Ich traf Hitler -  - E-Book

Ich traf Hitler E-Book

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Beschreibung

Dieses Buch, außerordentlich reich an Details, ist eine kommentierte Dokumentation, keine Abrechnung mit dem Nationalsozialismus. Die Interviews fanden statt, als Hitler schon 50 Jahre tot war. Aber alle 45 Zeitzeugen erinnern sich genau an die Begegnungen: im ersten Zimmer in München, beim Putsch, an der Front, im Bunker. Köchinnen, Kammerdiener und Hausmeister, Gauleiter, Generäle und Sturmbannführer, Schauspielerinnen, Hausfrauen und Architekten. Viele haben zum ersten Mal erzählt. Der Abstand zum Erlebten war groß genug. Nun wollten sie berichten, es musste aus ihnen heraus – und sie hatten Vertrauen zu ihrem Gesprächspartner. Es ist das Verdienst von Karl Höffkes, überlebende Akteure des Nationalsozialismus beharrlich befragt und ihre Aussagen sorgsam auf Video dokumentiert zu haben.

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ICHTRAFHITLER

DIE INTERVIEWS VON KARL HÖFFKES MIT ZEITZEUGEN

Herausgegeben von Wieland Giebel

Die hier wiedergegebenen Gespräche wurden in den 1990er-Jahren von Karl Höffkes auf Video aufgenommen, abgeschrieben und für den Abdruck bearbeitet.

Die Reihenfolge der Texte richtet sich nach dem Zeitpunkt, an dem die Interviewpartner Hitler getroffen haben oder zu dem der Kontakt intensiv war.

Der Todesort wurde bei einigen Persönlichkeiten angegeben, wenn er von Bedeutung ist, damit erkennbar wird, ob jemand z.B. in Nürnberg gehängt wurde oder sehr viel später eines natürlichen Todes gestorben ist.

Die Karriere des Befragten nach 1945 wurde in die vorangestellten Kurzbiografien aufgenommen, wenn sie für das Gesamtbild der Persönlichkeit von Bedeutung war, also jemand z.B. beim Geheimdienst, der Bundeswehr oder der NATO weitermachte.

IMPRESSUM

Ich traf Hitler –

Die Interviews von Karl Höffkes mit Zeitzeugen

Herausgegeben von Wieland Giebel

1. Auflage — Berlin: Berlin Story Verlag 2020

eISBN 978-3-95723-711-8

© Berlin Story Verlag GmbH

Leuschnerdamm 7, 10999 Berlin

Tel.: (030) 20 91 17 80

Fax: (030) 69 20 40 059

UStID: DE276017878

AG Berlin (Charlottenburg) HRB 132839 B

E-Mail: [email protected]

Umschlag und Satz: Norman Bösch

WWW.BERLINSTORY.DE

Inhalt

Vorwort von Karl Höffkes

Editorial des Herausgebers

DIE INTERVIEWS

Artur Axmann

Reichsjugendführer

„Axmann, es kommt etwas vollkommen Neues“

Elisabeth Grünbauer, geb. Popp

Tochter von Hitlers Vermieter in München

„Hitler war zu dieser Zeit wirklich arm, sehr arm“

Egon Hanfstaengl

Hitlers Patensohn

„Der Hitler war sehr froh, bei uns essen zu können“

Hans Barkhausen

Referent im Reichsfilmarchiv Berlin

„Er bezeichnete sich selbst als Trommler“

Wolfgang Wagner

Sohn von Siegfried und Winifred Wagner, Enkel von Richard Wagner

„Bei uns war er immer Privatmann“

Emil Klein*

Teilnehmer am Marsch auf die Feldherrnhalle

„Hitler war noch nicht der Führer“

Hermann Buch

SS-Obersturmführer und Ordonnanzoffizier

„So konnte Hitler auch sein“

Gretel Roelofs

Köchin in Reichskanzlei und Führerbunker

„Er war ausgesprochen anspruchslos“

Karl-Wilhelm Krause

Hitlers Kammerdiener

„Hitler war ein einsamer Mensch“

Erna Moll

Sekretärin des Düsseldorfer Gauleiters

„Ich war glückselig“

Hermann Giesler

Generalbaurat für die „Hauptstadt der Bewegung“

„Hitler war für mich eine außerordentliche Persönlichkeit“

Margarete Mittlstrasser

Köchin und Hausverwalterin auf dem Berghof

„Für uns waren sie wie ein Ehepaar“

Wilhelm Mittlstrasser

Angehöriger der SS, Hausmeister auf dem Berghof

„Zum Schluss hat sie sich sogar mit meiner Pistole erschossen“

Herbert Döhring

Hausverwalter auf dem Berghof

„Wenn Hitler tobte, hat man es in jedem Zimmer hören können“

Fritz Darges

SS-Obersturmbannführer, Adjutant im Stab Adolf Hitlers

„In diesen Dingen war er sehr genau“

Gisela Böhme

Schülerin

„Wie komm ich wohl hier zum Führer?“

Dr. Tobias Portschy

Stellvertretender Gauleiter der Steiermark

„Der einzelne Mensch ist hineingeboren in das Schicksal seines Volkes“

Reinhard Spitzy

SS-Hauptsturmführer und persönlicher Referent von Außenminister Joachim von Ribbentrop

„Die Frage ist eben, wer hat es gewusst“

Tilla Maria von Below

Ehefrau von Nicolaus von Below, Oberst der Luftwaffe

„Wir aßen woanders besser als bei Hitler“

Daisy Schlitter

Filmschauspielerin

„Alles an ihm war ordinär“

Willi Schneider

SS-Begleitkommando Adolf Hitler

„Wir sagten damals Chef zu ihm“

Walter Frentz

Kameramann bei Leni Riefenstahl

„Ich habe Hitler durchaus menschlich in Erinnerung“

Heinz Günther Guderian

Major der Wehrmacht, Sohn des Oberbefehlshabers der Panzerverbände Heinz Guderian

„Verbrechen habe ich nirgendwo erlebt“

Theodor Oberländer*

Doktor der Agrarwissenschaft und Minister in der Regierung Adenauer

„Hitler wollte alles alleine machen“

Otto Kumm

Kommandeur des SS-Regiments „Der Führer“

„Er strahlte Siegeszuversicht aus“

Alfons Schulz

Telefonist im Oberkommando der Wehrmacht

„Hier Wolfsschanze“

Heinz Heuer

Geheimdienst-Kurier

„Er war ein gebrochener Mann“

Philipp Freiherr von Boeselager

Offizier der Wehrmacht und Mitwisser der Verschwörung vom 20. Juli 1944

„Es ist ein langer Weg von der Skepsis über die Ablehnung bis zum Widerstand“

Winrich Behr

Major und Panzerkommandant

„Von diesem Mann kann man nicht mehr irgendwelche Entscheidungen verlangen“

Waldemar von Gazen

Major im Generalstab der Wehrmacht

„Er sprach in einem charmanten Plauderton“

Wilhelm Niggemeyer

Oberleutnant der Reserve

„Er ließ keinen Zweifel daran, noch eine Wende des Krieges herbeiführen zu können“

Johann Adolf Graf von Kielmannsegg

Oberst in der Operationsabteilung des Oberkommandos der Wehrmacht

„Hitler war ein Genie des Bösen“

Wilhelm Zeyss

Ingenieur im Reichswehrministerium

„Schießen Sie, auf meine Verantwortung“

Hans Gotthard Pestke

Major

„Die technischen Kenntnisse Hitlers waren erstaunlich“

Johannes Göhler

SS-Obersturmbannführer

„Mein Führer, das muss ich erst prüfen“

Hans-Joachim Herrmann

Kampf- und Jagdflieger

„Er wünschte mir weiterhin viel Glück“

Bernd Freiherr Freytag von Loringhoven

Adjutant des Chefs des Generalstabs des Heeres

„Er war ein körperliches Wrack“

Rudolf von Ribbentrop

SS-Obersturmbannführer, Sohn des Reichsaußenministers Joachim von Ribbentrop

„Hitler war in diesem Fall unser Schicksal“

Armin Dieter Lehmann

Hitlerjunge, Melder bei Reichsjugendführer Artur Axmann

„Als ich Hitler sah, war ich schockiert“

Gertraud „Traudl“ Junge

Sekretärin Hitlers

„Es war seine eigene Endlösung“

Rochus Misch

Angehöriger der Leibstandarte Adolf Hitler, Telefonist im Führerhauptquartier

„Hitler ist tot, wer ist jetzt mein Chef?“

Ernst Günther Schenck

Ernährungsinspekteur in Wehrmacht und SS, Arzt in der Reichskanzlei

„Um 15 Uhr wird der Führer aus dem Leben scheiden“

Gisela Herrmann*

Gebietsführerin des Bund Deutscher Mädel Berlin

„Er brachte mir Hitlers Pistole“

Heinz Stendtke*

Fahnenjunkerunteroffizier beim Artillerieregiment der 5. Panzerdivision

„Der deutsche Soldat im Osten war ein ritterlicher Soldat“

Erika Morgenstern*

Zivilistin aus Königsberg

„Wir waren die Verschollenen, uns gab es nicht“

ANHANG

Thomas Weber –

Hitlers Antisemitismus schon vor dem Krieg

Die Ursprünge von Hitlers Antisemitismus vor 1914 – Eine Neubewertung

von Thomas Weber

Moshe Zimmermanns Stellungnahme zu Webers Artikel

von Wieland Giebel

Personen-, Sach- und Ortsregister

Abbildungsnachweis

* Der oder die Befragte hat Hitler nicht persönlich getroffen

VORWORT

von Karl Höffkes

Februar 1992. Die Verabschiedung war unterkühlt. Stumm reichte mir der klein gewachsene Mann seine linke Hand. Eine ganze Nacht lang hatte ich mit ihm zusammengesessen, um ihn dazu zu bewegen, mir seine Lebenserinnerungen anzuvertrauen. Im Morgengrauen fuhr ich zurück und ließ die Nacht Revue passieren, als das Telefon klingelte. „Kommen Sie zurück. Wir sprechen über das Interview.“ Artur Axmann, Hitlers letzter Reichsjugendführer und einer der wichtigsten Zeitzeugen aus der Führungsriege des Dritten Reiches, war bereit, sein Schweigen zu brechen.

Die Sachlichkeit, mit der Artur Axmann mir aus seiner persönlichen Perspektive die Ereignisse von Hitlers Machtergreifung bis zu dessen Tod in Berlin schilderte, weckte mein Interesse, weitere Zeitzeugen zu befragen, die in die Politik des NS-Regimes verstrickt waren. Angesichts des fortgeschrittenen Alters vieler war das eine Arbeit gegen die Zeit. Das Interview mit Artur Axmann öffnete manche Türe, die bis dahin verschlossen war, und Menschen, die bisher geschwiegen hatten, waren bereit zu reden. In einigen Fällen waren mehrere Vorgespräche notwendig, um das notwendige Vertrauen aufzubauen. Einige der Zeitzeugen waren nur dieses eine Mal bereit, über ihre Begeisterung für Hitler, ihre Verstrickung in das System und ihre Begegnungen mit Hitler zu sprechen. Fast alle Gespräche habe ich mit der Kamera festhalten dürfen; nur wenige sind, aus unterschiedlichsten Gründen, lediglich als Tondokumente vorhanden.

Die Interviews führten mich durch Europa, in verschiedene Staaten der ehemaligen Sowjetunion, nach Nordafrika, Südamerika und in den Nahen Osten. Das Ergebnis: mehr als tausend Interviews mit unterschiedlichsten Zeitzeugen: Gauleiter, Generale und Admirale, Sekretärinnen und Adjutanten, Soldaten aller Waffengattungen, Generalstabsoffiziere, Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, Widerständler, Opfer des NS-Systems, Kulturschaffende, Fahrer, Bedienstete, Zivilisten und Familienangehörige führender Nationalsozialisten – ein breiter Querschnitt durch alle Schichten.

Sie alle schilderten ihre Erlebnisse vor und während des Zweiten Weltkrieges. Freiwillige aus über zwanzig Nationen sprachen über ihre Beweggründe, auf deutscher Seite in den Krieg einzutreten, unter ihnen Engländer, Inder, Ukrainer, Russen und bosnische Moslems. Flüchtlinge aus den Ostgebieten, Überlebende des Bombenkrieges und der polnischen und tschechischen Todeslager, Frauen, die vergewaltigt und verschleppt wurden, Augenzeugen entsetzlicher Kriegsverbrechen, Opfer der Konzentrationslager: vielfältige Erinnerungen – aufgezeichnet und bewahrt für kommende Generationen.

Im Unterschied zur klassischen Interviewtechnik, bei der der Fragende den Rahmen vorgibt, sollten und konnten meine Gesprächspartner frei und ohne Zeitdruck schildern, was ihnen wichtig erschien. Anstelle eines geleiteten Gesprächs vertrauten sie mir nach eigenem Ermessen ihre Erinnerungen an. Einige haben später ihre Erlebnisse in Buchform veröffentlicht. Darüber, ob die vorangegangenen Gespräche dazu den Anstoß gegeben haben, kann nur spekuliert werden.

Der Ansatz, mit Hilfe dieser Berichte historische Abläufe verständlicher zu machen, wurde bisweilen als „Verständnis haben“, vereinzelt sogar als Zeichen der Sympathie für das NS-System kritisiert. Genau das Gegenteil ist der Fall: Jede Erinnerung an das Leben im „Dritten Reich“ und die Schrecken des Krieges ist ein Appell gegen die Diktatur und für den Erhalt des Friedens.

Derartige Vorwürfe sind inzwischen weitgehend verstummt; „Oral history“, „erzählte Geschichte“, ist heute eine anerkannte Forschungsrichtung der Geschichtswissenschaft. Die Shoah Foundation von Steven Spielberg, die gesprochenen Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden in der Gedenkstätte Yad Vashem (in der auch Teile der von mir geführten Gespräche archiviert sind) und andere ähnliche Archive zeigen, dass Erfahrungsberichte von Augenzeugen für die Erforschung historischer Ereignisse von Bedeutung sind.

In der bundesrepublikanischen Gesellschaft fanden Gespräche mit der Generation, die den Nationalsozialismus erlebt hat, lange Zeit, wenn überhaupt, nur im privaten Bereich statt. Die einen schwiegen und verschwiegen; die anderen hatten kein Interesse oder wollten den „Ewiggestrigen“ kein Forum bieten. Viel zu spät begann die Geschichtswissenschaft mit der systematischen Befragung von Zeitzeugen – viele wichtige Augenzeugen waren bereits verstorben.

Beachtung verdient im Zusammenhang mit „Oral history“ ein Aspekt, der die Wissenschaftlichkeit der Methode zur Diskussion stellt. Der Vorwurf lautet: Individuelle Aussagen können nicht als authentische Quelle zur Aufarbeitung der Geschichte herangezogen werden, weil man nicht verhindern kann, dass ein Zeitzeuge im Nachhinein bewusst oder unbewusst beschönigt, unterschlägt, bagatellisiert oder dramatisiert, tatsächlich Gewesenes mit später Gehörtem und Gelesenem vermischt oder zur Selbstrechtfertigung Zusammenhänge in einem ihm genehmen Licht erscheinen lässt.

Die damit implizierte Unterscheidung von seriösen, weil gedruckten Quellen und unseriösen, weil subjektiven Zeitzeugenaussagen greift allerdings zu kurz. Selbstverständlich sind Zeitzeugenaussagen kritisch zu hinterfragen und im Kontext anderer Quellen zu prüfen. Das gilt aber in gleicher Weise auch für gedruckte Quellen: Bekanntlich ist Papier geduldig. Wie viele Tagebücher wurden im Nachhinein umgeschrieben? Wie viele schriftliche Erinnerungen sind geschönt? Wie viele „Dokumente“ sind – gerade in Zeiten kriegerischer Auseinandersetzungen – den Fälscherwerkstätten der Geheimdienste und der Propaganda entsprungen, um den Gegner zu täuschen? Hinter welchen Vertragswerken verbergen sich geheime Zusatzvereinbarungen, die, unzugänglich für die Forschung, noch immer in Archiven zurückgehalten werden? Wie viele „Geständnisse“ sind das Ergebnis langer Haftzeiten und körperlicher Drangsalierung?

Inzwischen ist anerkannt, dass Augenzeugen-Erinnerungen – bei Berücksichtigung aller Probleme – auf einer bestimmten Ebene anderen Quellen etwas voraushaben: Sie erzählen eine „Geschichte von unten“, weil sie Menschen, die ihre Erinnerungen niemals schriftlich festgehalten hätten, die Möglichkeit bieten, ihre Sicht auf das Gewesene zu bewahren. Sie halten auf einer emotionalen Ebene die Atmosphäre, die Befindlichkeiten und Stimmungen einer Zeit fest und können damit zur Klärung von Fragen beitragen, die Fakten und Daten nicht immer hinreichend beantworten.

„Oral History“ bietet somit einerseits die Chance, Gewesenes besser nachzuvollziehen; andererseits stellt sie an den Historiker die Forderung nach gründlicher quellenkritischer Arbeit. Seine Aufgabe ist es, Erinnerungen kritisch zu hinterfragen und Kriterien zu entwickeln, die eine sachliche Überprüfung der Aussagen möglich machen. Im Sinne des preußischen Historikers Ranke* muss er dabei auch an sich selbst strengste Maßstäbe anlegen, denn auch die Interpretation und Bewertung des Gesagten unterliegt der Gefahr einer subjektiven Gewichtung, da Geschichtsschreibung – und sei sie noch so sehr um Objektivität bemüht – sowohl in der Auswahl von Dokumenten als auch in ihrer Interpretation nie frei ist von subjektiver Betrachtungsweise.

Was macht den Menschen zum Zeitzeugen? Welche Fähigkeiten sollte er besitzen, um „von der Zeit zu zeugen“? Im Idealfall verfügte er schon zu den Zeiten, über die er berichtet, neben der Fähigkeit zur Beobachtung über eine gewisse Distanz zum Geschehen. Eine Qualität, die allerdings nur in seltenen Fällen zutrifft. In aller Regel sind Menschen in die Abläufe des Alltags eingebunden, betraut mit Aufgaben und bestimmt von täglichen Sorgen und Problemen. Wer beobachtet, wenn um ihn herum Bomben einschlagen? Wer hält Distanz, wenn er um sein Leben fürchten muss?

Hinsichtlich der in diesem Buch zusammengestellten Erinnerungen von Zeitzeugen sind die Probleme noch gravierender. Abstand zu halten, Objektivität zu bewahren scheint umso schwieriger, je näher die Befragten dem Zentrum der Macht, der Person Hitlers kamen. Wie weit unterlag der Einzelne der immer wieder beschriebenen Suggestivkraft und dem Einfluss des Mannes, in dessen Händen alle Gewalt zusammenlief? Gewährte Hitler den Menschen in seiner nächsten Umgebung überhaupt Einsichten in sein Wesen oder war er ein Puppenspieler, der alle wie Marionetten am Faden führte?

Die Menschen, die in diesem Buch zu Wort kommen, sind so verschieden, wie sie nur sein können; sie stammen aus unterschiedlichen Milieus, gesellschaftlichen Kreisen und Regionen; sie besuchten die unterschiedlichsten Schulen, gehörten verschiedenen Konfessionen an und unterscheiden sich voneinander in Ausbildung, Alter und Beruf. lhre einzige Gemeinsamkeit ist die Nähe zu Adolf Hitler, jenem Mann, der wie kein Zweiter die Geschichte des letzten Jahrhunderts beeinflusst hat.

Aber selbst in dieser Gemeinsamkeit gibt es bedeutsame Unterschiede. Die Befragten waren nicht zur gleichen Zeit, in gleicher Häufigkeit, mit gleicher Intensität und über einen gleich langen Zeitraum in der Nähe des „Führers“. Ihre Sicht auf die Person Hitler entstammt unterschiedlichen Blickwinkeln und deckt einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten ab.

Auffallend ist der Widerspruch zwischen dem durch Teile der Geschichtswissenschaft vermittelten Bild Hitlers und den Charakterisierungen der in seiner engsten Umgebung lebenden Menschen. Fast alle schildern ihn als freundlich, fleißig, charmant und besorgt. Keine Spur von einem teppichbeißenden Psychopathen.

Der Alltag in Hitlers unmittelbarer Umgebung war offenbar von erschreckender Normalität und Banalität. Der Diktator zeigte in seiner engsten Umgebung menschliche Empfindungen. Während Millionen Menschen starben, kümmerte sich Hitler um das Wohl seiner Mitarbeiter. Während die Welt in Schutt und Asche versank, präsentierte er sich in vertrauter Runde als humorvoller Unterhalter, der Anekdoten aus seiner Jugend zum Besten gab. Ein schwer zu fassender, vielschichtiger Charakter: Hitler ohne Maske.

Keines der Gespräche, die in diesem Buch erstmalig gedruckt vorliegen, wurde im Auftrag eines Dritten durchgeführt; eine kommerzielle Verwertung, in welcher Form auch immer, war nicht geplant. Dass die Gespräche, wenn sie jetzt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, nicht durch Auslassungen oder Ergänzungen in ihrer inhaltlichen Aussage verändert wurden, gebietet die historische Sorgfaltspflicht.

Dieser wissenschaftlichen Vorgabe bleibt das Buch treu. Die Aussagen der Zeitzeugen werden ungekürzt und unverändert wiedergegeben. Die Fragen des Interviewers wurden herausgeschnitten, bei langen Gesprächen einzelne Passagen um des besseren Verständnisses willen neu angeordnet. Um den Lesefluss zu verbessern, wurden grammatikalische Fehler und sprachliche Ungenauigkeiten, wie sie in frei gesprochenen Texten vorkommen, korrigiert.

Dankenswerterweise hat der Verlag jedem Gespräch biografische Daten zur Person vorangestellt. Sie erleichtern die Einordnung der Aussagen des jeweiligen Zeitzeugen.

Die in diesem Buch wiedergegebenen Erlebnisse und Bewertungen bilden kein in sich zusammenhängendes Erklärungsmuster zur Person Adolf Hitlers. Das kann man von so unterschiedlichen Augenzeugen auch nicht verlangen. Ihre Erinnerungen sind lediglich Ausschnitte aus einem großen Ganzen, Mosaiksteine der Geschichte. Ob mit ihrer Hilfe das Gesamtbild der Person Adolf Hitlers vervollständigt werden kann, mag der Leser entscheiden.

Karl HöffkesJanuar 2020

Gisela Herrmann (links) – ehemalige BDM-Gebietsmädelführerin von Berlin, Karl Höffkes – Historiker, Erna Axmann, Artur Axmann, ehemaliger Reichsjugendführer, im Februar 1995 in Berlin in der Gertrud-Kolmar-Straße auf dem Parkplatz, unter dem sich die gesprengten wenigen, nicht zugänglichen Reste des Führerbunkers befinden. Heute steht dort eine Informationstafel.

*Leopold von Ranke, 1795 – 1886, setzte den Historismus durch, die systematische, reflektierte, professionelle und vor allem quellenkritische Geschichtsbetrachtung

EDITORIAL

des Herausgebers

„DAVON HATTE ICH NICHT DIE GERINGSTE AHNUNG“

In diesem Buch finden sich Dokumente. Zu Wort kommen Menschen, die Hitler gekannt oder zumindest einmal oder mehrmals getroffen haben. Es handelt sich bei ihren Berichten und Schilderungen nicht um eine Abrechnung mit dem Nationalsozialismus. Viele der Gesprächspartner haben fünfzig Jahre nach Ende der NS-Herrschaft zum ersten Mal von ihren Erfahrungen erzählt. Sie trafen Hitler in seinem ersten Zimmer in München, sahen ihn während des Putschversuchs, zum Zeitpunkt der „Machtergreifung“, auf dem Berghof, in der Wolfsschanze, im Führerbunker. Der Abstand zum Erlebten war in den 1990er-Jahren groß genug. Nun wollten sie berichten – und sie hatten Vertrauen zu ihrem Gesprächspartner Karl Höffkes. Es ist sein Verdienst, überlebende Akteure des Nationalsozialismus beharrlich befragt und ihre Aussagen dokumentiert zu haben.

LEUGNER UND VERHARMLOSER

Unbelehrbarkeit und Verharmlosung sowie reinwaschende Unschuldsbeteuerungen ziehen sich durch die in diesem Buch zusammengetragenen Gespräche. Eine Relativierung der Verbrechen wird zum durchgehenden Muster.

„Man wusste ja gar nichts davon. Man wusste zwar, dass die Juden nach Osten deportiert wurden. Ich dachte, die würden umgesiedelt.“ – Reinhard Spitzy, NSDAP, SA, Reichssicherheitshauptamt, im Interview 1996

„Ich war in meinem ganzen Leben Humanist … Ich war dann tatsächlich verwundert, als ich nach dem Kriege von den KZ erfahren habe.“ – Dr. Tobias Portschy, SS, Träger des „Blutordens“, Stellvertretender Gauleiter der Steiermark, 1995

„Was sich in den Konzentrationslagern abgespielt hat, davon hatte ich nicht die geringste Ahnung.“ – Willi Schneider, SS-Begleitkommando Adolf Hitler, 1990

„Dass behauptet wird, es seien Zivilisten wahllos erschossen worden, trifft uns ganz tief in unserem Ehrgefühl. Ich wie viele andere Kameraden haben unmöglich etwas getan, was gegen die Ehre eines anständigen deutschen Soldaten ging.“ – Hans Gotthard Pestke, Kommandeur des I. Bataillons des Infanterie-Regiments 176, später Brigadekommandeur der Bundeswehr, ausgezeichnet mit dem Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, 1998

„Wir schossen auf eine Entfernung von dreißig Metern ein paar Russen ab … Wir schossen sie natürlich ab wie die Hasen, als die den Hang herunterfuhren … Einmal überholte uns ein T-34 mit Infanterie drauf. Die guckten plötzlich entsetzt. Ich sehe die Augen, das Gesicht noch, guckten entsetzt in unsere Mündung. In dem Moment war natürlich Feierabend. Da war es für die armen Kerle passiert. Teilweise überfuhren wir von hinten russische Infanteristen, die runtergesprungen waren. Es war ein Höllensabbat, wie Sie es sich nicht vorstellen können.“ Feindliche Soldaten mit dem Panzer zu überrollen ist kein Kriegsverbrechen. Das weiß Rudolf von Ribbentrop, Eisernes Kreuz, SS-Division „Hitlerjugend“, später Mitinhaber der Henkell & Co Sektkellerei sowie Sprecher der Geschäftsleitung des Bankhauses Lampe. „Hitler wollte sicher keinen Krieg, was sollte ihm ein Krieg bringen?“ – Ribbentrop 1997

„In Wien liegt die Wurzel seines Antisemitismus. Ich selber habe, und darauf können Sie sich verlassen, und ich war Hitlers Adjutant, den Namen ,Auschwitz‘ zum ersten Mal am 8. Mai 1945 gehört. Vorher wusste ich nichts von diesem gigantischen Verbrechen in den Konzentrationslagern.“ – Fritz Darges, SS-Obersturmbannführer und Adjutant im Stab Adolf Hitlers, 1996

„Was wusste man denn über den Massenmord? Damals nichts.“ – Johann Adolf Graf von Kielmannsegg, Mitglied des Oberkommandos der Wehrmacht, im Jahr 2001 gegenüber der „Jungen Freiheit“. Kielmannsegg nahm an den Feldzügen gegen Polen, Frankreich und Russland teil. 1950 wurde er ins Amt Blank berufen wurde, um den Aufbau der Bundeswehr vorzubereiten; 1955 war er Brigadegeneral und 1967 NATO-Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte Europa Mitte.

Karl Höffkes hat sie alle zum Sprechen bewegt.

NAIVE, PROFITEURE, BESSERWISSER

Die Verehrung des „Führers“, des angeblich zu seinem Hofstaat allzeit freundlichen Menschen, hielt sich bei vielen derjenigen, die in diesem Buch zu Wort kommen, über mehr als fünfzig Jahre.

„Er hat sicher den besten Willen und die besten Pläne gehabt, das glaube ich gerne. Und alle haben ja daran geglaubt.“ – Gretel Roelofs, 1993

„Hitler war besonders ritterlich, und zwar innerlich ritterlich.“ – Tilla Maria von Below, 1998

Einige profitierten von ihrer Verbundenheit mit dem NS-Staat und ihrer Bekanntschaft mit Hitler. So der Architekt Hermann Giesler, der 1983 erklärt: „Ich war fasziniert, mit welcher Sicherheit und inneren Überzeugung er dabei seine visionäre Sicht der Zukunft Europas vortrug. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich Hitler das Modell zum ersten Mal zeigen konnte. Die Scheinwerfer simulierten die Sonneneinstrahlung am Nachmittag und eröffneten Hitler eine Blickrichtung auf Linz, wie sie sich von seinem geplanten Altersruhesitz dargeboten hätte. Für ihn waren diese nächtlichen Stunden seltene Gelegenheiten, um den täglich wachsenden Belastungen zu entfliehen und etwas Entspannung zu gewinnen.“ Das war unter der Neuen Reichskanzlei im Februar 1945, als der Krieg lange verloren war.

Das Foto von Giesler mit Hitler vor dem Modell von Linz nahm Walter Frentz auf, Kameramann bei den Olympischen Spielen, Kriegsberichterstatter der Wochenschau. Frentz sagt im Gespräch mit Karl Höffkes 1995: „Er war einer der wenigen Politiker, die auch Gefühl besaßen und nicht nur mit Verstand arbeiteten. Er konnte sich daher in gewisse Situationen besser einfühlen als mancher Politiker, der das nur mit dem Verstand tat. Ich habe Hitler durchaus menschlich in Erinnerung …“

Einige Gesprächspartner meinen zu wissen, was Hitler falsch gemacht hat und wie der Krieg hätte gewonnen werden können. Theodor Oberländer, NS-Agrarwissenschaftler, schildert 1996, dass er und Wilhelm Canaris, Chef der Abwehr, der Meinung waren, man würde besser und erfolgreicher gegen die Rote Armee kämpfen, wenn man die von den Russen unterdrückten Völker auf seine Seite zöge, aber: „Hitler wollte alles alleine machen.“ Hitler wollte auch nicht auf den Rat von Ernst Hanfstaengl hören, mit ihm vor der „Machtergreifung“ quer durch die USA zu fahren, seinen kleinen Finger einmal in den Pazifischen Ozean zu stecken, um zu begreifen, wie groß und damit mächtig die Vereinigten Staaten von Amerika sind.

Karl Höffkes spricht mit den letzten überlebenden Alt-Nazis, mit Profiteuren, Karrieristen, Besserwissern, Naiven und mit sehr wenigen Geläuterten. Niemals aber ist in diesen Interviews zu hören: „Wir haben Verbrechen begangen. Es war falsch. Ich habe mich geirrt und stand auf der falschen Seite. Ich habe im weiteren Leben versucht, meine Fehler gutzumachen.“

DER ANHALTENDE EINFLUSS NATIONALSOZIALISTISCHER GESINNUNG

Für den Berlin Story Verlag stellt dieses Buch den Gegenpol zu dem Band „Warum ich Nazi wurde“ dar. Darin schildern mehrere hundert Alte Kämpfer, also frühe Mitglieder der NSDAP, im Sommer 1934 in ausführlichen Lebensberichten, warum sie zur Hitler-Bewegung gekommen sind. „Ich traf Hitler“ macht vor allem eins deutlich, nämlich wie die Ideologie des Nationalsozialismus noch nach fünfzig Jahren wirkt.

„Warum ich Nazi wurde“ veranschaulicht, wie sich Menschen mit niedriger, mit niedrigster Gesinnung dafür entscheiden, Nazis zu sein – Rassisten, Antisemiten, gewalttätige Kleingeister, die sich bereichern auf Kosten anderer, der Nachbarn oder der Nachbarvölker. Sie zeigen Minderwertigkeitskomplexe und Überlegenheitsgefühl gleichzeitig. Die zentrale Erkenntnis von „Ich traf Hitler“ ist, dass Menschen – abgesehen von wenigen Aussagen – auch nach der Niederlage 1945 und selbst wenn sie persönlich für den Tod von Hunderten, von Tausenden, ja von Zehntausenden verantwortlich sind, kein einziges Wort des Bedauerns über die Lippen bringen und im Grunde nicht von ihrer nationalsozialistischen Gesinnung abweichen.

Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, als diese Nazis sich in den 1950er-Jahren in Seilschaften organisierten, als sie die Bundeswehr, Ministerien und Behörden aufbauten – und meine Lehrer waren. Angeblich waren sie nicht schuldig, denn sie hatten ja nichts gewusst. Meine Mutter, die Anfang der 1940er-Jahre in Weimar zur Höheren Handessschule ging, berichtete, dass die Kinder sich auf dem Schulhof, wenn es in der Stadt süßlich roch, darüber unterhielten, dass oben auf dem Ettersberg, im KZ Buchenwald, wieder Menschen verbrannt wurden. Jeder wusste das. Im Jahr 1943 wurden in Buchenwald mehr als 3.500 Tote registriert, etwa zehn pro Tag.

Die Verstrickung der allermeisten Deutschen in die Nazi-Geschichte ist in unserer Gesellschaft nicht richtig verarbeitet, anders als die vielen Fernsehfilme und wissenschaftlichen Veröffentlichungen vermuten lassen. „Aber mein Großvater wusste von nichts“, ist weiterhin und bis heute eine geläufige Aussage. Der Journalist David Ensikat, der seit mehr als zwanzig Jahren im „Tagesspiegel“ die Nachrufe betreut, eine außergewöhnliche, wöchentliche Seite, schreibt*: „Es gab, soweit ich mich erinnern kann, bislang nicht einen Nachruf, in dem die Beteiligung eines Verstorbenen an NS-Verbrechen eine Rolle spielte. Verwundungen an der Front, Gefangenschaft, Traumata, das alles oft: nichts aber haben wir erfahren über Erschießungen, Transporte, Wachdienste. Das große Schweigen dauert an. Die Geschichte jüdischer Überlebender dagegen haben wir oft erzählen können.“

GEGNER UND VERSCHWÖRER

Es gibt Ausnahmen in diesem Buch. Daisy Schlitter hat als junges Mädchen, achtzehn Jahre alt, Anfang der 1930er-Jahre die Berliner Künstlerszene kennengelernt. Anfang 1932 wollte sie Hitler bei einem öffentlichen Auftritt hören. Ihrer Mutter berichtete sie: „Heute habe ich den Mann gesehen, der Deutschland zugrunde richten wird. Er heißt Adolf Hitler. Seine Partei kommt an die Macht, der Mann wird die Regierung übernehmen. Er strahlt eine überzeugende Kraft aus, ist revolutionär und fanatisch. Die Russen werden aus Sowjetrussland kommen, es wird Krieg geben. Der Mann wird Krieg machen gegen Russland. Die Russen werden in Berlin stehen.“

Das Ende schildert Egon Hanfstaengl, dessen Vater Hitler in die Münchner Gesellschaft eingeführt hatte: „Zum Schluss war er ja kaum mehr in Fühlung mit der Wirklichkeit, hat im Bunker losgelöst von aller Wirklichkeit, in einem Zustand des Wahns gelebt, bis er zugeben musste, dass alles verloren war. Da hat er es dann noch fertiggebracht, die Schuld dem deutschen Volk, das seiner nicht würdig gewesen sei, zuzuschieben. Also eine haarsträubende Einstellung.“

Philipp Freiherr von Boeselager, Ordonnanzoffizier von Generalfeldmarschall Günther von Kluge an der Ostfront, später einer der Mitverschwörer des Attentatsversuchs vom 20. Juli 1944: „Man wusste aber ganz genau, Hitler und diese SS-Leute konnte man nicht abwählen, es gab keine demokratische Möglichkeit. Es war klar, die konnte man nur umbringen.“ – 1997

Hätte Hitler umgebracht werden können? Waldemar von Gazen, Major im Generalstab der Wehrmacht, wird im Januar 1943 von Hitler ausgezeichnet: „Als ich dann vor Hitler stand, hatte ich noch mein Koppel umgeschnallt, eine Pistole mit Magazin, aber nicht durchgeladen. In dem Moment dachte ich noch, was würde passieren, wenn plötzlich jemand auf Hitler schießen würde. Das kann man doch eigentlich gar nicht zulassen. Daran sieht man aber, dass durchaus die Möglichkeit bestanden hat, auf ganz andere Weise ein Attentat auf Hitler durchzuführen, als das später Stauffenberg gemacht hat.“

Egon Hanfstaengl vertritt die Meinung, der 20. Juli 1944 sei nicht nur deshalb gescheitert, weil Hitler überlebte, sondern vor allem, weil wichtige Schlüsselfiguren nur mitgemacht hätten, wenn Hitlers Tod absolut sicher gewesen wäre. Da er aber nach dem Attentat weiter in vollem Maße handlungsfähig war, scheiterte das Unternehmen: Weil so viele einfach von der Autorität dieses Mannes so tief beeindruckt waren, dass sie sich eine Rebellion gegen den lebenden Hitler überhaupt nicht vorstellen konnten. Sie hatten Angst.

WARUM DIESES BUCH?

2016 hat der Berlin Story Verlag das Buch von Harald Sandner: „Hitler – Das Itinerar, Aufenthaltsorte und Reisen von 1889 bis 1945“ veröffentlicht. Wir gingen damals davon aus, dass die vier Bände mit 2432 Seiten und einer Text-CD zum Preis für 499 Euro überwiegend von Institutionen gekauft würden. Das Buch dokumentiert „Hitler Tag für Tag“, eine Art kommentierter Terminkalender: Mit wem hat er gesprochen, um was ging es dabei, wie gelangte er von Ort zu Ort und was geschah parallel in Europa und der Welt. Einzigartig und unersetzlich für Wissenschaftler. Es scheint jedoch so, dass mehr als sechzig Prozent der Käufer Privatpersonen waren. Hitler ist die bekannteste Person der Weltgeschichte. Selbst wenn jemand irgendwo auf der Welt Deutschland nicht auf der Karte findet, hat er eine Vorstellung davon, wer Hitler war. Auf der Grundlage unseres Buches „Warum ich Nazi wurde“ haben mehrere Theater szenische Lesungen entwickelt, so in Darmstadt ein Zwölfstundenprogramm zum Auschwitz-Gedenktag.

Nun also „Ich traf Hitler“, auf den ersten Blick eine Sammlung von Erinnerungen überzeugter Nationalsozialisten und harmloser Mitläufer. Doch die hier wiedergegebenen Interviews sind vielfältig. Man muss genau lesen, um festzustellen, dass hier die erste antisemitische Äußerung Hitlers bezeugt wird. Elisabeth Grünbauer, geb. Popp, Tochter von Hitlers Vermieter Josef Popp in München:

„Und er hat sich immer beschwert, dass zum Beispiel in Österreich also eine Lage herrscht, die ihm nicht passt, und vor allen Dingen, dass er auch nie in Österreich zum Militär will, …, weil ihm Österreich zu verjudet war. … Das war ein Hauptthema von ihm, dass er eben gesagt hat, dass eben Wien … Wien und Österreich sei[en] so verjudet, das ist ein Grund gewesen, dass er gegangen ist. Und er auch nicht für Wien oder beziehungsweise für Österreich in den Krieg gehen wollte . … Das hat sich halt im Gespräch immer wieder ergeben. Er ist ja sehr oft zu meinem Vater in den Laden gekommen. … Die Debatten waren oft stundenlang, dass es für meinen Vater, der ja hat arbeiten müssen, nicht immer gerade angenehm war. Aber sonst haben sie sich schon gut vertragen. …“

Das Buch enthält Schilderungen, die dem Leser peinlich oder oberflächlich erscheinen können. Zum Beispiel, wenn Margarete Mittlstrasser berichtet, wie sie Eva Braun den Rücken wäscht, wenn Gretel Roelofs von Hitlers Sellerieschnitzeln erzählt, Willi Schneider berichtet, dass er Hitler einen schweren Sessel auf den Zeh gestellt hat, oder wenn Egon Hanfstaengl schildert, dass er als Kind gern mit Hitler Eisenbahn gespielt hat, weil „Onkel Dolf“ so phantastische Geräusche erzeugen konnte oder Hanfstaengls Mutter ihm erzählte, dass Hitler eines Tages auf einen Stuhl stieg, sich ein Tischtuch als Toga umhängte und ihr vormachte, wie er sich als Bub als römischer Senator geübt habe. Auch die Geschichte, wie Frau Hanfstaengl und Hitler verzweifelt Göring suchten und in einer Konditorei fanden, ist eher irgendwie komisch. Versetzt man sich aber nur einmal in die Lage eines Stoffentwicklers für einen anspruchsvollen Film über Hitler, kann man verstehen, dass ihm keine 2000-Seiten-Hitler-Biographie von Ian Kershaw mit all ihren gründlichen Analysen und Reflektionen so richtig weiterhilft, sondern er wissen möchte, wie sich das auf dem Obersalzberg ganz konkret abgespielt hat, um damit realistische, aber eben nicht peinliche und oberflächliche Szenen zu entwerfen.

WIDERSPRÜCHE IN DEN INTERVIEWS

Mit Anmerkungen versehen und kommentiert werden in diesem Buch aber Aussagen, die objektiv nicht stimmen, oder Fakten, die in der Erinnerung falsch wiedergegeben sind. Subjektive Einschätzungen und widersprüchliche Wahrnehmungen der Person Hitlers und seiner Äußerungen bleiben bestehen. Elisabeth Grünbauer, geb. Popp, berichtet eher beiläufig, aber doch präzise von den antisemitischen Äußerungen Hitlers in München, während sein Kammerdiener Karl-Wilhelm Krause erzählt, dass Hitler bei einer Autofahrt sagte: „… dass er im Ersten Weltkrieg als Meldegänger selbst Juden erlebt hätte, die sogar das EK I bekommen hätten. Die könne man doch jetzt nicht verfluchen.“

Als Widerspruch könnte man auch die Äußerung des einfachen Soldaten Heinz Stendtke ansehen, dass der deutsche Soldat im Osten ein ritterlicher Soldat war, und die Schilderung des Panzerkommandanten Rudolf von Ribbentrop, wie russische Infanteristen aus dem Hinterhalt mit dem Panzer überfahren wurden.

Hans Gotthard Pestke, Kommandeur eines Infanterie-Regiments, berichtet: „Der Kommissarbefehl ist mir selbst merkwürdigerweise damals nie bekannt gewesen.“ Im gleichen Gespräch sagt er aber auch: „Bei der Vorbesprechung für den Kriegsbeginn gegen Russland hat der damalige Divisionskommandeur diesen Befehl vorgelesen und mit der Bemerkung abgetan, in meiner Division wird dieser Befehl wohl nicht ausgeführt. Damit war die Debatte darum abgeschlossen.“ Ein auffälliger Widerspruch, der eine deutliche Sprache spricht.

WER HITLER NICHT GETROFFEN HAT

Einige der Interviewten haben Hitler nicht persönlich getroffen, aber ihre Aussagen sind von Bedeutung. So die von Gisela Herrmann, der Gebietsmädelführerin des Bund Deutscher Mädel Berlin. Sie war in den letzten Tagen während des Untergangs in der Nähe des Bunkers im Notlazarett unter der Neuen Reichskanzlei und spielt eine Rolle im Buch von Johanna Ruf „Eine Backpfeife für den kleinen Goebbels“, ebenfalls erschienen im Berlin Story Verlag, in der die letzten Tage des Dritten Reiches aus der Sicht eines fünfzehnjährigen BDM-Mädels geschildert werden.

Auch Theodor Oberländer kann nicht von einem persönlichen Treffen mit Hitler berichten. Oberländer nahm 1923 am Putschversuch in München teil, war bis 1945 Nationalsozialist und wurde in der Bundesrepublik Bundesminister für Vertriebene. Besonders interessant sind seine Schilderungen über den russischen General Andrei Andrejewitsch Wlassow, der am Ende des Zweiten Weltkrieges auf der Seite der Nationalsozialisten mit 50.000 Soldaten gegen Stalin und für ein von Kommunisten freies Russland kämpfen wollte.

Auch einige weniger prominente Gesprächspartner, die Hitler nicht getroffen haben, kommen in diesem Buch zu Wort, weil wir ihre Aussagen für wichtig halten. Emil Klein nahm schon als junger SA-Mann 1923 an Hitlers Marsch auf die Feldherrnhalle teil. Erika Morgenstern schildert die Lage der Zivilisten in Königsberg nach der Kapitulation, Heinz Stendtke vermittelt ebenfalls aus der Gegend um Königsberg ein Bild, nach dem „der deutsche Soldat sich anständig gegenüber der Zivilbevölkerung benommen hat“.

KARL HÖFFKES – DER HISTORISCHE DOKUMENTAR

Nahezu alle Interviews in diesem Buch liegen als Video im Digi-Beta-Format vor. Sämtliche Film-Interviews führte Karl Höffkes. Wenn man im Fernsehen auch nur einen Film über den Nationalsozialismus gesehen hat, wird man mit großer Wahrscheinlichkeit etwas aus der Sammlung Höffkes gesehen haben. Karl Höffkes sammelt Privatfilme, die jenseits der NS-Propaganda und ohne Schere im Kopf gedreht worden sind, die den Nationalsozialismus ungeschminkt darstellen. Aus dem Archiv von Karl Höffkes stammt zum Beispiel der weitaus überwiegende Teil des Materials zum Siebeneinhalb-Stunden-Film „Wer war Hitler“ von Hermann Pölking, als DVD erschienen im Berlin Story Verlag.

Das Archiv Karl Höffkes AKH umfasst den mit Abstand größten Fundus an digitalisiertem Material zum Nationalsozialismus, insgesamt mehr als 2.400 Stunden. Höffkes trug bei zu Dokumentationen in zahlreichen Fernsehsendern, Gedenkstätten und Museen.* Sein Material wird eingesetzt in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem und im US Holocaust Memorial Museum in Washington, den bedeutendsten Stätten zu Holocaust-Forschung, der Erforschung jüdischer Geschichte und des Nationalsozialismus. Höffkes stellt diesen Institutionen sein Material für Forschungszwecke kostenlos zur Verfügung. Einen Eindruck vom Umfang und von der Tiefe des Archivs vermittelt seine Website karlhoeffkes.de.

„Wer gegen das Vergessen ist, der muss bewahren“, erklärt Karl Höffkes seine fortgesetzte Sammlungstätigkeit. „Darum sammle ich Filme und suche nach Möglichkeiten, sie für die Zukunft zu bewahren. Film ist vielleicht das einzige Medium, das alle Generationen erreicht und das universell verstanden wird. Daher hoffe ich, dass die von mir zusammengetragenen Filmmaterialien ihren Teil dazu beitragen, die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte zu befördern, dem Vergessen entgegenzuwirken und die Demokratie zu stärken.“ In einem 14-Minuten-Beitrag des Wissensmagazins „Galileo“, der auf YouTube abgerufen werden kann, lernt man Karl Höffkes und seine Arbeit kennen.

Jede in diesem Buch dokumentierte Erinnerung belegt eine der zentralen Thesen des Historikers Ian Kershaw: „Hitlers Name steht zu Recht für alle Zeiten als der des obersten Anstifters des totalen Zusammenbruchs der Zivilisation in der Moderne. Die extreme Form persönlicher Herrschaft, die ein ungebildeter Wirtshausdemagoge und rassistischer Fanatiker, ein narzisstischer, größenwahnsinniger, selbsternannter nationaler Retter in einem modernen, wirtschaftlich fortgeschrittenem, kultivierten Land, das berühmt war für seine Denker und Dichter, erwerben und ausüben konnte, war für den schrecklichen Lauf der Ereignisse jener schicksalhaften zwölf Jahre ganz entscheidend.“*

Alle bezogen sich auf Hitler. Jeder General, alle Minister, alle Parteifunktionäre waren von Hitlers Entscheidungen abhängig. Er setzte seine Meinung, seinen Willen, seine Projektionen durch – mit minimalen, hier ebenfalls beschriebenen Abweichungen. Alle unterwarfen sich ihm.

Diese vollständige Unterwerfung ist eines der Themen in der Dokumentation „Hitler – wie konnte es geschehen“ im Berlin Story Bunker am Anhalter Bahnhof in Berlin, eng verknüpft mit dem Berlin Story Verlag. Auch dort wird gezeigt, was Kershaw beschreibt: „Hitler war der Haupturheber eines Krieges, der zu mehr als 50 Millionen Toten führte … er war der Hauptinspirator eines Völkermords, wie ihn die Welt niemals kennengelernt hatte …“*

Wir hoffen, dass das vorliegende Buch einen weiteren Beitrag dazu leistet, zu verstehen, wie es zu dem totalitären NS-System, zu Krieg und Völkermord kommen konnte.

Wieland GiebelJanuar 2020

*im Tagesspiegel vom 28. April 2019

*RBB, ORF, SWR, ARTE, WDR, NDR, BR, MDR, ZDF, RAI, BBC, französisches, russisches, japanisches, niederländisches, spanisches Fernsehen National Geographic, Stiftung Deutsche Kinemathek, Haus der Geschichte, Haus der Deutschen Kunst, Filmmuseum Potsdam, Bundeskunsthalle, Stiftung Topographie des Terrors, Muzeum II Wojny Swiatowej w Gdansku (Museum des Zweiten Weltkrieges in Danzig)

*Ian Kershaw, Hitler 1889–1945, S. 1046f.

DIE INTERVIEWS

ARTUR AXMANN

„Axmann, es kommt etwas vollkommen Neues“

Artur Axmann

1914 – 1996

Reichsjugendführer

1928 Beitritt zur Hitlerjugend

Studium der Volkswirtschaftslehre und der Rechtswissenschaften

1931 Eintritt in die NSDAP

1932 Aufnahme in die Reichsleitung der HJ

1934 HJ-Führer von Berlin

1940 Reichsjugendführer in Nachfolge von Baldur von Schirach

1945 Kommando über den Volkssturm beim Kampf um Berlin gegen die Rote Armee bei den Seelower Höhen

Nach dem Krieg unter falschem Namen untergetaucht bis zu seiner Verhaftung im Dezember 1945 in Lübeck

1949 zu drei Jahren Arbeitslager verurteilt

Nach der Entlassung 1952 als Kaufmann tätig

1995 Veröffentlichung seiner Memoiren unter dem Titel „Das kann doch nicht das Ende sein“

Axmann spricht über sein Engagement als Jugendlicher in der HJ in Berlin-Wedding und über die soziale sowie gesundheitliche Lage der Jugend. Das Spannungsfeld zwischen der offensichtlich miserablen gesundheitlichen Lage in der Weimarer Republik und dem oft freiwilligen Engagement von Ärzten einerseits und der „Erziehung zum totalen Krieg“ andererseits wird aus seinen Schilderungen deutlich.

Er berichtet über seinen Aufstieg zum Reichsjugendführer und das umfangreiche Programm für die HJ und den BDM, häufig in Zusammenarbeit mit Nicht-Parteimitgliedern.

Seinen Vorschlag zur Gründung einer SS-Division der Hitlerjugend im Jahr 1943 genehmigte Hitler. Sie wurde als 12. SS-Panzerdivision „Hitlerjugend“ gegen die Invasion der Alliierten in der Normandie eingesetzt. Darüber hinaus gibt Axmann Auskunft darüber, wie Jugendliche aus der Hitlerjugend zur Verteidigung Berlins in Volkssturm-Bataillonen herangezogen wurden.

Das Interview mit Artur Axmann fand statt im Februar 1992.

Es war das erste Interview, das Karl Höffkes mit einem der führenden Nationalsozialisten führen konnte, und öffnete ihm die Türen zu den weiteren Gesprächspartnern.

Ich war 1928 Obersekundaner der 6. Oberrealschule und die Schüler dieser höheren Lehranstalten trugen ja bekanntlich bunte Schülermützen. Wegen dieser Schülermütze wurde ich öfter von Jungarbeitern angepöbelt und angerempelt. Einmal wurde mir sogar meine Mütze geklaut und zwar von Uniformierten mit grauem Hemd, roter Armbinde, Koppelschloss, Mütze und Sturmriemen. Von ihnen hörte ich Schlagworte wie: „Du Bürgersohn, Klassenfeind, Faschist.“ Sie ballten die Faust und riefen „Rot Front“ und „Heil Moskau“. Ich verstand das nicht. Warum war ich ein Klassenfeind? Meine Mutter war nach dem Tode meines Vaters Arbeiterin in einer Fabrik. Und warum „Heil Moskau“? Ich wehrte mich irgendwie gegen diese Fremdbestimmung aus Moskau, und genau in diesen Tagen entdeckte ich ein Plakat an einer Litfaßsäule, das zu einer Kundgebung der NSDAP gegen den Klassenkampf und für die Volksgemeinschaft einlud. Nach meinem Erlebnis interessierte mich das und ich marschierte von Wedding nach Wilmersdorf zur ausgeschilderten Kundgebung. Dort traf ich neben alten und jungen Arbeitern auch gut gekleidete Bürger. Es herrschte eine mir unbekannte Stimmung der Erwartung und des Aufbruchs. Dann kam der Redner: Dr. Goebbels, Gauleiter von Berlin, der mit starkem Beifall begrüßt wurde. Er war kaum älter als dreißig Jahre, was mich schon anzog. Er überzeugte mich vom politischen Widersinn des Klassenkampfes und rief aus, dass die Jugend für die Zukunft entscheidend sein würde. Durch diese Rede angesprochen, entschied ich mich auf dem Rückweg fest für die Gründung der Hitlerjugend im Wedding.

Sie dürfen dabei nicht vergessen: Im Wedding gab es ganze Straßenzüge, die nur von Kommunisten beherrscht wurden. Da hing, wie beispielsweise in der Kösliner Straße, aus jedem Fenster die rote Fahne. Wo gab es das sonst in Deutschland, dass noch bei den Wahlen im März 1933, nach Hitlers Machtübernahme, die Kommunistische Partei stärkste Partei wurde? In den Zwanzigerjahren gab es hier fast täglich Überfälle und Schießereien. Denken Sie mal an den 1. Mai 1926, wo es in Berlin-Wedding und Neukölln in drei bis vier Tagen über zwanzig Tote gab, das war reiner Bürgerkrieg. Fast täglich Überfälle und Schießereien. Je mehr HJ in Erscheinung trat, desto mehr traf es sie auch. Wir wussten aber von Beginn an, worauf wir uns eingelassen hatten. Oder denken Sie nur an Horst Wessels1 Ermordung 1929. Oder Herbert Norkus2. Norkus gehörte meiner Gefolgschaft 1 an, sein Kameradschaftsführer war Gehrhard Mont, der ihn auch für die HJ gewann. Er war der Sohn eines Taxifahrers, Arbeiters und Parteigenossen. Er war begabt und besuchte die Oberrealschule, hatte musische Interessen wie Klavierspielen. Für eine von mir als Redner geleitete Versammlung, von der Schar Beusselkiez-Hansa organisiert, verteilte er am Sonntagmorgen Flugblätter, wobei er am 24. Januar 1932 ermordet wurde. Norkus war fünfzehneinhalb Jahre alt und gehörte der Berliner Marinejungschar der HJ an, da er später auch zur Marine und sich auf diese Weise schon auf die Zukunft vorbereiten wollte. Daneben tat er auch Dienst in einer Einheit im Beusselkiez; dort meldete er sich freiwillig zum Flugblattaustragen, das heißt, er nahm freiwillig die doppelte Belastung auf sich. Und so möchte ich sagen, dass sein Name für die Freiwilligkeit des Dienens steht. Dieses freiwillige Dienen in der Kampfzeit ist die sittliche Wurzel der HJ. Die weitaus überwiegende Mehrheit der HJ diente auch freiwillig in den Jahren des Aufbaus und später im Kriegseinsatz in der Heimat und an der Front.

Horst Wessel war mit seinem SA-Sturm schon zu Lebzeiten für uns Jungen wegen seiner Zuverlässigkeit, seiner Selbstbehauptung und seines Draufgängertums eine Legende. Er war Student der Rechte und kam aus einer gutbürgerlichen Familie, sein Vater war Feldgeistlicher in Hindenburgs Feldquartier und mit ihm gut bekannt, später Pfarrer in der Berliner Nikolaikirche. Dieser Student ging nun in das übelste Stadtviertel von Berlin mit dem Fischerkiez und dem Scheunenviertel, in dem die Unterwelt mit ihren Ringen3 und die Prostitution zu Hause waren. Dort wollte Wessel Arbeiter gewinnen. Das war Vorbild für uns, denn auch wir als Schüler wollten ja den Jungarbeiter zu uns holen. Bei meiner ersten Jugendbetriebszellenversammlung [JBZV] in Siemensstadt war ich 17. Dies hat mich große Überwindung gekostet: Ich lieh mir für die Fahrt ein Fahrrad. Als mir nach Betriebsschluss Mengen von Arbeitern entgegenkamen, fragte ich mich, wie ich als Schüler diesen Jugendlichen nahebringen soll, was für sie richtig ist. Als ich in die harten, gezeichneten Gesichter der Arbeiter schaute, wurde mir bewusst, dass diese Arbeiter Kinder in meinem Alter hatten, die sie versorgen mussten – und ich will denen was über die Zukunft erzählen. Trotzdem ist die JBZV für mich gut verlaufen, und wir gewannen sogar Mitglieder. Ich denke, der Grund dafür, dass ich angekommen bin, ist der, dass ich aus dem eigenen Erlebnis der Not gesprochen habe und nicht aus dem Intellekt. Über Folgen des Klassenkampfes; dann aber über Fragen im betrieblichen Alltag, zum Beispiel darüber, dass ein Jungarbeiter kaum Urlaub kannte und ihn auch nicht hatte, nur wenige, ein bis drei Tage.

Damals empfanden wir dies als Ungerechtigkeit und setzten uns für angemessenen Urlaub der Jungarbeiter ein, oder aber für eine ärztliche Gesundheitsüberprüfung in Berufsschulen. Sicherlich gab es einige wenige Betriebe, die sich um die gesundheitliche Verfassung der Jungarbeiter kümmerten. Oder die Tatsache, dass sie zu Berufsschulunterricht verpflichtet waren, die Arbeitgeber aber die ausgefallene Zeit nicht bezahlen wollten. So gab es viele diskutierte Fragen, und wir machten uns zu Vertretern und Kämpfern für ihre Belange. Das zog doch die Jugend besonders an, die sozialrevolutionäre Zielsetzung Hitlers.

Ein Jungarbeiter, der in der Wirtschaftskrise arbeitslos wurde, dann Arbeit suchte, aber keine fand: Das deprimierende Erlebnis führte ihn oft zur Jugend der NSDAP, von der er wusste, dass sie die dafür Verantwortlichen bekämpfte. Oder die Jugendlichen, die das Glück hatten, eine Lehrstelle zu bekommen – aber viele von ihnen erhielten überhaupt keine ordentliche Berufsausbildung, sondern wurden genau wie Erwachsene eingesetzt. Da sie so gut wie keine Vergütung bekamen und sich ausgenutzt vorkamen, revoltierten manche und fanden so den Weg zur HJ. Diese Jungen sahen die langen Schlangen vor den Arbeitsämtern und erlebten die Stürmung der Lebensmittelgeschäfte durch hungernde Menschen. Ich erinnere mich, wie ich mit zehn Jahren im Inflationsjahr 1923 meine Mutter am Lohntag von der Fabrik abholte und sie so schnell wie möglich, bevor das Geld nichts mehr wert war, Brot, Milch und Butter im nächsten Laden kaufte. Dies ging auch Kindern und Jugendlichen unter die Haut. Uns allen waren damals die sozialrevolutionären Ideale besonders wichtig und darum bemühten wir uns besonders, den Jungarbeiter für uns zu gewinnen.

Der damalige Jugendführer, Kurt Gruber, war Sozialist. Ich erinnere mich, dass Gruber, als er meine Gefolgschaft 1 in Berlin besuchte, uns geradezu beschwor, nie den Weg zum Sozialismus zu verlassen. Das gilt auch für Baldur von Schirach4, dessen große Richtlinie hieß: „Durch Sozialismus zur Nation“. Von Schirach ist nicht nur Musensohn gewesen. Ich weiß aus Nähe zu ihm und als sein Sachbearbeiter, wie tatkräftig er sich für die Verwirklichung unserer sozialrevolutionären Forderungen eingesetzt hat. Von Schirach hatte uns auch die Nähe zu Hitler voraus, da er ihn schon seit 1926 kannte, als Hitler ihn in seinem Elternhaus in Weimar besuchte. Von Schirach hatte immer die Möglichkeit, zu Hitler zu gehen und an seiner Tafelrunde teilzunehmen. Das war ein großer Vorteil seinen Vorgängern und Nachfolgern gegenüber.

Die SPD war damals marxistisch und trug die Hauptverantwortung für Not und Elend in der Weimarer Republik. Schon als Schüler habe ich auf der Reichstagstribüne den Niedergang des parlamentarischen Reiches erlebt. Da wurde unter Tumult nur geredet, aber nicht gehandelt. Otto Braun, zwölf Jahre Ministerpräsident in Preußen, schreibt darüber in seinen Erinnerungen: „Das Parlament versagte voll; keine Partei wollte Verantwortung für die unerlässlichen, unpopulären Maßnahmen auf sich nehmen, und jede schob sie anderen zu, und alle zusammen der Regierung.“ Brünings Worte 1931 in Schlesien, dass Parteien Mut haben müssten, dem Volk die Wahrheit zu sagen, verhallten ungehört, vergebens: Das Parlament blieb bei dem, was nicht nur das parlamentarische Regime gefährdete, sondern auch die Demokratie.

Der Nationalsozialismus war eine Antwort auf versagende Demokratie, worauf Führerstaat oder Diktatur oder Oligarchie folgt, oder – wie Platon sagt – eine „tyrannis“. Das ist der Pendelschlag in der Geschichte.

Das Erziehungsziel in der HJ? Ich antworte mit den Worten Baldur von Schirachs: „Die musische Erziehung in soldatischer Haltung.“ Unser Symbol für die Erziehung zur soldatischen Haltung war Potsdam. Hier atmete der Geist unseres größten Königs, der der erste Diener seines Staates war. Und hier weihte der Reichsjugendführer in der Garnisonkirche am 24. Januar 1934 342 Bannfahnen der HJ, die den Adler Friedrichs des Großen trugen. Symbol unserer musischen Erziehung war Weimar, wo unsere größten Dichter wirkten; dort fanden unsere Kulturtage, unser Reichsführerlager und die Weimar-Festspiele statt.

Es gab viele gleichwertige Probleme zu lösen, aber als Grundlage sahen wir die Erhaltung der Gesundheit der Jugend; weil Gesundheit für Leistungsfähigkeit des Einzelnen und für das ganze Volk wichtig ist. Hier mussten wir nach der Machtübernahme mit der Arbeit beginnen. Das war umso dringlicher, als die Kinder und Jugendlichen unter den Mangelerscheinungen der Ernährung gesundheitlichen Schaden nahmen. In der wirtschaftlichen Notzeit der Weimarer Republik setzte sich dieser Notstand mit häufiger Rachitis und Tuberkulose fort. In den Großstädten war es am schlimmsten; dort gab es manchmal Häuser mit fünf und sechs Hinterhöfen. Da erblickten Kinder nicht das Licht, sondern die Dunkelheit der Welt. Der Weltstadtapostel Dr. C. Sonnenschein5 erhob Anklage mit den Worten: „Ich schäme, mich im Norden und Nordosten die zehn Gebote zu predigen. Mietskaserne ist daran Verrat.“ Die Zeit bis zum 18. Lebensjahr ist der entscheidende Lebensabschnitt im Hinblick auf die körperliche, geschlechtliche sowie geistige Entwicklung und die Persönlichkeitsentwicklung. In diesem Alter werden oft die Weichen für das ganze Leben gestellt. Jugendliche durften also nicht als kleine Erwachsene behandelt werden, sondern als werdende Persönlichkeit mit speziellen Wachstumserscheinungen. Wir hatten ein böses Erbe aus der Nachkriegszeit übernommen und damit mussten wir fertigwerden.

Vor uns türmte sich 1933 ein Berg von Schwierigkeiten auf, weil wir fachkundige Ärzte brauchten. So gingen mein sozialhygienischer Berater Dr. Liebenow6 und ich erst mal in Klausur.

Er hatte schon Anfang 1933 auf der Gaudienststelle der Berliner Jugendbetriebszellen, am Schiffbauerdamm 19, Untersuchungen an arbeitslosen Jugendlichen durchgeführt, denen ich beiwohnte. Diese Untersuchungen sollten nun in der gesamten HJ durchgeführt werden, zuerst an den arbeitslosen und werktätigen Jugendlichen, da ja die Schüler durch die Schulgesundheitsfürsorge erfasst wurden. Diese Reihenuntersuchungen sollten durch eine würdige Kundgebung feierlich eröffnet werden. Dabei brauchten wir eine ärztliche Persönlichkeit, durch die der hohe Grad der Bedeutung unserer Maßnahme für die Volksgesundheit weithin sichtbar gemacht werden sollte. Unsere Wahl fiel nicht auf den ehrenwerten Reichsarzt der NSDAP, sondern auf den Nestor der deutschen Medizin, Geheimrat Professor Dr. August Bier7. Ich hatte riesigen Respekt vor ihm, seit mir bekannt war, dass er durch einen Versuch am eigenen Körper, nämlich durch eine Einspritzung in den Rückenmarkkanal, der Menschheit die Lokalanästhesie zur Betäubung der Schmerzen gegeben hatte.

Wir wussten damals nicht, ob Professor Bier irgendwelche Beziehungen zur NSDAP hatte. Insofern war unser Versuch, ihn für unsere Anliegen zu gewinnen, eine ziemlich gewagte Sache. Es gab auch gleich eine negative Überraschung, als ich hoffte, Biers Zusage durch das Angebot erreichen zu können, seine Rede würde durch den Rundfunk über alle deutschen Sender übertragen. Darauf antwortete er schroff: „Vor der ollen Quasselstrippe rede ich nicht!“8 Er gab uns schließlich seine Zusage, sei es, weil er als Arzt die positive Wirkung auf die Volksgesundheit voraussah, sei es, weil er als großer Erzieher, der er ja war, den Idealismus und die Initiative junger Menschen nicht enttäuschen wollte. So betrat der Nestor der deutschen Medizin am 19. November 1933 das Auditorium maximum der ehrwürdigen Berliner Charité, an der große deutsche Ärzte und Forscher gewirkt hatten. Die gesamte medizinische Fakultät erhob sich lautlos wie ein Mann. Selten habe ich in meinem Leben die Ausstrahlung und die natürliche Autorität einer Persönlichkeit so nachhaltig erlebt wie hier. In seiner Rede begrüßte Professor Bier aufrichtig das Selbsthilfewerk der Jugend und betonte, dass in früheren Jahren zwar unendlich viel über die Notwendigkeit der Betreuung der Jugend geredet, aber wenig getan worden sei. Seiner Ansicht nach habe freilich die Fürsorge schon längst vor dem schulpflichtigen Alter einzusetzen, um die beiden Hauptgefahren für junge Menschen frühzeitig abzuwenden, nämlich die Englische Krankheit9 und die Tuberkulose10.

Die Eröffnung der Reihenuntersuchung der HJ erhielt auch durch Teilnahme des preußischen Kultusministers, Dr. Bernhard Rust11, und des Präsidenten des Reichsgesundheitsamtes, Prof. Dr. Reiter12, einen offiziellen Charakter; leider konnte Schirach als Jugendführer des Deutschen Reichs nicht erscheinen.

Wir haben das als Selbsthilfeaktion verstanden, als ein Selbsthilfewerk, nicht als staatliche Intervention.13

Unsere Erwartungen erfüllten sich im hohen Maße. Nach diesem Aufruf von Professor Bier meldeten sich bei uns zahlreiche Ärzte und Ärztinnen als Mitarbeiter, darüber hinaus viele Medizinstudentinnen und -studenten. Damit waren die Voraussetzungen zur Durchführung unserer gemeinnützigen Maßnahmen gegeben. Unter denen, die sich meldeten, waren auch Ärzte, die bereits damals in der Fachwelt, und übrigens auch bis heute, besten Ruf und hohen Rang besaßen. Zu den ersten Mitarbeitern in der Reichsjugendführung gehörte zum Beispiel der bedeutende Kinderarzt Prof. Dr. Gerhard Joppich14, der vor einigen Wochen im Alter von 88 Jahren in Göttingen gestorben ist. [Dieses Interview wurde 1992 geführt.] Er ist durch seine Schluckimpfung gegen die Kinderlähmung in die Geschichte der medizinischen Forschung eingegangen.

Diese neuen Aktiven mussten keine Mitglieder der NSDAP sein. Es war ihre eigene Entscheidung, uns genügte ihre Mitarbeit in der HJ. Zum Beispiel war der ärztliche Direktor der chirurgischen Abteilung des Berliner Robert-Koch-Krankenhauses Berater der Reichsjugendführung. Was Prof. Sauerbruch15 als Kapazität für Operationen im Bereich des Brustkorbs war, das war Prof. Gohrbandt16 für die Operation im Bereich der Bauchhöhle. Ich könnte Ihnen eine Vielzahl von Mitarbeitern nennen, die aus allen politischen Himmelsrichtungen zu uns kamen.

Praktisch sah die konkrete Umsetzung der Maßnahmen so aus: Zunächst wurden die Ergebnisse in Karteikarten und später im Gesundheitspass des Jugendlichen festgehalten, der ihn überallhin begleitete. Diese Untersuchungen waren gründlich und schlossen auch die Röntgenuntersuchung ein. Zwischen diesen gründlichen Reihenuntersuchungen im 10., 15. und 18. Lebensjahr wurden periodische Gesundheitsappelle durchgeführt, bei denen gesundheitsgefährdete Jugendliche einer nachgehenden Behandlung und Betreuung zugeführt wurden. Sowohl bei den Untersuchungen wie auch bei den Appellen wirkten auch die Zahnärzte mit. Bei festgestellten Schäden wurden die entsprechenden Behandlungsmaßnahmen eingeleitet, insbesondere im Hinblick auf die Erholungspflege.

Die Ärzte wirkten bei der HJ-Dienstplanfestlegung mit, um eine Überbeanspruchung der Jungen und Mädel zu vermeiden; außerdem trugen sie die Verantwortung für die gesundheitliche Sicherung bei Großveranstaltungen, Zeltlagern und Sondermaßnahmen; zusätzlich wurden Gesundheitsdienstmädel und Feldschere eingesetzt; dazu kam der Einsatz von mobilen Kliniken für Totaluntersuchungen und zahnärztliche Behandlungen. Sehr wichtig war die Gesundheitserziehung und damit auch der Feldzug gegen den Missbrauch von Alkohol und Nikotin; das Drogenproblem kannten wir ja damals noch nicht. Die Ärzte und Ärztinnen lebten mit dieser Jugend und nahmen an ihren Aktivitäten teil. Man wird sich gut vorstellen können, dass ein Arzt, der zusammen mit den Jungen in Scheunen oder im Zeltlager schlief, ganz andere erzieherische Einwirkungsmöglichkeiten hatte als der Sprechstundenarzt. Im Zusammenwirken von Arzt und Jugendführer lag die große Chance für den Erfolg der Jugenderziehung. Reichsjugendführer Baldur von Schirach erklärte das Jahr 1939 zum Jahr der Gesundheit unter dem Motto: „Du hast die Pflicht, gesund zu sein.“ Die körperliche Ertüchtigung und die gesunde Freizeitgestaltung trugen viel dazu bei, dass Jugendliche, auch wenn sie später erwachsen waren, nicht mit jedem kleinen Bagatellschaden zum Arzt liefen, um sich etwas verschreiben zu lassen.

Das Sozialversicherungssystem wurde durch die Prävention deutlich entlastet. Wir begannen dann mit der Vereinheitlichung der Jugendgesundheitsfürsorge durch einen gemeinsamen Runderlass der beteiligten Reichsministerien und der obersten Reichsbehörde der Jugendführer des Deutschen Reichs vom 6. März 1940. Fortan gab es nicht mehr einen Schularzt und einen HJ-Arzt, sondern einen Jugendarzt, durch den die schulpflichtige Jugend in der Schule und die werktätige Jugend in der HJ betreut wurde. Durch diese personelle Union und Rationalisierung wurde Doppelarbeit vermieden und höhere Wirksamkeit erzielt. Ich sah in dieser Lösung eine Entsprechung der im Entstehen begriffenen Jugendmedizin, die sich auf den entscheidenden Lebensabschnitt des werdenden Menschen und der werdenden Persönlichkeit konzentrierte.

Auch die Jugenderholungspflege hatte bereits Vorläufer in der Kampfzeit, als man auf dem Land Plätze für erholungsbedürftige Kameraden und Kameradinnen suchte und mit sehr bescheidenen Mitteln und geringen Verschickungszahlen operieren musste – wie zum Beispiel Fritz Krause17, der erste Sozialreferent der Reichsführung, der von München aus diese Landverschickung organisierte, bevor er Anfang 1933 als Landesjugendpfleger nach Mecklenburg ging. Ich denke an den Gau Berlin der Jugendbetriebszellen, der unter der Führung meines ältesten Bruders Kurt18 vor allem die Landverschickung arbeitsloser Mädel und Jungen ermöglichte.

Nach 1933 konnten wir die Jugenderholungspflege endlich auf eine viel breitere Grundlage stellen. Im ersten Jahr wurden etwa 70.000 bis 80.000 Landverschickungen durchgeführt. Ich erinnere mich daran, dass wir auch einige blasse und hohlwangige Kinder aus dem Saargebiet auf den Bahnhöfen in Empfang nahmen, aus einem späteren Teil des Reiches also, der sich erst 1935 durch eine überwältigende Volksabstimmung zu Deutschland bekennen konnte. Hier hatte sich vor allem den BDM-Führerinnen ein lohnendes Arbeitsgebiet erschlossen. In der Folgezeit wurde mit der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt [NSV] vereinbart, dass die HJ sich auf die Erholungsverschickung der an sich gesunden, und die NSV sich auf die gesundheitsgefährdete Jugend konzentrieren sollte. Die NSV konnte ihre Verschickungszahlen in kürzester Zeit auf über 500.000 steigern.

Wir haben uns in der Kampfzeit den Sorgen und Gefahren des Alltags gestellt, das konnte in der Zeit des Aufbruchs nach 1933 nicht anders sein. Wir suchten in der Kampfzeit nicht die Romantik der blauen Blume, sondern lebten in der Welt der Sachlichkeit, was der Stil unserer Zeit war. Außerdem waren wir keine kleine Gruppe, sondern erfassten fortschreitend die gesamte deutsche Jugend, womit wir auch die Mitverantwortung für die Stellung des Nachwuchses auf allen Lebensgebieten übernahmen. So sollten zum Beispiel ausgebildete Kräfte in der Jugend in Sachgebiete der Gemeinden, Länder und zentraler Dienststellen hineinwachsen.

Das geschah in den einschlägigen Fachorganisationen, wie z.B. der Arbeitsfront, deren Jugendsachbearbeiter zugleich dem Mitarbeiterstab der HJ angehörten. So hatte die Reichsjugendführung immer die Möglichkeit, ihre sachlichen Initiativen und ihre Vorstellungen zur Geltung zu bringen. Dadurch wurden die Ämter der Reichsjugendführung zu echten Führungsstellen.

Bürokratisierung, die uns gelegentlich vorgehalten wurde, konnte durch diese Lösung nicht total, jedoch weitgehend vermieden werden. Das jugendliche Leben mit Wandern, Fahrten, Spielscharen, Musikzügen und Sport wurde dadurch überhaupt nicht berührt. Im Unterschied zu den früheren Jugendbünden hatte die Hitlerjugend sachliche und politische Ziele zu verwirklichen, sie wollte, dass die Jugend in das Volksleben vorbereitet hineinwuchs. Im Hinblick auf die vorbereitende Berufsschulung bedeutete das, dass die HJ ihren erzieherischen Einfluss so einsetzte, dass möglichst viele Jungen und Mädel an diesen Maßnahmen in der Deutschen Arbeitsfront teilnahmen. Im ersten Jahr haben 400.000 Jungen und Mädel und im zweiten Jahr 750.000 Jungen und Mädel an dieser Berufsschulung teilgenommen. Die Berufsschulung wurde dem Dienst in der HJ gleichgestellt.

Millionen von Jugendlichen und Erwachsenen mobilisierten wir durch die Reichsberufswettkämpfe. Der Wettkampf ist so alt wie die Menschen. Wie vom Sport bekannt, steigert er die Leistung. Warum sollte das nicht auch im Beruf möglich sein, der die Menschen den ganzen Tag über in Anspruch nimmt? Wir hatten 1933 etwa eine Million Arbeitslose19 übernommen. Es gab zu viele ungelernte Jungarbeiter und Lehrlinge. Sie erhielten oft keine geordnete Ausbildung, sondern wurden für ein Butterbrot produktiver Arbeit zugeführt. Wir aber brauchten viele Facharbeiter für den Aufbau unserer Wirtschaft und um uns auf dem Weltmarkt zu behaupten – daher die Idee und der Anreiz des Wettkampfes.

Bereits 1922 hatte der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband, der DHV20, für junge Kaufleute einen Wettbewerb durchgeführt. Auch der Gewerkschaftsbund der Angestellten, er bezog sich jedoch nur auf kaufmännische Berufe, und die Teilnehmerzahl war relativ gering. Das Wertvolle für uns war jedoch, dass aus diesen Verbänden qualifizierte Mitarbeiter zu uns kamen wie Fritz Knoop21, Sim Winter, Hans Wiese und Wilhelm Krupp vom Gewerkschaftsbund der Angestellten. Wir wollten jedoch nicht nur junge Kaufleute, sondern alle Berufe, insbesondere die gewerblichen erfassen.

Schwierigkeiten gab es im Hinblick auf die umfangreiche Aufgabenstellung. Aber nicht nur damit, sondern auch mit den Bewertungsrichtlinien, der Beschaffung von Wettkampfstätten und vielem anderen. Die freiwilligen Fachkräfte, die Meister, Ingenieure, Berufsschullehrer, Betriebsführer, Männer der Wirtschaft und des Reichsnährstandes und die Obleute der Deutschen Arbeitsfront, die ja alle durch den Aufbruch und die Dynamik des Aufschwungs motiviert waren, sind am Ende dieser Schwierigkeiten Herr geworden. Die HJ- und BDM-Führer, unter ihnen meine engsten Mitarbeiter, sind im ganzen Land tags und nachts unterwegs gewesen, um zu diesem beruflichen Wettstreit in Kundgebungen, Appellen und Arbeitsbesprechungen aufzurufen. Im Jahr 1938 zählten wir etwa 300.000 Helfer, ohne die ein solches Gemeinschaftswerk nicht möglich gewesen wäre.

Auch viele Nichtparteigenossen hielten diesen Wettkampf für ganz vernünftig. Unsere besten sachkundigen Journalisten wie Günther Kaufmann22 und Albert Müller23 sorgten über Presse und Rundfunk dafür, dass unser Aufruf und unser soziales Anliegen noch im letzten Ort des Reiches vernommen wurden.

Am ersten Reichsberufswettkampf nahmen 500.000 Jungen und Mädel teil, am zweiten Reichsberufswettkampf 1935 nahmen zum ersten Mal 15.000 Studenten in ihrem Leistungswettbewerb teil. Wie brachten damit zum Ausdruck, dass die jungen Schaffenden der Stirn und der Faust in eine Front gehören. Durch die leistungssteigernde Wirkung des Reichsberufswettkampfes entschloss sich der Leiter der deutschen Arbeitsfront, Dr. Robert Ley24, den Wettkampf 1937 auf die Meistergesellen und Facharbeiter auszudehnen.

Insgesamt zählten wir 1938 bereits 2,8 Millionen Teilnehmer, darunter 1,4 Millionen männliche und 700.00 weibliche Jugendliche sowie auf Anhieb 500.000 Männer und 150.000 Frauen. Immerhin hatten wir also 850.000 weibliche Teilnehmer, die keineswegs nur aus sozialen und pflegerischen, sondern weitgehend aus gewerblichen Berufen kamen.

Zur landläufigen Auffassung, dass Frauen und Mädel auf die Küche beschränkt waren, stellte Erna Pranz25, die für die gesamte soziale Mädelarbeit verantwortlich war, im Oktober 1937 im „Jungen Deutschland“ fest: „Die seit Beginn des Jahres und nunmehr bis in absehbare Zukunft sich vollziehende Entwicklung zeigt ein weiteres, noch stärkeres Eintreten der weiblichen Jugend in die Berufstätigkeit.“ Es wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass für Mädels alle Berufe offen sind, sofern nicht gesundheitliche Gründe dagegen sprachen.

Im September 1939 zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde ich Soldat. Ich hatte im September 1938 beim Infanterieregiment Nr. 8 in Frankfurt/Oder eine Übung gemacht, nach der ich als Unterführeranwärter entlassen worden bin. Eingesetzt wurde ich im Abschnitt zwischen Merzig und Saarbrücken, wo Vorfeldkämpfe stattfanden. Meine Feuertaufe erhielt ich auf den Spicherer Höhen.

Im Januar 1934 war es zu einem Nichtangriffspakt und Verständigungsabkommen zwischen Deutschland und Polen gekommen, das war ein Hoffnungsschimmer, und ganz im Sinne dieser Verständigung war auch die Reichsjugendführung bemüht, eine Zusammenarbeit mit polnischer Jugend zu fördern. Ja, wer hat sich damals eine Lösung der Probleme zwischen Deutschland und Polen nicht auf friedlichem Weg gewünscht? Mir war ja bekannt, dass bereits 1933 der Versuch unternommen wurde, mit Polen ein normales und konfliktfreies Verhältnis herzustellen.

Wie schwierig das war, geht aus den Worten des großen polnischen Marschalls Piłsudski26 hervor, die er gegenüber dem deutschen Gesandten und späteren Botschafter in Warschau, von Mackensen27, ganz offen äußerte, als dieser ihm Vorschläge für friedliche Regelungen überbrachte. „Sagen Sie Ihrem Führer, ich glaube es gern, dass er bemüht ist, alle Probleme zwischen Deutschland und Polen zu lösen, er möge aber nicht übersehen, dass der Hass meines Volkes gegen alles Deutsche abgrundtief ist.“ Das habe ich schon als Junge zu spüren bekommen, als ich bei meinen Verwandten in Oberschlesien in den Ferien war und auf einer Fahrt mit Älteren unfreiwillig in eine Prügelei mit Polen geriet. Später habe ich dann auch von meinen Verwandten im verbliebenen Teil Westpreußens erfahren, welche Spannungen mit den Polen bestanden. Nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Vertreibung von Deutschen begonnen; in der Zeit von 1918 bis 1939 sind etwa eine Million Deutsche auf kaltem Wege durch Rechtsbrüche, Arbeitsplatzboykott mit Gewalt aus Polen vertrieben worden.

Wir haben an Erklärungen Hitlers und seiner Regierung geglaubt, und sie haben unsere innere Motivation im Krieg bestärkt. Oder ist es unnormal oder gar verwerflich, wenn die deutsche Jugend ihrer eigenen Führung mehr glaubt als anderen? Der französische Staatspräsident General de Gaulle sagte einmal, dass es in der Politik keine Freundschaften, sondern nur Interessen gibt. Wer kann aber deutsche Interessen besser vertreten als eine deutsche Führung?