Ideologiemaschinen - Harry Lehmann - E-Book

Ideologiemaschinen E-Book

Harry Lehmann

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Beschreibung

Jenseits von links/rechts Freiheitsrechte bilden den Kern liberaler Demokratien; Wissenschaftsfreiheit, Lehrfreiheit und Kunstfreiheit gelten als Verfassungsgrundsätze. Doch seit einiger Zeit kann selbst das Grundgesetz sie nur wenig schützen, weil sie von den Institutionen, die sie hochhalten sollen, freiwillig preisgegeben werden. Cancel Culture, Wokeness und Identitätspolitik sind dabei nur Oberflächenphänomene, denen ein viel gravierenderes Problem zugrunde liegt: Durch digitale Medien katalysiert, werden Institutionen wie Universitäten, Theater oder Kultureinrichtungen extrem durchlässig für politische Kommunikation. Das kann im Extremfall dazu führen, dass sie – anstelle von Wissen, Bildung und Kunst – Ideologie produzieren: Sie verwandeln sich in Ideologiemaschinen. Harry Lehmann identifiziert den Mechanismus, der zu dieser Art von dysfunktionaler Politisierung führt. Davon ausgehend entwickelt er Vorschläge zur System-Therapie. Man kann nämlich Ideologieunterbrecher in die Institutionen einbauen und so die liberale Demokratie restabilisieren. Ein kluger Einwurf in eine verschwommene Debatte, der mit Nachdruck demokratische Grundwerte anmahnt: Freiheit in Kunst, Lehre und Wissenschaft. Der Autor: Harry Lehmann, Dr. phil.; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Luxemburg mit den Schwerpunkten Kunstphilosophie, Musikphilosophie, Ästhetik und KI-Ästhetik; freier Autor mit zahlreichen Publikationen.

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Es knirscht inden Institutionen;es ist der Sandder politischenKommunikation.

Harry Lehmann

IDEOLOGIEMASCHINEN

Wie Cancel Culture funktioniert

2024

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer † (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Reihe »update gesellschaft«

hrsg. von Matthias Eckoldt

Umschlagentwurf: B. Charlotte Ulrich

Redaktion: Alexander Eckerlin

Layout und Satz: Melanie Szeifert

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2024

ISBN 978-3-8497-0545-9 (Printversion)

ISBN 978-3-8497-8497-3 (ePub)

© 2024 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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Inhalt

Vorwort

Ideologien als Sprachspiele

Ideologien als Machtinstrumente

Ideologiemaschinen

Ein komisches Beispiel

Erklärungsmodelle der Cancel Culture

Das philosophische Modell

Das psychologische Modell

Das soziologische Modell

Das pädagogische Modell

Das ökonomische Modell

Das juristische Modell

Das religiöse Modell

Das rhetorische Modell

Systemtherapie

Nachwort

Endnoten

Vorwort

Freiheitsrechte gehören zum Kernbestand liberaler Demokratien; die Wissenschaftsfreiheit, die Lehrfreiheit und die Kunstfreiheit wurden hierzulande sogar in den Status von Verfassungsgrundsätzen erhoben, um Hochschulen, Akademien, Museen, Theater und Kultureinrichtungen vor staatlichen Eingriffen und religiösen Zumutungen zu schützen. Seit einiger Zeit lässt sich allerdings eine gesellschaftliche Entwicklung beobachten, vor der selbst das Grundgesetz wenig schützt. Jene verfassungsmäßig verbürgten Freiheiten werden nämlich von jenen Institutionen freiwillig preisgegeben. Das Phänomen, das unter dem Label der »Cancel Culture« daherkommt, hat seinen Ursprung in amerikanischen Eliteuniversitäten und verbreitet sich inzwischen auch in Europa.

Wir gehen davon aus, dass es sich bei dem Cancel-Culture-Syndrom – worunter wir den ganzen Komplex aus cancel culture, wokeness, victimhood culture, safetyism und identity politics verstehen – um ein Oberflächenphänomen handelt, dem ein viel gravierenderes Problem zugrunde liegt: Infolge der digitalen Medienrevolution verlieren die Institutionen in liberalen Demokratien die Fähigkeit, eine Grenze zwischen politischer und nichtpolitischer Kommunikation zu ziehen, was zu erheblichen Dysfunktionalitäten führt. Aus diesem Blickwinkel zeigt sich sofort, dass Cancel Culture sowohl einen linken als auch einen rechten Spin haben kann.

Um diese These sinnvoll diskutieren zu können, benötigt man einen trennscharfen Begriff politischer Kommunikation. Wir greifen an dieser Stelle auf eine Ideologietheorie zurück und gehen davon aus, dass politische Kommunikation immer schon auf Ideologien beruht (Kapitel 1 & 2). Mit diesem Ansatz lässt sich zeigen, wie und warum sich in Institutionen heute kommunikative Rückkopplungsschleifen ausbilden, die politische Kommunikation systematisch verstärken. Das Knirschen der Institutionen liegt also nicht an dieser oder jener Ideologie, weil sie zum Beispiel die Gestalt der Identitätspolitik annimmt oder als Wokeness in Erscheinung tritt – diese politischen Ideen und Praktiken existieren schon seit Jahrzehnten. Es geht auch nicht um eine generelle Kritik am politischen Aktivismus. Vielmehr sind es die Verstärkungsmechanismen, die mit dem Internet, dem Smartphone und den sozialen Plattformen in die Welt kommen, mit denen sich die Lautstärke von politischer Kommunikation bis an die Schmerzgrenze hochregeln lässt. Das kann im Extremfall zu Resonanzkatastrophen führen, in deren Folge Institutionen anstelle von Wissen, Bildung und Kunst Ideologie produzieren: Sie verwandeln sich in Ideologiemaschinen (Kapitel 3). Nachdem wir diese Leitthese des Buches anhand eines »komischen Beispiels« aus der Theaterwelt veranschaulichen (Kapitel 4), stellen wir kurz die wichtigsten »Erklärungsmodelle« der Cancel Culture vor und diskutieren ihre Stärken und Schwächen (Kapitel 5). Kann man den Mechanismus der Ideologiemaschinen hinreichend konkret beschreiben, der zu einer dysfunktionalen Politisierung von Institutionen führt, dann lassen sich auch Vorschläge zur Systemtherapie entwickeln (Kapitel 6). Man kann Ideologieunterbrecher in die Institutionen einbauen, wodurch sich liberale Demokratien restabilisieren lassen.

Ideologien als Sprachspiele

Die Ausgangsthese für unser Erklärungsmodell bildet eine von Michael Freeden entwickelte Ideologietheorie.1 Freeden begreift eine Ideologie als »eine Art Sprachspiel«2, dessen zentrale Elemente in politischen Ideen wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Diversität, Macht, Tradition, Autorität und Demokratie bestehen. All diese politischen Kernbegriffe sind nicht eindeutig definiert, sondern besitzen mehrere Bedeutungsdimensionen. »Gleichheit« kann im Sinne von Chancengleichheit oder von Ergebnisgleichheit verstanden werden; »Freiheit« kann das Freisein zur Selbstverwirklichung oder die Befreiung aus Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnissen meinen. Ideologien bringen diese politischen Kernbegriffe nun in eine je spezifische Konfiguration, in der sie ihren Bedeutungsspielraum wechselseitig limitieren. Dabei geraten die politischen Ideen in ein hierarchisches Verhältnis zueinander, so dass etwa der Freiheitsbegriff in der liberalen Parteienfamilie einen Höchstwert darstellt und Gerechtigkeitsforderungen limitiert, wohingegen in der sozialdemokratischen Parteienfamilie der Gerechtigkeitsbegriff primär ist und das Konzept der Freiheit beschränkt.

Eigentlich handelt es sich bei politischen Kernbegriffen aber um gleichrangige Begriffe; es gibt keine Letztbegründung dafür, dass Gerechtigkeit wichtiger als Freiheit oder Freiheit wichtiger als Demokratie oder Demokratie wichtiger als Gleichheit ist. Zumindest gilt diese Gleichrangigkeit in liberalen Demokratien, weil sich in dieser Gesellschaftsformation der Vorrang einer politischen Idee vor einer anderen jederzeit bestreiten lässt und von Parteien, die öffentlich miteinander konkurrieren, auch permanent lautstark bestritten wird. Es sind also erst Ideologien, die eine spezifische Hierarchie in den politischen Ideenhimmel bringen und den Bedeutungsspielraum politischer Kernbegriffe so stark begrenzen, dass sich feste Denk- und Argumentationsmuster ausbilden. Entsprechend besteht eine wesentliche Funktion von Ideologien darin, bestimmte politische Ideen aufzuwerten und zu legitimieren und andere abzuwerten und zu delegitimieren. Das heißt aber, dass sich aus dem gleichen Set von politischen Ideen verschiedenartige Ideologien zusammenbauen lassen. Freeden veranschaulicht diesen zentralen Gedanken seiner Theorie mit einer eingängigen Metapher:

»Eine Ideologie ist wie ein Set von Möbelmodulen, die auf viele Weisen zusammengestellt werden können […]. Durch verschiedene Arrangements der Möbel können wir sehr unterschiedliche Räume schaffen, selbst wenn wir die gleichen Einheiten verwenden. Aus diesem Grund können identische politische Begriffe als Bausteine für eine Vielzahl unterschiedlicher Ideologien dienen, weil ein und dasselbe Modul (Begriff) in zwei unterschiedlichen Räumen (oder Ideologien) eine unterschiedliche Rolle spielen kann (oder eine unterschiedliche Bedeutung haben kann).«3

Zu den Konsequenzen dieser Ideologietheorie gehört, dass Volksparteien (wie etwa die CDU und die SPD in Deutschland) das Standardmodell für Ideologien abgeben, denn nur die Parteien der politischen Mitte greifen bei ihrer Ideologiebildung tatsächlich auf das ganze Repertoire politischer Kernbegriffe zurück und bringen es in ein je eigenes Arrangement. Freeden spricht hier von Mainstream-Ideologien und grenzt sie von »dünnen Ideologien« (»thin ideologies«) wie etwa dem »Nationalismus« und dem »Feminismus« ab.4 Protestbewegungen, Ein-Themen-Parteien, aber auch alle Spielarten des Populismus folgen solchen dünnen Ideologien, indem sie eine einzige politische Idee sehr stark präferieren. Insofern das Absolutsetzen eines politischen Wertes es leicht macht, auf andere politische Werte keine Rücksicht zu nehmen, haben diese Ideologien auch einen intrinsischen Hang zur Radikalität. Würde man solche einwertigen Programme tatsächlich umsetzen, käme man sehr schnell in Bereiche, in denen die Politik eine autokratische, illiberale oder antidemokratische Schlagseite bekommt.

In der parlamentarischen Auseinandersetzung haben solche dünnen Ideologien aber kaum eine Chance, weil ihre Vertreter ständig herausgefordert werden, sich öffentlich zu Konflikten zu äußern, in denen auch die von ihnen marginalisierten politischen Begriffe relevant sind. Radikale Parteien werden auf der Bühne des Parlaments performativ dazu gezwungen, ihr beschränktes Set an politischen Begriffen zu komplettieren, die sich aber, sobald sie in einen Argumentationszusammenhang gebracht werden, wechselseitig zu relativieren beginnen. Dass radikale Parteien sich selbst entzaubern, liegt unter anderem daran, dass mit zunehmendem Erfolg ihr ideologisches Sprachspiel mehrwertig wird (also zumindest neben Gerechtigkeitswerten auch Freiheitswerte vice versa berücksichtigt). Insofern besitzt der Disput im Parlament eine zivilisierende Wirkung auf politische Ideologien.

Freedens sprachphilosophische Ideologietheorie erfasst einerseits die genuine Mehrdeutigkeit und Ambivalenz politischer Ideen und zeigt andererseits auch, dass diese Ideen in der konkreten Konfiguration einer Ideologie ihre ursprüngliche Polysemie weitgehend verlieren. Der entscheidende Theoriezug besteht aber darin, dass Ideologien für diejenigen, die in sie involviert sind, selbstevident werden. Freeden spricht hier von »decontestation«, wobei es sich hier um ein politologisches Kunstwort handelt, das von »contestation« abgeleitet ist, was wiederum so viel wie »Streit« oder »Bestreiten« heißt. Ideologien besitzen also die Eigenschaft der »Unbestreitbarkeit« bzw. sie scheinen denjenigen, die dieses Sprachspiel verinnerlicht haben, unbestreitbar zu sein. Im Sinne einer Kurzdefinition heißt es:5

»Eine Ideologie ist ein weitreichendes strukturelles Arrangement, das einer Reihe von politischen Begriffen, die sich wechselseitig definieren, eine unbestreitbar gemachte Bedeutung [decontested meaning] zuschreibt.«

Darüber hinaus beschreibt Freeden einen logischen und einen kulturellen Mechanismus, über den sich die »Unbestreitbarkeit« von Ideologien jeweils herstellt. Der logische besteht darin, dass Ideologien spezifische Argumentationszusammenhänge entwickeln, in welchen ihre politischen Kernbegriffe miteinander verknüpft werden, und dass die dabei vorgebrachten Prämissen, Begründungen und Schlussfolgerungen – so wie jede schlüssige Argumentation – eine genuine Überzeugungskraft besitzen.

Die andere Evidenzquelle von Ideologien besteht in kulturellen Anlehnungskontexten, wie sie von Konventionen, Traditionen, Religionen oder wertebasierten Milieus bereitgestellt werden. Insofern diese Überzeugungssysteme für bestimmte soziale Gruppen mit einer solchen Selbstevidenz verbunden sind, dass sie nie hinterfragt werden, scheinen sie den Subjekten, welche diese Überzeugungen besitzen, auch unstrittige Tatsachen zu sein. Ideologien bauen diese Selbstverständlichkeitskontexte in ihre Sprachspiele ein, indem sie kontinuierlich auf sie verweisen. Für die Christdemokraten liegt oder lag die wichtigste Plausibilitätsressource im Christentum, für die Grünen in ihrer Verwurzlung im Naturschutz, für die Sozialdemokraten in ihrer Verbundenheit mit den Arbeitermilieus.

Wenn Ideologien die politischen Kernbegriffe in ein je spezifisches Arrangement bringen, das aufgrund seiner logischen Konsistenz und seiner kulturellen Evidenzen den Anschein der Unbestreitbarkeit erweckt, wird damit nicht nur eine feste Argumentationsstruktur geschaffen, die sich richtig oder falsch reproduzieren lässt, sondern auch ein Spielraum, innerhalb dessen man mit einer gewissen Unschärfe sprechen und »parteiintern« auch streiten kann. Vor allem dieser Aspekt, dass sich Ideologien nach außen hin unbestreitbar machen und zugleich einen Innenraum für den Streit offenhalten, lässt sich mit Wittgensteins Sprachspiel-Theorie gut erklären: Die unterschiedlichen Argumentationsstränge innerhalb einer Ideologie besitzen eine Familienähnlichkeit, so dass daraus auch die Möglichkeit zur Fraktionsbildung und zu Flügelkämpfen innerhalb politischer Organisationen entsteht. Ideologien sind also Sprachspiele mit begrenzter Rede- und Gedankenfreiheit.

So viel zu den wesentlichen Bausteinen der Freeden’schen Ideologietheorie, welche den Autor allerdings zu der Schlussfolgerung führt, dass wir alle Ideologen seien:

»Wir produzieren, verbreiten und konsumieren unser ganzes Leben lang Ideologien, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Ja, wir sind alle Ideologen, denn wir haben ein Verständnis für das politische Umfeld, dem wir angehören, und wir haben Ansichten über die Vorzüge und Schwächen dieses Umfeldes.«6

Aber wieso ist man bereits ein Ideologe, wenn man sein politisches Umfeld versteht? Man kann viele Dinge verstehen, ohne dass man sie gutheißt oder sich mit ihnen identifiziert.

Wenn das wichtigste Signum einer Ideologie ihre »Unbestreitbarkeit« ist, dann manifestiert sich in Ideologien ein Kommunikationsstil, der mit demjenigen der Wissenschaft und der Kunst inkompatibel ist: Hier kann jede Überzeugung in Form von Theorien oder Kunstwerken »bestritten« werden. Der Verfassungsgrundsatz »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei« fordert in letzter Konsequenz Ideologiefreiheit, also die Freiheit von dem Zwang, eine Aussage oder Sichtweise als unbestreitbar hinnehmen und gelten lassen zu müssen. Nur autoritäre Regime achten darauf, dass es in der Gesellschaft keine ideologiefreien Räume gibt.

Freeden schränkt den Ideologiebegriff von vornherein auf »politische Ideologien« ein und zeigt dann, dass das Wesen der politischen Kommunikation in ihrer Ideologieförmigkeit liegt.7 Politische und ideologische Kommunikation werden damit zu Synonymen. Entsprechend deckt sich Freedens Aussage, dass es im Prinzip keine nichtideologische Beobachterposition gibt, mit der weitverbreiteten Auffassung, dass alle Kommunikation »immer schon politisch« verfasst sei – eine Überzeugung, die ihren Niederschlag in Slogans wie »Das Private ist politisch« oder »Alle Kunst ist politisch« findet. Vermutlich neigen Politikwissenschaftler dazu, den Geltungsbereich des Politischen zu überschätzen, obwohl es sich eigentlich auch hier um eine Wissenschaft handelt, deren Anspruch darin besteht, das Feld der Politik auf eine wissenschaftliche, nichtideologische Weise zu erforschen. Bei jenem Satz »Wir sind alle Ideologen« handelt es sich wohl um keine wissenschaftliche Aussage, sondern um eine typische déformation professionnelle.

Es lassen sich auch mehrere Einwände gegen dieses überdehnte Ideologieverständnis vorbringen: Zum einen konnte man in den letzten Jahrzehnten eine immer stärkere Auflösung jener sozialen Milieus beobachten, die Freeden selbst zu den Plausibilitätsressourcen von ideologischen Sprachspielen zählt. Der Einfluss von Kirchen und Gewerkschaften nimmt ab, die Berufsbiografien werden brüchig, die Menschen wechseln häufiger den Wohnort, ziehen in multikulturell geprägte Großstädte, und es bildet sich eine kosmopolitische Bevölkerungsschicht aus, die nicht mehr in einer bestimmten Nation, Religion oder Kultur verwurzelt ist. Mit dem Schwächerwerden solcher Anlehnungskontexte müssten, nach Freedens Theorie, auch die Ideologien an Einfluss in der Gesellschaft verlieren – wogegen aber die starke gesellschaftliche Politisierung heute spricht.

Zum anderen verhalten sich Menschen nicht einmal im ureigensten Feld des Politischen – nämlich bei Wahlen – ideologisch. Ideologien sind unverzichtbar, um politische Entscheidungen zu ermöglichen, aber das heißt nicht zwangsläufig, dass jeder einzelne Bürger eine Ideologie verinnerlichen muss. Die Funktion des politischen Systems besteht darin, dass die Gesellschaft »kollektiv bindende Entscheidungen«8 herstellen kann. Dieses Ziel lässt sich, bei der Vielzahl von Interessen, kulturellen Prägungen und differierenden Moralvorstellungen, tatsächlich nur mit Hilfe von ideologischen Sprachspielen erreichen, denn sie konstruieren aus den unzähligen privaten Weltsichten jene großformatigen politischen Perspektiven, zwischen denen die Bürger dann eine Wahl treffen können. Ideologien sind Vehikel, größere Bevölkerungsgruppen von politischen Programmen und Zielen zu überzeugen, nach denen die Gesellschaft umgestaltet (oder nicht umgestaltet) werden soll.

Genau genommen stehen Ideologien aber nicht für sich allein, sondern existieren in liberalen Demokratien immer nur in Konkurrenz zu anderen Ideologien. Sie haben also keinen Wert an und für sich, sondern gewinnen diesen immer erst aus der ideologischen Differenz, die sich mit ihrer Hilfe konstruieren lässt. Entsprechend geht es in Demokratien auch nicht darum, die eigene Bevölkerung ideologisch zu indoktrinieren, wie das in Diktaturen der Fall ist, sondern die von den Parteien vertretenen Ideologien dienen in erster Linie dazu, politische Alternativen herzustellen, in denen die Wähler »gemeinsame Interessensunterschiede« artikulieren können. Letztendlich sind diese divergierenden Gemeinsamkeiten aber sehr anspruchsvolle politische Konstruktionen.

Man braucht sich also mit einer Ideologie nicht zu identifizieren, um eine Wahlentscheidung treffen zu können, man benötigt hierfür lediglich einen Vergleichsgesichtspunkt. Wenn man sich erst einmal zwischen verschiedenen Alternativen entscheiden kann, dann kann man sich auch für das vermeintlich geringere Übel entscheiden, oder es gibt ein bestimmtes Thema, bei dem man sein Kreuz macht, oder man wählt einfach nur Personen, die man für besonders vertrauenswürdig oder vielversprechend hält. Nur Parteimitglieder, politische Aktivisten und Menschen, zu deren Lebensentwurf es gehört, sich als politische Subjekte zu verstehen, bringen ihre Weltsicht mit einer bestimmten Ideologie zur Deckung. Der Großteil der Bevölkerung bildet aber kein essenzialistisches Verhältnis zu Ideologien aus.

Obwohl es erhebliche Zweifel an der These vom universellen Charakter ideologischer Kommunikation gibt, so entwickelt Freeden doch die entscheidenden Ideen, um das Wesen politischer Kommunikation zu verstehen. Die Konzeption bleibt jedoch an einem bestimmten Punkt unscharf und liefert uns entsprechend nur ein Grundverständnis dafür, wie sich politische und nichtpolitische Kommunikation unterscheiden lässt. Eine Theorie, die eine Ideologie als Konfigurationen politischer Kernbegriffe begreift, welche ein unbestreitbares Sprachspiel ermöglichen, besitzt zumindest zwei Unzulänglichkeiten. Sie stellt einerseits alle Kommunikation unter Ideologieverdacht, und sie vermag andererseits auch jene Ideologisierungsprozesse nicht zu analysieren, wie sie heute in der Wissenschaft, der Kunst und der Bildung zu beobachten sind. Die Subjekte tragen bei Freeden ihre politischen Vorurteile und Weltsichten immer schon in sich und werden von Ideologien nur dort abgeholt, wo sie sich ohnehin schon in ihren Privatideologien eingerichtet haben. In der folgenden Aussage lässt sich diese Unterbestimmtheit der Theorie recht genau markieren:

»Ideologien streiten sowohl um die Kontrolle der politischen Sprache als auch um die Projekte der öffentlichen Politik; genau genommen wird aber ihr Wettbewerb um die Projekte öffentlicher Politik durch ihren Wettbewerb um die Kontrolle der politischen Sprache ausgetragen.«9

Das Theorem beschreibt sehr präzise, worum es in vielen Institutionen heute geht: nämlich darum, eine bestimmte Sprachpolitik durchzusetzen, sich ihr zu widersetzen oder sich mit dieser Kontrolle von Symbolen und Zeichen geräuschlos zu arrangieren. Um die politische Sprache »kontrollieren« zu können, benötigt man aber vor allem eines: Man braucht Macht.

Ideologien als Machtinstrumente