sie wieder an zu weinen. Ich schwöre Dir, Glory, dass ich nicht wusste, was ich machen sollte. Ich tätschelte ihr die Hand, die nur aus Haut und Knochen bestand. Das Mädchen mag ja in einer Küche arbeiten, aber essen tut sie ganz bestimmt nichts.

»Hast du versucht, ihm zu schreiben, Schätzchen?« Da weinte sie noch heftiger, und ihr schmaler Körper sackte über dem Küchentisch zusammen.

»Ich bin darin nicht so gut? Ich dachte, ich warte einfach, bis er wiederkommt? Aber ich kann nicht mehr warten?«

»Soll ich ihm eine Nachricht mitschicken, wenn ich ihm das nächste Mal schreibe?«

Ihr Gesicht hellte sich auf, und ein paar Sekunden lang konnte ich sehen, weshalb Toby sich für sie interessierte.

»Bitte?«

Also kommt sie nächsten Montag wieder her, an ihrem freien Tag. Ich habe keine Ahnung, wie Toby wirklich zu ihr steht. Ich würde ihm am liebsten schreiben und ihn fragen, aber im Moment erscheint mir das ziemlich schäbig.

Ich habe mich mit Deinem Gartenproblem befasst. Allerdings bin ich diesbezüglich ziemlich verwöhnt, denn die Erde in Iowa ist lehmig und fruchtbar. Also fragte ich Irene um Rat. Sie meinte, ich solle an die felsigen Gegenden denken, über die man so in der Zeitung liest – an die Küste Italiens, die Berge Griechenlands. Was baut man dort an? Oregano? Zitronenmelisse?

Oder Du könntest ein paar Lagen Kompost auf Deinem Grundstück verteilen, um etwas vorzutäuschen, was nicht ist. Das tun wir doch alle, nicht wahr? Wir machen das Beste aus dem, was wir haben. Das ist keine Lüge, Liebes. Sieh es nicht so eng. Es ist eine Hoffnung schaffende Täuschung. Betrachte sie als Deine patriotische Pflicht.

Liebe Grüße

Rita

20. Februar 1943

US-FELDPOSTBRIEFVON MARGUERITE VINCENZOAN DEN

GEFREITEN SALVATORE VINCENZO

Sal,

ich kriege genau fünfzehn Zeilen auf diese verdammten Dinger. Sechzehn, wenn ich nicht unterschreibe. Du weißt schon, von wem der Brief kommt, oder? Vielleicht versiegle ich ihn mit einem Kuss, und der Zensor verschmiert sich die Finger mit Lippenstift.

Ich vermisse Dich. Die Nächte sind ruhig, aber jeder Morgen ist schlimm – die Stadt wirkt wie leer gefegt, als hätten sich alle aus dem Staub gemacht, ohne sich zu verabschieden. Ich weiß, was Du jetzt denkst, aber ich versuche wirklich, mich immer irgendwie zu beschäftigen. Versprochen. Ich habe eine Soldatenfrau als Brieffreundin (Überraschung, Überraschung!), und Mrs Kleinschmidt hat mich dazu gebracht, bei der American Legion Verbände aufzuwickeln. Schon beim bloßen Anblick wird mir ganz anders. Verbände dienen schließlich nur einem einzigen Zweck, Du weißt schon.

Aber ich sollte über solche Dinge nicht schreiben, also lasse ich es lieber. Die Vorstellung, dass Du einen Brief mit geschwärzten Worten bekommst, ist einfach zu deprimierend.

Toby hat übrigens letzte Woche geschrieben. Er sagt, die Luft in Maryland riecht wie Fischsuppe, und sein Kojengenosse heißt Howard. Aber er hat vergessen, das Mädchen zu erwähnen, das vor ein paar Tagen seinetwegen bei mir vorbeikam, so ein mageres Ding namens Roylene. Klingelt es da bei Dir? Ich hatte keine Ahnung, dass es sie gibt. Aber vermutlich ist alles ganz harmlos.

Jetzt habe ich alles geschrieben. Nur noch eine Zeile, um Dir zu sagen, dass ich Dich liebe. Und das tue ich. Pass auf Dich auf. XO Rita

1. März 1943

ROCKPORT, MASSACHUSETTS

Liebe Rita,

ich freue mich, dass Du so gut Geschichten erzählen kannst. Ich habe es mir schon lange nicht mehr mit einem guten Buch gemütlich gemacht, eigentlich seit Robbies Geburt nicht mehr. Als Mädchen konnte ich nur mit einer Decke und dem neuesten Nancy-Drew-Krimi bewaffnet den ganzen Tag am Strand verbringen. Ich mochte ihre unverblümte Erzählweise. Sie hat sich vor nichts gescheut, das habe ich ungemein bewundert.

In was für eine mysteriöse Situation Du da geraten bist! Ich frage mich, was Dein Junge im Schilde führt. Magst Du sie, dieses Mädchen? Ich konnte es Deinem Brief nicht entnehmen. Vermutlich kommt es darauf auch gar nicht an. Wenigstens hast Du etwas, das Dich von der ständigen Angst um Sal ablenkt.

Claire Whitehall, die Mutter von meinem Robert, mag mich nicht. Mochte mich noch nie. Sie zählt mich zu den »Neureichen«, weil meine Mutter genau genommen nicht zur Neuengland-Aristokratie gehörte. Stell Dir das mal vor. Als Kind habe ich jeden Sommer hier in der Stadt an dieser Felsküste verbracht. Vor Robert habe ich kaum je einen Jungen auch nur geküsst. Und obwohl ich die Frau mein Leben lang kenne, kann ich sie anscheinend nicht dazu bewegen, mich zu akzeptieren. Ich habe den Versuch mittlerweile fast aufgegeben. Fast.

Einen Kräutergarten anzulegen klingt verlockend. Ich habe aus dem Sears-Roebuck-Katalog Samen bestellt, und mein bester Freund, Levi Miller, wird guten Humus auf einem großen Rechteck verteilen, so wie Du es mir geraten hast. Dann werde ich alle möglichen Pflanzen setzen. Und ein paar große Sonnenblumen, nur für Dich.

Levi ist nicht kampftauglich. Er hat einen Herzfehler oder etwas dergleichen. Man würde es nie vermuten, wenn man ihn sieht. Als Kinder haben wir jeden Sommer hier in Rockport am Strand zusammen gespielt. Als wir klein waren, hatte er scheinbar nie Schwierigkeiten, mit Robert mitzuhalten. Oder mit mir. Was das anbelangt – habe ich Dir erzählt, dass ich ein richtiger Wildfang war? Und auch heute noch bin ich das, obwohl Du es nicht glauben würdest, wenn Du mich jetzt sehen könntest. Es ist Levi, der jetzt, wo ich mich kaum mehr bewegen kann, mit Robbie spielt.

Der Geburtstermin steht fast unmittelbar bevor, es kann jeden Tag so weit sein. Ich habe überhaupt keine Angst vor den Schmerzen. Klingt das für Dich überzeugend? Für mich nicht.

Während ich diesen Brief schreibe, sehe ich zu, wie Robbie, mein kleiner Liebling, im Schnee spielt. Ich sehne mich nach Robert. Rita, wird das jemals aufhören? Dieses Vermissen? Ich weiß es einfach nicht. Alles ist wie immer, und dann wieder ganz anders, und dann wieder wie immer (nur nicht wirklich wie immer). Für mich ist es das Beste, meinen Tag so zu gestalten, als könnte mein geliebter Mann jeden Moment zur Tür hereinkommen – und mit dem einen starken Arm Robbie hochheben und mich mit dem anderen an sich ziehen.

Ich koche immer noch für ihn. Ich weiß, das klingt verrückt. Dieses Rezept habe ich jede Woche zubereitet. Es ist ganz leicht, und man muss nichts von seiner Zuckerzuteilung opfern. Viel Spaß.

Bierbrot! (So einfach und lecker)

Vermische eine Flasche Bier, drei Tassen Mehl mit etwas Backpulver sowie eine halbe Tasse Maissirup. 45 Minuten lang bei 200 °C backen.

Verrate mir, ob es Dir geschmeckt hat.

Alle guten Wünsche

Glory

9. März 1943

IOWA CITY, IOWA

Liebe Glory,

man könnte meinen, Iowa trieft geradezu vor Maissirup – denn Mais wächst hier überall. Du wirst es nicht glauben, aber ich habe einmal einen Stengel aus einem Ritz im Bürgersteig herauslugen sehen. In unserem Lebensmittelladen war der Sirup ausverkauft, also habe ich mir welchen von Mrs Kleinschmidt geborgt. Sie wird mir deswegen wahrscheinlich Vorhaltungen machen, aber das Brot war es wert. Absolut köstlich.

Ich habe vollstes Mitgefühl mit Levi. Die Männer, die hiergeblieben sind, irren durch die Stadt, als hätten sie vergessen, wo sie ihre Autos geparkt haben. Kennst Du diesen Gesichtsausdruck? Irgendetwas fehlt, und das wird vermutlich ihr ganzes Leben lang so bleiben. Sind sie die Glücklichen? Ich weiß es nicht. Aber ich bin froh, dass Du Levi etwas zu tun gibst. Lass ihn diese Erde so schnell wie möglich aufbringen, damit sie etwas sacken kann, bevor Du mit der Aussaat anfängst. Du musst frische Erde wie ein neugeborenes Kind behandeln – viel Ruhe, viele Nährstoffe, viel Liebe.

Roylene ist wiedergekommen, hat wie eine Streunerin an meiner Tür gekratzt. Sie wollte dem Brief, den ich an Toby geschrieben habe, etwas hinzufügen. »Nun?«, sagte ich, als wir uns an den Küchentisch setzten. Sie schob sich ihren schmutzigen Fingernagel in den Mund und kaute darauf herum. Ihr Blick richtete sich auf alles, nur nicht auf mich.

Geduld ist bekanntlich eine Tugend, aber ich musste noch Geschirr spülen und fühlte mich nicht sonderlich tugendhaft. »Spuck’s schon aus«, drängte ich.

Sie zuckte zusammen. »Sagen Sie ihm, ich hätte die Kartoffelsuppe endlich richtig hinbekommen?«

Also opferte ich eine meiner kostbaren Feldpostbrief-Zeilen, um Toby bezüglich Roylenes Kochkünsten auf den neuesten Stand zu bringen. Ich bat sie nicht, zum Essen zu bleiben. Verflixt und zugenäht, ich hab ihr noch nicht mal Tee angeboten. Vielleicht macht mich dieser Krieg boshaft. Ich habe nichts von Sal gehört. Nicht ein Wort, Glory, das bringt mich fast um den Verstand. Um Deine Frage zu beantworten – das Vermissen hört nie auf. Für mich ist die Ungewissheit sogar noch schlimmer. Wir sind seit einundzwanzig Jahren verheiratet. Ich bilde mir gerne ein, ich wüsste es, wenn er tot wäre. Ich würde es spüren, nicht wahr?

Als ich auf die Veranda hinaustrat, um Roylene zu verabschieden, stand Mrs Kleinschmidt auf ihrem Rasen und starrte uns beide forschend an. Ich beobachtete, wie sie über ihre Hakennase hinweg den schäbigen Mantel und die Männergaloschen des Mädchens musterte. Mein Gewissen begann, sich zu regen.

»Roylene«, rief ich, als sie mein Gartentor verriegelte.

»Ja, Ma’am?«

»Ich komme in die Kneipe und lese dir Tobys Brief vor, wenn er geantwortet hat.«

Sie lächelte, wobei ein bisschen von der Lebhaftigkeit, die in ihr schlummerte, zum Vorschein kam. Ich winkte, und Roylene schlurfte mit tief zwischen die knochigen Schultern eingezogenem Kopf die Straße hinunter. Sie war kaum außer Hörweite, als Mrs Kleinschmidt sich auch schon lautstark über Okies, Vagabunden und die Folgen von Mr Roosevelts Programmen ausließ. Ich streckte ihr die Zunge heraus, woraufhin ihr hochnäsiges Gesicht erstarrte und sie ohne ein weiteres Wort die Stufen ihrer Veranda hochstampfte. Später kamen Schuldgefühle in mir auf, also wickelte ich einen halben Laib Bierbrot ein und brachte ihn ihr als Friedensangebot hinüber. Sie merkte sofort, dass es einen Tag alt war, und ihr Genörgel verfolgte mich auf dem Heimweg. Dabei war es am zweiten Tag immer noch gut, selbst am dritten. Irene bestätigte das, als ich etwas davon zum Lunch mitbrachte. Wir aßen es mit einem Eintopf mit Gemüseresten aus meinem Eisschrank und ein bisschen Spam, das ich kleingeschnitten und hineingerührt hatte. Koch das Zeug mit einer Zwiebel, und Du meinst, Du isst FiletMignon.

Pass gut auf Dich auf, Schätzchen, und lass es mich wissen, wenn das Baby da ist.

Herzlichst

Rita

16. März 1943

ROCKPORT, MASSACHUSETTS

Liebe Rita,

dieses Baby wird NIE kommen. Dem Arzt zufolge hätte es schon vor zwei Wochen geboren werden sollen. Ich weiß, dass man diese Dinge nicht beeinflussen oder darüber spekulieren kann. Aber mit jedem Tag, der vergeht, werde ich dicker und schwerfälliger. Wie eine große fette Schnecke im Garten. Außerdem bin ich extrem gereizt. Gestern rannte auf dem Markt ein entzückendes kleines Mädchen auf mich zu und fragte: »Ist das ein Baby in deinem Bauch?«, und ich fauchte zurück: »Was denkst du denn? Glaubst du, ich habe eine Wassermelone verschluckt?«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ich dachte, ihre Mutter würde mich anschnauzen oder mich böse anfunkeln. Aber nein … sie bedachte mich mit einem sanften, verzeihenden Blick, der mir verriet, dass sie verstand. Sie hatte das auch schon durchgemacht. Frauen kennen einander, nicht wahr? Wir können in die tiefsten, verborgensten Winkel unserer Seelen blicken.

Na ja, vielleicht nicht alle Frauen.

Ich bin mit vielen schönen Dingen aufgewachsen, Rita. Mit einem eigenen Zimmer und mit Kindermädchen. Und meine Mutter? Nun, lass es mich so ausdrücken – sie stellte in dem Bankett meiner Jugend eher eine Beilage als ein Hauptgericht dar.

Vater und Mutter reisten viel. Es ist komisch, ich kann mich nicht daran erinnern, sie vermisst zu haben. Meistens brannte ich nur darauf, die Geschenke zu sehen, die sie mir von überall her mitbrachten. Schweizer Schokolade, Puppen spanischer Flamencotänzerinnen, Spieldosen.

Himmel, hier zu sitzen und nichts zu tun, außer an Umfang zuzulegen, weckt in mir die Erinnerung an seltsame, vergessene Dinge. Und mir fällt einiges auf.

Zum Beispiel, wie ich mich hin und her wiege, selbst wenn ich Robbie nicht halte. Andere Mütter tun das auch, wie ich beobachtet habe. Du wiegst sie, lullst sie in den Schlaf, selbst wenn Du sie nicht in den Armen hältst.

Meine Mutter hat das nie getan. Sie hielt sich so kerzengerade, als würde sie von einer Schnur aus dem Himmel aufrecht gehalten. »Lass die Schultern nicht hängen, Gloria. Wenn du so krumm gehst, behandelt die Welt dich wie einen Packesel. Eine gute Haltung ist der Schlüssel zur Unabhängigkeit.«

Ich muss gestehen, dass ich immer noch manchmal die Schultern hängen lasse.

Und dann war da noch die Sache mit ihren Händen. Die Hände meiner Mutter waren immer makellos. Wenn sie ausging, trug sie Handschuhe, aber zu Hause befand sich immer ein Tiegel Handcreme (Rosenwasser und Glyzerin) in ihrer Nähe. Sie massierte sie methodisch ein. Erst die Nagelhaut, dann die Nägel, die Handrücken und dann jeden einzelnen Finger. Ich glaube, ihre Hände waren so weich wie Rosenblütenblätter. Aber ich spürte sie fast nie.

Meine Mutter starb vor drei Jahren. An Krebs. Ich vermisse sie jeden Tag.

Ich habe viel an ihre Hände gedacht. Ich kann mir nicht vorstellen, je so perfekte Hände zu haben. Meine sind rau, aber kräftig. Und mein Sohn kennt sie gut.

Vermutlich ist das alles Unsinn. Unsinn, verfasst von einer Frau, die es gründlich leid ist, dieses Gewicht mit sich herumzuschleppen. (Und die allmählich mit ihrem Latein am Ende ist!)

Ich nehme an, meine Kindheit war auch ziemlich einsam. Ich habe versprochen, dass sich meine eigenen Kinder nie alleingelassen fühlen sollen.

Aber mit Versprechen verhält es sich merkwürdig. Es ist leichter, sie zu halten, bevor man sie gibt.

Alles Liebe

Glory

PS: Ich schreibe Dir, sobald das Baby auf der Welt ist. Versprochen!

1. April 1943

FELDPOSTBRIEFVON MARGUERITE VINCENZO AN

DEN GEFREITEN SALVATORE VINCENZO

(Habe gestern Deinen Brief bekommen. Der muss eine ziemliche Rundreise hinter sich haben.)

Lieber Ehemann,

einen glücklichen ersten April! (Obwohl mir nicht danach ist, Schabernack mit jemandem zu treiben.) Erinnerst Du Dich, wie ich Deine gesamte Unterwäsche im Gefrierfach versteckt habe? Aber Du hast es mir heimgezahlt. Ich hege keinen Zweifel daran, dass sich Mrs K. immer noch nicht vom Anblick meiner über den Zaun gehängten Büstenhalter erholt hat.

Ich habe ihr den Namen des Jungen aus Deiner Einheit gegeben. Ich kann es mir nicht vorstellen, so weit weg zu sein und niemanden zu haben, dem man schreiben kann. Mrs K. hat ein bisschen gebrummelt, aber die Adresse so hastig an sich gerissen, dass ich ihrem Gejammer über ihr Rheuma jetzt noch weniger Beachtung schenken werde. Wenn es um die Unterstützung der Truppen geht, scheint die Frau unendlich viel Zeit zu haben. Auf ihrer Feldpostliste stehen mindestens ein Dutzend Soldaten, und sie schafft es, ihnen zweimal pro Woche Briefe zu schicken. Der Himmel weiß, was sie ihnen erzählt. Aber irgendetwas ist immer noch besser als gar nichts, selbst wenn sich dieses Etwas um die Zubereitung eines Wiener Schnitzels oder das Häkeln eines Kinderlätzchens dreht.

Und was das andere angeht … ich müsste ja schwachsinnig sein, wenn ich die ganze Zeit Heile-Welt-Gerede erwarten würde. Bleib bitte dabei, über das zu schreiben, was Du wirklich siehst, ohne Dir Gedanken darüber zu machen, dass Du mich in Angst und Schrecken versetzen könntest. Wenn ich ein Teil dieses Krieges bin, dann sollte ich auch Angst verspüren. Du weißt, dass ich nicht zu den Leuten gehöre, die glauben, das Sammeln von Schinkenfett und Altmetall würde verhindern, dass jemand stirbt. Wie wäre es, wenn Du die Worte an mich weitergibst, damit Du sie nicht in Dich hineinfressen musst? Es ist das Mindeste, was ich tun kann.

Wenn ich wie eine gesprungene Schallplatte klinge, kann ich es nicht ändern – pass auf Dich auf. Irene sagt, Du sollst Deine Füße trocken halten. Sie ist auf ein paar Artikel über Schützengrabenfüße gestoßen, aber in Anbetracht ihrer Ablagekünste könnten sie auch aus dem letzten Krieg stammen. Und nein, ich werde sie nicht mit Roland verkuppeln. Er ist halb so groß und doppelt so breit wie sie. Mach einen besseren Vorschlag.

Ich liebe Dich.

Rita

PS: Wahrscheinlich brauchst Du eine Lupe, um diesen Brief zu lesen, aber ich kriege zweiundzwanzig Zeilen auf diese Dinger, wenn ich meine Handschrift auf Liliputanerproportionen schrumpfe. Ich glaube, ich kneife permanent die Augen zusammen.

4. April 1943

ROCKPORT, MASSACHUSETTS

Liebe Rita,

während ich diesen Brief schreibe, schiele ich immer wieder zu meiner Tochter hinüber, die in ihrem Tragekorb schläft. Das Sonnenlicht flutet durchs Fenster. Der Frühling ist in mancher Hinsicht früh gekommen.

Robert besuchte mich nach ihrer Geburt im Krankenhaus. Er hatte Urlaub bekommen, und Rita, ich schwöre Dir, ich dachte, ich träume, als ich aufwachte und sein Gesicht sah.

Diesmal waren die Wehen schlimmer. Es heißt doch immer, es würde leichter werden? Aber dieses Baby war störrisch und drehte sich dann auch noch. Sie mussten sie an den Füßen herausziehen. Ich erinnere mich nicht daran, denn sie haben mir eine Narkose gegeben. Gott sei Dank.

Aber als ich wach wurde, war er da. Mein strahlender Ritter. Hielt unser Baby in den Armen.

Einen Moment lang dachte ich, wir wären alle tot. Und im Himmel. In einem Himmel voller gelber Tulpen. Wie Robert es geschafft hat, so kurzfristig diese Tulpen aufzutreiben, grenzt an ein Wunder. Alles kommt mir wie ein Wunder vor. Sie ist hier, mein goldiges Mädchen. Und sie hat ihren Vater kennengelernt. Das ist mehr, als viele, viele Frauen dieser Tage sagen können.

Als ich aufwachte, beugte sich Robert über mich und hielt den Mund an mein Ohr. »Du hast um sie gekämpft. Du bist ein tapferes Mädchen. Mit dir an meiner Seite würde ich in jede Schlacht ziehen«, murmelte er.

Wir haben sie Corrine genannt. Nach meiner Mutter. Ich war so froh, dass er sie nicht Claire nennen wollte, nach seiner Mutter. Aber ich glaube, meine liebe alte Schwiegermutter hat sich darüber geärgert. Rauschte eingeschnappt aus dem Krankenhaus, als wir es ihr sagten.

»Mach dir keine Sorgen, sie wird darüber hinwegkommen«, sagte er, während er auf Corrine hinunterlächelte.

»Oh, ich mache mir keine Sorgen.«

»Nein, das würdest du nie tun.« Er lachte. »Du machst dir noch nicht einmal Sorgen, wenn es angebracht wäre.«

Ich lächelte und hob die Hand, um ihm seinen Hut abzunehmen, damit ich mit den Fingern durch sein dichtes, goldenes Haar fahren konnte. Nur dass er gar keines mehr hatte, Rita! Sein Haar ist ganz kurz geschoren. Er ist jetzt ein richtiger Soldat.

»Gefällt es dir, Glory?«, fragte er.

»Nun, es erinnert mich an die Zeit, als wir klein waren, im Sommer. Als deine Mutter darauf bestanden hat, dass du dir die Haare schneiden lässt.«

»Daraus kann ich nicht erschließen, ob es dir gefällt oder nicht. Du spielst nicht fair, Mrs Whitehall.«

»Möglich, aber es ist mein Job, mich geheimnisvoll zu geben, damit du mich immer und ewig liebst«, antwortete ich.

Ich hatte einen Scherz machen wollen, Rita. Aber er sah mir tief in die Augen und zog mit der freien Hand mein Gesicht zu sich heran.

»Ich werde nie eine andere lieben. Du bist mein Mädchen. Das bist du schon immer gewesen«, sagte er.

Als Robert das Krankenhaus verließ, versprach ich ihm, tapfer zu sein. Nicht zu weinen. Und ich hielt mein Versprechen – bis er gegangen war. Dann vergoss ich ein Meer von Tränen.

Ich weinte um meine Mutter.

Um meinen Mann.

Um meinen kleinen Jungen, auf dem jetzt die Verantwortung lastet, ein großer Bruder zu sein.

Allmählich kehrt der normale Alltag wieder ein. Levi, mein Freund aus Kindertagen, der mir mit dem Garten geholfen hat, hat sich auch in Bezug auf Robbie als große Hilfe erwiesen. Du solltest sehen, was er aus meinem Hintergarten macht! Ich habe das, was Du über die richtige Behandlung der Erde gesagt hast, an ihn weitergegeben. Er sagte, Du wärst eine kluge Frau und eine gute Freundin. Er hat recht.

Und Mrs Moldenhauer, die mich vor einer gefühlten Ewigkeit zu den 4-H geschleppt hat, war mir auch ein großer Trost (obwohl ich mich über sie lustig mache). Ich habe ihre »Stubenkameradin« Marie als Kindermädchen angeheuert. Sie ist viel jünger als Mrs Moldenhauer. Und netter. Sie kümmert sich um mich und scheut dabei keine Mühe. So kocht sie zum Beispiel drüben auf ihrem eigenen Herd Essen für uns und bringt es noch kochend heiß herüber.

Aber ich muss zugeben, dass ich auch Mrs Moldenhauer immer sympathischer finde. Sie hat kleine Geschichten mit Robbie als Hauptperson geschrieben, um ihn damit zu unterhalten. Und sie hat schneeweiße Haare, die sie zu einer Hochfrisur auftürmt. Ich glaube, sie ist eine liberale Demokratin. Und weißt Du was? Sie ist auch so eine Art Predigerin! Versucht, mich ständig dazu zu überreden, mit in ihre Kirche in Gloucester zu kommen. Aber ich halte mich aus Religion und Politik heraus.

Ich wünschte nur, Marie würde besser kochen, aber zum Glück liegt dieses lästige »WOCHENBETT« bald hinter mir. Robbie vermisst meine Hühnersuppe. Fragt immer danach, der kleine Sonnenschein. Ich habe sie letztens mit Hühnerfüßen gemacht. Wirklich. Meiner Meinung nach schmeckt sie dann besser.

Was gibt es bei Dir? Ich habe Deinen letzten Brief mit ins Krankenhaus genommen und immer wieder gelesen.

Wenn ich die Augen schließe, kann ich Dein Zuhause vor mir sehen. So offen und weitläufig. Fast wie der Ozean.

In Liebe (und hoffentlich auch bald in Friedenszeiten)

Glory

11. April 1943

IOWA CITY, IOWA

Liebe Glory,

herzlichen Glückwunsch zu Corrines Geburt! Du musst überglücklich sein, und Du bist sehr tapfer.

Bei der Vorstellung, wie Du aufgewacht bist und Deinen Mann mit seiner neugeborenen Tochter im Arm gesehen hast, musste ich tagelang lächeln. Ich glaube nicht an Wunder, Glory, aber manchmal gibt es Momente, da fügt sich alles wunderbar passend zusammen. Ich bin so froh, dass Deine Familie bei diesem bedeutsamen Anlass beieinander war.

Die diesem Brief beigefügte Babydecke ist mit Mrs Kleinschmidts bester leichter Wolle gestrickt. Ich habe ihr erzählt, sie wäre für das Rote Kreuz, deswegen hat sie kein Theater gemacht. Mach Dir wegen der Lüge keine Gedanken – ich habe dafür gebüßt, indem ich bei Mrs K. gesessen habe, während sie ihre zwölf täglichen Feldpostbriefe an Soldaten schrieb, die vermutlich lieber Briefe von Mussolini bekommen würden. Zwischen dem Schreiben wies sie mich immer wieder darauf hin, dass ich das Garn falsch halte und mir meine ungelenke Technik im Alter Arthritis bescheren würde. Ich hoffe, Corrine gefällt die Decke, auch wenn sie grün ist.

So. Miss Glory, ich habe auch ein paar Neuigkeiten. Gestern kam ein Brief von Toby! Er ist noch immer im Lande, läuft aber bald in den Pazifik aus. Ja, ihn wird eine halbe Welt von Sal trennen. Ich glaube, Toby ist naiverweise davon ausgegangen, dass Onkel Sam ihn direkt nach Nordafrika in die Arme seines Vaters schicken würde. Ehrlich gesagt habe ich das auch gehofft.

Toby meint, dass er vor seiner Ausschiffung noch einen kurzen Urlaub herausschlagen kann, vielleicht ganze drei Tage. Er will nach Hause kommen, und sei es nur für ein paar Stunden. Ich habe ihm geschrieben, ich würde ihn auf halber Strecke treffen, wenn wir dadurch etwas mehr Zeit miteinander verbringen können. Und was kann man in Ohio schon tun außer Kaffee trinken und plaudern?

Auf dem unteren Rand von Tobys Brief stand eine Nachricht für Roylene. Sie lautete: »Schick mir das Rezept.« Das war alles. Zuerst dachte ich, er kennt sie vielleicht doch nicht so gut. Und wenn doch, warum schreibt er ihr dann nicht direkt? Doch dann dämmerte es mir – es ist ein Code! Vielleicht habe ich zu viele Filme im Kino gesehen, aber ich bin seine Mutter und weiß, wenn irgendetwas im Busch ist. Ich suche Roylene noch diese Woche in der Kneipe auf, um herauszufinden, worum es bei der ganzen Sache eigentlich geht. Keine Angst, ich werde äußerst raffiniert vorgehen – wie ein wahrer Sam Spade.

Ich kann es kaum erwarten, alles über Deinen Kriegsgarten zu erfahren. In der Erde zu graben wird Dir helfen, im Handumdrehen Deine alte Figur zurückzubekommen. Ich gehe auch gleich hinaus, um meinen Boden gründlich aufzulockern. Ich habe Mrs K. gerade weggehen sehen, und ich will fertig sein, bevor sie zurückkommt, sonst schiebe ich Doppelschicht.

Pass auf Dich auf.

Rita

PS: Ich habe einen Dime auf diesen Brief geklebt, damit Robbie zum Drugstore gehen und sich von seinem EIGENEN Geld einen Schokoriegel oder zwei kaufen kann. Große Brüder brauchen Nervennahrung.

25. April 1943

ROCKPORT, MASSACHUSETTS

Oh, liebe Rita,

vielen, vielen Dank für die wunderschöne Decke. Ich wickle Corrine jeden Tag darin ein und denke an Dich. Und Robbie war begeistert, eigenes Geld zu haben. Es wanderte direkt in sein Sparschwein. (Er gleicht seinem Vater so sehr!)

Als kleines Mädchen fand ich es auch herrlich, über eigenes Geld zu verfügen. Die Familie meines Vaters war und ist immer noch sehr wohlhabend. Mein Vater war während des Börsencrashs wahrscheinlich der cleverste Mann in ganz Amerika. Ich wünschte, ich hätte ihn besser gekannt. Aber Geld kann Familienmitglieder einander entfremden. Eine Familie, die kämpfen muss, hält fester zusammen, ist stärker miteinander verbunden. Ich habe ja den Unterschied zwischen Robert und mir und Levi bemerkt, als wir heranwuchsen. Robert und ich kamen aus einer anderen Welt.

Wir waren Sommergäste in dieser Stadt. Gut situiert und ohne Sorgen. Und dann war da Levi. Er stammte aus der Arbeiterklasse und wohnte das ganze Jahr in Rockport. Aber in seiner Familie standen sich alle sehr nah. Ich habe mir damals oft gewünscht, seine Mutter wäre auch meine. Sie blieb nie unter einem Spitzenschirm am Strand sitzen und sah uns zu, sondern stürzte sich immer mit uns in die Wellen. Und sie sammelte »Nixenzehen« (kleine pfirsichfarbene, glitzernde und wie Zehennägel geformte Muscheln). Sie hieß Lucy, und sie starb, als wir alle elf Jahre alt waren. Ich versuche jeden Tag, so zu sein wie sie.

Ich bezeichne diesen Krieg gerne als »großen Gleichmacher«. Hier in unserem Sommerhaus fühle ich mich sehr wohl. Und ich habe nicht das Gefühl, über oder unter jemandem zu stehen. Sowohl Frauen als auch Männer verhalten sich so, als hätten sie beide der Gesellschaft einen Dienst zu erweisen. Jeder geht aufrecht durch die Stadt, als wären wir alle vom Stolz des ganzen Landes erfüllt. Es tut gut, sich so zu fühlen.

Aber genug vom Krieg. Kommen wir zu meinem Garten!

Er macht sich prächtig. Ich habe alle möglichen Kräuter- und Gemüsesorten gesät. Der Salat treibt schon aus. Ich kann es kaum erwarten, die ausgewachsenen Köpfe zu sehen. Meine Hände sind jeden Tag erdverkrustet und meine Schürze auch. Ich mag das. Ich genieße das Gefühl von Erde auf meiner Haut.

Dein rätselhaftes Mädchen und Dein Toby teilen sich ganz offensichtlich per Geheimcode etwas mit. Aber was? Es ist fast so, als würde man einen Roman lesen. Halte mich in dieser Sache auf dem Laufenden!

In der Hoffnung auf Frieden in naher Zukunft

Glory

2. Mai 1943

FELDPOSTBRIEF VON MARGUERITE VINCENZO AN

MATROSE TOBIAS VINCENZO

Einziger Sohn,

ich glaube fast, dass Du, als echte Landratte aus dem Mittleren Westen, jetzt von so viel Wasser umgeben bist, hat Deinen Gehirnzellen geschadet. Sie ist eine Fremde, Toby. Der Gedanke, mit einer Person in einem Zugabteil gefangen zu sein, die unfähig ist, klare Aussagen zu formulieren, löst in mir allein schon den Wunsch aus, mich am Bourbon Deines Vaters zu vergreifen.

Aber … von mir aus. Wenn es Dir wirklich so wichtig ist, werde ich sie bitten, mitzukommen. Wenn wir in einem Motel übernachten müssen, schläft sie bei mir, und ich bezahle Dir ein eigenes Zimmer. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?

Ich habe kein gutes Gefühl dabei, das alles zu tun, ohne vorher mit ihrem Vater gesprochen zu haben. Ja, ja, mir ist klar, dass ihr beide erwachsen seid, aber um die Altersgrenze der Volljährigkeit zu überschreiten muss man nichts weiter tun als darauf warten, dass die Zeit vergeht. Und das bedeutet nicht viel.

Wir sehen uns in Ohio.

Ich hab Dich lieb.

Deine Ma

9. Mai 1943

IOWA CITY, IOWA

Liebe Glory,

ich komme gerade von einem wundervollen Muttertagsgottesdienst in der so treffend benannten Marienkirche zurück. Als ich zusah, wie all diese entzückenden kleinen Schulmädchen der Statue der Heiligen Jungfrau ihre Blumenopfer darbrachten, musste ich an Dich denken. Ich hoffe, Du gewöhnst Dich rasch daran, wieder ein Baby im Haus zu haben, und es geht Dir gut. Wenn in der Welt kein Frieden herrschen kann, findest Du vielleicht ein wenig davon in Deinem Wohnzimmer.

Und jetzt – ich habe Dir so viel zu erzählen, halt Dich fest …

Erstens habe ich endlich einen Brief von Sal! Große Teile waren geschwärzt, aber ich konnte mir genug zusammenreimen, um zu wissen, dass es ihm gutgeht. Sals Haupttätigkeit besteht darin, Wunden zu nähen (was ziemlich witzig ist, weil er im Hinterhaus der Schneiderei seiner Familie im Westen Chicagos aufgewachsen ist). Einige der anderen Jungs haben Stich auf seinen Helm geschrieben, und der Spitzname ist hängengeblieben. Er meinte, wenigstens hätten sie nicht Alter Mann geschrieben.

Seinen Brief zu bekommen war wie Weihnachten und mein Hochzeitstag zusammen. Es ist erstaunlich, was ein paar Zeilen Feldpostbrief bewirken können. Die Angst vergeht nicht, aber sie zieht sich, um mich einer militärischen Formulierung zu bedienen, im Angesicht des Feindes zurück, der hier vermutlich Hoffnung heißt. Sal passt auf sich auf, und abgesehen vom Ende des Krieges, ist das das Äußerste, was ich mir wünschen kann.

Auch von Toby habe ich gehört. Ich sehe ihn nächsten Monat, wenn sein Urlaub bewilligt ist. Wir treffen uns auf halber Strecke in Columbus, und es sieht aus, als hätte er ganze achtundvierzig Stunden Zeit für seinen Besuch.

Wenn Du einen gewissen Mangel an Begeisterung aus meinen Worten herausliest, fängst Du wirklich an, mich durch unsere Briefe kennenzulernen. Ich bin bemerkenswert wenig begeistert. Toby hat mich gebeten, Roylene nach Ohio mitzubringen, und ich – glaub es oder nicht – habe eingewilligt. Ja, ich werde meinen Sohn mit diesem dürren, wahrscheinlich in Tränen aufgelösten Mädchen an meiner Seite in den Krieg verabschieden. Ich wollte mich erst weigern, aber mein Sohn hat mir Folgendes geschrieben: »Ma, sagst Du nicht immer, man soll sich keine Gelegenheit entgehen lassen, etwas Gutes zu tun? Nun, hier ist eine goldene Gelegenheit. Sei nett zu Roylene.«

Der springende Punkt ist, dass gar nicht ich das ständig sage, sondern Sal.

Ich habe keine Ahnung, ob Toby wirklich an dem Mädchen Interesse hat oder ob sie nur seine gute Tat des Tages ist. Mein Mann und mein Sohn haben schon immer eine Schwäche für die vom Leben Benachteiligten gehabt. Ich nicht. Wir werden sehen, was passiert.

Gib den beiden Kleinen einen Kuss.

Rita

11. Mai 1943

IOWA CITY, IOWA

Liebe Glory,

ich bin heute denkbar schlecht gelaunt. Dir zu schreiben ist wahrscheinlich nicht die beste Idee, aber ich werde es trotzdem tun. Antwortest Du mir auch weiterhin, wenn ich Dir ein paar Charakterfehler offenbare?

Ich bin gerade mit dem Einsammeln der Schnecken im Garten fertig geworden. Die ekelhaften Biester in einer Schüssel mit Seifenwasser ertrinken zu sehen war das Befriedigendste, was ich seit längerer Zeit erlebt habe. Ich bin heute eine Gefahr für alles, was lebt. Der Grund für meine zerstörungswütige Verfassung? Schuldgefühle. Sie machen mich bösartig. Und ich habe mich den ganzen Morgen lang mit Schuldgefühlen herumgeschlagen.

Gestern habe ich mich endlich dazu aufgerafft, zu Roys Kneipe zu gehen. Ich hatte schon einmal einen Anlauf genommen, als Tobys erste Nachricht für Roylene kam. An diesem Abend brachte sie den Müll nach draußen, als ich dort ankam, und ich drückte mich gegen die Wand, damit sie mich nicht sehen konnte. Ich beobachtete, wie sie mit dem Mülltonnendeckel kämpfte. Eine Flasche fiel heraus, landete auf dem Bürgersteig, und die Scherben sprangen in alle Richtungen, aber ich rührte mich nicht vom Fleck, während sie in die Kneipe zurückrannte, um Kehrblech und Besen zu holen.

Roylene fegte jede Scherbe so langsam und methodisch auf, als wäre das ihre einzige Bestimmung auf der Welt, als wäre sie nur deshalb auf dieser Erde, um das und nichts als das zu tun. Sie hatte keinen Grund, sich zu beeilen. Ihr Leben verläuft in starren Bahnen. Sie hätte achtzehn oder achtzig sein können.

Ihr Anblick erfüllte mich erst mit Traurigkeit und dann mit ausgeprägter Abneigung. In einem solchen Leben sollte kein Platz für Toby sein. Hätte er nicht in den Krieg gemusst, hätte er sich dann auch jemandem wie ihr zugewandt? Zählt ihre Beziehung – oder was auch immer es ist – nicht ebenfalls zu den Opfern der Geschichte? Ich flüchtete an diesem Abend förmlich von jener Kneipe und hatte nicht die Absicht, jemals wieder hinzugehen.

Mir ist bewusst, wie sich das anhört. Vermutlich bin ich ein Snob, aber bitte sieh mich als Mutter, die das Beste für ihr Kind will. Zumindest habe ich gestern versucht, den Ausflug nach Ohio mit Roylenes Vater zu besprechen.

Ich überredete Irene, mitzukommen, weil ich dachte, sie würde mich davon abhalten, meine Meinung zu ändern. Wir kamen zur Lunchzeit bei der Kneipe an, wo nur ein paar ältere Männer an der Theke saßen und ihre Mahlzeiten in flüssiger Form einnahmen. Der Schankraum war düster, kein Strahl der Frühlingssonne fiel durch die dreckigen Fenster. Irene sah mich fragend an, aber ich war fest entschlossen zu meiner Mission und schob sie vorwärts. Wir ließen uns auf zwei Barhockern nieder und bestellten zwei Ginger Ale und eine Portion Corned Beef für uns beide. Der Barmann, ein kleiner, knochiger Kerl mit weißem Haarschopf, musterte uns von oben bis unten.

»Wer sind Sie?«, wollte er wissen.

Ich nahm an, dass ich Roy von der gleichnamigen Kneipe vor mir hatte. Ich stellte mich vor und erwähnte Tobys Vorliebe für seinen Laden und meine Bekanntschaft mit seiner Tochter. Der Mann lehnte sich über die hölzerne Theke, und seine gelbbraunen Augen starrten mich forschend an.

»Wir bedienen keine Krauts«, knurrte er. »Das habe ich Ihrem Sohn auch schon gesagt.«

Mein Unterkiefer klappte so weit hinunter, dass mein Kinn fast in meinem Schoß landete.

»Wie bitte?«, fragte ich.

»Sie haben es gehört«, sagte er. »Machen Sie, dass Sie rauskommen.«

Irene zerrte mich vom Hocker, und wir gingen – nicht allzu schnell, wohlgemerkt, und hoch erhobenen Hauptes, und blieben erst mal einen Moment auf dem Bürgersteig vor der Kneipe stehen. Der Schock hatte uns die Sprache verschlagen.